Kapitel 10 Märtyrer


›Ender sagt, daß wir uns hier auf Lusitania am Drehpunkt der Geschichte befinden. Daß in den nächsten paar Monaten oder Jahren dies der Ort sein wird, an dem zu jeder bewußten Rasse entweder der Tod oder das Verständnis kommen wird.‹

›Wie aufmerksam von ihm, uns rechtzeitig zu unserem möglichen Ableben hierher zu bringen.‹

›Du neckst mich natürlich.‹

›Wenn wir wüßten, wie das geht, würden wir es vielleicht tun.‹

›Lusitania ist zum Teil der Drehpunkt der Geschichte, weil du hier bist. Du trägst einen Drehpunkt mit dir, wohin auch immer du gehst.‹

›Wir geben ihn auf. Wir überlassen ihn euch. Er gehört euch.‹

›Wo immer sich Fremde begegnen, gibt es solch einen Drehpunkt.‹

›Dann laßt uns nicht mehr Fremde sein.‹

›Die Menschen bestehen darauf, Fremde aus uns zu machen – es ist in ihr genetisches Material eingebaut. Aber wir können Freunde sein.‹

›Dieses Wort ist zu stark. Sagen wir, wir sind Mit-Bürger.‹

›Zumindest, solange wir gemeinsame Interessen haben.‹

›Solange die Sterne leuchten, werden unsere Interessen gleich sein.‹

›Vielleicht nicht so lange. Vielleicht nur so lange, wie die Menschen stärker und zahlreicher sind als wir.‹

›Das wird für den Augenblick reichen.‹


Quim kam ohne Protest zu dem Treffen, obwohl es ihn auf seiner Reise einen vollen Tag zurückwarf. Er hatte schon vor langer Zeit Geduld gelernt. Ganz gleich, wie dringend seine Mission bei den Ketzern auch sein mochte, auf lange Sicht konnte er nur wenig bewirken, wenn er nicht die Unterstützung der menschlichen Kolonie bekam. Als Bischof Peregrino ihn also bat, an einer Konferenz bei Kovano Zeljezo teilzunehmen, dem Bürgermeister und Gouverneur von Lusitania, ging Quim selbstverständlich hin.

Überrascht stellte er fest, daß sich bei dem Treffen auch Ouanda Saavedra, Andrew Wiggin und die halbe Familie Quims eingefunden hatten. Mutter und Ela – ihre Anwesenheit ergab Sinn, wenn die Konferenz einberufen worden war, um zu besprechen, was man wegen der ketzerischen Pequeninos unternehmen sollte. Doch was hatten Quara und Grego hier zu suchen? Es gab keinen Grund, sie in eine ernsthafte Diskussion einzubeziehen. Sie waren zu jung, zu schlecht informiert, zu ungestüm. Nach allem, was er gesehen hatte, stritten sie noch wie die kleinen Kinder. Sie waren nicht so reif wie Ela, die ihre persönlichen Gefühle im Interesse der Wissenschaft zurückstellen konnte. Natürlich befürchtete Quim mitunter, daß sie dabei zu weit ging, als es gut für sie war – aber darüber mußte er sich bei Quara und Grego kaum den Kopf zerbrechen.

Besonders Quara. Wühler zufolge hatte der ganze Ärger mit diesen Ketzern eigentlich erst angefangen, als Quara den Pequeninos von den verschiedenen Ausweichplänen in bezug auf den Descolada-Virus erzählt hatte. Die Ketzer hätten nie so viele Verbündete in so vielen verschiedenen Wäldern gefunden, hätten es die Pequeninos nicht mit der Angst zu tun bekommen, die Menschen könnten einen Virus freisetzen oder Lusitania mit einer Chemikalie vergiften, die die Descolada und damit auch die Pequeninos ausmerzen würde. Die Tatsache, daß die Menschen die indirekte Auslöschung der Pequeninos auch nur in Betracht zogen, ließ es nur verständlich erscheinen, daß die Schweinchen die Auslöschung der Menschheit in Betracht zogen.

Und das alles, weil Quara nicht den Mund halten konnte. Und nun war sie zu einer Konferenz eingeladen worden, auf der man das weitere Vorgehen besprechen würde. Warum? Was für einen Einfluß in der Gemeinde repräsentierte sie? Glaubten die Leute tatsächlich, die Regierungs- oder Kirchenpolitik sei nun Privatsache der Familie Ribeira? Natürlich waren Olhado und Miro nicht dabei, doch das hatte nichts zu bedeuten – da beide Krüppel waren, behandelte der Rest der Familie sie unterbewußt wie Kinder, obwohl Quim genau wußte, daß keiner von ihnen es verdient hatte, so gefühllos zur Seite gestellt zu werden.

Doch Quim war geduldig. Er konnte warten. Er konnte zuhören. Er konnte sie anhören. Dann würde er etwas tun, das sowohl Gott als auch dem Bischof gefallen würde. Wenn das nicht möglich sein sollte, reichte es natürlich auch, wenn es Gott gefiele.

»Dieses Treffen war nicht meine Idee«, sagte Bürgermeister Kovano. Quim wußte, daß er ein guter Mann war, ein besserer Bürgermeister, als die meisten Menschen auf Lusitania begriffen. Sie wählten ihn immer wieder, weil er eine großväterliche Art hatte und hart arbeitete, um Einzelpersonen und Familien zu helfen, die in Schwierigkeiten geraten waren. Es interessierte sie nicht besonders, ob er auch eine gute Politik betrieb – das war zu abstrakt für sie. Doch zufälligerweise war er genauso klug wie politisch scharfsinnig. Eine seltene Kombination, über die Quim froh war. Vielleicht weiß Gott, daß schwierige Zeiten bevorstehen, und hat uns einen Anführer gegeben, der uns helfen kann, sie ohne allzu großes Leid zu überstehen.

»Aber ich bin froh, daß Sie alle gekommen sind. Die Beziehungen zwischen Schweinchen und Menschen sind gespannter als je zuvor oder zumindest seit dem Zeitpunkt, da der Sprecher hier eintraf und uns half, sie zu verstehen.«

Wiggin schüttelte den Kopf, doch alle wußten, welche Rolle er dabei gespielt hatte, und es war ziemlich sinnlos, sie abzustreiten. Selbst Quim mußte letztendlich eingestehen, daß der ungläubige Humanist auf Lusitania gute Arbeit geleistet hatte. Quim hatte seit langem seinen tiefen Haß auf den Sprecher für die Toten abgelegt; er vermutete manchmal sogar, daß er als Missionar als einziger in seiner Familie wirklich begriff, was Wiggin geleistet hatte. Es bedurfte eines Evangelisten, um einen anderen zu verstehen.

»Natürlich verdanken wir einen nicht geringen Teil unserer Sorgen dem Fehlverhalten zweier lästiger junger Heißsporne, die wir zu dieser Konferenz eingeladen haben, damit sie begreifen, welche gefährlichen Konsequenzen ihr dummes, eigensinniges Verhalten hat.«

Quim hätte fast laut aufgelacht. Natürlich hatte Kovano das alles so sanft und freundlich gesagt, daß Grego und Quara einen Augenblick brauchten, bis sie begriffen, daß sie gerade getadelt worden waren. Doch Quim verstand es sofort. Ich hätte nicht an dir zweifeln sollen, Kovano; du hättest niemals überflüssige Personen zu diesem Treffen eingeladen.

»Wie ich es verstehe, gibt es eine Bewegung unter den Schweinchen, die ein Sternenschiff starten will, um den Rest der Menschheit absichtlich mit der Descolada zu infizieren. Und wegen der Beteiligung unserer jungen Nachplapperin hier schenken viele Wälder dieser Idee Beachtung.«

»Wenn Sie erwarten, daß ich mich entschuldige…« begann Quara.

»Ich erwarte, daß Sie den Mund halten – oder schaffen Sie das nicht einmal zehn Minuten lang?« Diesmal lag echte Wut in Kovanos Stimme. Quaras Augen weiteten sich, und sie richtete sich auf ihrem Stuhl auf.

»Die andere Hälfte unseres Problems besteht aus einem jungen Physiker, der sich leider dem allgemeinen Niveau angepaßt hat.« Kovano musterte Grego stirnrunzelnd. »Wären Sie doch nur ein weltfremder Intellektueller geworden. Statt dessen scheinen Sie die Freundschaft der dümmsten, gewalttätigsten Menschen auf Lusitania zu pflegen.«

»Von Leuten, die anderer Meinung als Sie sind, meinen Sie«, sagte Grego.

»Von Leuten, die vergessen, daß diese Welt den Pequeninos gehört«, sagte Quara.

»Welten gehören denjenigen, die sie brauchen und die etwas mit ihnen anzufangen wissen«, sagte Grego.

»Seid still, Kinder, oder ihr werdet von diesem Treffen ausgeschlossen, während sich die Erwachsenen eine Meinung bilden.«

Grego funkelte Kovano an. »Sprechen Sie nicht so mit mir.«

»Ich spreche mit Ihnen, wie es mir paßt«, sagte Kovano. »Was mich betrifft, so haben Sie beide die gesetzliche Verpflichtung zur Geheimhaltung verletzt, und ich sollte Sie beide einsperren lassen.«

»Aufgrund welcher Anklage?«

»Wie Sie sich erinnern, habe ich Notstandsrechte. Ich brauche keine Anklage, bis der Notstand vorüber ist. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Sie werden es nicht tun. Sie brauchen mich«, sagte Grego. »Ich bin der einzige vernünftige Physiker auf Lusitania.«

»Die Physik nutzt uns gar nichts, wenn wir in einen Konflikt mit den Pequeninos geraten.«

»Wir müssen es mit der Descolada aufnehmen«, sagte Grego.

»Wir verschwenden Zeit«, sagte Novinha.

Quim sah seine Mutter zum ersten Mal seit Beginn der Konferenz an. Sie wirkte sehr nervös, verängstigt. So hatte er sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.

»Wir sind wegen dieser verrückten Mission Quims hier.«

»Vater Estevão«, sagte Bischof Peregrino. Er war immer darauf bedacht, daß den Trägern von Kirchenämtern mit der angemessenen Würde begegnet wurde.

»Er ist mein Sohn«, sagte Novinha. »Ich nenne ihn, wie es mir gefällt.«

»Was für eine empfindliche Gruppe haben wir doch heute hier«, sagte Bürgermeister Kovano.

Die Dinge verliefen sehr schlecht. Quim hatte seiner Mutter absichtlich keine Einzelheiten über seine Mission zu den Ketzern verraten, denn er war überzeugt, sie würde sich der Vorstellung widersetzen, daß er zu Schweinchen ging, die die Menschen offen fürchteten und haßten. Quim wußte genau, wieso sie solch einen Schrecken vor einem engen Kontakt mit den Schweinchen hatte. Als junges Kind hatte sie ihre Eltern an die Descolada verloren. Der Xenologe Pipo wurde ihr Ersatzvater – und dann der erste Mensch, der von den Schweinchen zu Tode gefoltert werden sollte. Danach hatte Novinha zwanzig Jahre damit verbracht zu verhindern, daß ihr Liebhaber, Libo – Pipos Sohn und der nächste Xenologe – dasselbe Schicksal erlitt. Sie hatte sogar einen anderen Mann geheiratet, damit Libo als ihr Ehemann nicht das Recht hatte, ihre privaten Computerdaten einzusehen, in denen sie das Geheimnis wähnte, das die Schweinchen dazu gebracht hatte, Pipo zu töten. Schließlich erwies sich alles als umsonst. Libo wurde genau wie Pipo getötet.

Obwohl Mutter mittlerweile den wahren Grund für seinen Tod erfahren hatte, obwohl die Pequeninos ernste Eide abgelegt hatten, nie mehr einen gewalttätigen Akt gegen einen anderen Menschen zu begehen, konnte Mutter ganz einfach nicht rational reagieren, wenn sich ihre geliebten Familienangehörigen unter die Schweinchen begaben. Und nun war sie – zweifellos auf ihr Beharren – zu einer Konferenz eingeladen worden, die darüber entscheiden sollte, ob Quim auf seine missionarische Reise gehen sollte. Es würde ein unerfreulicher Morgen werden. Mutter konnte auf Jahre der Übung zurückblicken, ihren Willen zu bekommen. Mit Andrew Wiggin verheiratet zu sein, hatte sie in vieler Hinsicht weicher und gelassener gemacht, doch wenn sie glaubte, eins ihrer Kinder begebe sich in Gefahr, zeigte sie die Klauen, und kein Ehemann würde einen besänftigenden Einfluß auf sie haben.

Warum hatten Bürgermeister Kovano und Bischof Peregrino diese Konferenz überhaupt gestattet?

Als habe er Quims unausgesprochene Frage gehört, setzte Bürgermeister Kovano zu einer Erklärung an. »Andrew Wiggin ist mit neuen Informationen zu mir gekommen. Mein erster Gedanke war, sie geheimzuhalten, Vater Estevão auf seine Mission zu den Ketzern zu schicken und Bischof Peregrino dann zu bitten, inbrünstig zu beten. Doch Andrew versicherte mir, daß die Gefahr immer größer werden wird und es daher um so wichtiger ist, daß Ihnen allen so viele Informationen wie möglich als Entscheidungshilfe für Ihr Verhalten zur Verfügung stehen. Sprecher für die Toten haben anscheinend ein fast pathologisches Vertrauen in die Idee, daß die Menschen sich besser benehmen, wenn sie mehr wissen. Ich bin schon zu lange Politiker, um seine Zuversicht zu teilen – aber er behauptet, älter zu sein als ich, und ich nehme Rücksicht auf seine Weisheit.«

Quim wußte natürlich, daß Kovano auf niemandes Weisheit Rücksicht nahm. Andrew Wiggins hatte ihn einfach überredet.

»Während die Beziehungen zwischen Pequeninos und Menschen… äh… problematischer werden und unsere unsichtbare Mitbewohnerin, die Schwarmkönigin, dem Start ihrer Sternenschiffe anscheinend immer näher kommt, hat es den Anschein, daß Dinge, die sich außerhalb unseres Planeten abspielen, auch immer dringlicher werden. Der Sprecher für die Toten hat von seinen außerplanetaren Quellen erfahren, daß auf einer Welt namens Weg jemand davorsteht, herauszufinden, wer unsere Verbündeten sind, die bislang verhindern konnten, daß der Kongreß der Flotte den Befehl geben kann, Lusitania zu vernichten.«

Quim stellte mit Interesse fest, daß Andrew dem Bürgermeister anscheinend nichts von Jane gesagt hatte. Bischof Peregrino wußte auch nichts von ihr; und Grego oder Quara? Und Ela? Mutter wußte mit Sicherheit davon. Warum hat Andrew es mir gesagt, während er es vor so vielen anderen zurückhielt?

»Es besteht eine sehr große Möglichkeit, daß der Kongreß in den nächsten Wochen – oder Tagen – die Kommunikation mit der Flotte wiederherstellen kann. Dann ist unsere letzte Verteidigung hinfällig. Nur ein Wunder wird uns vor der Vernichtung retten.«

»Unsinn«, sagte Grego. »Wenn dieses… Ding draußen in der Prärie ein Raumschiff für die Schweinchen bauen kann, kann es auch eins für uns bauen und uns von diesem Planeten wegschaffen, bevor er in die Luft gesprengt wird.«

»Vielleicht«, sagte Kovano. »Ich habe so etwas ähnliches vorgeschlagen, wenn auch in weniger farbigen Begriffen. Vielleicht können Sie, Senhor Wiggin, uns sagen, warum Gregos ausgeklügelter kleiner Plan nicht funktionieren wird.«

»Die Schwarmkönigin denkt nicht so wie wir. Obwohl sie sich alle Mühe gibt, nimmt sie das Leben von einzelnen Menschen nicht besonders ernst. Wenn Lusitania vernichtet wird, befinden sie und die Pequeninos sich in der größten Gefahr…«

»Der Chirurg jagt den ganzen Planeten in die Luft«, wandte Grego ein.

»… in der größten Gefahr, als Spezies ausgelöscht zu werden«, fuhr Wiggin fort, ohne sich von Gregos Unterbrechung stören zu lassen. »Sie wird kein Schiff dafür verschwenden, Menschen von Lusitania zu bringen, weil es Billionen von uns auf ein paar hundert Welten gibt. Uns droht kein Xenozid.«

»Wenn diese Ketzerschweinchen ihren Willen bekommen, doch«, sagte Grego.

»Und das ist ein anderer Punkt«, sagte Wiggin. »Wenn wir keine Möglichkeit finden, die Descolada zu neutralisieren, können wir nicht guten Gewissens die menschliche Bevölkerung Lusitanias auf eine andere Welt bringen. Wir würden dann genau das tun, was die Ketzer wollen – andere Menschen zu zwingen, sich mit der Descolada zu befassen, und sie wahrscheinlich zu töten.«

»Dann gibt es keine Lösung«, sagte Ela. »Dann können wir gleich alle viere von uns strecken und auf den Tod warten.«

»Nicht unbedingt«, sagte Bürgermeister Kovano. »Es ist möglich – eher wahrscheinlich –, daß die menschliche Bevölkerung des Planeten verloren ist. Doch wir können zumindest zu verhindern versuchen, daß die Kolonistenschiffe der Pequeninos die Descolada auf andere menschliche Welten tragen. Es scheint zwei Möglichkeiten zu geben – die biologische und die theologische.«

»Wir sind dem Ziel so nahe«, sagte Mutter. »In ein paar Monaten oder sogar Wochen werden Ela und ich einen Ersatz für die Descolada gefunden haben.«

»Das behaupten Sie«, sagte Kovano und wandte sich an Ela. »Und was sagen Sie

Quim hätte fast laut aufgestöhnt. Ela wird sagen, daß sich Mutter irrt, daß es keine biologische Lösung gibt, und dann wird Mutter sagen, daß sie mich umbringen will, indem sie mich auf diese Mission schickt. Das hat der Familie gerade noch gefehlt – Ela und Mutter in einem offenen Krieg. Dank des Menschenfreunds Kovano Zeljezo.

Doch Ela antwortete nicht, wie Quim es befürchtet hatte. »Wir haben ihn fast fertiggestellt. Es ist die einzige Variante, die wir nicht schon vergeblich ausprobiert haben, doch wir stehen auf der Schwelle, ein Muster für einen Descolada-Virus auszuarbeiten, der den Lebenszyklus der eingeborenen Spezies aufrechterhält, aber unfähig ist, sich anzupassen und jede neue Spezies zu vernichten.«

»Du sprichst von einer Lobotomie für eine ganze Rasse«, sagte Quara verbittert. »Wir würde es dir gefallen, wenn jemand eine Möglichkeit fände, alle Menschen am Leben zu halten und ihnen gleichzeitig das Großhirn zu entfernen?«

Natürlich nahm Grego den Fehdehandschuh auf. »Wenn diese Viren ein Gedicht schreiben oder ein Theorem entwickeln können, kaufe ich euch diesen sentimentalen Scheißdreck ab, daß wir sie am Leben halten sollten.«

»Nur, weil wir sie nicht lesen können, heißt es noch lange nicht, daß sie keine Gedichte haben.«

»Fechai as bocas!« rief Kovano.

Augenblicklich verstummten sie.

»Nossa Senhora«, sagte er. »Vielleicht will Gott Lusitania vernichten, weil das die einzige Möglichkeit ist, euch beiden das Maul zu stopfen.«

Bischof Peregrino räusperte sich.

»Vielleicht auch nicht«, sagte Kovano. »Es liegt mir fern, über Gottes Motive zu spekulieren.«

Der Bischof lachte, was den anderen ermöglichte, es ihm gleichzutun. Die Spannung brach – wie eine Welle des Meeres, die einen Augenblick lang verschwunden war, aber gleich zurückkommen würde.

»Also ist der Anti-Virus fast fertig?« fragte Kovano.

»Nein – oder doch, ja, der Ersatz-Virus ist fast vollständig entworfen«, erwiderte Ela. »Aber es gibt noch zwei Probleme. Das erste ist die Anwendung. Wir müssen eine Möglichkeit finden, daß der neue Virus den alten angreift und ersetzt. Diese Möglichkeit ist… noch in weiter Ferne.«

»Noch in weiter Ferne, oder haben Sie nicht die geringste Ahnung, wie Sie es anstellen sollen?« Kovano war kein Narr und hatte offensichtlich schon mit Wissenschaftlern zu tun gehabt.

»Irgendwo dazwischen«, sagte Ela.

Mutter verlagerte ihr Gewicht auf dem Stuhl deutlich von Ela fort. Meine arme Schwester Ela, dachte Miro. Vielleicht spricht sie in den nächsten paar Jahren nicht mit dir.

»Und das andere Problem?«

»Es ist eine Sache, den Ersatz-Virus zu entwerfen. Eine andere, ihn herzustellen.«

»Das sind bloße Details«, sagte Mutter.

»Du irrst dich, Mutter, und du weißt es«, sagte Ela. »Ich kann graphisch darstellen, wie der neue Virus aussehen soll. Doch selbst wenn wir bei zehn Grad über dem absoluten Gefrierpunkt arbeiten, können wir den Descolada-Virus nicht ausreichend genau aufschneiden und wieder zusammensetzen. Entweder stirbt er, weil wir zuviel herausgenommen haben, oder er repariert sich augenblicklich wieder, wenn wir ihn wieder auf normale Temperaturen bringen, weil wir nicht genug herausgenommen haben.«

»Technische Probleme.«

»Technische Probleme«, sagte Ela scharf. »Als wolle man einen Verkürzer ohne eine philotische Verbindung bauen.«

»Also schließen wir daraus…«

»Wir schließen gar nichts«, sagte Mutter.

»Wir schließen daraus«, fuhr Kovano fort, »daß unsere Xenobiologen in scharfem Widerspruch über die Möglichkeit stehen, den Descolada-Virus überhaupt zu zähmen. Das führt uns zu dem anderen Lösungsversuch – wir müssen die Pequeninos überreden, ihre Kolonien nur auf unbewohnten Welten zu errichten, wo sie ihr eigentümlich giftiges Leben führen können, ohne Menschen zu töten.«

»Sie überreden«, sagte Grego. »Als könnten wir ihnen vertrauen, daß sie ihre Versprechen halten.«

»Sie haben bislang mehr Versprechen als Sie gehalten«, sagte Kovano. »Also würde ich an Ihrer Stelle nicht diesen moralisch überlegenen Tonfall einnehmen.«

Die Diskussion war endlich an einem Punkt angelangt, an dem Quim für sich selbst sprechen konnte. »Diese Diskussion ist sehr interessant«, sagte Quim. »Es wäre wunderbar, wenn meine Mission bei den Ketzern sicherstellen könnte, daß die Pequeninos davon absehen, der Menschheit Schaden zuzufügen. Doch auch wenn wir zum übereinstimmenden Schluß gelangen sollten, daß meine Mission keine Chance hat, dieses Ziel zu erreichen, würde ich gehen. Das gilt auch für den Fall, daß meine Mission die Dinge verschlimmern könnte.«

»Schön zu wissen, daß Sie sich kooperativ verhalten«, sagte Kovano scharf.

»Meine Loyalität gilt Gott und der Kirche«, sagte Quim. »Meine Mission gilt nicht dem Ziel, die Menschheit vor der Descolada zu retten oder auch nur den Frieden zwischen Menschen und Pequeninos hier auf Lusitania zu wahren. Ich gehe zu den Ketzern, um sie zum Glauben zu Christus und in die Einheit mit der Kirche zurückzuholen. Ich will ihre Seelen retten.«

»Natürlich«, sagte Kovano. »Das ist der Grund, weshalb Sie gehen wollen.«

»Und der Grund, weshalb ich gehen werde, und der einzige Maßstab, ob meine Mission ein Erfolg sein wird oder nicht.«

Kovano sah hilflos Bischof Peregrino an. »Sie haben gesagt, Vater Estevão sei kooperativ.«

»Ich habe gesagt, er sei Gott und der Kirche absolut gehorsam«, berichtigte der Bischof.

»Ich habe das so aufgefaßt, Sie könnten ihn überreden, mit dieser Mission zu warten, bis wir mehr wissen.«

»Ich könnte ihn in der Tat überreden«, sagte Bischof Peregrino. »Oder ihm einfach verbieten zu gehen.«

»Dann tun Sie es«, sagte Mutter.

»Das werde ich nicht tun«, entgegnete der Bischof.

»Ich dachte, Ihnen sei am Wohl dieser Kolonie gelegen«, sagte Bürgermeister Kovano.

»Mir ist am Wohl aller Christen gelegen, für die ich verantwortlich bin«, entgegnete der Bischof. »Bis vor dreißig Jahren waren das nur die Menschen auf Lusitania. Nun jedoch bin ich gleichermaßen für das geistliche Wohlergehen der christlichen Pequeninos auf diesem Planeten verantwortlich. Ich schicke Vater Estevão genau auf seine Mission, wie ein Missionar namens Patrick einmal auf die Insel Irland geschickt wurde. Er war außerordentlich erfolgreich und bekehrte Könige und Nationen. Leider verhielt sich die irische Kirche nicht immer so, wie der Papst es sich gewünscht hätte. Es gab viele – nun, sagen wir, Kontroversen. Oberflächlich gesehen ging es um das Datum des Osterfests, doch im Herzen war es ein Streit um die Gehorsamspflicht dem Papst gegenüber. Es kam gelegentlich sogar zu Blutvergießen. Aber keinen Augenblick lang stellte sich jemand vor, es wäre besser gewesen, wäre der heilige Patrick niemals nach Irland gegangen. Nie hat jemand angedeutet, es wäre besser gewesen, wären die Iren Heiden geblieben.«

Grego erhob sich. »Wir haben das Philot gefunden, das wahrhaft unteilbare Atom. Wir haben die Sterne erobert. Wir schicken überlichtschnelle Nachrichten aus. Und doch leben wir noch im Mittelalter.« Er ging zur Tür.

»Geh durch diese Tür, bevor ich es dir erlaube«, sagte Bürgermeister Kovano, »und du wirst ein Jahr lang nicht mehr die Sonne sehen.«

Grego ging zur Tür, doch nicht hindurch. Statt dessen lehnte er sich dagegen und grinste sarkastisch. »Da sehen Sie, wie gehorsam ich bin.«

»Ich werde Sie nicht lange aufhalten«, sagte Kovano. »Bischof Peregrino und Vater Estevão sprechen, als könnten sie ihre Entscheidung unabhängig von uns treffen, doch sie wissen natürlich, daß sie das nicht können. Wenn ich zum Schluß komme, Vater Estevãos Mission bei den Schweinchen besser zu verbieten, wird sie nicht stattfinden. Darüber sollten wir uns alle klar sein. Ich schrecke nicht davor zurück, den Bischof Lusitanias unter Arrest zu stellen, wenn das Wohlergehen Lusitanias es erfordert, und was diesen Missionar betrifft, so wird er nur zu den Pequeninos gehen, wenn er meine Zustimmung hat.«

»Ich bezweifle nicht, daß Sie sich in Gottes Arbeit auf Lusitania einmischen können«, sagte Bischof Peregrino. »Aber bezweifeln Sie nicht, daß ich Sie dafür in die Hölle schicken kann.«

»Das weiß ich«, sagte Kovano. »Ich wäre nicht der erste politische Führer, der nach einem Zwist mit der Kirche in der Hölle endet. Zum Glück wird es diesmal nicht dazu kommen. Ich habe Sie alle angehört und meinen Entschluß gefaßt. Es ist zu riskant, auf den neuen Anti-Virus zu warten. Selbst wenn ich mit absoluter Sicherheit wüßte, daß dieser Anti-Virus in sechs Wochen eingesetzt werden kann, würde ich diese Mission genehmigen. Im Augenblick besteht unsere beste Chance, noch etwas aus diesem Schlamassel zu machen, aus Vater Estevãos Mission. Andrew hat mir gesagt, daß die Schweinchen großen Respekt und Zuneigung für diesen Mann haben – selbst die ungläubigen. Es wird eine schwere Last von uns nehmen, wenn er die ketzerischen Pequeninos überreden kann, ihren Plan aufzugeben, die Menschheit im Namen ihrer Religion auszulöschen.«

Quim nickte ernst. Bürgermeister Kovano war ein Mann von großer Weisheit. Es war gut, daß sie nicht gegeneinander kämpfen mußten, wenigstens im Augenblick nicht.

»Ich erwarte, daß die Xenobiologen ihre Arbeit an dem Anti-Virus mit aller Kraft fortsetzen. Sobald der Virus existiert, werden wir entscheiden, ob wir ihn einsetzen oder nicht.«

»Wir werden ihn einsetzen«, sagte Grego.

»Nur über meine Leiche«, sagte Quara.

»Ich weiß eure Bereitschaft zu warten, bis wir mehr wissen, bevor ihr euch zu irgendeiner Tat hinreißen laßt, durchaus zu schätzen«, sagte Kovano. »Womit wir bei Ihnen wären, Grego Ribeira. Andrew Wiggin versichert mir, es gebe Grund zu der Annahme, eine überlichtschnelle Fortbewegung sei möglich.«

Grego musterte den Sprecher für die Toten kalt. »Und wo haben Sie Physik studiert, Senhor Falante?«

»Ich hoffe, ich kann sie bei dir studieren«, sagte Wiggin. »Bis du meine Beweise gehört hast, weiß ich wirklich nicht, ob wir auf solch einen Durchbruch hoffen können.«

Quim lächelte, als er sah, wie leicht Andrew den Streit abwenden konnte, den Grego vom Zaum brechen wollte. Grego war kein Narr. Er wußte, daß er manipuliert wurde. Doch Wiggin hatte ihm keinen vernünftigen Grund gegeben, seine Verärgerung zu zeigen. Diese Eigenschaft des Sprechers für die Toten konnte einen schon auf die Palme treiben.

»Wenn es eine Möglichkeit gäbe, mit Verkürzergeschwindigkeit zwischen den Welten zu reisen«, sagte Kovano, »bräuchten wir nur ein solches Schiff, um alle Menschen Lusitanias auf eine andere Welt zu bringen. Wenn es auch nur eine entfernte Chance gibt…«

»Ein törichter Traum«, sagte Grego.

»Aber wir werden der Sache nachgehen. Wir werden sie studieren«, sagte Kovano, »oder wir finden uns sonst als Arbeiter in der Schmelzhütte wieder.«

»Ich habe keine Angst davor, mit meinen Händen zu arbeiten«, sagte Grego. »Glauben Sie also nicht, Sie könnten mich dazu zwingen, Ihnen zu Diensten zu sein.«

»Ich bin verblüfft«, sagte Kovano. »Mir liegt an Ihrer Mitarbeit, Grego. Doch wenn ich die nicht haben kann, gebe ich mich auch mit Ihrem Gehorsam zufrieden.«

Anscheinend kam sich Quara übergangen vor. Sie erhob sich, wie Grego einen Augenblick zuvor. »Wir sitzen also hier und debattieren darüber, eine ganze vernunftbegabte Rasse auszulöschen, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, mit ihr zu kommunizieren. Hoffentlich gefallt ihr euch als Massenmörder.« Dann schickte sie sich, wie Grego, an zu gehen.

»Quara«, sagte Kovano.

Sie wartete.

»Sie werden Forschungen betreiben, die auf eine Kommunikation mit der Descolada hinauslaufen. Mal sehen, ob wir mit diesen Viren sprechen können.«

»Ich merke es, wenn man mir einen Knochen hinwirft«, sagte Quara. »Was ist, wenn ich euch sage, daß sie uns bitten, sie nicht zu töten? Ihr würdet mir sowieso nicht glauben.«

»Ganz im Gegenteil. Ich weiß, daß Sie eine ehrliche Frau sind, wenn auch hoffnungslos indiskret«, sagte Kovano. »Aber es gibt noch einen Grund, weshalb Sie lernen sollten, die Molekularsprache der Descolada zu verstehen. Andrew Wiggin hat eine Möglichkeit aufgeworfen, die mir noch nie zuvor in den Sinn gekommen ist. Wir alle wissen, daß das Bewußtsein der Pequeninos aus der Zeit stammt, als der Descolada-Virus zum ersten Mal diesen Planeten befiel. Doch was ist, wenn wir Ursache und Wirkung falsch verstanden haben?«

Mutter drehte sich mit einem leicht bitteren Lächeln auf dem Gesicht zu Andrew um. »Du glaubst, die Pequeninos hätten die Descolada verursacht?«

»Nein«, sagte Andrew. »Aber was passiert, wenn die Pequeninos die Descolada sind?«

Quara keuchte auf.

Grego lachte. »Du hast jede Menge kluge Ideen, was, Wiggin?«

»Ich verstehe nicht«, sagte Quim.

»Es ist nur ein Gedanke«, sagte Andrew. »Quara behauptet, die Descolada sei komplex genug, um vielleicht Intelligenz zu enthalten. Und was ist, wenn Descolada-Viren die Körper der Pequeninos benutzen, um ihren Charakter auszudrücken? Wenn die Intelligenz der Pequeninos ausschließlich von den Viren in ihren Körpern stammt?«

Zum ersten Mal ergriff Ouanda, die Xenologin, das Wort. »Sie haben von Xenologie genausowenig Ahnung wie von Physik, Mr. Wiggin.«

»Oh, noch viel weniger«, entgegnete Wiggin. »Aber mir kam in den Sinn, daß wir uns nie eine andere Möglichkeit vorstellen konnten, wie Erinnerungen und Intelligenz erhalten werden, wenn ein sterbender Pequenino ins dritte Leben tritt. Es wird nicht gerade das Gehirn der sterbenden Pequeninos in die Bäume versetzt. Doch wenn Wille und Gedächtnis von der Descolada übertragen werden, wäre das Absterben des Gehirns bei der Umwandlung der Persönlichkeit in den Vaterbaum fast bedeutungslos.«

»Selbst wenn dies zutreffen sollte«, sagte Ouanda, »gibt es einfach kein Experiment, mit dem wir es bestätigen könnten.«

Andrew Wiggin nickte bedauernd. »Mir würde bestimmt keins einfallen. Ich habe darauf gehofft, daß es bei Ihnen vielleicht anders ist.«

Kovano unterbrach erneut. »Ouanda, Sie müssen das erkunden. Wenn Sie nicht daran glauben – auch gut. Finden Sie eine Möglichkeit, es zu widerlegen, und Sie haben Ihre Pflicht getan.« Kovano erhob sich und wandte sich an sie alle. »Verstehen Sie, worum ich Sie alle bitten möchte? Wir stehen vor einer der schrecklichsten moralischen Entscheidungen, die die Menschheit je zu treffen hatte. Wenn wir nichts unternehmen, laufen wir Gefahr, den Xenozid zu begehen oder zu dulden. Jede Rasse, von der wir wissen oder vermuten, daß sie ein Bewußtsein hat, lebt im Schatten eines ernsten Risikos, und hier, bei uns und uns allein, liegen fast alle Entscheidungen. Als beim letzten Mal etwas entfernt Vergleichbares geschah, entschieden sich unsere menschlichen Vorgänger dazu, Xenozid zu begehen, um, wie sie vermuteten, sich selbst zu retten. Ich bitte Sie alle, jeden möglichen Weg einzuschlagen, wie unwahrscheinlich er auch zu sein scheint, der uns einen Hoffnungsschimmer zeigt, uns mit einem winzigen Fetzen Licht ausstatten könnte, das uns bei unserer Entscheidung führen konnte. Wollen Sie mir helfen?«

Sogar Grego, Quara und Ouanda nickten, wenn auch zögernd. Zumindest für den Augenblick war es Kovano gelungen, alle selbstsüchtigen Streithähne in diesem Raum zu einer kooperativen Gemeinschaft zusammenzuschweißen. Wie lange ihre Bereitschaft außerhalb dieses Raums anhalten würde, war eine andere Frage. Quim kam zum Schluß, daß die Bereitschaft zur Zusammenarbeit wahrscheinlich bis zur nächsten Krise Bestand hatte – und das mochte eventuell genügen.

Nur eine Konfrontation war noch nicht ausgestanden. Als sich alle verabschiedeten oder vereinbarten, sich noch in kleinem Kreis zu beraten, kam Mutter zu Quim und sah ihn wütend an.

»Geh nicht.«

Quim schloß die Augen. Auf eine so ungeheuerliche Forderung gab es nichts zu sagen.

»Wenn du mich liebst«, fuhr sie fort.

Quim erinnerte sich an die Geschichte aus dem Neuen Testament, als Jesus' Mutter und Brüder ihn besuchen und wollten, daß er die Unterweisung seiner Jünger unterbrach, um sie zu empfangen.

»Das sind meine Mutter und meine Brüder«, murmelte Quim.

Mutter mußte den Bezug verstanden haben, denn als er die Augen öffnete, war sie fort.

Keine Stunde später war auch Quim fort. Er benutzte einen der kostbaren Lastwagen der Kolonie. Er brauchte nur wenig Vorräte, und eine gewöhnliche Reise hätte er zu Fuß angetreten. Doch der Wald, den er aufsuchen wollte, befand sich so weit entfernt, daß er Wochen gebraucht hätte, um ihn ohne Wagen zu erreichen, und er hätte auch nicht genug Vorräte mitnehmen können. Lusitania war noch immer eine feindselige Umgebung – hier wuchs nichts, was Menschen essen konnten, und selbst wenn, hätte Quim noch immer Nahrung gebraucht, welche die Zusätze enthielten, die die Descolada unterdrückten. Ohne sie wäre er an der Descolada gestorben, lange bevor er verhungert wäre.

Als die Stadt Lusitania hinter ihm immer kleiner wurde und er immer tiefer in die bedeutungslose, offene Fläche der Prärie eindrang, fragte sich Quim – Vater Estevão –, welchen Entschluß Bürgermeister Kovano gefaßt hätte, hätte er gewußt, daß der Anführer der Ketzer ein Vaterbaum war, der sich den Namen Kriegmacher verdient hatte, und daß Kriegmacher gesagt haben sollte, die einzige Hoffnung für die Pequeninos sei, daß der Heilige Geist – der Descolada-Virus – alles menschliche Leben auf Lusitania vernichtete.

Es hätte keine Rolle gespielt. Gott hatte Quim berufen, jeder Nation und Familie, jedem Stamm und Volk das Evangelium Gottes zu verkünden. Selbst die kriegerischsten, blutdürstigsten, haßerfüllten Völker konnten von der Liebe Gottes erfüllt und in Christen verwandelt werden. Es war in der Geschichte schon oft geschehen. Warum nicht auch jetzt?

O Vater, vollbringe eine mächtige Tat auf dieser Welt. Nie haben deine Kinder Wunder dringender gebraucht als wir jetzt.


Novinha sprach nicht mit Ender, und er bekam es mit der Angst zu tun. Das war keine Launenhaftigkeit – er hatte bei Novinha nie Launen festgestellt. Ender hatte den Eindruck, daß ihr Schweigen ihn nicht bestrafen, sondern sie eher davon abhalten sollte, ihn zu bestrafen; daß sie schwieg, weil sie Worte, die sie sonst sprechen würde, zu grausam wären, als daß man sie ihr jemals verzeihen könnte.

Also versuchte er anfangs nicht, sie zum Sprechen zu bewegen. Er ließ sie wie einen Schatten durch das Haus ziehen, wich jedem Blickkontakt aus, versuchte, sich von ihr fernzuhalten, und ging erst zu Bett, wenn sie schlief.

Offensichtlich benahm sie sich wegen Quims so. Seine Reise zu den Ketzern – er verstand ihre Angst, und obwohl Ender nicht dieselben Befürchtungen teilte, wußte er, daß Quims Mission nicht ungefährlich war. Novinha benahm sich irrational. Wie hätte Ender ihren Sohn aufhalten können? Er war dasjenige von Novinhas Kindern, auf das Ender fast keinen Einfluß hatte; sie waren vor ein paar Jahren zu einem Waffenstillstand gelangt, doch es war ein Friedensvertrag unter Gleichberechtigten gewesen, keineswegs eine Beziehung wie zwischen einem Vater und seinen Kindern, wie sie Ender mit allen anderen aufgebaut hatte. Wenn Novinha nicht imstande gewesen war, Quim zu überreden, diese Mission aufzugeben – was hätte Ender da erreichen können?

Verstandesgemäß wußte Novinha dies wahrscheinlich. Doch wie alle anderen Menschen handelte sie nicht immer ihrem Verständnis entsprechend. Sie hatte zu viele geliebte Menschen verloren; als sie fühlte, wie ihr ein weiterer entglitt, reagierte sie gefühls- und nicht verstandsmäßig. Ender war als Heiler, als Beschützer in ihr Leben getreten. Es war seine Aufgabe, ihr die Angst zu nehmen, und nun hatte sie Angst, und sie war wütend auf ihn, weil er ihr gegenüber versagt hatte.

Doch nach zwei Tagen des Schweigens hatte Ender genug. Es war nicht gerade der ideale Augenblick für eine Barriere zwischen ihm und Novinha. Er wußte – und Novinha auch –, daß Valentines Ankunft eine schwierige Zeit für sie bedeutete. Er hatte so viele Kommunikationsmöglichkeiten mit Valentine, so viele Verbindungen, so viele Wege zu ihrer Seele, daß es ihm schwerfiel, nicht wieder zu der Person zu werden, die er während der Jahre – der Jahrtausende – gewesen war, die sie gemeinsam verbracht hatten. Sie hatten dreitausend Jahre der Geschichte erlebt, als hätten sie sie durch dieselben Augen gesehen. Mit Novinha war er nur dreißig Jahre zusammen. Das war eigentlich nach subjektiver Zeit länger, als er mit Valentine verbracht hatte, doch es war so leicht, in seine alte Rolle als Valentines Bruder zurückzufallen, als Sprecher für ihren Demosthenes.

Ender hatte damit gerechnet, daß Novinha auf Valentine eifersüchtig war, und war darauf vorbereitet. Er hatte Valentine gewarnt, daß sie wahrscheinlich, vor allem am Anfang, nur selten ungestört sein würden. Und sie hatte es verstanden, auch Jakt hatte so seine Probleme, und beide Partner brauchten Bestätigung. Es war fast lächerlich, daß Jakt und Novinha auf die Verbindung zwischen Bruder und Schwester eifersüchtig waren. Es hatte niemals den leisesten Hinweis auf Sexualität in Enders und Valentines Beziehung gegeben – jeder, der sie kannte, hätte über eine solche Vermutung gelacht –, doch Novinha und Jakt befürchteten auch keine sexuelle Untreue. Es war auch nicht ihre gefühlsmäßige Verbindung – Novinha bezweifelte Enders Liebe und Hingabe für sie nicht, und Jakt hätte nicht mehr verlangen können, als Valentine ihm bot, sowohl was die Leidenschaft als auch das Vertrauen betraf.

Es ging tiefer als das. Es war die Tatsache, daß sie selbst jetzt, nach all diesen Jahren, kaum daß sie wieder zusammen waren, wie eine einzige Person funktionierten, sich einander aushalfen, ohne je erklären zu müssen, was sie eigentlich beabsichtigten. Jakt sah es, und selbst für Ender, der ihn nie zuvor gesehen hatte, war es offensichtlich, daß er sich am Boden zerstört fühlte. Als sehe er seine Frau und deren Bruder und begriff: Das ist wahre Nähe. Das ist es, was es heißt, zwei Menschen seien eins. Er hatte gedacht, er und Valentine stünden sich als Mann und Frau so nahe, wie es nur möglich sei, und vielleicht stimmte das auch. Doch nun hatte er die Tatsache zu verkraften, daß sich zwei Menschen noch näher sein konnten. Daß sie in gewisser Hinsicht dieselbe Person sein konnten.

Ender konnte dies in Jakt sehen, und er bewunderte, wie gut es Valentine gelang, ihn zu beruhigen – und sich von Ender fernzuhalten, so daß sich ihr Mann langsam an die Verbindung zwischen ihnen gewöhnen konnte.

Doch Ender hatte nicht voraussehen können, wie Novinha reagieren würde. Er hatte sie nur als die Mutter ihrer Kinder gekannt; er hatte nur die heftige, unvernünftige Loyalität gekannt, die sie für sie empfand. Wenn sie sich bedroht fühlte, so hatte er geglaubt, würde sie besitzergreifend und beherrschend werden, so, wie sie es bei den Kindern war. Er war nicht im geringsten darauf vorbereitet, daß sie sich von ihm zurückzog. Noch vor ihrem Schweigen wegen Quims Mission hatte sie sich von ihm zurückgezogen. Nun, wo er darüber nachdachte, wurde ihm klar, daß es schon vor Valentines Ankunft begonnen hatte, als habe Novinha schon auf eine neue Rivalin reagiert, bevor diese Rivalin überhaupt eingetroffen war.

Es ergab natürlich Sinn, und er hätte es voraussehen müssen. Novinha hatte in ihrem Leben zu viele starke Personen verloren, zu viele Menschen, von denen sie abhängig war. Ihre Eltern. Pipo. Libo. Sogar Miro. Sie mochte bei ihren Kindern, von denen sie annahm, daß sie sie brauchten, besitzergreifend und beschützend sein, doch bei den Menschen, die sie selbst brauchte, verhielt sie sich genau andersherum. Wenn sie befürchtete, man könne sie ihr nehmen, zog sie sich von ihnen zurück; sie erlaubte sich nicht mehr, sie zu brauchen.

Nicht ›sie‹. Ihn. Ender. Sie versuchte, ihn nicht mehr zu brauchen. Und wenn sie dieses Schweigen bewahrte, würde es solch einen Keil zwischen sie treiben, daß sich ihre Ehe nicht mehr davon erholen konnte.

Ender wußte nicht, was er tun würde, sollte es soweit kommen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, seine Ehe könnte gefährdet sein. Er hatte sie nicht leichthin angetreten; er beabsichtigte, als Novinhas Ehemann zu sterben, und ihre gemeinsamen Jahre waren mit jener Freude erfüllt gewesen, die vom völligen Vertrauen in einen anderen Menschen herrührt. Nun hatte Novinha dieses Vertrauen in ihn verloren. Doch das war nicht gerecht. Er war noch immer ihr Gatte, war ihr so treu ergeben, wie es bei noch keinem anderen Mann, noch keinem anderen Menschen in ihrem Leben je der Fall gewesen war. Er verdiente es nicht, sie wegen eines lächerlichen Mißverständnisses zu verlieren. Und wenn er ihre Beziehung einfach aufgab, wie Novinha es anscheinend unterbewußt wünschte, würde sie endgültig überzeugt sein, sich auf keinen anderen Menschen verlassen zu können. Das wäre tragisch, denn es war ganz einfach falsch.

Und so plante Ender bereits irgendeine Konfrontation, um die Luft zu reinigen, als Ela sie zufällig auslöste.

»Andrew.«

Ela stand auf der Schwelle. Wenn sie draußen in die Hände geklatscht hatte, um so um Einlaß zu bitten, hatte Ender es nicht gehört. Aber andererseits mußte sie kaum klatschen, wenn sie das Haus ihrer Mutter betreten wollte.

»Novinha ist in unserem Zimmer«, sagte Ender.

»Ich wollte eigentlich mit dir sprechen.«

»Es tut mir leid, aber ich kann dir keinen Vorschuß auf dein Erbteil geben.«

Ela lachte, während sie sich neben ihn setzte, doch das Lachen erstarb schnell. Sie war besorgt.

»Quara«, sagte sie.

Ender seufzte und lächelte. Quara war widerspenstig geboren worden, und nichts im Leben hatte sie umgänglicher machen können. Doch Ela war immer besser mit ihr zurechtgekommen als irgendwer sonst.

»Es ist nicht einfach wie immer«, sagte Ela. »Eigentlich macht sie sogar weniger Ärger als üblich. Kein einziger Streit.«

»Ein gefährliches Zeichen?«

»Du weißt, daß sie versucht, mit der Descolada zu kommunizieren.«

»Molekularsprache.«

»Na ja, was sie tut, ist gefährlich, und selbst, wenn sie Erfolg haben sollte, wird sie keine Kommunikation herstellen können. Besonders, wenn sie Erfolg hat, denn dann besteht eine gute Chance, daß wir alle tot sein werden.«

»Was hat sie vor?«

»Sie hat in meinen Akten geschnüffelt – was nicht besonders schwer war, da ich es nicht für nötig hielt, sie vor einer anderen Xenobiologin zu sperren. Sie konstruiert die Hemmstoffe, die ich in die Pflanzen einfügen wollte – kein Problem, denn ich habe ihr erklärt, wie man das macht. Aber anstatt sie irgendwo einzuspritzen, gibt sie sie direkt in die Descolada.«

»Was meinst du mit geben?«

»Das sind ihre Nachrichten. Das schickt sie ihnen mit ihren kostbaren kleinen Informationsträgern. Ob diese Träger nun eine Sprache sind oder nicht, läßt sich mit solch einem Un-Experiment nicht klären. Aber ob die Descolada nun ein Bewußtsein hat oder nicht, sie kann sich verdammt gut anpassen – und Ela hilft ihr damit vielleicht, sich einigen meiner besten Strategien für ihre Blockade anzupassen.«

»Verrat.«

»Richtig. Sie füttert den Feind mit unseren militärischen Geheimnissen.«

»Hast du mit ihr darüber gesprochen?«

»Sta brincando. Claro que falei. Ela quase me matou.« Du scherzt – natürlich habe ich mit ihr gesprochen. Sie hätte mich fast umgebracht.

»Hat sie irgendwelche Viren erfolgreich trainiert?«

»Sie macht noch nicht einmal Tests, um das festzustellen. Es ist, als sei sie ans Fenster gestürmt und hätte gebrüllt: ›Sie kommen, um euch zu töten!‹ Das ist keine Wissenschaft, sondern Interspezies-Politik. Nur… wir wissen nicht einmal, ob die andere Seite überhaupt eine Politik hat. Wir wissen nur, daß sie uns mit Quaras Hilfe vielleicht noch schneller töten kann, als wir es uns vorgestellt haben.«

»Nossa Senhora«, murmelte Ender. »Es ist zu gefährlich. Sie kann nicht einfach damit herumspielen.«

»Vielleicht ist es schon zu spät – ich weiß nicht, ob sie schon einen Schaden angerichtet hat oder nicht.«

»Dann müssen wir sie aufhalten.«

»Wie? Ihr die Arme brechen?«

»Ich werde mit ihr sprechen, doch sie ist zu alt – oder zu jung –, um auf die Vernunft zu hören. Ich fürchte, die letzte Entscheidung wird der Bürgermeister und nicht wir treffen müssen.«

Erst als Novinha das Wort ergriff, bemerkte Ender, daß seine Frau das Zimmer betreten hatte. »Mit anderen Worten, Gefängnis«, sagte sie. »Du hast vor, meine Tochter einsperren zu lassen. Wann wolltest du mich informieren?«

»Gefängnis ist mir nicht in den Sinn gekommen«, sagte Ender. »Er wird ihr den Zugang zu…«

»Das ist nicht die Aufgabe des Bürgermeisters«, sagte Novinha, »sondern meine. Ich bin die Chefxenobiologin. Warum bist du nicht zu mir gekommen, Elanora? Warum zu ihm?«

Ela saß schweigend da und musterte ihre Mutter ruhig. So stand sie einen Konflikt mit ihrer Mutter aus – mit passivem Widerstand.

»Quara ist außer Kontrolle, Novinha«, sagte Ender. »Es war schlimm genug, den Vaterbäumen Geheimnisse zu verraten. Sie der Descolada zu verraten, ist verrückt.«

»Tu es psicologista, agora?« Jetzt bist du auch Psychologe?

»Ich habe nicht vor, sie einzusperren.«

»Du hast überhaupt nichts vor«, sagte Novinha. »Nicht mit meinen Kindern.«

»Das stimmt«, sagte Ender. »Ich habe mit Kindern überhaupt nichts vor. Ich habe jedoch die Verantwortung, etwas gegen einen erwachsenen Bürger Lusitanias zu unternehmen, der skrupellos das Überleben eines jeden Menschen auf diesem Planeten gefährdet, vielleicht sogar eines jeden Menschen überall.«

»Und wer hat dir diese edle Verantwortung gegeben, Andrew? Ist Gott auf einen Berg hinaufgestiegen und hat dir die Befugnis, die Menschen zu beherrschen, in eine Steintafel geschlagen?«

»Na schön«, sagte Ender. »Was schlägst du vor?«

»Ich schlage vor, daß du dich aus einer Sache heraushältst, die dich nichts angeht. Und ehrlich gesagt, Andrew, das schließt ziemlich viel ein. Du bist kein Xenobiologe. Du bist kein Physiker. Du bist kein Xenologe. Eigentlich bist du gar nichts, nur ein Störenfried, der sich in die Leben anderer Menschen einmischt.«

Ela holte tief Luft. »Mutter!«

»Das einzige, das dir irgendeine Macht gibt, ist dieses verdammte Juwel in deinem Ohr. Sie flüstert dir Geheimnisse zu, sie spricht des Nachts mit dir, wenn du mit deiner Frau im Bett liegst, und wann immer sie etwas will, bist du auf einer Konferenz, auf der du nichts zu suchen hast, und sagst, was sie dir aufgetragen hat. Du behauptest, Quara habe Betrug begangen. Soweit ich es beurteilen kann, bist du es, der wegen eines übergroßen Stücks Software echte Menschen betrügst!«

»Novinha«, sagte Ender, um sie zu beruhigen.

Aber sie war nicht an einem Dialog interessiert. »Wage es ja nicht, dich jetzt auch mit mir zu befassen. Die ganzen Jahre über habe ich gedacht, du liebst mich…«

»Ich liebe dich auch.«

»Ich dachte, du wärest wirklich einer von uns geworden, würdest zu unserem Leben gehören…«

»Das tue ich auch.«

»Ich dachte, es wäre echt…«

»Das ist es.«

»Aber du bist nur das, wovor Bischof Peregrino uns von Anfang an gewarnt hat. Ein Manipulator. Ein Herrscher. Dein Bruder hat einst die gesamte Menschheit beherrscht, nicht wahr? Aber so ehrgeizig bist du nicht. Du gibst dich mit einem kleinen Planeten zufrieden.«

»Im Namen Gottes, Mutter, hast du den Verstand verloren? Kennst du diesen Mann nicht?«

»Ich dachte, ich würde ihn kennen.« Novinha weinte jetzt. »Aber niemand, der mich liebt, hätte je zugelassen, daß mein Sohn hinausgeht zu diesen mörderischen kleinen Schweinen…«

»Er hätte Quim nicht aufhalten können, Mutter! Niemand konnte das!«

»Er hat es nicht einmal versucht! Er hat es gebilligt!«

»Ja«, sagte Ender. »Ich dachte, dein Sohn habe edel und tapfer gehandelt, und das habe ich gebilligt. Er wußte, daß die Gefahr zwar nicht groß, aber doch vorhanden war, und wollte trotzdem gehen – und das habe ich gebilligt. Es ist genau das, was du getan hättest und hoffentlich auch ich, wäre ich an seiner Stelle gewesen. Quim ist ein Mann, ein guter, vielleicht auch ein großer Mann. Er braucht deinen Schutz nicht und will ihn auch gar nicht. Er hat seine Lebensaufgabe gefunden und verrichtet sie. Ich ehre ihn dafür, und das solltest du auch tun. Wie wagst du es da vorzuschlagen, einer von uns hätte sich ihm in den Weg stellen sollen?«

Novinha verstummte endlich, zumindest für den Augenblick. Maß sie Enders Worte ab? Begriff sie endlich, wie vergeblich und grausam es von ihr gewesen war, Quim mit ihrem Zorn anstatt ihrem Segen gehen zu lassen? Während dieses Schweigens hatte Ender noch Hoffnung.

Dann endete es. »Wenn du dich je wieder in das Leben meiner Kinder einmischst, bin ich mit dir fertig«, sagte Novinha. »Und wenn Quim irgend etwas zustößt, werde ich dich hassen, bis du stirbst, und beten, daß dieser Tag bald kommen wird. Du weißt überhaupt nichts, du Mistkerl, und es wird langsam Zeit, daß du aufhörst, so zu tun.«

Sie ging zur Tür, doch dann fiel ihr noch ein theatralischer Abgang ein. Sie drehte sich zu Ela um und sprach mit bemerkenswerter Ruhe. »Elenora, ich werde augenblicklich Schritte ergreifen, um Quara den Zugang zu Ausrüstung und Daten zu nehmen, mit denen sie der Descolada helfen könnte. Und wenn ich noch einmal höre, meine Liebe, daß du mit irgendeinem Laborangelegenheiten besprichst, besonders mit diesem Mann, werde ich dich lebenslang aus dem Labor verbannen. Hast du verstanden?«

Erneut antwortete Ela mit Schweigen.

»Ah«, sagte Novinha. »Wie ich sehe, hat er mehr von meinen Kindern gestohlen, als ich dachte.«

Dann war sie fort.

Ender und Ela saßen in benommenem Schweigen da. Schließlich stand Ela auf, tat jedoch keinen Schritt.

»Ich sollte wirklich etwas unternehmen«, sagte sie, »aber mir fällt ums Verrecken nicht ein, was.«

»Vielleicht solltest du zu deiner Mutter gehen und ihr zeigen, daß du noch auf ihrer Seite bist.«

»Aber das bin ich nicht mehr«, sagte Ela. »Ich habe sogar schon darüber nachgedacht, zu Bürgermeister Zeljezo zu gehen und ihn zu bitten, Mutter als Chefxenobiologin abzusetzen, weil sie eindeutig den Verstand verloren hat.«

»Das hat sie nicht«, sagte Ender. »Und wenn du so etwas tätest, würde es sie umbringen.«

»Mutter? Sie ist zu hart, um zu sterben.«

»Nein«, sagte Ender. »Sie ist im Augenblick so zerbrechlich, daß jeder Schlag sie töten könnte. Nicht ihren Körper. Ihr – Vertrauen. Ihre Hoffnung. Ganz gleich, was passiert, gib ihr keinen Grund zu der Annahme, du stündest nicht hinter ihr.«

Ela sah ihn wütend an. »Machst du das absichtlich, oder ist das ganz einfach deine Natur?«

»Wovon sprichst du?«

»Mutter hat gerade Dinge zu dir gesagt, die dich erzürnen oder verletzen müßten, und du sitzt da und überlegst dir, wie du ihr helfen kannst. Möchtest du nie auf jemanden einprügeln? Ich meine, verlierst du nie die Beherrschung?«

»Ela, nachdem du unabsichtlich mit bloßen Händen ein paar Menschen getötet hast, lernst du entweder, dich im Zaum zu halten, oder du verlierst deine Menschlichkeit.«

»Das hast du getan?«

»Ja«, sagte er. Einen Augenblick lang glaubte er, sie sei schockiert.

»Glaubst du, du könntest es auch heute noch tun?«

»Wahrscheinlich«, sagte er.

»Gut. Das kann ganz nützlich sein, wenn hier die Hölle losbricht.« Dann lachte sie. Es war ein Scherz. Ender war erleichtert. Er lachte mit ihr, aber nur schwach.

»Ich gehe zu Mutter«, sagte Ela, »aber nicht, weil du es mir gesagt hast, nicht einmal aus den Gründen, die du genannt hast.«

»Schön. Geh einfach so.«

»Willst du nicht wissen, warum ich zu ihr halte?«

»Ich weiß es schon.«

»Natürlich. Sie hat sich geirrt, nicht wahr? Du weißt alles, oder?«

»Du gehst zu deiner Mutter, weil es das schmerzhafteste ist, was du dir im Augenblick antun kannst.«

»Bei dir klingt das irgendwie… krank.«

»Es ist die schmerzhafteste gute Tat, die du tun kannst. Es ist die unangenehmste Aufgabe. Es ist die schwerste Last.«

»Ela die Märtyrerin, certo? Wirst du das sagen, wenn du über meinen Tod sprichst?«

»Wenn ich über deinen Tod sprechen soll, muß ich eine Aufzeichnung machen. Ich habe vor, lange vor dir tot zu sein.«

»Also verläßt du Lusitania nicht?«

»Natürlich nicht.«

»Auch nicht, wenn Mutter dich hinauswirft?«

»Das kann sie nicht. Sie hat keinen Scheidungsgrund, und Bischof Peregrino kennt uns beide so gut, daß er über die Bitte lachen wird, die Ehe zu annullieren, weil sie nicht vollzogen worden sei.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ich will hierbleiben«, sagte Ender. »Keine falsche Unsterblichkeit durch Zeitdilation mehr. Ich bin es leid, im All herumzuhetzen. Ich werde Lusitania nie wieder verlassen.«

»Selbst wenn du dann sterben wirst? Wenn die Flotte kommt?«

»Wenn alle gehen können, werde ich auch gehen«, sagte Ender. »Aber ich werde derjenige sein, der alle Lampen ausschaltet und die Tür abschließt.«

Sie lief zu ihm, küßte ihn auf die Wange und umarmte ihn kurz. Dann war sie aus der Tür, und er war wieder allein.

Ich habe mich bei Novinha furchtbar getäuscht, dachte er. Nicht auf Valentine war sie eifersüchtig, sondern auf Jane. All die Jahre lang hat sie gesehen, wie ich stumm mit Jane spreche, Dinge sagte, die sie nie hören konnte, Dinge hörte, die sie nie sagen konnte. Ich habe das Vertrauen verloren, das sie in mich gesetzt hatte, und es nicht einmal gemerkt.

Selbst jetzt mußte er subvokalisiert haben. Er mußte aus einer so tiefen Gewohnheit heraus mit Jane gesprochen haben, daß er es nicht einmal bemerkt hatte. Denn sie antwortete ihm.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte sie.

Das kann schon sein, antwortete Ender stumm.

»Du hast nie geglaubt, ich würde viel von Menschen verstehen.«

Du lernst wohl.

»Weißt du, sie hat recht. Du bist meine Puppe. Ich manipuliere dich die ganze Zeit über. Du hast seit Jahren keinen eigenen Gedanken mehr gedacht.«

»Halt die Klappe«, flüsterte er. »Ich bin nicht in der Stimmung.«

»Ender«, sagte sie, »wenn du glaubst, es hilft dir dabei, Novinha nicht zu verlieren, nimm das Juwel aus deinem Ohr. Ich habe nichts dagegen.«

»Ich hätte schon etwas dagegen.«

»Dann habe ich eben gelogen«, sagte sie. »Aber wenn du es tun mußt, um sie zu behalten, dann tu es.«

»Danke«, sagte er. »Doch ich wäre schlecht beraten, um etwas zu kämpfen, das ich bereits eindeutig verloren habe.«

»Wenn Quim zurückkommt, wird alles wieder in Ordnung sein.«

Genau, dachte Ender. Genau.

Bitte, Gott, gib auf Vater Estevão acht.


Sie wußten, daß Vater Estevão kam. Pequeninos wußten es immer. Die Vaterbäume erzählten einander alles. Es gab keine Geheimnisse. Nicht, daß sie es so gewollt hätten. Vielleicht gab es einen Vaterbaum, der ein Geheimnis bewahren oder eine Lüge erzählen wollte. Doch sie waren nicht gerade allein. Sie hatten niemals eigene Erfahrungen. Wenn also ein Vaterbaum etwas geheimhalten wollte, würde es immer einen anderen in der Nähe geben, der anderer Ansicht war. Wälder handelten immer im Einklang, doch sie bestanden noch aus Individuen, und so glitten die Geschichten von einem Wald zum anderen, ganz gleich, was ein paar Vaterbäume vielleicht wollten.

Quim wußte, daß diese Tatsache ihm zum Schutz geriet. Denn obschon Kriegmacher ein blutdürstiger Hundesohn war – gleichwohl diese Bezeichnung bei Pequeninos eigentlich gar keine Bedeutung hatte –, konnte er Vater Estevão nichts antun, ohne seine Brüder zuerst zu überreden, sich so zu verhalten, wie er es wollte. Und wenn er das tat, würde einer der anderen Vaterbäume in seinem Wald davon erfahren und es verraten. Würde Zeugnis ablegen. Wollte Kriegmacher den Eid brechen, den alle Vaterbäume vor dreißig Jahren gemeinsam geleistet hatten, konnte es nicht insgeheim geschehen. Die ganze Welt würde es wissen, und Kriegmacher wäre als wortbrüchig bekannt. Es wäre schändlich. Welches Weib würde den Brüdern dann noch erlauben, eine Mutter zu ihm zu tragen? Welche Kinder würde er noch haben, solange er lebte?

Quim war in Sicherheit. Vielleicht würden sie nicht auf ihn hören, doch sie würden ihm nichts tun.

Doch als er Kriegmachers Wald erreichte, verschwendeten sie keine Zeit damit, ihn anzuhören. Die Brüder ergriffen ihn, warfen ihn zu Boden und zerrten ihn zu Kriegmacher.

»Das war nicht notwendig«, sagte er. »Ich wäre sowieso hierher gekommen.«

Ein Bruder schlug mit Stöcken auf den Baum. Quim lauschte der sich verändernden Musik, während Kriegmacher die Hohlräume in sich veränderte und die Klänge zu Worten formte.

»Du bist gekommen, weil ich es befohlen habe.«

»Du hast befohlen. Ich bin gekommen. Wenn du glauben möchtest, das habe mein Kommen veranlaßt, bitte schön. Doch Gottes Befehle sind die einzigen, die ich freiwillig befolge.«

»Du bist hierher gekommen, um den Willen Gottes zu vernehmen«, sagte Kriegmacher.

»Ich bin hier, um den Willen Gottes zu verkünden«, sagte Quim. »Die Descolada ist ein Virus, von Gott geschaffen, um die Pequeninos zu würdigen Kindern zu machen. Doch der Heilige Geist hat keine Inkarnation. Der Heilige Geist ist eigens Geist, damit er in unseren Herzen wohnen kann.«

»Die Descolada wohnt in unseren Herzen und gibt uns Leben. Was gibt der Heilige Geist euch, wenn er in euern Herzen wohnt?«

»Einen Gott. Einen Glauben. Eine Taufe. Gott predigt nicht das eine Wort zu Menschen und ein anderes zu Pequeninos.«

»Wir sind keine ›Kleinen‹. Ihr werdet sehen, wer mächtig und wer klein ist.«

Sie zwangen ihn hoch und drückten ihn mit dem Rücken gegen Kriegmachers Stamm. Er fühlte, wie sich die Borke hinter ihm veränderte. Sie stießen ihn. Viele kleine Hände, viele Schnauzen, deren Atem er spürte. In all diesen Jahren war er nie davon ausgegangen, solche Hände, solche Schnauzen, könnten zu Feinden gehören. Und selbst jetzt begriff Quim voller Erleichterung, daß er sie nicht für seine persönlichen Feinde hielt. Sie waren die Feinde Gottes, und er hatte Mitleid mit ihnen. Es war eine große Entdeckung für ihn, daß er sogar in einem Augenblick, da er in den Bauch eines mörderischen Vaterbaums gestoßen wurde, keine Spur von Furcht oder Haß in sich hatte.

Ich fürchte den Tod wirklich nicht. Das habe ich nie gewußt.

»Du glaubst, ich werde den Eid brechen«, sagte Kriegmacher.

»Es ist mir in den Sinn gekommen«, entgegnete Quim. Er befand sich nun vollständig in dem Baum, obwohl er vor ihm vom Kopf bis zu den Zehen geöffnet blieb. Er konnte sehen, er konnte atmen – sein Gefängnis war nicht einmal so eng, daß sich klaustrophobische Gefühle einstellten. Doch das Holz hatte sich so glatt um ihn herum zusammengezogen, daß er keinen Arm, kein Bein bewegen, nicht seitlich durch die Lücke vor ihm gleiten konnte. Eng ist das Tor und schmal der Weg, der zur Erlösung führt.

»Wir werden dich einer Prüfung unterziehen«, sagte Kriegmacher. Nun, da Quim seine Worte von innen hörte, konnte er sie kaum noch verstehen. »Soll Gott zwischen dir und mir entscheiden. Wir geben dir zu trinken, soviel du willst – das Wasser aus unserem Bach. Aber Nahrung wirst du nicht bekommen.«

»Mich verhungern zu lassen ist…«

»Verhungern? Wir haben deine Nahrung. In zehn Tagen werden wir dich wieder füttern. Wenn der Heilige Geist dich zehn Tage lang leben läßt, werden wir dich füttern und freilassen. Dann werden wir an deine Lehre glauben. Dann gestehen wir ein, daß wir uns geirrt haben.«

»Der Virus wird mich vorher töten.«

»Der Heilige Geist wird dich prüfen und entscheiden, ob du würdig bist.«

»Hier findet eine Prüfung statt«, sagte Quim, »aber nicht die, die ihr glaubt.«

»Ach?«

»Es ist die Prüfung des Jüngsten Gerichts. Ihr steht vor Christus, und er sagt zu denen zu seiner Rechten: ›Ich war ein Fremder, und ihr habt mich aufgenommen. Tretet in die Freude des Herrn.‹ Dann sagt er zu denen zu seiner Linken: ›Ich war hungrig, und ihr gabt mir nichts. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich schlecht behandelt.‹ Und sie alle sagen zu ihm: ›Herr, wann haben wir dir das angetan?‹ Und er antwortet: ›Wenn ihr dies dem geringsten meiner Brüder angetan habt, habt ihr es auch mir angetan.‹ Ihr Brüder, die ihr euch hier versammelt habt – ich bin der geringste eurer Brüder. Ihr werdet vor Christus verantworten, was ihr mir hier antut.«

»Törichter Mensch«, sagte Kriegmacher. »Wir tun dir nichts an, halten dich nur fest. Mit dir geschieht, was Gott will. Hat Jesus nicht gesagt: ›Ich tue nichts, was mein Vater nicht auch tut?‹ Hat Jesus nicht gesagt: ›Ich bin der Weg. Kommt und folgt mir?‹ Nun, wir lassen dich tun, was auch Jesus getan hat. Er ging ohne Brot vierzig Tage lang in die Wildnis. Wir geben dir die Chance, ein Viertel so heilig zu sein. Wenn Gott will, daß wir an deine Lehre glauben, wird er Engel schicken, die dich füttern. Er wird Steine in Brot verwandeln.«

»Ihr macht einen Fehler«, sagte Quim.

»Du hast den Fehler gemacht, indem du hierher gekommen bist.«

»Das meine ich nicht. Ihr macht einen Fehler, da ihr die Lehre falsch auffaßt. Ihr habt die Worte richtig verstanden – in der Wildnis fasten, Steine zu Brot und so weiter. Aber ist es nicht bezeichnend, daß ihr Satans Rolle übernehmt?«

Nach diesen Worten bekam Kriegmacher einen Wutanfall. Er sprach so schnell, daß die Bewegungen im Holz an Quim zu zerren und drücken begannen, bis er befürchtete, er würde im Baum zerrissen werden.

»Du bist der Satan! Wir sollen deine Lügen lange genug glauben, daß ihr Menschen eine Möglichkeit findet, die Descolada zu töten und allen Brüdern das dritte Leben vorzuenthalten! Glaubst du, wir durchschauen euch nicht? Wir kennen all eure Pläne! Ihr habt keine Geheimnisse! Und Gott hat auch vor uns keine Geheimnisse! Wir sind diejenigen, denen er das dritte Leben gab, nicht ihr! Wenn Gott euch liebte, würde er euch nicht eure Toten in der Erde vergraben lassen, so daß nur Würmer aus euch entstehen können!«

Von dem Streit in den Bann geschlagen, setzten die Brüder sich um die Stammöffnung.

Es ging sechs Tage so weiter, Glaubensdiskussionen, die eines jeden Kirchenvaters eines jeden Zeitalters würdig gewesen wären. Seit dem Konzil auf Nicäa waren so gewaltige Themen nicht mehr erörtert und abgewogen wurden.

Die Argumente wurden von Bruder zu Bruder weitergegeben, von Baum zu Baum, von Wald zu Wald. Berichte der Dialoge zwischen Kriegmacher und Vater Estevão erreichten Wühler und Mensch innerhalb eines Tages. Doch die Informationen waren nicht vollständig. Erst am vierten Tag begriffen sie, daß Quim gefangengehalten wurde und auch keine Nahrung mit dem Descolada-Hemmer bekam. Daraufhin wurde sofort eine Expedition ausgeschickt, die aus Ender und Ouanda, Jakt und Lars und Varsambestand. Bürgermeister Kovano schickte Ender und Ouanda, weil die Schweinchen sie am besten kannten und auch respektierten, und Jakt und dessen Sohn und Schwiegersohn, weil sie nicht auf Lusitania geboren waren. Kovano wagte es nicht, einheimische Kolonisten zu schicken – es ließ sich nicht absehen, was geschehen würde, sollte dieser Vorfall bekannt werden. Die fünf nahmen den schnellsten Wagen und folgten den Richtungshinweisen, die Wühler ihnen gab. Es war eine Dreitagesreise.

Am sechsten Tag endete der Dialog, weil die Descolada Quims Körper so gründlich durchdrungen hatte, daß er keine Kraft zum Sprechen mehr hatte, und wenn er doch noch etwas sagte, ließen das Fieber und Delirium seine Worte unverständlich werden.

Am siebenten Tag schaute er durch die Öffnung nach oben, über die Köpfe der Brüder hinweg, die noch dort warteten. »Ich sehe den Erlöser, wie er auf der rechten Hand Gottes sitzt«, flüsterte er. Dann lächelte er.

Eine Stunde später war er tot. Kriegmacher spürte es und verkündete es triumphierend seinen Brüdern. »Der Heilige Geist hat sein Urteil gefällt, und Vater Estevão wurde zurückgewiesen.«

Einige Brüder frohlockten. Aber nicht so viele, wie Kriegmacher erwartet hatte.


Bei Anbruch der Dämmerung traf Enders Trupp ein. Es stand nicht zur Debatte, sie gefangenzunehmen und der Prüfung zu unterziehen – sie waren zu viele, und die Brüder waren sich sowieso nicht alle einig. Bald standen die Menschen vor dem geöffneten Stamm Kriegmachers und sahen das hagere, von der Krankheit entstellte Gesicht Vater Estevãos, das in den Schatten kaum auszumachen war.

»Öffne dich und laß meinen Sohn zu mir heraus«, sagte Ender.

Der Riß im Baum wurde breiter. Ender griff hinein und zog Vater Estevãos Leiche hinaus. Er war unter seinen Roben so leicht, daß Ender einen Augenblick lang glaubte, er müsse einen Teil seines Gewichts selbst tragen, müsse gehen. Doch er ging nicht. Ender legte ihn vor dem Baum auf den Boden.

Ein Bruder schlug einen Rhythmus auf Kriegmachers Stamm.

»Er muß in der Tat zu dir gehören, Sprecher für die Toten, denn er ist tot. Der Heilige Geist hat ihn in der zweiten Taufe verbrannt.«

»Ihr habt den Eid gebrochen«, sagte Ender. »Ihr habt das Wort der Vaterbäume verraten.«

»Keiner hat ihm auch nur ein Haar gekrümmt«, sagte Kriegmacher.

»Glaubt ihr, ihr könntet mit euern Lügen jemanden täuschen?« sagte Ender. »Jeder weiß, daß es eine Gewalttat ist, einem Sterbenden seine Medizin vorzuenthalten. Genausogut hättet ihr ihm einen Messerstich ins Herz versetzen können. Dort ist seine Medizin. Ihr hättet sie ihm jederzeit geben können.«

»Es war Kriegmacher«, sagte einer der neben dem Baum stehenden Brüder.

Ender wandte sich an die Brüder. »Ihr habt Kriegmacher geholfen. Glaubt nicht, ihr könntet ihm allein die Schuld zuschreiben. Möge keiner von euch jemals in sein drittes Leben treten. Und was dich betrifft, Kriegmacher, möge nie wieder eine Mutter auf deiner Borke kriechen.«

»Kein Mensch kann so etwas entscheiden«, sagte Kriegmacher.

»Du hast es selbst entschieden, als du glaubtest, du könntest einen Mord begehen, um deinen Streit zu gewinnen«, sagte Ender. »Und ihr Brüder habt euch entschieden, als ihr ihn nicht aufgehalten habt.«

»Du bist nicht unser Richter!« rief einer der Brüder.

»Doch, das bin ich«, sagte Ender. »Genau wie jeder andere Bewohner Lusitanias, Mensch und Vaterbaum, Bruder und Gattin.«

Sie trugen Quims Leiche zu dem Wagen, und Jakt, Ouanda und Ender fuhren mit ihm. Lars und Varsam nahmen den Wagen, den Quim benutzt hatte. Ender brauchte ein paar Minuten, um eine Nachricht für Jane aufzusetzen, die sie in der Kolonie an Miro übermitteln sollte. Novinha mußte nicht drei Tage warten, um zu erfahren, daß ihr Sohn durch die Hände der Pequeninos gestorben war. Und sie würde es nicht aus Enders Mund hören wollen, soviel stand fest. Ender konnte nicht einmal vermuten, ob er noch eine Frau haben würde, wenn er in die Kolonie zurückkehrte. Sicher war nur, daß Novinha ihren Sohn Estevão nicht mehr hatte.

»Wirst du für ihn sprechen?« fragte Jakt, als der Wagen über das Capim brauste. Er hatte auf Trondheim einmal gehört, wie Ender für die Toten sprach.

»Nein«, sagte Ender. »Ich glaube nicht.«

»Weil er ein Priester ist?« fragte Jakt.

»Ich habe schon für Priester gesprochen«, sagte Ender. »Nein, ich werde nicht für Quim sprechen, weil kein Grund dazu besteht. Quim war immer genau das, was er zu sein schien, und er starb genau, wie er es gewollt hätte – Gott dienend, während er bei den Kleinen predigte. Ich habe seiner Geschichte nichts hinzuzufügen. Er hat sie selbst abgeschlossen.«

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