Kapitel 16 Die Reise


›Also steht den Menschen ihr Sternenschiff schon jetzt zur Verfügung, während das, was du für uns baust, noch nicht fertig ist.‹

›Sie wollen einen Kasten mit einer Tür. Kein Antrieb, kein Lebenserhaltungssystem, keine Frachträume. Das eure und das unsrige sind viel komplizierter. Wir haben es nicht langsam angehen lassen, und sie werden bald fertig sein.‹

›Ich beschwere mich wirklich nicht. Ich will auch, daß Enders Schiff zuerst fertig ist. Es ist dasjenige, das wirkliche Hoffnung trägt.‹

›Für uns auch. Wir stimmen mit Ender und seinen Leuten überein, daß die Descolada hier auf Lusitania niemals getötet werden darf, außer es gelingt irgendwie, die Recolada zu schaffen. Doch wenn wir neue Schwarmköniginnen zu anderen Welten schicken, werden wir an Bord der Sternenschiffe, die sie befördern, die Descolada töten, damit keine Gefahr besteht, unsere neue Heimat zu verseuchen. Damit wir ohne Furcht vor der Vernichtung durch diese künstlichen Varelse leben können.‹

›Was ihr auf eurem Schiff tut, geht uns nichts an.‹

›Mit etwas Glück wird es nicht soweit kommen. Ihr neues Sternenschiff wird den Weg ins Außen finden, mit der Recolada zurückkehren, euch und auch uns befreien, und dann wird das neue Schiff uns zu so vielen Welten transportieren, wie wir wollen.‹

›Wird der Kasten funktionieren, den du für sie gebaut hast?‹

›Wir wissen, daß es den Ort, an den sie gehen, wirklich gibt; wir rufen unser Selbst von dort. Und die Brücke, die wir geschaffen haben, jene, die Ender Jane nennt, ist ein Muster, wie wir es noch nie zuvor gesehen haben. Wenn es jemand kann, dann eine wie sie. Wir könnten es nie.‹

›Werdet ihr gehen? Wenn das neue Schiff funktioniert?‹

›Wir werden Tochter-Königinnen schaffen, die meine Erinnerungen mit auf andere Welten nehmen. Doch wir selbst werden hier bleiben. Dieser Ort, an dem ich aus meinem Kokon kam, ist auf ewig meine Heimat.‹

›Also bist du hier genauso verwurzelt wie ich.‹

›Dafür sind ja die Töchter da. Um dorthin zu gehen, wohin wir niemals gehen werden, um unsere Erinnerungen an Orte mitzunehmen, die wir niemals sehen werden.‹

›Aber wir werden sie sehen. Oder nicht? Du hast gesagt, daß die philotischen Verbindungen bestehen bleiben werden.‹

›Wir haben über die Reise durch die Zeit nachgedacht. Wir leben lange, wir Schwärme, ihr Bäume. Aber unsere Töchter und ihre Töchter werden uns überleben. Nichts kann das ändern.‹


Qing-jao hörte ihnen zu, als sie ihr erklärten, welche Wahlmöglichkeiten sie hatten.

»Warum sollte es mich interessieren, wie ihr euch entscheidet?« sagte sie, als sie fertig waren. »Die Götter werden über euch lachen.«

Vater schüttelte den Kopf. »Das werden sie nicht, meine Tochter, ›Strahlend Helle‹. Die Götter geben nicht mehr um Weg als um jede andere Welt auch. Die Menschen von Lusitania werden einen Virus schaffen, der uns alle befreien kann. Keine Rituale mehr, keine Fesseln aufgrund der Unordnung in unseren Gehirnen. Also frage ich dich noch einmal. Sollen wir es tun, wenn es uns möglich ist? Es würde hier Unordnung schaffen. Wang-mu und ich haben geplant, wie wir vorgehen werden, wie wir ankündigen werden, was wir tun, damit das Volk es versteht, damit die Gottberührten nicht dahingemetzelt werden, sondern ihre Privilegien mit der Zeit aufgeben können.«

»Privilegien bedeuten nichts«, sagte Qing-jao. »Das hast du selbst mich gelehrt. Durch sie drücken die Menschen nur ihre Ehrfurcht vor den Göttern aus.«

»Ach, meine Tochter, wenn ich doch nur wüßte, daß auch die anderen Gottberührten unsere bescheidene Sicht der Dinge mit uns teilen. Aber zu viele von ihnen glauben, es sei ihr Recht, Forderungen zu stellen und andere Menschen zu unterdrücken, weil die Götter zu ihnen und nicht zu den anderen sprechen.«

»Dann werden die Götter sie bestrafen. Ich fürchte mich nicht vor deinem Virus.«

»Doch, du fürchtest dich davor, Qing-jao. Ich sehe es.«

»Wie kann ich meinem Vater sagen, daß er nicht sieht, was zu sehen er behauptet? Ich kann nur sagen, daß ich blind sein muß.«

»Ja, meine Qing-jao, du bist blind. Betriebsblind. Blind in deinem Herzen. Denn du zitterst sogar in diesem Augenblick. Du hast niemals mit Sicherheit gewußt, daß ich mich irre. Von dem Augenblick an, da Jane uns die wahre Natur der sprechenden Götter gezeigt hat, bist du dir nicht mehr sicher, was die Wahrheit ist.«

»Dann bin ich mir nicht mehr sicher, daß die Sonne aufgehen wird. Daß ich atme.«

»Wir alle wissen nicht, ob wir gleich noch atmen werden, und die Sonne bleibt an ihrer Stelle, Tag und Nacht. Sie geht weder auf, noch versinkt sie. Wir sind diejenigen, die auf- und untergehen.«

»Vater, ich habe von diesem Virus nichts zu befürchten.«

»Dann ist unsere Entscheidung gefallen. Wenn die Lusitanier uns den Virus geben können, werden wir ihn einsetzen.« Han Fei-tzu erhob sich, um ihr Zimmer zu verlassen.

Doch ihre Stimme hielt ihn auf, bevor er die Tür erreichte. »Dann ist das also die Verkleidung, die die Strafe der Götter annehmen wird, nicht wahr?«

»Was?«

»Wenn sie Weg bestrafen, weil du gegen die Götter gearbeitet hast, die dem Kongreß ihr Mandat gegeben haben – werden sie ihre Strafe dann als Virus verkleiden, der sie anscheinend verstummen läßt?«

»Ich wünschte, Hunde hätten mir die Zunge herausgerissen, bevor ich dich lehrte, so zu denken.«

»Die Hunde reißen bereits an meinem Herz«, antwortete Qing-jao. »Vater, ich bitte dich, tue es nicht. Laß nicht zu, daß deine Aufsässigkeit die Götter dazu bewegt, auf dem gesamten Antlitz dieser Welt zu schweigen.«

»Ich werde es tun, Qing-jao, damit keine Töchter oder Söhne mehr als Sklaven aufwachsen müssen, wie es bei dir der Fall war. Wenn ich daran denke, wie du dein Gesicht fast auf den Boden drückst und die Linien im Holz verfolgst, möchte ich die Körper derjenigen zerschneiden, die dir dies aufgezwungen haben, bis ihr Blut Linien erzeugt, die ich dann gern verfolgen werde, um zu wissen, daß sie bestraft worden sind.«

Sie weinte. »Vater, ich bitte dich, erzürne die Götter nicht.«

»Jetzt bin ich mehr denn je entschlossen, den Virus freizusetzen, falls er kommt.«

»Was kann ich tun, um dich zu überzeugen? Wenn ich nichts sage, wirst du es tun, und wenn ich dich bitte, es nicht zu tun, wirst du es nur um so sicherer tun.«

»Weißt du, wie du mich aufhalten könntest? Du könntest zu mir sprechen, als wüßtest du, daß die Stimmen der Götter das Produkt einer Geisteskrankheit sind. Und wenn ich dann wüßte, daß du die Welt klar und deutlich siehst, könntest du mich mit guten Argumenten überzeugen, daß solch eine schnelle, vollständige und verheerende Veränderung nur schädlich sein würde.«

»Also muß ich meinen Vater belügen, um ihn zu überzeugen?«

»Nein, meine ›Strahlend Helle‹. Um deinen Vater zu überzeugen, muß du ihm zeigen, daß du die Wahrheit verstehst.«

»Ich verstehe die Wahrheit«, sagte Qing-jao. »Ich verstehe, daß du mir von einem Feind gestohlen wurdest. Ich verstehe, daß ich jetzt nur noch die Götter habe, und Mutter, die unter ihnen ist. Ich bitte die Götter, mich sterben zu lassen, damit ich mich zu ihr gesellen kann und nicht mehr die Schmerzen ertragen mußt, die du mir zufügst, doch sie lassen mich noch auf dieser Welt verweilen. Ich glaube, es bedeutet, daß ich sie noch verehren soll. Vielleicht bin ich noch nicht rein genug. Oder vielleicht wissen sie, daß sich dein Herz wieder wenden und du wieder zu mir kommen wirst wie früher einmal, und ehrbar von den Göttern sprechen und mich lehren wirst, eine wahre Dienerin zu sein.«

»Das wird nie geschehen«, sagte Han Fei-tzu.

»Einst habe ich gedacht, du könntest eines Tages der Gott von Weg sein. Nun sehe ich, daß du keineswegs der Beschützer dieser Welt, sondern ihr dunkelster Feind bist.«

Han Fei-tzu schlug die Hände vors Gesicht und verließ weinend den Raum. Solange sie die Stimme der Götter hörte, konnte er sie niemals überzeugen. Doch vielleicht würde sie auf ihn hören, wenn sie den Virus einsetzten, wenn die Götter verstummten. Vielleicht konnte er sie dann zur Vernunft zurückführen.


Sie saßen in dem Sternenschiff – es sah eher aus wie zwei Metallkuppeln, eine über die andere gelegt, mit einer Tür in der Seite. Janes Entwurf, sorgfältig ausgeführt von der Schwarmkönigin und ihren Arbeitern, sahen zahlreiche Instrumente auf der Außenseite des Schiffes vor. Doch selbst mit diesem Gewimmel von Sensoren erinnerte es an kein Sternenschiff, das je zuvor erbaut worden war. Es war viel zu klein, und es gab keinen sichtbaren Antrieb. Die einzige Energie, die dieses Schiff irgendwo hin tragen konnte, war die unsichtbare Aiua, die Ender mit sich an Bord brachte.

Sie saßen sich in einem Kreis gegenüber. Es befanden sich sechs Sessel an Bord, weil die Chance bestand, daß Janes Muster es ermöglichte, das Schiff immer wieder einzusetzen und somit mehr Passagiere von einer Welt zur anderen zu befördern. Sie hatten jeden zweiten Sessel besetzt, so daß sie ein Dreieck bildeten: Ender, Miro, Ela.

Alle Abschiedsworte waren gesprochen. Schwester und Brüder, andere Verwandte und viele Freunde waren gekommen. Das Fehlen einer Person war jedoch besonders schmerzlich. Novinha. Enders Frau, Miros und Elas Mutter. Sie wollte damit nichts zu tun haben. Das war das einzig echte Leid beim Abschied.

Der Rest bestand aus Furcht und Aufregung, Hoffnung und Unglaube. Vielleicht waren sie nur einen Augenblick vom Tod entfernt. Vielleicht waren sie nur einen Augenblick davon entfernt, die Reagenzgläser auf Elas Schoß mit den Viren zu füllen, die für zwei Welten die Erlösung bedeuten würden. Vielleicht waren sie die Pioniere einer neuen Art von Sternenflug, die die durch das M.D.-Gerät bedrohte Spezies retten würde.

Vielleicht waren sie auch einfach nur drei Narren, die auf einer Wiese vor dem Umzäunung der menschlichen Kolonie Lusitanias saßen, bis es so heiß und stickig in ihrem Raumschiff wurde, daß sie es verlassen mußten. Natürlich würde niemand lachen, der draußen wartete, doch in der ganzen Stadt würde es Gelächter geben, Gelächter der Verzweiflung. Es würde bedeuten, daß es keinen Ausweg gab, keine Freiheit, nur immer mehr Furcht, bis der Tod in einer seiner vielen möglichen Verkleidungen kam.

»Bist du bei uns, Jane?« fragte Ender.

Die Stimme in seinem Ohr klang gelassen. »Während ich dies tue, Ender, kann ich keinen Teil von mir erübrigen, um mich mit dir zu unterhalten.«

»Also wirst du bei uns, aber stumm sein«, sagte Ender. »Wie soll ich wissen, daß du noch da bist?«

Sie lachte leise in seinem Ohr. »Törichter Junge, Ender. Wenn du noch da bist, bin ich in dir. Und wenn ich nicht in dir bin, gibt es auch kein ›dort‹ mehr, in dem du sein kannst.«

Ender stellte sich vor, wie er in eine Billiarde zusammengesetzter Teile zerbrach und sich im Chaos verstreute. Das persönliche Überleben hing nicht nur davon ab, daß Jane das Muster des Schiffes zusammenhielt, sondern auch, daß er das Muster seines Körpers und Geistes zusammenhalten konnte. Doch er hatte keine Ahnung, ob sein Geist wirklich stark genug war, um dieses Muster aufrechtzuhalten, sobald er dort war, wo die Naturgesetze keine Geltung mehr hatten.

»Fertig?« fragte Jane.

»Sie fragt, ob wir bereit sind«, sagte Ender.

Miro nickte bereits. Ela senkte den Kopf. Nach einem Augenblick bekreuzigte sie sich, umfaßte dann fest das Gestell mit den Reagenzgläsern auf ihrem Schoß und nickte.

»Wenn wir gehen und zurückkommen, Ela«, sagte Ender, »war es kein Fehlschlag, obwohl du vielleicht nicht den Virus schaffen konntest, den du brauchst. Wenn das Schiff funktioniert, können wir jederzeit zurückkehren. Glaube nicht, daß alles davon abhängt, was du dir heute vorstellen kannst.«

Sie lächelte. »Ich werde nicht überrascht sein, wenn es einen Fehlschlag gibt, doch ich bin auch auf den Erfolgsfall vorbereitet. Mein Team steht bereit, Hunderte von Bakterien in die Welt freizugeben, wenn ich mit der Recolada zurückkomme und wir die Descolada ersetzen können. Es ist riskant, doch innerhalb von fünfzig Jahren wird diese Welt wieder eine sich selbst regulierende Gaialogie sein. Ich habe eine Vision von Rotwild und Vieh im hohen Gras Lusitanias und von Adlern im Himmel.« Dann sah sie wieder auf die Reagenzgläser auf ihrem Schoß. »Ich habe auch ein Gebet an die Mutter Gottes gesprochen, damit derselbe Heilige Geist, der Gott in ihrem Leib erschuf, zurückkehrt und Leben hier in diesen Gefäßen erschafft.«

»Amen«, sagte Ender. »Und wenn du jetzt bereit bist, Jane, können wir loslegen.«


Vor dem kleinen Sternenschiff warteten die anderen. Was erwarteten sie? Daß das Schiff anfangen würde zu qualmen und zu rütteln? Daß es einen Donnerschlag, einen Lichtblitz geben würde?

Das Schiff war da. Es war da und noch immer da, bewegte sich nicht, veränderte sich nicht. Und dann war es verschwunden.


Im Schiff fühlten sie nichts, als es geschah. Es gab kein Geräusch, keine Bewegung, die andeutete, daß sie vom Innen- in den Außen-Raum geglitten waren.

Doch sie wußten, in welchem Augenblick es geschah, denn plötzlich waren sie nicht mehr zu dritt, sondern zu sechst.

Ender stellte fest, daß er neben einem jungen Mann und einer jungen Frau saß. Aber er hatte keine Zeit, sie anzusehen, denn er konnte nur den jungen Mann anstarren, der in dem gerade noch leeren Sitz ihm gegenüber saß.

»Miro«, flüsterte er. Denn um ihn handelte es sich. Aber nicht um den Krüppel Miro, den mißgestalteten jungen Mann, der das Schiff mit ihm betreten hatte. Der saß noch immer auf dem zweiten Sessel links von Ender. Dieser Miro war der junge Mann, dem Ender zuerst begegnet war. Der Mann, dessen Stärke die Hoffnung seiner Familie, dessen Schönheit der Stolz von Ouandas Leben gewesen war, dessen Verstand und Herz Mitgefühl an den Pequeninos genommen und der sich geweigert hatte, sie ohne die Vorzüge zurückzulassen, die ihnen seiner Meinung zufolge die menschliche Kultur anbieten konnte. Miro, ganz und wiederhergestellt.

Woher war er gekommen?

»Ich hätte es wissen müssen«, sagte Ender. »Wir hätten daran denken müssen. Das Muster, das du von dir im Sinn hast, Miro – es ist nicht das, was du bist, sondern das, was du warst.«

Der neue, junge Miro hob die Hand und lächelte Ender an. »Ich habe daran gedacht«, sagte er, und seine Aussprache war klar und wunderschön. Die Worte rollten ganz leicht von seiner Zunge. »Ich habe darauf gehofft. Deshalb habe ich Jane auch gebeten, mich mitzunehmen. Und es erwies sich als wahr, Ender. Genau, wie ich es mir gewünscht habe.«

»Aber jetzt gibt es zwei von euch«, sagte Ela. Sie klang entsetzt.

»Nein«, sagte der neue Miro. »Nur mich. Nur das wahre Mich.«

»Aber der andere ist auch noch da«, sagte sie.

»Nicht mehr lange, glaube ich«, erwiderte Miro. »Diese alte Hülle ist jetzt leer.«

Und es stimmte. Der alte Miro sackte wie ein Toter in seinem Sitz zusammen. Ender kniete vor ihm nieder, drückte die Finger auf Miros Hals und fühlte nach dem Puls.

»Warum sollte sein Herz noch schlagen?« sagte Miro. »Ich bin der Ort, in dem sich Miros Aiua befindet.«

Als Ender den Finger von der Kehle des alten Miro nahm, löste sich die Haut. Ender schreckte zurück. Der Kopf fiel von den Schultern auf den Schoß der Leiche. Dann zerfiel er zu einer weißlichen Flüssigkeit. Ender sprang auf und wich zurück. Er trat jemandem auf den Fuß.

»Au«, sagte Valentine.

»Paß auf, wohin du trittst«, sagte ein Mann.

Valentine ist nicht an Bord, dachte Ender. Und ich kenne auch die Stimme dieses Mannes.

Er drehte sich zu ihnen um, zu dem Mann und der Frau, die auf den leeren Sitzen neben ihm erschienen waren.

Valentine. Unmöglich jung. So, wie sie ausgesehen hatte, als er sie am meisten geliebt und gebraucht hatte, als sie der einzige Grund für ihn war, mit seiner militärischen Ausbildung weiterzumachen; als sie der einzige Grund war, der ihm einfiel, warum Welt vielleicht doch die Mühe wert war, sie zu retten.

»Du kannst nicht wirklich sein«, sagte er.

»Natürlich bin ich das«, sagte sie. »Du hast mir doch auf den Fuß getreten, nicht wahr?«

»Armer Ender«, sagte der junge Mann. »Unbeholfen und dumm. Wirklich keine sehr gute Kombination.«

Jetzt erkannte Ender ihn. »Peter«, sagte er. Sein Bruder, der Feind aus seiner Kindheit, etwa in dem Alter, als er zum Hegemon geworden war. Das Bild, das auf allen Vids gezeigt worden war, als es Peter gelungen war, die Dinge so zu arrangieren, daß Ender nach seinem großen Sieg nie mehr auf die Erde zurückkehren durfte.

»Ich dachte, ich würde dich nie mehr von Angesicht zu Angesicht sehen«, sagte Ender. »Du bist vor so langer Zeit gestorben.«

»Glaube niemals ein Gerücht über meinen Tod«, sagte Peter. »Ich habe so viele Leben wie eine Katze. Und auch so viele Zähne, so viele Klauen und dieselbe fröhliche, kooperative Einstellung.«

»Woher bist du gekommen?«

Miro gab die Antwort. »Da du sie kennst, Ender, müssen sie Mustern in deinem Geist entstammen, Ender.«

»Das stimmt«, sagte Ender. »Aber warum? Wir nehmen angeblich die Vorstellung von uns selbst mit nach hier draußen. Das Muster, durch das wir selbst uns erkennen.«

»Ist dem so, Ender?« sagte Peter. »Dann mußt du wirklich etwas ganz Besonderes sein. Eine Persönlichkeit, die so kompliziert ist, daß man zwei Menschen braucht, um sie auszufüllen.«

»Von dir ist kein Teil in mir«, sagte Ender.

»Und du sorgst besser auch dafür, daß es so bleibt«, sagte Peter höhnisch. »Ich mag Mädchen, keine schmutzigen, alten Männer.«

»Ich wollte dich nicht haben«, sagte Ender.

»Mich wollte nie jemand haben«, sagte Peter. »Sie wollten dich. Aber sie haben mich bekommen, nicht wahr? Sie haben mich hierhin bekommen. Glaubst du, ich würde nicht meine ganze Geschichte kennen? Du und dieses Lügenbuch, Der Hegemon. So klug und verständnisvoll. Wie Peter Wiggin herangereift ist. Wie er sich als weiser und fairer Herrscher erwies. Was für ein Witz! In der Tat, ein Sprecher für die Toten. Als du das Buch geschrieben hast, kanntest du die ganze Zeit über die Wahrheit. Du hast das Blut posthum von meinen Händen gewaschen, Ender, aber du wußtest, und ich wußte, daß ich, solange ich lebte, das Blut dort haben wollte.«

»Laß ihn in Ruhe«, sagte Valentine. »Er hat im Hegemon die Wahrheit gesagt.«

»Du beschützt ihn noch immer, kleiner Engel?«

»Nein!« rief Ender. »Ich bin fertig mit dir, Peter. Du bist aus meinem Leben verschwunden, schon vor dreitausend Jahren!«

»Du kannst davonlaufen, aber du kannst dich nicht verstecken!«

»Ender! Ender, hör auf! Ender!«

Er drehte sich um. Es war Ela, die ihn angeschrien hatte.

»Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber hör auf damit! Wir haben nur noch ein paar Minuten übrig. Hilf mir bei den Tests.«

Sie hatte recht. Was immer Miros neuer Körper zu bedeuten hatte, Peters und Valentines Auftauchen, wichtig war die Descolada. War es Ela gelungen, sie umzuwandeln? Die Recolada zu erschaffen? Und der Virus, der die Menschen von Weg verwandeln würde? Falls Miro seinen Körper neu gestalten und Ender irgendwie die Geister seiner Vergangenheit heraufbeschwören und sie wieder zu Fleisch und Blut machen konnte, war es möglich, wirklich möglich, daß Elas Reagenzgläser nun die Viren enthielten, deren Muster sie sich vorgestellt hatte.

»Hilf mir«, flüsterte Ela erneut.

Ender und Miro – der neue Miro, dessen Hand stark und sicher war – nahmen die Reagenzgläser, die sie ihnen reichte, und begannen mit dem Test. Es war ein negativer Test – wenn die Bakterien, Algen und winzigen Würmer, die sie in die Gläser gaben, mehrere Minuten lang unbeeinflußt blieben, befand sich keine Descolada in den Gläsern. Da es in den Reagenzgläsern vor dem lebenden Virus gewimmelt hatte, als sie das Schiff bestiegen hatten, war der Beweis erbracht, daß zumindest irgend etwas geschehen war, das sie neutralisiert hatte. Ob es nun wirklich die Recolada war oder einfach nur eine tote oder unwirksame Descolada, konnten sie nur nach ihrer Rückkehr feststellen.

Die Würmer, Algen und Bakterien wurden keiner Verwandlung unterzogen. Bei Tests, die sie zuvor auf Lusitania durchgeführt hatten, hatte sich die blaue Lösung, die die Bakterien enthielt, unter dem Einfluß der Descolada gelb verfärbt; nun blieb sie blau. Auf Lusitania waren die winzigen Würmer schnell gestorben und als ergrauende Hüllen an die Oberfläche getrieben; nun wanden sie sich in der Flüssigkeit und blieben purpurbraun, eine Farbe, die zumindest bei ihnen Leben bedeutete. Und die Algen brachen nicht auseinander und lösten sich vollständig auf, sondern blieben als dünne Stränge und Ränke bestehen, die Leben bedeuteten.

»Dann haben wir es geschafft«, sagte Ender.

»Zumindest können wir hoffen«, sagte Ela.

»Setzt euch«, sagte Miro. »Wenn wir fertig sind, wird sie uns zurückbringen.«

Ender setzte sich. Er sah zu dem Sitz, auf dem Miro gesessen hatte. Sein alter, verkrüppelter Körper war nicht länger als menschlich zu identifizieren. Er zerfiel weiterhin; die Stücke zerbrachen zu Staub oder zerflossen. Selbst die Kleidung hatte sich aufgelöst.

»Er ist nicht mehr Teil meines Musters«, sagte Miro. »Ihn hält nichts mehr zusammen.«

»Was ist mit denen?« fragte Ender. »Warum lösen sie sich nicht auf?«

»Oder du?« fragte Peter. »Warum löst du dich nicht auf? Du bist jetzt überflüssig. Du bist ein müder alter Scheißer, der nicht mal seine Frau behalten kann. Und du hast nie ein Kind gezeugt, du pathetischer alter Eunuch. Mach Platz für einen echten Mann. Dich braucht jetzt keiner mehr – alles, was du je getan hast, hätte ich besser tun können, und alles, was ich je getan habe, hättest du niemals tun können.«

Ender schlug die Hände vors Gesicht. Dieses Ergebnis hatte er sich nicht einmal in seinen schlimmsten Alpträumen vorgestellt. Ja, er hatte gewußt, daß sie sich an einen Ort begaben, an dem man mit dem Verstand etwas erschaffen konnte. Aber es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß Peter noch immer dort lauerte. Er hatte geglaubt, er habe den alten Haß schon vor langer Zeit begraben.

Und Valentine – warum sollte er eine neue Valentine erschaffen? Eine so junge und perfekte, so schöne und freundliche? Die echte Valentine wartete auf Lusitania auf ihn – was würde sie denken, wenn sie sah, was er aus seinem Verstand geschaffen hatte? Vielleicht würde es sie schmeicheln, daß er sie so nah an seinem Herzen hielt; doch sie würde auch wissen, daß er sie schätzte, wie sie früher einmal gewesen war, und nicht, wie sie heute war.

Sowohl das dunkelste als auch das hellste Geheimnis seines Herzens würden enthüllt werden, sobald sich die Tür öffnete und er wieder auf die Oberfläche Lusitanias treten mußte.

»Löst euch auf«, sagte er zu ihnen.

»Du zuerst, alter Mann«, sagte Peter. »Dein Leben ist vorbei, und meins beginnt gerade erst. Beim ersten Mal hatte ich nur die Erde, einen müden alten Planeten – es wäre mir genauso leicht gefallen wie jetzt, nach dir zu greifen und dich mit bloßen Händen zu töten, wenn ich es wollte. Dir den Nacken zu brechen wir eine trockene Nudel.«

»Versuche es«, flüsterte Ender. »Ich bin nicht mehr der verängstigte kleine Junge.«

»Aber du bist auch kein Gegner für mich«, sagte Peter. »Du warst es nie und wirst es niemals sein. Du hast zu viel Herz. Du bist wie Valentine. Du zuckst davor zurück, das zu tun, was getan werden muß. Das macht dich weich und schwach. Dadurch kann man dich leicht vernichten.«

Ein plötzlicher Lichtblitz. Doch noch der Tod im Außen-Raum? Hatte Jane das Muster in ihrem Geist verloren? Explodierten sie, oder stürzten sie in eine Sonne?

Nein. Es war die sich öffnende Tür. Es war das Licht des Lusitania-Morgens, das in die relative Dunkelheit im Schiffsinneren fiel.

»Kommt ihr heraus?« rief Grego und steckte den Kopf ins Schiff. »Seid ihr…«

Dann sah er sie. Ender bemerkte, wie er stumm zählte.

»Nossa Senhore«, flüsterte Grego. »Woher zum Teufel kommen die denn?«

»Aus Enders total verkorkstem Kopf«, sagte Peter.

»Aus alten und zärtlichen Erinnerungen«, sagte die neue Valentine.

»Hilf mir mit den Viren«, sagte Ela.

Ender streckte die Hand nach ihnen aus, doch sie gab sie Miro. Sie erklärte es ihm nicht, wandte einfach den Kopf ab, doch er verstand. Was ihnen im Außen zugestoßen war, war zu seltsam, als daß sie es akzeptieren konnte. Wer auch immer Peter und diese junge, neue Valentine sein mochten, es sollte sie nicht geben. Miros Schöpfung eines neuen Körpers für ihn ergab Sinn, auch wenn es schrecklich gewesen war, den alten Körper zu einem vergessenen Nichts zerfallen zu sehen. Elas Konzentration war so groß gewesen, daß sie außer den Reagenzgläsern, die sie zu diesem Zweck mitgenommen hatte, nichts geschaffen hatte. Doch Ender hatte zwei ganze Menschen heraufbeschworen, die auf ihre Weise jeweils anrüchig waren – die neue Valentine, weil sie die echte verhöhnte, die sicherlich draußen vor der Tür wartete. Und Peter gelang es mühelos, anrüchig zu sein, während er erst langsam zu der Hochform dessen auflief, was ihn gleichzeitig so gefährlich wie auch charismatisch machte.

»Jane«, flüsterte Ender. »Jane, bist du da?«

»Ja«, antwortete sie.

»Hast du das alles gesehen?«

»Ja«, antwortete sie.

»Verstehst du es?«

»Ich bin sehr müde. Ich war noch nie müde. Ich habe noch nie etwas so Schweres getan. Es hat meine gesamte… meine gesamte Aufmerksamkeit auf einmal beansprucht. Und zwei weitere Körper, Ender. Mich dazu zu bringen, sie in das Muster einzufügen – ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe.«

»Ich wollte es nicht.«

Aber sie antwortete nicht.

»Kommst du nun, oder was?« fragte Peter. »Die anderen sind alle schon zur Tür hinaus. Mit all diesen kleinen Urinfläschchen.«

»Ender, ich habe Angst«, sagte die junge Valentine. »Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Ender. »Gott verzeihe mir, falls ich dir irgendwie weh tue. Ich hätte dich niemals zurückgebracht, um dir weh zu tun.«

»Ich weiß«, sagte sie.

»Nein«, sagte Peter. »Der nette alte Ender beschwört eine mannbare junge Frau aus seinem Gehirn herauf, die genau aussieht wie seine Schwester im Teenageralter. Ender, alter Junge, sind deiner Verderbtheit denn keine Grenzen gesetzt?«

»Lediglich ein schändlich kranker Geist würde an so etwas auch nur denken«, murmelte Ender.

Peter lachte.

Ender nahm die junge Val an der Hand und führte sie zur Tür hinaus. Er fühlte, wie ihre Hand schwitzte und zitterte. Sie fühlte sich so echt an. Sie war echt. Und doch konnte er, kaum daß er auf der Schwelle stand, die echte Valentine sehen, in mittlerem Alter, nicht mehr jung, doch noch immer die anmutige, wunderschöne Frau, die er all diese Jahre lang gekannt und geliebt hatte. Das ist die wahre Schwester, die, die ich so liebe wie mich selbst. Was hatte dieses junge Mädchen in meinem Geist zu suchen?

Grego und Ela mußten genug gesagt haben, daß die Leute wußten, daß etwas Seltsames geschehen war. Und als Miro das Schiff verlassen hatte, gesund und lebhaft, mit klarer Aussprache und so freudig erregt, daß er fast gesungen hätte – das mußte wirklich zu einiger Aufregung geführt haben. Ein Wunder. Es gab Wunder dort draußen, wo auch immer das Schiff gewesen war.

Doch als Ender herauskam, verstummte die Menge. Nur wenige hätten das junge Mädchen, das bei ihm war, auf den ersten Blick als Valentine in ihrer Jugend erkannt – keiner von ihnen hatte sie damals gekannt. Und keiner außer Valentine würde Peter Wiggin im kräftigen jungen Mannesalter erkennen; bei den Bildern in den Geschichtswerken handelte es sich normalerweise um Holos, die erst spät in seinem Leben aufgenommen worden waren, als sich die billige Holographie endlich durchgesetzt hatte.

Doch Valentine erkannte sie. Ender stand vor der Tür, die junge Val neben ihm Peter direkt hinter ihm, und Valentine erkannte sie beide. Sie trat vor, von Jakt weg, bis sie direkt vor Ender stand.

»Ender«, sagte sie. »Lieber, gequälter Junge, das hast du geschaffen, als du an dem Ort warst, an dem du alles erschaffen kannst, was du willst?« Sie streckte die Hand aus und berührte die junge Ausgabe von ihr selbst an der Wange. »So wunderschön«, sagte sie. »Ich war nie so schön, Ender. Sie ist perfekt. Sie ist alles, was ich sein wollte, aber niemals war.«

»Bist du nicht froh, mich zu sehen, Val, meine liebste Demosthenes?« Peter drängte sich zwischen Ender und der jungen Val hindurch. »Hast du nicht auch an mich zärtliche Erinnerungen? Bin ich nicht schöner, als du dich an mich erinnerst? Ich freue mich bestimmt, dich zu sehen. Du hast so viel aus der Persona gemacht, die ich für dich geschaffen habe. Demosthenes. Ich habe dich geschaffen, und du hast mir nicht einmal dafür gedankt.«

»Danke, Peter«, flüsterte Valentine. Sie sah wieder zu der jungen Val. »Was wirst du mit ihnen machen?«

»Mit uns machen?« sagte Peter. »Es steht ihm nicht zu, etwas mit uns zu machen. Er hat mich vielleicht zurückgeholt, aber jetzt bin ich mein eigener Herr, wie ich es schon immer war.«

Valentine drehte sich wieder zu der Menge um, die noch immer von Erstaunen über die seltsamen Ereignisse erfüllt war. Schließlich hatten die Leute gesehen, wie drei Personen das Schiff bestiegen, hatten gesehen, wie es verschwand und keine sieben Minuten später an genau derselben Stelle wieder auftauchte – doch anstatt drei Personen waren fünf ausgestiegen, und zwei davon waren Fremde. Natürlich waren die Leute geblieben, um zu gaffen.

Aber heute würde keiner mehr eine Antwort bekommen. Abgesehen vielleicht, was die wichtigste Frage von allen betraf. »Hat Ela die Reagenzgläser ins Labor gebracht?« sagte sie. »Machen wir der Versammlung ein Ende und sehen nach, was Ela im Außen-Raum für uns geschaffen hat.«

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