Kapitel 18 Der Gott von Weg


›Ich konnte die Veränderungen im Descolada-Virus erst schmecken, als er verschwunden war.‹

›Er paßte sich dir an?‹

›Er fing an, wie ich selbst zu schmecken. Er hatte die meisten meiner genetischen Moleküle in seine Struktur aufgenommen.‹

›Vielleicht bereitete er sich darauf vor, dich umzuwandeln, wie er uns umgewandelt hat.‹

›Doch als er eure Vorfahren gefangennahm, paarte er sie mit den Bäumen, in denen sie lebten. Womit wären wir gepaart worden?‹

›Welche anderen Lebensformen gibt es auf Lusitania, abgesehen von denen, die sich bereits zu Paaren zusammengefunden haben?‹

›Vielleicht wollte die Descolada uns mit einem bereits existierenden Paar kombinieren. Oder ein Paarmitglied durch uns ersetzen.‹

›Oder vielleicht wollte sie dich mit den Menschen paaren.‹

›Jetzt ist sie tot. Was sie auch geplant hat, es wird niemals geschehen.‹

›Was für ein Leben hättest du geführt? Hättest du dich mit männlichen Menschen gepaart?‹

›Das ist abscheulich.‹

›Oder vielleicht würdest du lebende Nachkommen gebären, wie die Menschen es tun?‹

›Höre auf, diesen widerlichen Gedanken nachzuhängen.‹

›Es waren nur Spekulationen.‹

›Die Descolada ist verschwunden. Du bist frei von ihr.‹

›Aber niemals frei von dem, was wir hätten sein sollen. Ich glaube, daß wir vernunftbegabt waren, bevor die Descolada kam. Ich glaube, daß unsere Geschichte älter ist als die Raumschiffe, die die Descolada hierher brachten. Ich glaube, daß irgendwo in unseren Genen das Geheimnis des Pequenino-Lebens liegt, als wir noch Baumbewohner waren und nicht das Larvenstadium im Leben vernunftbegabter Bäume.‹

›Wenn du kein drittes Leben hättest, Mensch, wärest du jetzt tot.‹

Jetzt ja, aber zu Lebzeiten hätte ich nicht nur ein Bruder, sondern ein Vater sein können. Zu Lebzeiten hätte ich überall hin reisen können, ohne mir Sorgen darüber zu machen, zu meinem Wald zurückkehren zu müssen, wenn ich mich jemals paaren wollte. Ich hätte niemals Tag um Tag an derselben Stelle verwurzelt gestanden und mein Leben praktisch durch die Geschichten gelebt, die die Brüder mir bringen.‹

›Dann reicht es dir nicht, von der Descolada frei zu sein? Mußt du von all ihren Folgen frei sein, bevor du zufrieden sein kannst?‹

›Ich bin immer zufrieden. Ich bin, was ich bin, ganz gleich, wie ich es geworden bin.‹

›Aber noch immer nicht frei.‹

›Sowohl als Männer wie auch als Gattinnen müssen wir noch immer unser Leben verlieren, um unsere Gene weitergeben zu können.‹

›Armer Narr. Glaubst du etwa, daß ich, die Schwarmkönigin, frei bin? Glaubst du, daß menschliche Eltern, sobald sie Kinder bekommen haben, jemals wieder wahrhaft frei sind? Wenn das Leben für dich Unabhängigkeit bedeutet, die vollkommen uneingeschränkte Freiheit, das zu tun, was du willst, dann lebt kein einziges vernunftbegabtes Wesen. Keiner von uns ist jemals völlig frei.‹

›Schlage Wurzeln, mein Freund, und dann verrate mir, wie unfrei du warst, als du noch keine Wurzeln geschlagen hattest.‹


Wang-mu und Meister Han warteten gemeinsam am Flußufer, etwa einhundert Meter von ihrem Haus entfernt. Jane hatte ihnen gesagt, daß sie bald jemand von Lusitania besuchen würde. Beide wußten, es bedeutete, daß der Überlichtflug verwirklicht worden war, doch darüber hinaus konnten sie nur annehmen, daß sich ihr Besucher in einer Umlaufbahn um Weg befand, eine Fähre zum Planeten genommen hatte und nun zu ihnen unterwegs war.

Statt dessen erschien vor ihnen am Flußufer ein lächerlich kleines Metallgebilde. Die Tür wurde geöffnet. Ein Mann kam heraus. Ein junger, gutaussehender Mann. Er hielt eine Glasröhre in der Hand.

Und er lächelte.

Wang-mu hatte noch nie solch ein Lächeln gesehen. Er sah direkt in sie hinein, als gehöre ihm ihre Seele. Als kenne er sie besser, als sie sich selbst kannte.

»Wang-mu«, sagte er leise. »Königliche Mutter des Westens. Und Fei-tzu, der große Lehrer des Weges.«

Er verbeugte sich. Sie erwiderten die Geste.

»Ich will mich nicht lange aufhalten«, sagte er und gab Meister Han das Reagenzglas. »Hier ist der Virus. Sobald ich fort bin, trinkt ihr das. Ich glaube, es schmeckt abscheulich, aber trinkt es trotzdem. Dann schließt Kontakt mit so vielen Leuten wie möglich, in euerm Haus und in der benachbarten Stadt. Euch bleiben etwa sechs Stunden, bevor ihr euch krank fühlt. Mit etwas Glück dürftet ihr am Ende des zweiten Tages kein einziges Symptom mehr haben. Kein einziges.« Er grinste. »Keine kleinen Lufttänze mehr für Sie, Meister Han.«

»Keine Unterwürfigkeit, für keinen von uns«, sagte Han Fei-tzu. »Wir sind bereit, unsere Nachricht sofort zu verbreiten.«

»Erzählt keinem davon, bis ihr die Injektion schon eine Weile verbreitet habt.«

»Natürlich«, sagte Meister Han. »Ihre Weisheit lehrt mich, vorsichtig zu sein, obwohl mein Herz mich auffordert, mich zu beeilen und die glorreiche Revolution zu verkünden, die diese gnädige Seuche uns bringen wird.«

»Ja, sehr schön«, sagte der Mann. Dann wandte er sich an Wang-mu. »Aber du brauchst den Virus nicht, nicht wahr?«

»Nein, Herr«, sagte Wang-mu.

»Jane sagt, daß du zu den intelligentesten Menschen gehörst, die sie je gesehen hat.«

»Jane ist zu gütig«, erwiderte Wang-mu.

»Nein, sie hat mir die Daten gezeigt.« Er musterte sie von oben bis unten. Ihr gefiel nicht, wie er mit diesem einzigen langen Blick Besitz von ihren gesamten Körper ergriff. »Du mußt die Seuche nicht abwarten. Es wäre sogar besser, wenn du gehst, bevor sie ausbricht.«

»Gehen?«

»Was hält dich hier noch?« fragte der Mann. »Ganz gleich, wie revolutionär es hier zugehen wird, du wirst noch immer ein Dienstmädchen und das Kind einfacher Eltern sein. An so einem Ort könntest du dein ganzes Leben damit verbringen, dagegen anzukämpfen, und wärest am Ende noch immer nicht mehr als eine Dienerin mit einem überraschend guten Verstand. Komm mit mir, und du wirst die Geschichte verändern. Geschichte machen.«

»Mit Ihnen gehen und was tun?«

»Natürlich den Kongreß stürzen. Seine Mitglieder auf die Knie zwingen. Alle Kolonialwelten zu gleichberechtigten Mitgliedern der Politik machen, die Korruption ausmerzen, alle üblen Geheimnisse bekanntgeben und die Lusitania-Flotte nach Hause rufen, bevor sie ein scheußliches Verbrechen begehen kann. Allen ramännischen Rassen ihre Rechte geben. Frieden und Freiheit.«

»Und Sie haben vor, das alles zu tun?«

»Nicht allein«, sagte er.

Sie war erleichtert.

»Ich werde dich haben.«

»Wozu?«

»Um zu schreiben. Zu sprechen. All das zu tun, wofür ich dich brauche.«

»Aber ich habe keine Erziehung, Herr. Meister Han hat gerade erst damit angefangen, mich zu unterweisen.«

»Wer sind Sie?« fragte Meister Han. »Wie können Sie erwarten, daß ein bescheidenes Mädchen einfach mit einem Fremden mitgeht?«

»Ein bescheidenes Mädchen? Die ihren Körper dem Vorarbeiter gibt, um eine Chance zu bekommen, in die Nähe eines gottberührten Mädchens zu gelangen, das sie vielleicht als geheime Magd einstellen wird? Nein, Meister Han, sie mag vielleicht das Benehmen eines bescheidenen Mädchens an den Tag legen, aber nur, weil sie ein Chamäleon ist. Sie verändert ihre Farbe, wann immer sie glaubt, daß es ihr weiterhelfen wird.«

»Ich bin keine Lügnerin, Herr«, sagte sie.

»Nein, ich bin mir sicher, daß du aufrichtig das werden wirst, was du vorzugeben beabsichtigst. Und jetzt sage ich: Gib vor, mit mir eine Revolutionärin zu werden. Du haßt die Mistkerle, die eurer Welt das alles angetan haben. Die Qing-jao das angetan haben.«

»Wieso wissen Sie so viel über mich?«

Er berührte mit der Fingerspitze sein Ohr. Zum ersten Mal bemerkte sie das Juwel darin. »Jane hält mich über die Leute auf dem laufenden, die ich kennen muß.«

»Jane wird bald sterben«, sagte Wang-mu.

»Oh, sie wird vielleicht eine Zeitlang ziemlich dumm sein«, sagte der Mann, »aber sterben wird sie nicht. Du hast geholfen, sie zu retten. Und in der Zwischenzeit werde ich dich haben.«

»Ich kann es nicht«, sagte sie. »Ich habe Angst.«

»Na schön«, sagte er. »Ich habe es dir angeboten.« Er kehrte zur Tür seines winzigen Raumschiffs zurück.

»Warten Sie«, sagte sie.

Er drehte sich wieder zu ihr um.

»Können Sie mir nicht wenigstens sagen, wer Sie sind?«

»Mein Name ist Peter Wiggin«, erwiderte er. »Obwohl ich für eine Weile wahrscheinlich einen falschen benutzen werde.«

»Peter Wiggin«, flüsterte sie. »Das ist der Name des…«

»Mein Name. Ich werde es dir später erklären, wenn ich Lust dazu habe. Sagen wir einfach, daß Andrew Wiggin mich geschickt hat. Ich bin ein Mann mit einer Mission, und er meint, ich könne sie nur auf einer der Welten abschließen, auf der die Machtstrukturen des Kongresses am dichtesten konzentriert sind. Ich war einmal der Hegemon, Wang-mu, und ich habe vor, mir diese Aufgabe zurückzuholen, wie auch immer der Job aussehen wird, wenn ich ihn bekomme. Ich werde eine Menge Porzellan zerschlagen und einen erstaunlichen Ärger verursachen und diesen ganzen Hundert Welten den Arsch versengen, und ich lade dich ein, mir zu helfen. Aber mir ist es wirklich völlig egal, ob du mir hilfst oder nicht, denn obwohl es schöner wäre, deinen Grips und deine Gesellschaft zur Verfügung zu haben, werde ich die Aufgabe so oder so erledigen. Kommst du also mit, oder was?«

Mit der Qual der Unentschlossenheit wandte sie sich an Meister Han.

»Ich hatte gehofft, dich unterrichten zu können«, sagte Meister Han. »Doch wenn dieser Mann auf das Ziel hinarbeiten wird, das er uns gerade genannt hat, hast du bei ihm eine bessere Chance, den Verlauf der Menschheitsgeschichte zu ändern.«

»Euch zu verlassen«, flüsterte Wang-mu ihm zu, »ist, als verlöre ich einen Vater.«

»Und wenn du gehst, werde ich meine zweite und letzte Tochter verloren haben.«

»Brecht mir nicht das Herz, ihr beide«, sagte Peter. »Ich habe hier ein Überlicht-Sternenschiff. Wißt ihr, die Entscheidung, Weg zu verlassen, gilt jetzt nicht mehr fürs Leben. Wenn es nicht klappt, kann ich sie immer in einem oder zwei Tagen zurückbringen. Ist das fair?«

»Ich weiß, daß du gehen willst«, sagte Meister Han.

»Aber wißt Ihr auch, daß ich ebenso bleiben will?«

»Auch das weiß ich«, sagte Meister Han. »Aber du wirst gehen.«

»Ja«, sagte sie, »das werde ich.«

»Mögen die Götter über dich wachen, Tochter Wang-mu«, sagte Meister Han.

»Und möge für Euch jede Richtung das Osten des Sonnenaufgangs sein, Vater Han.«

Dann trat sie vor. Der junge Mann namens Peter nahm ihre Hand und führte sie ins Sternenschiff. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Ein Augenblick später war das Sternenschiff verschwunden.

Meister Han wartete zehn Minuten und meditierte, bis er wieder Herr über seine Gefühle war. Dann öffnete er das Glas, trank den Inhalt und kehrte schnellen Schrittes zum Haus zurück. Die alte Mu-pao begrüßte ihn an der Tür. »Meister Han«, sagte sie. »Ich wußte nicht, wo Ihr wart. Und Wang-mu ist auch fort.«

»Sie wird eine Weile fort sein«, sagte er. Dann trat er sehr nahe an die alte Dienerin heran, um ihr ins Gesicht zu atmen. »Du warst meinem Haus treuer ergeben, als wir es je verdient hatten.«

Ein Anflug von Furcht erschien auf ihrem Gesicht. »Meister Han, Ihr wollt mich doch nicht entlassen, oder?«

»Nein«, sagte er. »Ich wollte dir nur danken.«

Er ließ Mu-pao stehen und streifte durch das Haus. Qing-jao war nicht in ihrem Zimmer. Das war keine Überraschung. Sie verbrachte die meiste Zeit damit, Gäste zu unterhalten. Er fand sie im Morgenzimmer mit drei sehr würdevollen, gottberührten alten Herren aus einer zweihundert Kilometer entfernten Stadt.

Qing-jao stellte sie einander höflich vor und nahm dann die Rolle der unterwürfigen Tochter ein. Meister Han verbeugte sich vor jedem der Herren, doch dann ergab sich die Gelegenheit, die Hand auszustrecken und jeden von ihnen zu berühren. Jane hatte ihm erklärt, daß der Virus höchst ansteckend war. Die bloße körperliche Nähe reichte normalerweise aus; eine Berührung machte es viel sicherer.

Und nachdem er sie begrüßt hatte, wandte er sich an seine Tochter. »Qing-jao«, sagte er, »würdest du ein Geschenk von mir annehmen?«

Sie verbeugte sich und antwortete höflich: »Was immer mein Vater mir gebracht hat, werde ich dankbar entgegennehmen, obwohl ich weiß, daß ich seiner Aufmerksamkeit nicht würdig bin.«

Er streckte die Arme aus und zog sie an sich. Sie war steif und unbeholfen in seiner Umarmung – seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte er sich vor Würdenträgern nicht mehr so impulsiv verhalten. Doch er drückte sie dennoch fest an sich, denn er wußte, daß sie ihm niemals für das vergeben würde, was aus dieser Umarmung kam, und es daher das letzte Mal war, daß er seine ›Strahlend Helle‹ in den Armen hielt.


Qing-jao wußte, was die Umarmung ihres Vaters bedeutete. Sie hatte beobachtet, wie ihr Vater mit Wang-mu in den Garten ging und das Sternenschiff am Flußufer erschien. Sie hatte gesehen, wie er von dem Fremden das Reagenzglas bekam und daraus trank. Dann war sie hierher gegangen, um Besucher ihres Vaters zu empfangen. Ich erfülle meine Pflicht, mein geehrter Vater, obwohl du mich betrügen willst.

Und selbst jetzt, obwohl sie wußte, daß seine Umarmung die grausame Methode war, sie von der Stimme der Götter zu trennen, empfing sie, was er ihr geben wollte. War er nicht ihr Vater? Sein Virus von der Welt Lusitania mochte ihr die Stimme der Götter stehlen oder auch nicht, doch wenn sie ihren Vater zurückwies und ihm nicht gehorchte, würden die Götter sie mit Sicherheit bestrafen. Es war besser, sich der Götter weiterhin als würdig zu erweisen, indem sie ihrem Vater den gebührenden Respekt und Gehorsam erwies, als ihm im Namen der Götter den Gehorsam zu verweigern und sich daher als ihrer Gaben unwürdig zu erweisen.

Also nahm sie seine Umarmung hin.

Nachdem er kurz mit den Gästen gesprochen hatte, ging er. Sie hielten es für eine große Ehre, daß er sie persönlich empfangen hatte; Qing-jao hatte die verrückte Rebellion ihres Vater gegen die Götter so sorgfältig verborgen, daß Han Fei-tzu noch immer als einer der größten Männer von Weg angesehen wurde. Sie sprach leise mit ihnen, lächelte freundlich und schickte sie dann ihres Weges. Sie gab ihnen nicht den geringsten Hinweis, daß sie eine Waffe mitnehmen würden. Warum sollte sie auch? Menschliche Waffen konnten gegen die Macht der Götter nichts ausrichten, wenn die Götter es nicht wollten. Und wenn die Götter nicht mehr mit den Menschen von Weg sprechen wollten, mochte dies durchaus die Tarnung sein, die sie für ihr Vorgehen ausgewählt hatten. Sollen die Ungläubigen doch annehmen, Vaters Lusitania-Virus habe uns von den Göttern getrennt; ich hingegen weiß, wie alle anderen loyalen Männer und Frauen, daß die Götter sprechen, zu wem sie wollen, und kein Menschenwerk sie davon abhalten kann. All ihr Handeln war Selbstgefälligkeit. Soll der Kongreß doch glauben, er habe die Götter veranlaßt, zu Weg zu sprechen. Sollen Vater und die Lusitanier doch glauben, sie hätten die Götter zum Verstummen gebracht. Ich hingegen weiß, daß die Götter zu mir sprechen werden, wenn ich mich nur als würdig erweise.

Ein paar Stunden später fühlte sich Qing-jao todkrank. Das Fieber traf sie wie der Schlag von der Hand eines starken Mannes; sie brach zusammen und bekam kaum mit, daß Diener sie zu ihrem Bett trugen. Ärzte kamen, doch sie hätte ihnen sagen können, daß sie nichts tun konnten, daß sie durch ihr Kommen die Infektion nur verbreiteten. Doch sie sagte nichts, denn ihr Körper kämpfte zu heftig gegen die Krankheit an. Sie schlief und schlief.

Es war heller Nachmittag, als sie erwachte. »Zeit«, krächzte sie, und der Computer in ihrem Zimmer nannte ihr die Stunde und den Tag. Das Fieber hatte ihr zwei Tage ihres Lebens gestohlen. Sie brannte innerlich. Sie stand auf, taumelte in ihr Badezimmer, schaltete das Wasser an, füllte eine Tasse und trank und trank, bis ihr Durst gelöscht war. Ihr war schwindlig, und sie hatte einen furchtbaren Geschmack im Mund. Wo waren die Diener, die ihr während ihrer Krankheit Speise und Trank hätten geben sollen?

Sie mußten ebenfalls krank sein. Und Vater – er muß vor mir krank geworden sein. Wer wird ihm Wasser bringen?

Sie fand ihn schlafend vor, im kalten Schweiß der letzten Nacht gebadet. Sie weckte ihm und gab ihm eine Tasse Wasser, die er begierig trank. Sein Blick suchte den ihren. Wollte er eine Frage stellen? Oder bat er vielleicht um Vergebung? Leiste den Göttern Buße, Vater; einer Tochter bis du keine Entschuldigung schuldig.

Qing-jao fand auch die Diener, einen nach dem anderen; einige von ihnen waren so treu, daß sie sich mit ihrer Krankheit nicht ins Bett gelegt hatten, sondern dort zusammengebrochen waren, wo die Erfüllung ihrer Pflichten sie festgehalten hatte. Alle lebten, erholten sich und würden bald wieder auf den Beinen sein. Erst, nachdem alle versorgt waren, ging Qing-jao in die Küche und suchte etwas zu essen. Sie konnte die erste Nahrung, die sie fand, nicht bei sich behalten. Nur eine dünne Suppe vertrug sie. Den anderen gab sie ebenfalls von der Suppe.

Bald waren alle wiederhergestellt und auf den Beinen. Qing-jao trommelte die Diener zusammen und brachte Wasser und Suppe in die benachbarten Häuser, zu denen der Reichen genau wie zu denen der Armen. Alle waren dankbar, und viele sprachen Gebete für sie. Ihr wäret nicht so dankbar, dachte Qing-jao, wenn ihr wüßtet, daß die Krankheit, an der ihr leidet, aus dem Haus meines Vaters gekommen ist und er sie absichtlich herbeigeführt hat. Aber sie sagte nichts.

Die ganze Zeit über verlangten die Götter keinerlei Reinigung von ihr.

Endlich, dachte sie. Endlich stelle ich sie zufrieden. Endlich habe ich genau das getan, was die Rechtschaffenheit erfordert.

Als sie nach Hause kam, wollte sie sofort schlafen. Doch die Diener, die im Haus geblieben waren, hatten sich um den Holo in der Küche versammelt und verfolgten Nachrichtensendungen. Da Qing-jao alle Informationen vom Computer bekam, verfolgte sie die Holonachrichten fast nie; doch die Diener sahen so ernst, so besorgt aus, daß sie die Küche betrat und sich zu ihnen in dem Kreis um den Holovision stellte.

Die Nachrichten galten der Seuche, die die Welt Weg heimsuchte. Eine Quarantäne hatte sich als unwirksam erwiesen oder war jedenfalls zu spät gekommen. Die Frau, die die Nachrichten vorlas, hatte sich bereits von der Krankheit erholt, und sie berichtete, daß die Seuche fast niemanden getötet, aber das öffentliche Leben beträchtlich gestört hatte. Man hatte den Virus isolieren können, aber er war zu schnell abgestorben, um genau untersucht werden zu können. »Es hat den Anschein, daß ein Bakterium dem Virus folgt und ihn tötet, sobald sich der betreffende Befallene von der Seuche erholt hat. Die Götter waren uns fürwahr gnädig gesonnen, denn sie haben mit der Krankheit direkt die Heilung geschickt.«

Narren, dachte Qing-jao. Wenn die Götter euch heilen wollten, hätten sie gar nicht erst die Seuche geschickt.

Augenblicklich begriff sie, daß sie die Närrin war. Natürlich konnten die Götter sowohl die Krankheit als auch die Heilung geschickt haben. Falls eine Krankheit kam, und die Heilung folgte auf dem Fuße, hatten die Götter sie geschickt. Wie konnte sie so etwas töricht nennen? Es war, als habe sie die Götter selbst beleidigt.

Sie zuckte innerlich zusammen und wartete darauf, daß die Götter sie mit ihrem Zorn überfielen. Es waren so viele Stunden ohne Reinigung verstrichen, daß es ein schwerer Anfall werden würde. Würde sie wieder die Linien eines ganzen Zimmers verfolgen müssen?

Aber sie spürte nichts. Keinen Drang, die Linien der Holzmaserungen zu verfolgen. Keinen Drang, sich zu waschen.

Sie betrachtete ihre Hände. Sie waren schmutzig, doch sie gab nichts darum. Sie konnte sie waschen oder auch nicht, ganz, wie es ihr beliebte.

Einen Augenblick lang verspürte sie eine gewaltige Erleichterung. War es möglich, daß Vater, Wang-mu und das Jane-Ding doch recht gehabt hatten? Hatte eine durch diese Seuche verursachte genetische Veränderung sie endlich von einem abscheulichen Verbrechen befreit, das der Kongreß vor Jahrhunderten begangen hatte?

Fast, als habe die Nachrichtensprecherin Qing-jaos Gedanken gehört, begann sie einen Bericht über ein Dokument zu verlesen, das in allen Computern auf der ganzen Welt aufgetaucht war. Das Dokument besagte, diese Seuche sei ein Geschenk der Götter, um die Menschen von Weg von einer genetischen Veränderung zu befreien, die der Kongreß herbeigeführt habe. Bis jetzt seien genetische Verbesserungen fast immer mit einem UZV-ähnlichen Zustand einhergegangen, dessen Opfer allgemein als gottberührt bezeichnet wurden. Doch während die Seuche ihren Verlauf nahm, würden die Menschen feststellen, daß die genetischen Verbesserungen nun sämtliche Menschen von Weg betrafen, während die Gottberührten, die zuvor die schrecklichste Last getragen hatten, nun von den Göttern von der Notwendigkeit der ständigen Reinigung befreit worden wären.

»Dieses Dokument besagt, daß die ganze Welt nun gereinigt ist. Die Götter haben uns akzeptiert.« Die Stimme der Nachrichtensprecherin zitterte. »Es ist nicht bekannt, woher dieses Dokument stammt. Computeranalysen konnten keinerlei Ähnlichkeit mit dem Stil eines anderen bekannten Schriftstellers feststellen. Die Tatsache, daß es gleichzeitig in Millionen von Computern aufgetaucht ist, deutet darauf hin, daß es von einer Quelle mit unvorstellbaren Möglichkeiten stammt.« Die Sprecherin zögerte, und nun war ihr Zittern deutlich wahrnehmbar. »Wenn diese unwürdige Nachrichtensprecherin eine Frage stellen dürfte, in der Hoffnung, daß die Weisen sie hören und mit ihrer Weisheit beantworten werden… könnte es nicht sein, daß die Götter selbst uns diese Nachricht geschickt haben, damit wir ihr großes Geschenk an die Menschen von Weg verstehen?«

Qing-jao hörte noch eine Weile zu, und in ihr wuchs der Zorn. Es war offensichtlich Jane gewesen, die dieses Dokument geschrieben und verbreitet hatte. Wie konnte sie vorzugeben wagen, den Willen der Götter zu kennen! Sie war zu weit gegangen. Dieses Dokument mußte widerlegt werden. Janes Existenz mußte enthüllt werden, und auch die ganze Verschwörung der Menschen Lusitanias.

Die Diener sahen sie an. Sie begegnete ihrem Blick und musterte einen Augenblick lang alle von ihnen, die sich im Kreis aufgebaut hatten.

»Was wollt ihr mich fragen?« sagte sie.

»O Herrin«, sagte Mu-pao, »vergebt uns unsere Neugier, aber diese Nachrichten haben etwas verkündet, das wir nur glauben können, wenn Ihr uns sagt, daß es wahr ist.«

»Was weiß denn ich?« gab Qing-jao zurück. »Ich bin nur die törichte Tochter eines großen Mannes.«

»Aber Ihr seid eine der Gottberührten, Herrin«, sagte Mu-pao.

Es ist sehr gewagt von dir, dachte Qing-jao, unaufgefordert von solchen Dingen zu sprechen.

»Die ganze Nacht über, in der ihr mit Speis und Trank zu uns gekommen seid und so viele von uns unter das Volk geführt habt, damit wir die Kranken versorgen, habt Ihr Euch nicht ein einziges Mal entschuldigt, um Euch der Reinigung zu unterziehen. Wir haben nie gesehen, daß Ihr lange verschwunden wart.«

»Ist es dir nicht in den Sinn gekommen«, sagte Qing-jao, »daß wir vielleicht so gut den Willen der Götter erfüllt haben, daß für mich diese Zeit über keine Notwendigkeit zur Reinigung bestand?«

Mu-pao schaute bestürzt drein. »Nein, daran haben wir nicht gedacht.«

»Ruhe dich jetzt aus«, sagte Qing-jao. »Wir alle sind noch schwach. Ich muß gehen und mit meinem Vater sprechen.«

Sie überließ sie dem Klatsch und den Spekulationen untereinander. Vater war in seinem Zimmer und saß vor dem Computer. Das Display zeigte Janes Gesicht. Kaum, daß sie den Raum betreten hatte, drehte sich Vater zu ihr um. Sein Gesicht strahlte triumphierend.

»Hast du die Nachricht gesehen, die Jane und ich vorbereitet haben?« sagte er.

»Du!« schrie Qing-jao. »Mein Vater, ein Lügner?«

Es war undenkbar, so etwas zu ihrem Vater zu sagen. Doch noch immer verspürte sie keinen Drang, sich zu reinigen. Es erschreckte sie, daß sie mit solcher Respektlosigkeit sprechen konnte und die Götter sie trotzdem nicht zur Verantwortung zogen.

»Ein Lügner?« sagte Vater. »Warum hältst du das für Lügen, meine Tochter? Woher weißt du, daß nicht die Götter uns diesen Virus geschickt haben? Woher weißt du, daß es nicht ihr Wille ist, der ganzen Welt Weg diese genetischen Verbesserungen zu schenken?«

Seine Worte machten sie zornig; oder vielleicht verspürte sie eine neue Freiheit; oder vielleicht stellte sie die Götter auf die Probe, indem sie so respektlos sprach, daß sie sie einfach zur Verantwortung ziehen mußten. »Hältst du mich für eine Närrin?« schrie Qing-jao. »Glaubst du, ich wüßte nicht, daß das deine Strategie ist, um zu verhindern, daß es auf Weg zu Revolutionen und Gemetzeln kommt? Glaubst du, ich wüßte nicht, daß du nur daran interessiert bist, daß die Leute nicht sterben?«

»Und ist das etwa falsch?« fragte Vater.

»Es ist eine Lüge!« antwortete sie.

»Oder die Tarnung, die die Götter vorbereitet haben, um ihre Vorgehensweise zu verbergen«, sagte Vater. »Du hattest keine Schwierigkeiten, die Geschichten des Kongresses als Wahrheit zu akzeptieren. Warum kannst du nicht meine akzeptieren?«

»Weil ich von dem Virus weiß, Vater. Ich habe gesehen, wie du ihn von diesem Fremden bekommst hast. Ich habe gesehen, wie Wang-mu in dieses Fahrzeug trat. Ich sah es verschwinden. Ich weiß, daß nichts davon Werke der Götter sind. Sie hat es gemacht – dieser Teufel, der in den Computern lebt!«

»Woher weißt du«, sagte Vater, »daß sie nicht eine der Götter ist?«

Das war unerträglich. »Sie wurde gemacht«, rief Qing-jao. »Deshalb weiß ich es! Sie ist nur ein Computerprogramm, das von Menschen gemacht wurde und in Maschinen lebt, die Menschen gemacht haben. Die Götter wurden nicht von irgendwem gemacht. Die Götter haben immer gelebt und werden immer leben.«

Zum ersten Malergriff Jane das Wort. »Dann bist du eine Göttin, Qing-jao, und ich auch und auch jede andere Person – Mensch oder Ramann – im Universum. Kein Gott hat deine Seele gemacht, dein innerstes Aiua. Du bist so alt und jung wie jeder Gott, und du wirst genauso lange leben.«

Qing-jao schrie. Sie erinnerte sich nicht, je zuvor solch ein Geräusch von sich gegeben zu haben. Es zerrte an ihrer Kehle.

»Meine Tochter«, sagte Vater, kam auf sie zu und streckte die Arme aus, um sie zu umfassen.

Sie konnte seine Umarmung nicht ertragen. Sie konnte sie nicht ertragen, weil sie seinen vollständigen Sieg bedeutet hätte. Es würde bedeuten, daß sie von den Feinden der Götter besiegt worden war; es würde bedeuten, daß Jane die Oberhand behalten hatte. Es würde bedeuten, daß Wang-mu ihrem Vater eine wahrere Tochter gewesen war als sie selbst. Es würde bedeuten, daß die Ehrerbietung, die Qing-jao all die Jahre den Göttern entgegengebracht hatte, umsonst gewesen war. Es würde bedeuten, daß es eine böse Tat von ihr gewesen war, Janes Zerstörung in die Wege zu leiten. Es würde bedeuten, daß Jane edel und gut war, weil sie geholfen hatte, die Menschen von Weg zu verändern. Es würde bedeuten, daß Mutter nicht auf sie wartete, wenn sie schließlich in den Unendlichen Westen kam.

Warum sprecht ihr nicht zu mir, O Götter! rief sie stumm. Warum versichert ihr mir nicht, daß ich euch all diese Jahre nicht vergebens gedient habe? Warum habt ihr mich nun verlassen und den Triumph unseren Feinden gegeben?

Und dann kam ihr die Antwort, so einfach und klar, als hätte ihre Mutter sie ihr ins Ohr geflüstert: Dies ist eine Prüfung, Qing-jao. Die Götter beobachten, was du tust.

Eine Prüfung. Natürlich. Die Götter stellten all ihre Diener auf Weg auf die Probe, um zu sehen, welche getäuscht worden waren und welche in perfektem Gehorsam ausharrten.

Wenn ich einer Prüfung unterzogen werde, muß es auch ein richtiges Verhalten für mich geben.

Ich muß tun, was ich immer getan habe, doch diesmal darf ich nicht darauf warten, daß die Götter mir Anweisungen geben. Sie sind es leid, mir Tag für Tag und Stunde für Stünde zu sagen, wann ich mich reinigen muß. Es ist an der Zeit für mich, daß ich meine Unreinheit begreife, ohne von ihnen darauf hingewiesen zu werden. Ich muß mich mit absoluter Gründlichkeit reinigen; dann werde ich den Test bestehen, und die Götter werden mich erneut empfangen.

Sie fiel auf die Knie. Sie fand eine Linie in der Holzmaserung und verfolgte sie mit den Blicken.

Es kam keine Antwort, die sie freigab, kein Gefühl, richtig gehandelt zu haben; doch das bereitete ihr keine Probleme, denn sie wußte, daß es zu der Prüfung gehörte. Welchen Sinn hätte es, ihre Hingabe zu überprüfen, wenn die Götter ihr augenblicklich antworten würde, wie sie es immer zu tun pflegten? Während sie ihre Reinigung zuvor unter der ständigen Anleitung der Götter vollzogen hatte, mußte sie sich nun selbst reinigen. Und wie würde sie wissen, ob sie es richtig gemacht hatte? Indem sich die Götter wieder bei ihr melden würden.

Die Götter würden wieder mit ihr sprechen. Oder vielleicht würden sie sie zum Palast der Königlichen Mutter bringen, wo die edle Han Jiang-qing sie erwartete. Dort würde sie auch Li Qing-jao begegnen, ihrer Vorfahrin-des-Herzens. Dort würden all ihre Vorfahren sie begrüßen, und sie würden sagen: Die Götter haben sich entschlossen, alle Gottberührten von Weg in Versuchung zu führen. Nur wenige haben diese Prüfung bestanden, doch du, Qing-jao, du hast uns allen große Ehre bereitet. Denn deine Treue hat nie gewankt. Du hast deine Reinigungen vollzogen wie kein anderer Sohn, keine andere Tochter je zuvor. Die Vorfahren anderer Männer und Frauen sind neidisch auf uns. Deinetwegen begünstigen uns die Götter nun vor allen anderen.

»Was tust du?« fragte Vater. »Warum verfolgst du mit den Blicken die Holzlinien?«

Sie antwortete nicht. Sie ließ sich nicht ablenken.

»Dieses Bedürfnis ist von uns genommen worden. Ich weiß es – ich verspüre keinen Drang, mich zu reinigen.«

Ach, Vater! Könntest du doch nur verstehen! Doch selbst, obwohl du bei diesem Test versagen wirst, ich werde ihn bestehen – und so werde ich selbst dir Ehre bereiten, der du allen ehrbaren Dingen entsagt hast.

»Qing-jao«, sagte er. »Ich weiß, was du tust. Wie jene Eltern, die ihre mittelmäßigen Kinder zwingen, sich unentwegt zu waschen. Du rufst die Götter.«

Nenne es, du du willst, Vater. Deine Worte bedeuten mir jetzt nichts. Ich werde nicht mehr auf dich hören, bis wir beide tot sind und du zu mir sagst: Meine Tochter, du warst besser und klüger als ich; all meine Ehre hier im Haus der Königlichen Mutter kommt von deiner Reinheit und selbstlosen Hingabe im Dienst der Götter. Du bist wahrhaftig eine edle Tochter. Du bist meine einzige Freude.


Die Welt Weg vollzog ihre Umwandlung friedlich. Hier und da kam es zu einem Mord; hier und da wurde einer der Gottberührten, der sich wie ein Tyrann benommen hatte, von einem Mob ergriffen und aus seinem Haus geworfen. Doch im großen und ganzen glaubte man die Geschichte, die das Dokument erzählte, und die ehemaligen Gottberührten wurden wegen des rechtschaffenen Opfers, das sie während der Jahre geleistet hatten, in denen die Riten der Reinigung auf ihren Schultern lag, mit großer Ehre behandelt.

Doch die alte Ordnung verging schnell. Die Schulen wurden für alle Kinder geöffnet. Die Lehrer konnten bald berichten, daß die Schüler beachtliche Leistungen erbrachten; das dümmste Kind übertraf nun in jedem Fach den Durchschnitt vergangener Zeiten. Und obwohl der Kongreß wütend jede genetische Manipulation abstritt, richteten die Wissenschaftler auf Weg ihre Aufmerksamkeit endlich auf die Gene ihres eigenes Volkes. Vergleiche der Aufzeichnungen über ihre alten Genmoleküle mit den heutigen bestätigten den Männer und Frauen von Weg den Inhalt des Dokuments.

Was dann geschah, als die Hundert Welten und alle Kolonien von den Verbrechen des Kongresses gegen Weg erfuhren – Qing-jao bekam nichts davon mit. Das alles war eine Angelegenheit der Welt, die sie hinter sich gelassen hatte. Denn sie verbrachte ihre gesamten Tage nun im Dienst der Götter und reinigte und säuberte sich.

Es wurde bekannt, daß Han Fei-tzus verrückte Tochter als einzige der Gottberührten auf ihren Ritualen beharrte. Zuerst wurde sie dafür belächelt – denn viele der Gottberührten hatten aus Neugier versucht, ihre Reinigungen erneut zu vollziehen, und dabei festgestellt, daß die Rituale nun leer und bedeutungslos waren. Doch Qing-jao vernahm nur wenig von dem Spott und kümmerte sich auch nicht darum. Ihre Gedanken galten einzig der Hingabe an die Götter – was kümmerte es sie, wenn die Menschen, die die Prüfung nicht bestanden hatten, sie für ihr Bemühen?

Doch als die Jahre ins Land gingen, erinnerten sich viele, daß die alten Tage eine schöne Zeit gewesen waren. Die Götter hatten damals zu Männern und Frauen gesprochen, und viele standen in ihren Diensten. Einige erinnerten sich wieder an Qing-jao, nicht als Verrückte, sondern als einzige Treue unter den Gottberührten. Die Nachricht verbreitete sich unter den Frommen: »Im Haus des Han Fei-tzu wohnt die letzte der Gottberührten.«

Sie suchten sie auf, zuerst ein paar, dann immer mehr. Besucher, die mit der einzigen Frau sprechen wollten, die sich noch der Mühe ihrer Reinigung unterzog. Zuerst empfing sie einige; wenn sie damit fertig war, die Linien auf einem Brett zu verfolgen, trat sie in den Garten hinaus und sprach mit ihnen. Doch ihre Worte verwirrten Qing-jao. Sie meinten, ihre Bemühungen galten der Reinigung des gesamten Planeten. Sie sagten, Qing-jao rufe die Götter um des gesamten Volkes von Weg willen. Je mehr sie sprachen, desto schwerer fiel es ihr, sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Sie konnte es bald kaum erwarten, wieder ins Haus zurückzukehren, um eine weitere Linie zu verfolgen. Begriffen diese Leute denn nicht, daß es falsch war, sie jetzt zu loben? »Ich habe noch nichts erreicht«, sagte sie zu ihnen. »Die Götter schweigen noch. Ich muß arbeiten.« Und dann kehrte sie zu ihren Holzmaserungen zurück.

Ihr Vater starb als sehr alter Mann. Er wurde mit viel Ehre für seine vielen Taten bedacht, obwohl nie jemand von seiner Rolle beim Auftreten der Seuche der Götter erfuhr, wie sie jetzt genannt wurde. Nur Qing-jao verstand. Und als sie ein Vermögen an echtem Geld verbrannte – für ihren Vater hätte kein falsches Beerdigungsgeld genügt –, flüsterte sie ihm so leise zu, daß kein anderer es hören konnte: »Nun weißt du es, Vater. Nun begreifst du deine Fehler, und wie sehr du die Götter verärgert hast. Aber fürchte nichts. Ich werde mit den Reinigungen fortfahren, bis alle deine Fehler berichtigt sind. Dann werden dich die Götter in Ehren aufnehmen.«

Sie selbst wurde auch sehr alt, und die Reise zum Haus der Han Qing-jao war nun die berühmteste Pilgerfahrt auf Weg. In der Tat gab es viele, die auf anderen Welten von ihr gehört hatten und nur nach Weg kamen, um sie zu sehen. Denn es war auf vielen Welten wohlbekannt, daß wahre Heiligkeit nur an einem Ort gefunden werden konnte – und nur in einer Person, der alten Frau, deren Rücken nun ständig krumm war und deren Augen nichts anderes sahen als die Linien in den Fußböden im Haus ihres Vaters.

Heilige Jünger, Männer und Frauen, kümmerten sich nun um das Haus, wo einst Bedienstete für sie gesorgt hatten. Sie polierten die Böden. Sie bereiteten ihre einfachen Mahlzeiten vor und legten sie dorthin, wo sie sie finden würde: an die Zimmertüren, denn sie aß und trank nur, wenn sie mit einem Zimmer fertig war. Wenn jemand, ein Mann oder eine Frau, irgendwo auf der Welt eine große Ehre erlangte, begab er sich zum Haus der Han Qing-jao, kniete nieder und verfolgte mit den Blicken eine Holzmaserungslinie; so wurden alle Ehrungen behandelt, als seien sie bloße Verzierungen der Ehre der Heiligen Han Qing-jao.

Schließlich, nur ein paar Wochen, nachdem sie ihr hundertstes Jahr vollendet hatte, fand man Han Qing-jao auf dem Fußboden des Zimmers ihres Vaters zusammengekrümmt. Einige behaupteten, sie habe an genau der Stelle gelegen, an der ihr Vater immer saß, wenn er seine Arbeit leistete; doch man konnte es nicht genau wissen, da alle Möbel des Hauses schon vor langer Zeit entfernt worden waren. Die heilige Frau war nicht tot, als man sie fand. Sie lag noch mehrere Tage da, murmelte vor sich hin, stöhnte und fuhr mit den Händen über ihren Körper, als verfolge sie Linien auf ihrer Haut. Ihre Jünger saßen abwechselnd bei ihr, lauschten ihr, versuchten, ihr Gemurmel zu verstehen, und schrieben ihre Worte nieder, so gut sie sie verstanden. Sie wurden in dem Buch mit dem Titel Der Gott flüstert von Han Qing-jao festgehalten.

Am wichtigsten von all ihren Worten waren diese, die sie ganz zum Schluß sprach: »Mutter«, flüsterte sie. »Vater. Habe ich es richtig gemacht?« Und dann, sagten ihre Jünger, lächelte sie und starb.

Sie war noch keinen Monat tot, als in allen Tempeln und Schreinen in jeder Stadt und jedem Dorf auf Weg die Entscheidung bekanntgegeben wurde. Endlich gab es eine Person von solch überwältigender Heiligkeit, daß Weg sie als Schützer und Hüter der Welt erkoren konnte. Keine andere Welt hatte solch einen Gott, und sie gestanden es freimütig ein.

Weg ist über alle anderen Welten hinaus gesegnet, sagten sie. Denn der Gott von Weg ist ›Strahlend Hell‹.


ENDE
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