Kapitel 17 Enders Kinder


›Armer Ender. Jetzt laufen seine Alpträume auf ihren eigenen zwei Beinen um ihn herum.‹

›Er hat auf eine seltsame Methode zurückgegriffen, schließlich doch noch Kinder zu bekommen.‹

›Du bist diejenige, die Aiuas aus dem Chaos ruft. Wie hat er Seelen für diese Menschen gefunden?‹

›Wieso kommst du auf den Gedanken, daß er dies getan hat?‹

›Sie gehen umher. Sie sprechen.‹

›Der Mann namens Peter kam zu dir und sprach mit dir, nicht wahr?‹

›Der arroganteste Mensch, der mir je begegnet ist.‹

›Wieso wurde er wohl mit der Fähigkeit geboren, die Sprache der Vaterbäume sprechen zu können?‹

›Ich weiß es nicht. Ender hat ihn geschaffen. Wieso sollte er ihn ohne Sprachfähigkeit schaffen?‹

›Ender fährt Stunde um Stunde damit fort, sie beide zu schaffen. Wir haben das Muster in ihm gefühlt. Vielleicht versteht er es selbst nicht, aber es gibt keinen Unterschied zwischen diesen beiden und ihm selbst. Vielleicht haben sie verschiedene Körper, aber sie sind trotzdem Teil von ihm. Was immer sie tun, was immer sie sagen, Enders Aiua handelt und spricht.‹

›Weiß er das?‹

›Wir bezweifeln es.‹

›Wirst du es ihm sagen?‹

›Nicht, solange er nicht fragt.‹

›Und was glaubst du, wann wird er fragen?‹

›Wenn er die Antwort bereits kennt.‹


Es war der letzte Tag, an dem die Recolada Tests unterzogen wurde. Die – bisherige – Erfolgsmeldung hatte sich bereits in der menschlichen Kolonie und, so vermutete Ender, auch unter der Pequeninos ausgebreitet. Elas Assistent Glas hatte sich freiwillig als Testperson gemeldet. Er hatte nun schon drei Tage in derselben Isolationskammer überlebt, in der Pflanzer sich geopfert hatte. Diesmal jedoch war die Descolada in ihm von dem Bakterium getötet worden, an dessen Konstruktion er unter Elas Leitung mitgearbeitet hatte. Und diesmal erfüllte Elas Recolada-Virus die Funktionen, die früher die Descolada erfüllt hatte. Er arbeitete fehlerfrei. Glas war nicht einmal krank geworden. Nur ein letzter Schritt blieb noch, bevor die Recolada zu einem vollen Erfolg erklärt werden konnte.

Eine Stunde vor diesem letzten Test traf sich Ender – in seinem Gefolge Peter und die junge Val – mit Quara und Grego in dessen Zelle.

»Die Pequeninos haben es akzeptiert«, erklärte Ender. »Sie sind bereit, schon nach dem Test mit Glas das Risiko einzugehen, die Descolada zu töten und durch die Recolada zu ersetzen.«

»Das überrascht mich nicht«, sagte Quara.

»Mich schon«, sagte Peter. »Die Schweinchen haben offensichtlich als Spezies den Drang zu sterben.«

Ender seufzte. Obwohl er kein verängstigter kleiner Junge mehr war und Peter nicht mehr älter und größer und stärker war, empfand Ender noch immer nicht die geringste Zuneigung zu diesem Simulacrum seines Bruders, das er irgendwie im Außen geschaffen hatte. Peter war alles, was Ender in seiner Kindheit gefürchtet und gehaßt hatte, und seine Rückkehr erzürnte ihn und machte ihm gleichzeitig Angst.

»Was meinen Sie?« fragte Grego. »Wenn die Pequeninos nicht zugestimmt hätten, hätte die Descolada sie für die Menschheit zu gefährlich gemacht, als daß sie weiterleben dürften.«

»Natürlich«, sagte Peter lächelnd. »Der Physiker ist auch Strategieexperte.«

»Peter will damit sagen«, führte Ender aus, »wenn er das Kommando über die Pequeninos hätte, würde er die Descolada niemals freiwillig aufgeben, wenn er dafür nichts von der Menschheit bekäme.«

»Zur Überraschung aller hat der alternde Wunderknabe noch einen winzigen Funken Verstand«, sagte Peter. »Warum sollten sie sich die einzige Waffe nehmen lassen, die die Menschheit fürchtet? Die Lusitania-Flotte kommt und hat das M.D.-Gerät dabei. Warum bringen sie unseren Andrew hier nicht dazu, in seinen fliegenden Fußball zu steigen, die Flotte abzufangen und zur Kapitulation aufzufordern?«

»Weil die Flotte mich wie einen tollwütigen Hund abschießen würde«, sagte Ender. »Die Pequeninos sind einverstanden, weil es richtig und anständig ist. Begriffe, die ich dir später erklären werde.«

»Ich kenne diese Begriffe«, sagte Peter. »Ich weiß auch, was sie bedeuten.«

»Weißt du das?« fragte die junge Val. Ihre Stimme war wie immer eine Überraschung – sanft, freundlich und doch imstande, das Gespräch an sich zu ziehen. Ender erinnerte sich, daß Valentine Stimme schon immer so geklungen hatte. Es war unmöglich, ihr nicht zuzuhören, obwohl sie sie nur so selten hob.

»Richtig und anständig«, sagte Peter. Die Worte klangen aus seinem Mund schmutzig. »Entweder, die Person, die sie spricht, glaubt an ihre Bedeutung, oder sie glaubt nicht daran. Wenn sie nicht daran glaubt, heißt das, daß sie jemanden mit einem Messer in der Hand hinter mir stehen hat. Und wenn sie daran glaubt, bedeuten diese Worte, daß ich gewinnen werde.«

»Ich werde Ihnen sagen, was sie bedeuten«, sagte Quara. »Sie bedeuten, daß wir den Pequeninos – und uns – gratulieren werden, weil eine vernunftbegabte Spezies ausgelöscht wurde, die es sonst vielleicht nirgendwo im Universum gibt.«

»Machen Sie sich doch nichts vor«, sagte Peter.

»Alle sind sich so sicher, daß die Descolada ein künstlicher Virus ist«, sagte Quara, »doch niemand hat die Alternative in Betracht gezogen – daß sich eine viel primitivere, verletzbarere Form der Descolada natürlich entwickelt und sich dann selbst bis zu ihrer heutigen Form verändert hat. Der Virus mag entworfen worden sein, doch wer hat diesen Entwurf ausgeführt? Und jetzt töten wir ihn, ohne eine Verständigung versucht zu haben.«

Peter grinste zuerst sie und dann Ender an. »Es überrascht mich, daß dieses wieselhafte kleine Gewissen nicht dein Fleisch und Blut ist«, sagte er. »Sie ist genauso besessen davon, Gründe zu finden, sich schuldig zu fühlen, wie du und Val.«

Ender ignorierte ihn und versuchte, Quara zu antworten. »Wir töten sie, weil wir nicht mehr länger warten können. Die Descolada versucht, uns zu vernichten, und wir dürfen nicht länger zögern. Dürften wir es, täten wir es.«

»Das verstehe ich alles«, sagte Quara. »Ich habe euch geholfen, nicht wahr? Es macht mich nur krank, wenn ich euch reden höre, als wären die Pequeninos irgendwie tapfer gewesen, mit uns in einem Akt des Xenozids zusammenzuarbeiten, um ihre eigene Haut zu retten.«

»Wir oder sie, Mädchen«, sagte Peter. »Wir oder sie.«

»Du wirst wahrscheinlich nicht begreifen«, sagte Ender, »wie sehr ich mich schäme, meine eigenen Argumente über deine Lippen kommen zu hören.«

Peter lachte. »Andrew gibt vor, mich nicht zu mögen«, sagte er. »Aber der Junge ist ein Heuchler. Er bewundert mich. Er betet mich an. Hat er schon immer getan. Genau wie sein hübscher kleiner Engel hier.«

Peter berührte die junge Val mit dem Zeigefinger. Sie wich nicht zurück. Sie tat so, als habe sie seinen Finger im Fleisch ihres Oberarms nicht einmal gespürt.

»Er betet uns beide an. In seinem kleinen, verdrehten Verstand ist sie die moralische Perfektion, die er niemals erreichen kann. Und ich bin die Macht und Genialität, die immer ein Stück außerhalb der Reichweite des armen, kleinen Andrew war. Es war wirklich ziemlich bescheiden von ihm, meint ihr nicht auch? All die Jahre lang bewahrte er seine Vorbilder in seinem Verstand auf.«

Die junge Val ergriff Quaras Hand. »Es ist das Schlimmste, was du jemals in deinem Leben getan haben wirst«, sagte sie. »Den Menschen, die du liebst, zu helfen, etwas zu tun, was du in deinem Herzen für völlig falsch hältst.«

Quara weinte.

Doch nicht Quara bereitete Ender Sorgen. Er wußte, daß sie stark genug war, um die moralischen Widersprüche ihrer Handlungen zu verkraften, ohne darüber den Verstand zu verlieren. Ihre Ambivalenz ihren eigenen Taten gegenüber würde sie wahrscheinlich weicher machen; sie würde von Augenblick zu Augenblick weniger überzeugt sein, daß ihr Urteil völlig richtig war, und alle, die nicht mit ihr übereinstimmten, völlig falsch lagen. Wenn überhaupt, würde sie am Ende dieses Prozesses mitfühlender, einfühlsamer und anständiger dastehen, als sie es zuvor in ihrer heißblütigen Jugend gewesen war. Und vielleicht würde ihr der sanfte Einfluß der jungen Val – unterstützt von ihren Worten, die genau den Schmerz benannten, den Quara empfand – helfen, schneller wieder gesund zu werden.

Mehr Sorgen bereitete Ender die Tatsache, daß Grego Peter mit solcher Bewunderung betrachtete. Ausgerechnet Grego hätte mittlerweile gelernt haben sollen, wozu Peters Worte führen konnten. Und doch betete er Enders wandelnden Alptraum geradezu an. Ich muß Peter hier wegschaffen, dachte Ender, oder er wird mehr Gefolgschaft auf Lusitania haben, als es bei Grego der Fall gewesen war – und er wird sie weit wirksamer einsetzen, und letzten Endes wird diese Wirkung noch tödlicher sein.

Ender hatte nur wenig Hoffnung, daß sich Peter als der echte Peter erweisen würde, der zu einem starken und würdigen Hegemon herangewachsen war. Dieser Peter war schließlich kein Mensch aus Fleisch und Blut, voller Ehrgeiz und Überraschungen. Er war vielmehr aus einer Karikatur des attraktiven Bösen geschaffen worden, das in den tiefsten Gefilden von Enders unbewußtem Verstand lauerte. Bei ihm würde es keine Überraschungen geben. Noch während sie sich anschickten, Lusitania vor der Descolada zu retten, hatte Ender eine neue Gefahr heraufbeschworen, die möglicherweise nicht minder destruktiv war.

Aber nicht so schwer zu töten.

Erneut versteifte er sich bei dem Gedanken, obwohl er ihm schon ein Dutzend Mal gekommen war, seit er begriffen hatte, daß es Peter war, der im Sternenschiff links neben ihm saß. Ich habe ihn erschaffen. Er ist nicht echt, nur mein Alptraum. Ihn zu töten wäre doch kein Mord, oder? Es wäre eher das moralische Äquivalent eines… ja, wovon? Eines Erwachens? Ich habe der Welt meinen Alptraum aufgebürdet, und wenn ich ihn jetzt töte, würde die Welt nur aufwachen und feststellen, daß der Alptraum verschwunden ist, mehr nicht.

Falls Peter allein gewesen wäre, hätte Ender sich vielleicht zu solch einer Tat überreden können; zumindest glaubte er das. Doch die junge Val hinderte ihn daran. Wenn man Peter töten konnte, konnte man auch sie töten. Falls man ihn töten sollte, sollte man vielleicht auch sie töten – sie hatte genauso wenig Anrecht auf Existenz, sie war genauso unnatürlich, genauso eng und verzerrt in ihrer Schöpfung. Aber dazu wäre er niemals imstande. Man mußte sie beschützen, nicht töten. Und wenn die eine echt genug war, um weiterzuleben, war es der andere auch. Wenn es Mord wäre, der jungen Val etwas anzutun, wäre es auch bei Peter Mord. Sie waren aus derselben Schöpfung hervorgegangen.

Meine Kinder, dachte Ender verbittert. Mein lieber kleiner Nachwuchs, der voll ausgebildet meinem Kopf entsprang wie Athene aus dem Geist Zeus. Nur, daß ich hier keine Athene habe. Eher Diana und Hades. Die jungfräuliche Jägerin und den Herrn der Hölle.

»Wir gehen besser«, sagte Peter. »Bevor Andrew sich überredet, mich zu töten.«

Ender lächelte boshaft. Das war das Schlimmste – daß Peter und die junge Val mehr über seinen eigenen Geist zu wissen schienen als er selbst. Mit der Zeit, so hoffte er, würden diese intime Kenntnisse von ihm verbleichen. Doch bis dahin trug es zu der Erniedrigung bei, daß Peter ihn wegen Gedanken verhöhnte, die sonst niemand vermutet hätte. Und die junge Val – an der Art, wie sie ihn betrachtete, erkannte er, daß sie seine Gedanken mitunter auch kannte. Er hatte keine Geheimnisse mehr.

»Ich gehe mit dir nach Hause«, sagte Val zu Quara.

»Nein«, erwiderte Quara. »Was ich getan habe, habe ich getan. Ich werde Glas bis zum Ende des Tests beistehen.«

»Wir wollen doch keine Gelegenheit verpassen, öffentlich zu leiden«, sagte Peter.

»Halt die Klappe, Peter«, sagte Ender.

Peter grinste. »Na, komm schon. Du weißt, daß Quara diese Sache bis auf den letzten Tropfen auspreßt. Es ist einfach ihr Art, sich zum Star der Show zu machen – alle sind nett und freundlich zu ihr, wo sie doch eigentlich bejubeln sollten, was Ela geleistet hat. Es ist so billig, einem die Schau zu stehlen, Quara – aber es entspricht ganz deinem Niveau.«

Quara hätte vielleicht geantwortet, wären Peters Worte nicht so ungeheuerlich gewesen – und hätten sie nicht einen Kern der Wahrheit enthalten, der sie verwirrte. Statt dessen bedachte die junge Val Peter mit einem kalten Blick und sagte: »Halt die Klappe, Peter.«

Dieselben Worte, die Ender gesprochen hatte, doch als Val sie sprach, funktionierten sie. Er grinste sie an und kniff ein Auge zusammen – ein verschwörerisches Blinzeln, als wolle er sagen: Ich lasse dich dein kleines Spiel spielen, Val, aber glaube nicht, ich wüßte nicht, daß du dich bei allen einschmeichelst, indem du so nett bist. Doch er sagte nichts mehr, als sie Grego in seiner Zelle zurückließen.

Draußen gesellte sich Bürgermeister Kovano zu ihnen. »Ein großer Tag in der Geschichte der Menschheit«, sagte er. »Und durch einen bloßen Zufall bin ich in allen Nachrichtensendungen dabei.« Die anderen lachten – besonders Peter, der mit Kovano schnell und problemlos Freundschaft geschlossen hatte.

»Es ist kein Zufall«, sagte Peter. »Viele Leute in Ihrer Position wären in Panik geraten und hätten alles verdorben. Es war ein offener Verstand und eine Menge Mut nötig, um die Dinge den Verlauf nehmen zu lassen, den sie genommen haben.«

Ender hätte über Peters offensichtliche Schmeichelei fast laut gelacht. Doch für den Empfänger ist eine Schmeichelei niemals so offensichtlich. Kovano gab Peter einen Knuff auf den Arm und stritt alles ab, doch Ender sah, daß er die Bemerkung genossen und Peter schon größeren Einfluß bei Kovano gewonnen hatte als er selbst. Merken diese Leute denn nicht, wie Peter sie zynisch für sich einnimmt?

Lediglich der Bischof sah Peter mit etwas, das sich mit Enders Furcht und Abscheu vergleichen ließ – doch in seinem Fall war es ein theologisches Vorurteil und keine Klugheit, das ihn davon abhielt, sich über den Tisch ziehen zu lassen. Ein paar Stunden nach ihrer Rückkehr aus dem Außen hatte der Bischof Miro angerufen und ihn gedrängt, sich taufen zu lassen. »Gott hat mit deiner Heilung ein großes Wunder vollzogen«, sagte er, »doch die Art, wie es geschehen ist – einen Körper gegen einen anderen einzutauschen, anstatt den alten direkt zu heilen –, läßt die gefährliche Möglichkeit offen, daß dein Geist einen Körper bewohnt, der nie getauft wurde. Und da die Taufe dem Fleisch gilt, befürchte ich, daß du noch ungesegnet sein könntest.« Miro war nicht sehr begeistert über die Vorstellung, die der Bischof von Wundern hatte, doch allein die Wiederherstellung seiner Kraft, Sprachfähigkeit und Bewegungsfreiheit ließ ihn so überschäumend reagieren, daß er wahrscheinlich allem zugestimmt hätte. Die Taufe würde Anfang der nächsten Woche stattfinden, beim ersten Gottesdienst, der in der neuen Kapelle abgehalten wurde.

Doch der Eifer des Bischofs, Miro zu taufen, spiegelte sich nicht in der Einstellung wider, die er Peter und der jungen Val entgegenbrachte. »Es ist absurd, diese monströsen Wesen für Menschen zu halten«, sagte er. »Sie können unmöglich Seelen haben. Peter ist das Echo eines Menschen, der bereits gelebt hat und gestorben ist, mit seinen eigenen Sünden und Bußen. Sein Leben wurde bereits abgewogen, und ihm wurde bereits ein Platz im Himmel oder der Hölle zugeteilt. Und was dieses… Mädchen betrifft, dieses Spottbild weiblicher Grazie, so kann es nicht sein, wer zu sein es behauptet, denn sein Platz wird bereits von einer lebenden Frau eingenommen. Es kann für die Täuschungen Satans keine Taufe geben. Indem er sie erschuf, hat Andrew Wiggin seinen eigenen Turm zu Babel errichtet. Er hat versucht, in den Himmel tu greifen, um die Stelle Gottes einzunehmen. Ihm kann nicht vergeben werden, bis er sie in die Hölle zurückführt und dort läßt.«

Glaubte Bischof Peregrino denn auch nur einen Augenblick lang, daß Ender etwas anderes wollte? Doch Jane war unnachgiebig, als er die Idee zur Sprache brachte. »Das wäre töricht«, sagte sie. »Erstens… wieso glaubst du, sie würden freiwillig gehen? Und zweitens, glaubst du nicht, daß du einfach zwei neue erschaffen würdest? Hast du noch nie die Geschichte vom Zauberlehrling gehört? Sie dorthin zurückzubringen wäre genauso, als würdest du die Besen in der Mitte durchschneiden – du würdest nur weitere Besen bekommen. So schlimm es auch ist, laß es dabei bewenden.«

Also gingen sie jetzt gemeinsam zum Labor – Peter, der Bürgermeister Kovano vollständig in der Tasche hatte. Die junge Val, die über Quara einen nicht minder vollständigen Sieg errungen hatte, obwohl ihre Einstellung selbstlos und nicht eigennützig war. Und Ender, ihr Schöpfer, wütend, erniedrigt und verängstigt.

Ich habe sie geschaffen – daher bin ich für alles verantwortlich, was sie tun. Und auf lange Sicht werden sie beide schreckliches Unheil anrichten.

»Laß dich von Peter nicht so reizen«, flüsterte Jane in sein Ohr.

»Die Leute glauben, er gehöre zu mir«, subvokalisierte Ender. »Sie nehmen an, daß er harmlos sein muß, weil ich harmlos bin. Aber ich habe keine Kontrolle über ihn.«

»Ich glaube, sie wissen das.«

»Ich muß ihn irgendwie von hier wegschaffen.«

»Ich arbeite daran«, sagte Jane.

»Vielleicht sollte ich sie aufsammeln und auf irgendeinem verlassenen Planeten absetzen. Kennst du Shakespeares Drama Der Sturm?«

»Du meinst, sie sind Caliban und Ariel?«

»Da ich sie nicht töten kann, muß ich sie ins Exil schicken.«

»Ich arbeite daran«, sagte Jane. »Schließlich sind sie Teile von dir, nicht wahr? Teile des Musters deines Geistes. Was wäre, wenn ich sie statt deiner benutzen kann, um ins Außen zu gelangen? Dann könnten wir drei Sternenschiffe und nicht nur eins haben.«

»Zwei«, sagte Ender. »Ich werde nie wieder ins Außen gehen.«

»Nicht einmal eine Mikrosekunde lang? Wenn ich dich hineinschaffe und sofort wieder zurückbringe? Wir müßten nicht mehr dort verweilen.«

»Es war nicht das Verweilen, das den Schaden anrichtete«, sagte Ender. »Peter und die junge Val waren augenblicklich da. Wenn ich je wieder ins Außen gehe, werde ich sie erneut erschaffen.«

»Na schön«, sagte sie. »Dann eben zwei Sternenschiffe. Eins mit Peter, eins mit der jungen Val. Laß mich einen Ausweg suchen. Wir können nicht einfach diese eine Reise machen und dann den Überlichtflug auf ewig aufgeben.«

»Doch, das können wir«, sagte Ender. »Wir haben die Recolada. Miro hat sich einen gesunden Körper verschafft. Das reicht – alles andere werden wir selbst lösen.«

»Falsch«, sagte Jane. »Wir müssen noch immer Pequeninos und Schwarmköniginnen von diesem Planeten wegbringen, bevor die Flotte eintrifft. Wir müssen den Verwandlungsvirus nach Weg bringen, um die Menschen dort zu befreien.«

»Ich werde nicht mehr ins Außen gehen.«

»Auch nicht, wenn ich Peter und die junge Val nicht benutzen kann, um meine Aiua zu befördern? Du würdest die Pequeninos und die Schwarmkönigin sterben lassen, weil du Angst vor deinen unbewußten Gedanken hast?«

»Du begreifst nicht, wie gefährlich Peter ist.«

»Vielleicht nicht. Aber ich begreife, wie gefährlich der Kleine Doktor ist. Und wenn du dich nicht so sehr in dein eigenes Elend vertieft hättest, Ender, wüßtest du, daß wir dieses Sternenschiff einsetzen müssen, um Pequeninos und die Schwarmkönigin auf andere Welten zu bringen, selbst wenn am Ende fünfhundert kleine Peter und Vals herumlaufen würden.«

Er wußte, daß sie recht hatte. Er hatte es die ganze Zeit über gewußt. Das bedeutete aber nicht, daß er auch bereit war, es einzugestehen.

»Arbeite einfach daran, dich in Peter und die junge Val zu versetzen«, subvokalisierte er. »Obwohl Gott uns helfe, falls Peter imstande ist, etwas zu erschaffen, wenn er ins Außen geht.«

»Ich bezweifle, daß er das kann«, sagte Jane. »Er ist nicht so klug, wie du annimmst.«

»Doch, das ist er«, sagte Ender. »Und wenn du es bezweifelst, bist du nicht so klug, wie du es annimmst.«


Ela war nicht die einzige, die sich auf Glas' letzten Test vorbereitete, indem sie Pflanzer besuchte. Sein stummer Stamm war noch immer lediglich ein Schößling, kaum ein Gegengewicht zu Menschs und Wühlers kräftigen Stämmen. Doch um diesen Schößling hatten sich die überlebenden Pequeninos versammelt. Und wie Ela hatten sie sich eingefunden, um zu beten. Es war ein seltsamer und stummer Gottesdienst. Die Pequenino-Priester boten keinen Pomp, keine Feierlichkeiten. Sie knieten einfach mit den anderen nieder und murmelten in ihren unterschiedlichen Sprachen vor sich hin. Einige beteten in der Sprache der Brüder, andere in der Baumsprache. Ela nahm an, daß sie von den Gattinnen, die sich dort versammelt hatten, deren normale Sprache hörte, obwohl es sich genausogut um die heilige Sprache handeln konnte, die sie benutzten, um mit den Mutterbäumen zu sprechen. Und es kamen auch menschliche Sprachen über die Lippen der Pequeninos – Stark gleichermaßen wie Portugiesisch, und vielleicht sprachen einige Pequenino-Priester auch das antike Kirchenlatein. Sie fand sich praktisch in einem Babel wieder, und doch verspürte sie eine große Einheit. Sie beteten am Grab des Märtyrers – alles, was noch von ihm übrig war – um das Leben des Bruders, der ihm folgen würde. Falls Glas heute völlig starb, würde er nur ein Echo von Pflanzers Opfer sein. Und wenn er in das dritte Leben überwechselte, würde es ein Leben sein, das es Pflanzers Mut und Beispiel verdankte.

Weil Ela die Recolada aus dem Außen mitgebracht hatte, ehrten sie sie, indem sie sie an Pflanzers Stamm kurz allein ließen. Sie legte die Hand um den schlanken Holzpfahl und wünschte, es wäre mehr von seinem Leben darin. War Pflanzers Aiua nun verloren und wanderte in der Raumlosigkeit des Außen umher? Oder hatte Gott seine Seele empfangen und im Himmel aufgenommen, wo Pflanzer nun mit den Heiligen sprach?

Pflanzer, bete für uns. Lege ein gutes Wort ein. Wie meine verehrten Großeltern mein Gebet Gott vorgetragen haben, gehe nun damit zu Jesus und bitte ihn um Gnade für all deine Brüder und Schwestern. Laß die Recolada Glas ins dritte Leben tragen, so daß wir sie guten Gewissens auf der ganzen Welt verbreiten können, damit sie die mörderische Descolada ersetzt. Dann kann sich der Löwe in der Tat neben dem Lamm zur Ruhe betten, und es kann Frieden an diesem Ort geben.

Doch nicht zum ersten Mal hatte Ela ihre Zweifel. Sie war überzeugt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben – sie teilte Quaras Gewissensbisse nicht, die Descolada auf ganz Lusitania zu vernichten. Doch sie war nicht überzeugt, ob es richtig gewesen war, daß sie die Recolada auf den ältesten Exemplaren der Descolada, die sie gesammelt hatten, aufgebaut hatten. Falls die Descolada tatsächlich das kürzlich aufgetretene kriegerische Verhalten der Pequeninos verursacht hatte, ihren Drang, sich auf andere Welten auszubreiten, konnte sie davon ausgehen, die Pequeninos zu ihrem vorherigen ›natürlichen‹ Zustand zurückgeführt zu haben. Doch andererseits stellte dieser vorherige Zustand genauso ein Ergebnis des gaialogischen Ausgleichs der Descolada dar – er kam ihnen nur natürlicher vor, weil sich die Pequeninos in diesem Zustand befunden hatten, als die Menschen auf Lusitania eintrafen. Also konnte sie genausogut davon ausgehen, eine Verhaltensveränderung einer gesamten Spezies herbeigeführt zu haben, die bequemerweise einen Großteil ihrer Aggressivität entfernte, so daß eine geringere Wahrscheinlichkeit bestand, daß sie sich in der Zukunft mit den Menschen in einen Konflikt verstricken würden. Ich mache jetzt gute Christen aus ihnen, ob es ihnen nun gefällt oder nicht. Und die Tatsache, daß sowohl Mensch als auch Wühler mein Vorgehen gebilligt haben, nimmt mir nicht die Last der Verantwortung, falls sich dieses Vorgehen letztendlich zum Schaden der Pequeninos erweisen sollte.

O Gott, vergebe mir, im Leben dieser deiner Kinder Gott gespielt zu haben. Wenn Pflanzers Aiua vor dich tritt, um für uns zu bitten, gewähre ihm das Gebet, das er unserethalben vorbringt – aber nur, wenn es dein Wille ist, daß seine Spezies dergestalt verändert wird. Hilf uns, Gutes zu tun, doch halte uns auf, wenn wir unwissentlich Schaden anrichten. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Sie wischte eine Träne von ihrer Wange ab und drückte sie gegen die glatte Borke von Pflanzers Stamm. Du kannst dies nicht fühlen, Pflanzer, du bist nicht in dem Baum. Aber ich glaube, daß du es trotzdem fühlst. Gott wird nicht zulassen, daß sich eine so edle Seele wie deine in der Dunkelheit verliert.

Es war an der Zeit zu gehen. Sanfte Brüderhände berührten sie, zerrten an ihr, zogen sie zu dem Labor, in dem Glas im Isolationsraum auf seinen Übergang ins dritte Leben wartete.


Als Ender Pflanzer besucht hatte, war er von medizinischen Geräten umgeben gewesen und hatte auf einem Bett gelegen. Jetzt sah es in der Isolationskammer völlig anders aus. Glas war bei perfekter Gesundheit, und obwohl er mit allen Überwachungsgeräten verkabelt war, war er nicht ans Bett gefesselt. Verspielt und glücklich konnte er kaum seinen Eifer verbergen, daß das Experiment durchgeführt wurde.

Und nun, da Ela und die anderen Pequeninos gekommen waren, konnte es beginnen.

Die einzige Mauer, die seine Isolation aufrecht erhielt, war das Disruptorfeld; außerhalb davon konnten die Pequeninos, die sich versammelt hatten, alle Vorgänge beobachten. Sie waren jedoch die einzigen, die offen zusahen. Vielleicht aus Rücksichtnahme auf die Gefühle der Pequeninos oder vielleicht, um eine Mauer zwischen ihnen und der Brutalität dieses Pequenino-Rituals zu haben, hatten sich die Menschen alle im Labor versammelt, wo sie nur durch ein Fenster und die Monitore beobachten konnten, was mit Glas geschehen würde.

Glas wartete, bis sich die steril gekleideten Brüder neben ihm befanden, mit Holzmessern in den Händen, bevor er Capim aufriß und kaute. Es war das Narkotikum, das es ihm erträglich machen würde. Aber es war auch das erste Mal, daß ein Bruder, der das dritte Leben erwartete, ein einheimisches Gras kaute, das keinen Descolada-Virus enthielt. Falls Elas neuer Virus funktionierte, würde dieses Capim bewirken, was das von der Descolada beherrschte Capim immer bewirkt hatte.

»Wenn ich ins dritte Leben überwechsle«, sagte Glas, »gebührt die Ehre Gott und seinem Diener Pflanzer, aber nicht mir.«

Es war nur angemessen, daß Glas mit seinen letzten Worten in der Brudersprache Pflanzer lobte. Doch seine Großzügigkeit änderte nichts an der Tatsache, daß der Gedanken an Pflanzers Opfer bei vielen Menschen Tränen hervorrief; so schwer es auch sein mochte, die Gefühle der Pequeninos zu deuten, hatte Ender keinen Zweifel, daß viele der Geräusche, die die Pequeninos draußen von sich gaben, ebenfalls einem Weinen entsprachen oder zumindest einem anderen Gefühl, mit dem sie Pflanzers Andenken würdigten. Doch Glas irrte sich, wenn er glaubte, sein Opfer würde ihm keine Ehre einbringen. Alle wußten, daß ein Fehlschlag noch möglich war, daß trotz allem Anlaß zur Hoffnung, den sie hatten, keine Gewißheit bestand, daß Elas Recolada die Macht hatte, einen Bruder ins dritte Leben zu führen.

Die steril gekleideten Brüder hoben ihre Messer und machten sich an die Arbeit.

Diesmal bin nicht ich es, dachte Ender. Gott sei gedankt, daß nicht ich ein Messer schwingen muß, um den Tod eines Bruders zu verursachen.

Doch er wandte den Blick nicht ab, wie so viele andere im Labor. Das Blut und die Eingeweide waren ihm nicht neu, und obwohl es das nicht angenehmer machte, wußte er zumindest, daß er es ertragen konnte. Und daß Glas es ertragen konnte. Ender konnte es ertragen, es zu beobachten. Das mußte man doch von einem Sprecher für die Toten erwarten, oder nicht? Etwas mitanzusehen. Er beobachtete alles, was er von dem Ritual sehen konnte, wie sie Glas' lebenden Körper öffneten und seine Organe in die Erde pflanzten, damit der Baum wachsen konnte, während Glas' Verstand noch wachsam und lebendig war. Während des gesamten Rituals gab Glas kein Geräusch von sich, machte Glas keine Bewegung, die auf Schmerz hinwies. Entweder war sein Mut größer, als sie es sich vorstellen konnten, oder die Recolada hatte im Capim gewirkt, so daß das Gras seine narkotischen Eigenschaften bewahrt hatte.

Endlich war es vollbracht, und die Brüder, die ihn ins dritte Leben geführt hatten, kehrten in den Sterilraum zurück, wo sie ihre Anzüge ablegten, sobald sie von der Recolada und dem viriziden Bakterium gesäubert worden waren. Nackt gingen sie wieder in das Labor. Sie waren sehr ernst, doch Ender glaubte, die Aufregung und Begeisterung sehen zu können, die sie verbargen. Alles war gut verlaufen. Sie hatten gespürt, daß Glas' Körper auf sie reagierte. Innerhalb von Stunden, vielleicht auch nur Minuten müßten die ersten Blätter des jungen Baumes sprießen. Und sie waren zutiefst überzeugt, daß es geschehen würde.

Ender bemerkte auch, daß einer von ihnen ein Priester war. Er fragte sich, was der Bischof sagen würde, wenn er davon wüßte. Der alte Peregrino hatte sich als durchaus fähig erwiesen, eine außerirdische Spezies in den katholischen Glauben zu integrieren und Rituale und Lehren zu übernehmen, die zu ihren besonderen Bedürfnissen paßten. Doch das änderte nichts an der Tatsache, daß Peregrino ein alter Mann war, dem die Vorstellung nicht gefiel, daß Priester an Ritualen teilnahmen, die trotz ihrer deutlichen Ähnlichkeit mit der Kreuzigung nicht zu den anerkannten Sakramenten gehörten. Nun, diese Brüder wußten, was sie taten. Ob sie dem Bischof nun gesagt hatten oder nicht, daß einer seiner Priester an dem Ritual teilnahm, Ender würde es nicht erwähnen, genausowenig wie einer der anderen anwesenden Menschen, falls es überhaupt einem aufgefallen war.

Ja, der Baum wuchs. Die Blätter sprossen, während sie zusahen. Doch es würde noch viele Stunden, vielleicht sogar Tage dauern, bevor sie wußten, ob es ein Vaterbaum war, ob Glas noch lebte und sein Bewußtsein sich darin befand. Eine Zeit des Wartens, in der Gras' Baum in völliger Isolation wachsen mußte.

Wenn ich nur einen Ort finden könnte, dachte Ender, an dem ich mich ebenfalls in völliger Isolation befände, an dem ich ohne Einmischung über die seltsamen Dinge nachdenken könnte, die mir widerfahren sind.

Doch er war kein Pequenino, und das Unbehagen, an dem er litt, stammte nicht von einem Virus, der getötet oder aus seinem Leben entfernt werden konnte. Seine Krankheit saß an der Wurzel seiner Identität, und er wußte nicht, ob er sie jemals loswerden konnte, ohne sich dabei selbst zu zerstören. Vielleicht, dachte er, repräsentieren Peter und Val die Gesamtheit dessen, was ich bin; wenn sie nicht mehr wären, wäre vielleicht nichts mehr übrig. Welcher Teil meines Seele, welche Tat meines Lebens kann nicht so erklärt werden, daß der eine oder die andere von ihnen seinen oder ihren Willen durch mich ausgeführt haben?

Bin ich die Summe meiner Nachkommen? Oder der Unterschied zwischen ihnen? Worin besteht die besondere Arithmetik meiner Seele?


Valentine versuchte, nicht ständig über dieses junge Mädchen nachzudenken, das Ender aus dem Außen mitgebracht hatte. Natürlich wußte sie, daß es ihr jüngeres Selbst war, wie er sich daran erinnerte, und sie fand es sogar ziemlich nett von ihm, in seinem Herzen eine so starke Erinnerung von ihr in diesem Alter zu bewahren. Von allen Menschen auf Lusitania wußte nur sie allein, warum die Erinnerung an sie in ausgerechnet diesem Alter in seinen unbewußten Gedanken verharrt war. Bis zu dieser Zeit hatte er sich in der Kampfschule befunden und war völlig von seiner Familie getrennt gewesen. Obwohl er es nicht wissen konnte, wußte sie, daß seine Eltern ihn fast vergessen hatten. Natürlich nicht in der Hinsicht, daß es ihn gab, doch als Bestandteil ihres Lebens. Er war einfach nicht mehr da, sie waren nicht mehr verantwortlich für ihn. Sie hatten ihn dem Staat übergeben, waren der Sorge für ihn entbunden worden. Wäre er tot gewesen, wäre er eher ein Teil ihres Lebens geblieben; doch so konnten sie nicht einmal ein Grab besuchen. Valentine machte ihnen deshalb keine Vorhaltungen; diese Einstellung bewies, daß sie nicht unterzukriegen und anpassungsfähig waren. Aber sie war nicht imstande gewesen, es ihnen gleichzutun. Ender war immer bei ihr, in ihrem Herzen. Und als Ender dann, nachdem er allen Herausforderungen begegnet war, die man ihm in der Kampfschule vorgeworfen hatte, entschlossen war, das ganze Unternehmen aufzugeben, war der Offizier, der ihn in ein dienstbares Werkzeug verwandeln sollte, zu ihr gekommen. Hatte sie zu Ender gebracht. Hatte dafür gesorgt, daß sie eine Zeitlang zusammen sein konnten – derselbe Mann, der sie auseinandergerissen und so tiefe Wunden in ihren Herzen zurückgelassen hatte. Sie hatte ihren Bruder damals geheilt – soweit wiederhergestellt, daß er weitermachen und die Menschheit vor der Vernichtung durch die Krabbler bewahren konnte.

Natürlich hat er die Erinnerung an mich in diesem Alter bewahrt; sie ist stärker als all unsere zahllosen Erlebnisse, die wir seitdem gehabt haben. Und wenn seine unbewußten Gedanken ihre intimsten Erinnerungen hervorbringen, dann handelt es sich natürlich um das Mädchen, das ich damals war und das er am tiefsten in sein Herz geschlossen hat.

Sie wußte das alles, sie verstand das alles, sie glaubte das alles. Und doch nagte es an ihr, tat es weh, daß er sie die ganze Zeit über als dieses fast geistlose, perfekte Geschöpf in Erinnerung gehabt hatte. Daß die Valentine, die Ender wirklich liebte, ein Geschöpf von unmöglicher Reinheit war. Um dieser imaginären Valentine willen war er mir all die Jahre, bevor ich Jakt heiratete, ein so enger Gefährte. Bis er zu dieser kindhaften Version von mir zurückkehrte, weil ich Jakt geheiratet habe.

Unsinn. Es brachte nichts ein, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was dieses junge Mädchen bedeutete. Ganz gleich, wie und warum es geschaffen worden war, es war jetzt da, und man mußte sich mit ihm befassen.

Der arme Ender schien nichts zu begreifen. Er war anfangs sogar der Meinung gewesen, er solle die junge Val bei sich behalten. »Ist sie in gewisser Hinsicht nicht meine Tochter?« hatte er gefragt.

»Sie ist in keiner Hinsicht deine Tochter«, hatte sie geantwortet. »Wenn überhaupt, ist sie meine Tochter. Und es wäre mit Sicherheit falsch, sie allein bei dir aufzunehmen. Besonders, da auch Peter bei dir wohnt, und er ist nicht gerade der vertrauenswürdigste Anstandswächter, den es gibt.« Ender war noch immer nicht völlig überzeugt – er wäre lieber Peter als Val losgeworden –, doch er gab nach, und seitdem wohnte Val in Valentines Haus. Valentine hatte vorgehabt, dem Mädchen eine Freundin und Lehrerin zu werden, mußte jedoch feststellen, daß sie dazu einfach nicht imstande war. Sie fühlte sich in Vals Gegenwart unbehaglich. Sie fand immer wieder neue Gründe, das Haus zu verlassen, wenn Val dort war; sie war außerordentlich dankbar, wenn Ender kam, um sie zu einem Gespräch mit ihm und Peter abzuholen.

Schließlich kam es, daß Plikt stumm in die Bresche sprang und das Problem löste. Plikt wurde Vals wichtigste Gefährtin und Hüterin in Valentines Haus. Wenn Val nicht bei Ender war, war sie bei Plikt. Und an diesem Morgen hatte Plikt vorgeschlagen, ein neues Haus zu bauen – für sie und Val. Vielleicht habe ich zu vorschnell zugestimmt, dachte Valentine. Aber es fällt Val wahrscheinlich genauso schwer, ein Haus mit mir zu teilen, wie umgekehrt.

Doch als sie nun beobachtete, wie Plikt und Val auf den Knien die neue Kapelle betraten und vorwärts rutschten, um vor dem Altar Bischof Peregrinos Ring zu küssen, begriff Valentine, daß sie nichts zu »Vals Bestem« getan hatte, wie sehr sie es sich auch eingeredet hatte. Val war völlig selbstbewußt, unbeeinflußbar und gelassen. Warum hatte sich Valentine eingebildet, sie könne die junge Val glücklicher oder unglücklicher, zufriedener oder unzufriedener machen? Ich bin für das Leben dieses Mädchens unwichtig. Aber sie ist nicht für mein Leben unwichtig. Sie ist gleichzeitig eine Bestätigung und eine Widerlegung der wichtigsten Beziehung meiner Kindheit und eines Großteils meines Lebens als Erwachsene. Ich wünschte, sie wäre im Außen zerfallen, wie Miros alter, verkrüppelter Körper.

Und sie stand sich selbst gegenüber. Diesen Test hatte Ela augenblicklich durchgeführt. Die junge Val und Valentine waren genetisch identisch.

»Aber es ergibt keinen Sinn«, protestierte Valentine. »Ender kann sich wohl kaum meinen genetischen Kode eingeprägt und ein Muster dieses Kodes im Sternenschiff gegeben haben.«

»Soll ich es dir etwa erklären?« fragte Ela.

Ender hatte eine mögliche Erklärung vorgeschlagen – der genetische Kode der jungen Val könnte fließend gewesen sein, bis sie Valentine begegnet war, und danach hatten die Philoten von Vals Körper sich nach dem Muster ausgebildet, das sie in Valentines Körper gefunden hatten.

Valentine behielt ihre Meinung dazu für sich, bezweifelte jedoch, daß Enders Vermutung zutraf. Die junge Val hatte vom ersten Augenblick an Valentines Gene gehabt, weil eine Person, die so perfekt Enders Vorstellung von Valentine entsprach, keine anderen Gene haben konnte; das Naturgesetz, das Jane im Sternenschiff aufrecht erhielt, verlangte es. Oder es gab vielleicht eine Kraft, die selbst an solch einem Ort des völligen Chaos den Dingen Form und Gestalt gab. Doch es spielte kaum eine Rolle, bis auf die Tatsache, daß Enders Bild von ihr, ganz gleich, wie ärgerlich perfekt und ihr selbst unähnlich diese neue Pseudo-Val auch sein mochte, so genau gewesen war, daß sie genetisch ein und dieselbe Person waren. Doch so falsch konnte sein Bild von ihr nicht gewesen sein. Vielleicht war ich damals so perfekt und so schön.

Sie knieten vor dem Bischof nieder. Plikt küßte seinen Ring, obwohl sie kein Teil der Schuld von Lusitania traf.

Doch als es an der jungen Val war, den Ring zu küssen, zog der Bischof die Hand zurück und wandte sich ab. Ein Priester trat vor und sagte ihnen, sie sollten auf ihre Plätze gehen.

»Wie kann ich das?« sagte die junge Val. »Ich habe noch keine Abbitte getan.«

»Dich trifft keine Schuld«, sagte der Priester. »Der Bischof hat es mir erklärt, bevor ihr kamt; du warst nicht hier, als die Sünde begangen wurde, also mußt du auch keine Buße tun.«

Die junge Val musterte ihn sehr traurig und sagte: »Ich wurde von einem anderen als Gott geschaffen. Deshalb will der Bischof mich nicht empfangen. Solange er lebt, werde ich kein Abendmahl erhalten.«

Der Priester schaute sehr traurig drein – es war unmöglich, daß einem die junge Val nicht leid tat, denn ihre Einfachheit und Schönheit ließen sie zerbrechlich erscheinen, und die Person, die sie verletzte, mußte sich sehr unbeholfen vorkommen, solch einem zarten Wesen Schaden zugefügt zu haben. »Bis der Papst eine Entscheidung trifft«, sagte er. »Es ist ein sehr schwieriges Problem.«

»Ich weiß«, flüsterte die junge Val. Dann wandte sie sich ab und nahm zwischen Plikt und Valentine Platz.

Unsere Ellbogen berühren sich, dachte Valentine. Eine Tochter, die mein völliges Ebenbild ist, als hätte ich sie vor dreizehn Jahren geklont.

Aber ich will keine weitere Tochter haben und ganz bestimmt kein Duplikat von mir. Sie weiß das. Sie fühlt es. Und so leidet sie unter etwas, worunter ich nie gelitten habe – sie fühlt sich von denen, die ihr am nächsten stehen, ungeliebt und ungewollt.

Was empfindet Ender für sie? Wünscht er auch, daß sie verschwindet? Oder sehnt er sich danach, ihr Bruder zu sein, wie er vor so vielen Jahren mein Bruder war? Als ich in diesem Alter war, hatte Ender noch keinen Xenozid begangen. Aber damals hatte er auch noch nicht für die Toten gesprochen. Die Schwarmkönigin, der Hegemon, Menschs Leben, das alles lag noch vor ihm. Er war nur ein Kind, verwirrt, verzweifelt, verängstigt. Wie konnte sich Ender nach jener Zeit sehnen?

Kurz darauf kam Miro herein, kroch zum Altar und küßte den Ring. Obwohl der Bischof ihn von jeder Verantwortung freigesprochen hatte, leistete er wie alle anderen Buße. Valentine bemerkte natürlich, daß viele Leute leise tuschelten. Alle auf Lusitania, die ihn vor seinem Unfall gekannt hatten, wußten, daß sich ein Wunder vollzogen hatte – die völlige Wiederherstellung des Miro, der zuvor so fröhlich unter ihnen gelebt hatte.

Damals habe ich dich nicht gekannt, Miro, dachte Valentine. Hast du schon immer diese zurückhaltende, nachdenkliche Aura verbreitet? Dein Körper mag zwar geheilt sein, doch du bist noch immer der Mensch, der all diese Zeit unter Schmerzen gelebt hat. Hat dich das kälter oder mitfühlender gemacht?

Er kam und setzte sich neben sie, auf den Stuhl, auf dem eigentlich Jakt gesessen hätte, wenn er nicht noch im All gewesen wäre. Da die Vernichtung der Descolada kurz bevorstand, mußte jemand die Tausenden von gefrorenen Mikroben und Planzen- und Tierrassen auf die Planetenoberfläche bringen, die nötig waren, um eine selbstregulierende Gaialogie zu etablieren und die planetaren Systeme in Ordnung zu halten. Es war eine Aufgabe, die schon auf vielen anderen Welten bewältigt worden war, doch hier wurde sie durch die Notwendigkeit kompliziert, sich nicht zu intensiv mit den einheimischen Spezies zu befassen, von denen die Pequeninos abhängig waren. Jakt war dort oben und arbeitete für sie alle; er war aus einem guten Grund fort, doch Valentine vermißte ihn trotzdem – brauchte ihn sogar dringend, weil Enders neue Schöpfungen solch einen Gefühlsaufruhr in ihr verursacht hatten. Miro war kein Ersatz für ihren Gatten, besonders nicht, da sein neuer Körper sie stets daran erinnerte, was im Außen geschehen war.

Was hätte ich erschaffen, wäre ich dorthin gegangen? Ich bezweifle, daß ich einen Menschen zurückgebracht hätte, denn ich befürchte, daß an der Wurzel meiner Psyche keine Seele wohnt. Nicht einmal meine eigene, befürchte ich. Was sonst ist mein leidenschaftliches Studium der Geschichte gewesen, wenn nicht eine Suche nach Menschlichkeit? Andere finden Menschlichkeit, indem sie in ihre eigenen Herzen schauen. Nur verlorene Seelen müssen sie außerhalb von sich selbst suchen.

»Es sind fast alle durch«, flüsterte Miro.

Der Gottesdienst würde bald beginnen.

»Bist du bereit, dich von deinen Sünden läutern zu lassen?« flüsterte Valentine.

»Wie der Bischof mir erklärt hat, wird er mich nur von den Sünden dieses neuen Körpers freisprechen. Ich muß noch immer beichten und Buße für die Sünden tun, die von dem alten Körper übriggeblieben sind. Es waren mir natürlich nicht viele Sünden des Fleisches möglich, aber da ist noch immer jede Menge Neid, Boshaftigkeit, Gehässigkeit und Selbstmitleid. Ich überlege gerade, ob ich auch einen Selbstmord beichten muß. Als sich mein alter Körper auflöste, war es, als habe sich ein Herzenswunsch erfüllt.«

»Du hättest deine Stimme besser nicht zurückbekommen«, sagte Valentine. »Du plapperst jetzt einfach vor dich hin, um dich so schön reden hören zu können.«

Er lächelte und tätschelte ihren Arm.

Der Bischof begann den Gottesdienst mit einem Gebet, mit dem er Gott für alles dankte, was in den letzten Monaten erreicht worden war. Die Schöpfung der beiden neuesten Mitbürger Lusitanias ließ er verdächtigerweise aus, obwohl Miros Heilung eindeutig auf Gottes Schwelle gelegt wurde. Er rief Miro zu sich, taufte ihn fast umgehend und wandte sich dann, weil dies keine Messe war, sofort seiner Predigt zu.

»Gottes Gnade ist unendlich«, sagte er. »Wir können nur hoffen, daß er weiter ausgreifen wird, als wir es verdienen, daß er uns unsere schrecklichen Sünden als Einzelmenschen und als Volk vergibt. Wir können nur hoffen, daß wir wie Niniveh, das durch Bußfertigkeit der Zerstörung entging, unseren Herrn überzeugen können, uns vor der Flotte zu verschonen, die er zu uns geschickt hat, um uns zu bestrafen.«

»Hat er die Flotte nicht geschickt«, flüsterte Miro so leise, daß nur sie es hören konnte, »bevor der Wald niedergebrannt wurde?«

»Vielleicht ist für Gott nur die Ankunfts- und nicht die Abflugzeit wichtig«, gab Valentine zurück. Doch sie bedauerte ihre schnippische Antwort sofort. Sie hatten sich aus einem ernsten Anlaß hier zusammengefunden; und obwohl sie nicht an die katholische Lehre glaubte, beeindruckte es sie, daß die Gemeinde die Verantwortung für das Böse auf sich nahm, das sie begangen hatte, und wahre Buße leistete.

Der Bischof sprach von denen, die in Heiligkeit gestorben waren – Os Venerados, die die Menschheit als erste vor der Descolada-Plage gerettet hatten; Vater Estevão, dessen Leichnam unter dem Boden der Kapelle begraben lag und der ein Märtyrer geworden war, um die Wahrheit gegen die Ketzerei zu verteidigen; Pflanzer, der gestorben war, um zu beweisen, daß die Seele seines Volkes von Gott und nicht von einem Virus stammte; und die Pequeninos, die als unschuldige Opfer eines Gemetzels gestorben waren. »Sie alle mögen eines Tages Heilige sein, denn wir leben in einer Zeit, die an die Anfangstage des Christentums erinnert, als große Taten und große Heiligkeit dringend gebraucht und daher öfter vollbracht wurden. Diese Kapelle ist ein Schrein für all jene, die ihren Gott mit all ihrem Herzen und die ihren Nächsten wie sich selbst geliebt haben. Sollen alle, die hier eintreten, mit gebrochenem Herzen und reuigem Geist eintreten, damit die Heiligkeit auch sie berührt.«

Die Predigt dauerte nicht lange, denn es waren für diesen Tag noch viele weitere Gottesdienste angesetzt – die Gläubigen betraten die Kapelle in Gruppen; sie war viel zu klein, um die gesamte menschliche Bevölkerung Lusitanias auf einmal aufzunehmen. Sie waren ziemlich schnell fertig, und Valentine stand auf, um zu gehen. Sie wollte schon Plikt und Val folgen, als Miro sie am Arm festhielt.

»Jane hat es mir gerade erzählt«, sagte er. »Ich dachte, du wolltest es wissen.«

»Was?«

»Sie hat gerade das Sternenschiff getestet, ohne daß Ender darin war.«

»Wie war ihr das möglich?« fragte Valentine.

»Peter«, sagte er. »Sie hat ihn ins Außen und wieder zurück gebracht. Er kann ihr Aiua aufnehmen, falls dieser Prozeß wirklich so funktioniert.«

Ihre Stimme verlieh ihrer unmittelbaren Furcht Ausdruck. »Hat er…«

»Etwas geschaffen? Nein.« Miro grinste – aber mit einer Andeutung des schiefen, verzerrten Gesichtsausdrucks, den Valentine für eine Folge seiner Behinderung gehalten hatte. »Er behauptet, es läge daran, daß sein Geist viel sauberer und gesünder als der Andrews ist.«

»Vielleicht«, sagte Valentine.

»Ich behaupte, es liegt daran, daß kein Philot im Außen bereit war, Teil seines Musters zu werden. Zu verdreht.«

Valentine lachte leise.

Dann kam der Bischof zu ihnen. Da sie zu den letzten gehörten, die die Kapelle verließen, waren sie ungestört.

»Danke, daß du die neue Taufe akzeptiert hast«, sagte der Bischof.

Miro neigte den Kopf. »Nicht viele Menschen bekommen die Gelegenheit, so sehr von ihren Sünden geläutert zu werden«, sagte er.

»Und Valentine, es tut mir leid, daß ich Ihre… Namensvetterin nicht akzeptieren konnte.«

»Keine Angst, Bischof Peregrino. Ich verstehe Sie. Vielleicht bin ich sogar derselben Ansicht.«

Der Bischof schüttelte den Kopf. »Es wäre besser, wenn sie einfach…«

»Gingen?« ergänzte Miro. »Ihr Wunsch wird erfüllt. Peter wird bald aufbrechen – Jane kann ein Schiff mit ihm an Bord lenken. Zweifellos ist ihr das auch mit der jungen Val möglich.«

»Nein«, sagte Valentine. »Sie kann nicht gehen. Sie ist zu…«

»Jung?« fragte Miro. Er wirkte amüsiert. »Die beiden wurden mit allem geboren, was Ender weiß. Du kannst das Mädchen trotz ihres Körpers wohl kaum ein Kind nennen.«

»Wenn sie geboren worden wären«, sagte der Bischof, »müßten sie nicht gehen.«

»Sie gehen nicht, weil Sie es wünschen«, sagte Miro. »Sie gehen, weil Peter Elas neuen Virus nach Weg bringen wird, und die junge Val sucht mit ihrem Schiff nach Planeten, auf denen man Pequeninos und Schwarmköniginnen ansiedeln kann.«

»Ihr könnt sie nicht auf so eine Mission schicken«, sagte Valentine.

»Ich werde sie nicht schicken«, sagte Miro. »Ich werde sie mitnehmen. Oder besser gesagt, sie wird mich mitnehmen. Ich will gehen. Welche Risiken auch bestehen, ich nehme sie auf mich. Ihr wird nichts passieren, Valentine.«

Valentine schüttelte noch immer den Kopf, doch sie wußte bereits, daß sie sich letztendlich nicht durchsetzen konnte. Die junge Val selbst würde darauf bestehen, wie jung sie auch sein mochte, denn wenn sie nicht ging, stand ihnen nur ein Sternenschiff zur Verfügung; und wenn Peter die Reisen übernahm, konnte man nicht sagen, ob er das Schiff nicht für seine eigenen Ziele zweckentfremden würde. Auf lange Sicht würde sich auch Valentine der Notwendigkeit beugen müssen. Welchen Gefahren sich die junge Val auch aussetzen mochte, sie waren nicht schlimmer als die Risiken, die andere bereits auf sich genommen hatten. Zum Beispiel Pflanzer. Zum Beispiel Vater Estevão. Zum Beispiel Glas.


Die Pequeninos versammelten sich um Pflanzers Baum. Es wäre Glas' Baum gewesen, da er der erste war, der mit der Recolada ins dritte Leben übergewechselt war, doch schon seine ersten Worte, nachdem sie wieder mit ihm sprechen konnten, wiesen die Idee barsch zurück, das Virizid und die Recolada neben seinem Baum in die Welt einzuführen. Diese Ehre gebühre Pflanzer, erklärte er, und schließlich pflichteten die Brüder und Gattinnen ihm nachdrücklich bei.

So kam es, daß sich Ender gegen seinen Freund Mensch lehnte, den er vor so vielen Jahren gepflanzt hatte, um ihm ins dritte Leben zu helfen. Die Befreiung der Pequeninos wäre ein Augenblick umfassender Freude für Ender gewesen sich – wenn er nicht Peter dabeigehabt hätte.

»Die Schwachen feiern die Schwachen«, sagte Peter. »Pflanzer hat versagt, während Glas Erfolg gehabt hat, und dort steht er, allein auf dem Experimentalfeld. Und das dümmste daran ist, daß es für Pflanzer keine Bedeutung mehr haben kann, da sein Aiua nicht mehr hier ist.«

»Es mag für Pflanzer vielleicht keine Bedeutung mehr haben«, sagte Ender – obwohl er sich dessen nicht völlig sicher war, »doch es bedeutet den Leuten hier etwas.«

»Ja«, sagte Peter. »Es bedeutet, daß sie schwach sind.«

»Jane sagt, sie habe dich ins Außen mitgenommen.«

»Eine leichte Reise«, sagte Peter. »Beim nächsten Mal jedoch wird Lusitania nicht mehr mein Ziel sein.«

»Sie sagt, du hast vor, Elas Virus nach Weg zu bringen.«

»Mein erster Zwischenhalt«, sagte Peter. »Aber ich werde nicht mehr hierher zurückkommen. Verlasse dich darauf, alter Junge.«

»Wir brauchen das Schiff.«

»Du hast das süße kleine Computermädchen«, sagte Peter, »und die Krabblerhure kann Dutzende von Sternenschiffen für dich ausspucken, wenn du nur genug Geschöpfe wie mich und Valzinha hervorbringen kannst, um sie zu steuern.«

»Ich werde froh sein, dich nicht mehr sehen zu müssen.«

»Willst du nicht wissen, was ich vorhabe?«

»Nein«, sagte Ender.

Aber das war eine Lüge, und natürlich wußte Peter es. »Ich habe vor, das zu tun, wozu du nie den Grips oder Mumm hattest. Ich habe vor, die Flotte aufzuhalten.«

»Wie? Willst du wie durch Zauberei auf dem Flagschiff auftauchen?«

»Tja, wenn es zum Schlimmsten käme, lieber Junge, könnte ich die Flotte noch immer mit einem M.D.-Gerät beharken, bevor sie überhaupt mitbekommt, daß es mich gibt. Aber das würde nicht viel bewerkstelligen, oder? Um die Flotte aufzuhalten, muß ich den Kongreß aufhalten. Und um den Kongreß aufzuhalten, muß ich die Kontrolle haben.«

Ender wußte sofort, was das bedeutete. »Du glaubst also, wieder Hegemon werden zu können? Gott helfe der Menschheit, wenn du es schaffst.«

»Warum sollte ich es nicht schaffen?« sagte Peter. »Mir ist es schon einmal gelungen, und ich habe mich gar nicht so schlecht geschlagen. Du müßtest es wissen – du hast doch das Buch darüber geschrieben.«

»Das war der echte Peter«, sagte Ender. »Nicht du, die verzerrte Version, die ich aus meinem Haß und meiner Furcht heraufbeschworen habe.«

Hatte Peter genug Seele, um sich durch diese harten Worte getroffen zu fühlen? Ender glaubte, zumindest einen Augenblick lang, daß Peter innehielt und sein Gesicht Schmerz zeigte.

»Ich bin jetzt der echte Peter«, antwortete er nach diesem Augenblick. »Und du hoffst besser, daß ich all meine Fähigkeiten behalten habe. Schließlich hast du Valette ja dieselben Gene wie Valentine gegeben. Vielleicht bin ich alles, was Peter je war.«

»Vielleicht können Schweine fliegen.«

Peter lachte. »Sie würden es, wenn du ins Außen gehst und hart genug daran glaubst.«

»Dann geh«, sagte Ender.

»Ja, ich weiß, daß du froh bist, mich endlich loszusein.«

»Und dich auf den Rest der Menschheit loszulassen? Das ist Strafe genug dafür, daß sie die Flotte losgeschickt hat.« Ender ergriff Peter am Arm und zog ihn zu sich heran. »Glaube nicht, daß du mich diesmal wieder ausmanövrieren kannst. Ich bin kein kleiner Junge mehr, und wenn du außer Kontrolle gerätst, werde ich dich vernichten.«

»Das kannst du nicht«, sagte Peter. »Aber du könntest gut selbst dabei umkommen.«

Die Feier begann. Diesmal hatten sie auf jeden Pomp verzichtet. Es gab keinen Ring zu küssen und keine Predigt. Ela und ihre Assistenten brachten einfach mehrere hundert Zuckerwürfel, die mit dem Virizid-Bakterium getränkt waren, und genauso viele Reagenzgläser mit einer Lösung, die die Recolada enthielt. Sie wurden unter den Anwesenden verteilt, und jeder Pequenino nahm einen Zuckerwürfel, löste ihn auf, schluckte ihn und trank dann den Inhalt eines Reagenzglases.

»Dies ist mein Körper, den ich für euch hingebe«, intonierte Peter. »Tut dies, um euch an mich zu erinnern.«

»Hast du vor nichts Respekt?« fragte Ender.

»Das ist mein Blut, das ich für euch vergieße. Trinkt es, um euch an mich zu erinnern.« Peter lächelte. »Das ist ein Abendmahl, an dem sogar ich teilhaben kann, ungetauft, wie ich bin.«

»Eins kann ich dir versprechen«, sagte Ender. »Die Taufe, die dich freisprechen kann, wurde noch nicht erfunden.«

»Ich wette, du hast dein ganzes Leben lang darauf gewartet, das zu mir sagen zu können.« Peter drehte sich zu ihm um, damit Ender das Juwel sehen konnte, das in sein Ohr eingepflanzt worden war und ihn mit Jane verband. Für den Fall, daß Ender nicht bemerkt haben sollte, worauf er ihn hinweisen wollte, berührte Peter das Juwel ziemlich ostentativ. »Vergiß nicht, ich habe hier die Quelle aller Weisheit. Wenn es dich interessiert, wird sie dir zeigen, was ich tue. Falls du mich nicht in dem Augenblick vergißt, in dem ich aufbreche.«

»Ich werde dich nicht vergessen«, sagte Ender.

»Du könntest mitkommen«, sagte Peter.

»Und dabei das Risiko eingehen, im Außen noch mehr wie dich zu schaffen?«

»Ich könnte Gesellschaft gebrauchen.«

»Ich versichere dir, Peter, du wirst dir bald selbst so überdrüssig sein, wie ich deiner überdrüssig bin.«

»Niemals«, sagte Peter. »Ich bin nicht voller Selbstverachtung, so wie du armes, schuldbesessenes Werkzeug besserer, stärkerer Männer. Und wenn du mir keine Gesellschaft erschaffen willst, werde ich unterwegs welche finden.«

»Daran habe ich keinen Zweifel«, sagte Ender.

Die Zuckerwürfel und Reagenzgläser kamen zu ihnen; sie aßen und tranken.

»Der Geschmack der Freiheit«, sagte Peter. »Köstlich.«

»Ach ja?« sagte Ender. »Wir töten eine Spezies, die wir niemals verstanden haben.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Peter. »Es macht viel mehr Spaß, einen Gegner zu vernichten, wenn er verstehen kann, wie gründlich du ihn besiegt hast.«

Dann ging Peter endlich davon.

Ender blieb bis zum Ende der Feier und sprach mit vielen dort: mit Mensch und Wühler, mit Valentine, Ela, Ouanda und Miro.

Er mußte jedoch noch einen Besuch machen. Einen Besuch, den er schon mehrere Male gemacht hatte, um immer wieder zurückgewiesen und wortlos davongeschickt zu werden. Diesmal jedoch kam Novinha heraus, um mit ihm zu sprechen. Und anstatt voller Zorn und Trauer zu sein, wirkte sie ganz ruhig.

»Ich habe meinen Frieden zurückgefunden«, sagte sie. »Und ich weiß, falls es noch nicht zu spät ist, daß mein Zorn auf dich nicht rechtschaffen war.«

Ender war froh, diese Aussage zu hören, doch überrascht wegen der Begriffe, die sie benutzte. Wann hatte Novinha je von Rechtschaffenheit gesprochen?

»Ich bin zur Einsicht gelangt, daß mein Junge vielleicht die Aufgabe erfüllt hat, die Gott ihm zugedacht hat«, sagte sie. »Daß du ihn nicht hättest aufhalten können, weil Gott wollte, daß er zu den Pequeninos geht, um die Wunder in Bewegung zu setzen, die sich seitdem ereignet haben.« Sie weinte. »Miro kam zu mir. Geheilt«, sagte sie. »Oh, Gott ist also doch noch gnädig. Und ich werde Quim im Himmel haben, wenn ich sterbe.«

Sie wurde bekehrt, dachte Ender. Nach all diesen Jahren, in denen sie die Kirche verachtet und nur am Katholizismus teilgenommen hat, weil es keine andere Möglichkeit gab, eine Bürgerin der Lusitania-Kolonie zu sein, haben diese Wochen bei den Kindern des Geistes Christi sie bekehrt. Ich bin froh darüber, dachte er. Sie spricht wieder mit mir.

»Andrew«, sagte sie, »ich möchte, daß wir wieder zusammen sind.«

Er griff nach ihr, um sie zu umarmen, wollte vor Erleichterung und Freude weinen, doch sie entwand sich seinem Griff.

»Du verstehst nicht«, sagte sie. »Ich werde nicht mit dir nach Hause kommen. Das ist jetzt mein Zuhause.«

Sie hatte recht – er hatte nicht verstanden. Aber jetzt tat er es. Sie war nicht nur zum Katholizismus bekehrt worden. Sie war zu diesem Orden des ständigen Opfers bekehrt worden, dem nur Ehemänner und Ehefrauen beitreten konnten, und nur gemeinsam, um inmitten ihrer Ehe Eide der permanenten Abstinenz zu leisten. »Novinha«, sagte er, »ich habe nicht den Glauben oder die Stärke, um eins der Kinder des Geistes Christi zu werden.«

»Wenn du sie findest«, sagte sie, »werde ich hier auf dich warten.«

»Ist das die einzige Hoffnung, die ich habe, bei dir zu sein?« flüsterte er. »Der Liebe zu deinem Körper abzuschwören, um deine Gesellschaft zu haben?«

»Andrew«, flüsterte sie, »ich sehne mich nach dir. Doch ich habe so viele Jahre lang die Sünde des Ehebruchs begangen, daß meine einzige Hoffnung auf Freude nun darin besteht, dem Fleisch abzuschwören und im Geist zu leben. Wenn es sein muß, werde ich es allein tun. Aber mit dir… oh, Andrew, ich vermisse dich.«

Und ich vermisse dich, dachte er. »Wie den Atem selbst vermisse ich dich«, flüsterte er. »Aber verlange dies nicht von mir. Lebe als meine Frau mit mir, bis der letzte Rest deiner Jugend verbraucht ist, und wenn das Begehren dann abgestumpft ist, können wir gemeinsam hierher zurückkehren. Dann könnte ich glücklich sein.«

»Verstehst du denn nicht?« sagte sie. »Ich habe einen Vertrag geschlossen. Ich habe ein Versprechen gegeben.«

»Du hast auch mir eins gegeben«, sagte er.

»Soll ich einen Eid brechen, den ich Gott gegeben habe, damit ich einen Eid halten kann, den ich dir gegeben habe?«

»Gott würde es verstehen.«

»Wie leicht fällt es doch jenen, die seine Stimme niemals vernehmen, uns zu erklären, was er verstehen würde und was nicht.«

»Hörst du jetzt seine Stimme?«

»Ich höre sein Lied in meinem Herzen, so, wie es auch beim Psalmisten David der Fall war. Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln.«

»Der dreiundzwanzigste. Ich hingegen höre nur den zweiundzwanzigsten.«

Sie lächelte schwach. »›Warum hast du mich verlassen?‹« zitierte sie.

»Und der Teil mit den Büffeln von Baschan«, sagte Ender. »Ich kam mir schon immer vor, als sei ich von Büffeln umringt.«

Sie lachte. »Komm zu mir, wenn du kannst«, sagte ich. »Ich werde hier sein, wenn du bereit bist.«

Beinahe wäre sie gegangen.

»Warte.«

Sie wartete.

»Ich habe dir das Virizid und die Recolada mitgebracht.«

»Elas Triumph«, sagte sie. »Weißt du, es stand nicht in meiner Macht. Ich schade euch nicht, indem ich meine Arbeit aufgebe. Meine Zeit ist vorbei, und sie hat mich bei weitem übertroffen.« Novinha nahm den Zuckerwürfel, ließ ihn einen Augenblick lang schmelzen und schluckte ihn dann.

Dann hielt sie das Reagenzglas im letzten Licht des Abends hoch. »Bei dem roten Himmel sieht es aus, als würde es im Glas brennen.« Sie trank – nippte eigentlich daran, um den Geschmack auszukosten. Obwohl, wie Ender wußte, die Lösung bitter war und unangenehm lange einen Nachgeschmack im Mund zurückließ.

»Kann ich dich besuchen?«

»Einmal im Monat«, sagte sie. Ihre Antwort kam so schnell, daß er wußte, sie hatte die Frage bereits überdacht und eine Entscheidung gefaßt, die sie nicht ändern würde.

»Dann werde ich dich einmal im Monat besuchen«, sagte er.

»Bis du bereit bist, zu mir zu kommen?«

»Bis du bereit bist, zu mir zurückzukehren?« erwiderte er.

Doch er wußte, daß sie niemals nachgeben würde. Novinha war kein Mensch, der es sich so einfach anders überlegte. Sie hatte seine Zukunft abgesteckt.

Er hätte Bedauern und Zorn empfinden sollen. Er hätte froh sein müssen, von einer Frau, die ihn ablehnte, aus der Ehe entlassen zu werden. Doch ihm fiel nicht ein, wofür er seine neue Freiheit verwenden könnte. Jetzt liegt nichts mehr in meinen Händen, begriff er. Kein Teil der Zukunft hängt von mir ab. Meine Arbeit, so ich welche hatte, ist getan, und mein einziger Einfluß auf die Zukunft liegt nun darin, was meine Kinder tun: das Ungeheuer Peter und das unmöglich perfekte Kind Val.

Und Miro, Grego, Quara, Ela, Olhado – sind sie nicht auch meine Kinder? Kann ich nicht auch behaupten, dazu beigetragen zu haben, sie zu schaffen, auch wenn sie Lidos Liebe und Novinhas Körper entsprangen, Jahre, bevor ich auch nur an diesem Ort eintraf?

Es war völlig dunkel, als er die junge Val fand, obwohl er nicht wußte, warum er überhaupt nach ihr suchte. Sie war mit Plikt in Olhados Haus; doch während sich Plikt mit undeutbarem Gesicht an eine schattige Wand gelehnt stand, war die junge Val bei Olhados Kindern und spielte mit ihnen.

Natürlich spielt sie mit ihnen, dachte Ender. Sie ist selbst noch ein Kind, ganz gleich, wie viele Erfahrungen ich ihr aus meinen Erinnerungen aufgezwungen habe.

Doch als er auf der Schwelle stand und sie beobachtete, begriff er, daß sie nicht gleichermaßen mit allen Kindern spielte. Den Großteil ihrer Aufmerksamkeit bekam Nimbo. Der Junge, der in der Nacht des Mobs in mehr als einer Hinsicht verbrannt worden war. Das Spiel der Kinder war ziemlich einfach, doch es verhinderte, daß sie sich unterhielten. Dennoch fand zwischen Nimbo und der jungen Val ein beredsames Gespräch statt. Das Lächeln, mit dem sie ihn bedachte, war warmherzig, nicht so, wie eine Frau ihren Liebhaber ermutigt, sondern eher so, wie eine Schwester ihrem Bruder die stumme Botschaft von Liebe, Zuversicht und Vertrauen übermittelt.

Sie heilt ihn, dachte Ender. Genau wie Valentine vor so vielen Jahren mich geheilt hat. Nicht mit Worten. Nur mit ihrer Gesellschaft.

Ist es möglich, daß ich sie sogar mit dieser Fähigkeit erschaffen habe? War in meinem Traum von ihr soviel Wahrheit und Kraft? Dann hat vielleicht auch Peter alles in sich, was mein echter Bruder hatte – alles, was so gefährlich und schrecklich gewesen war, aber auch das, was eine neue Ordnung geschaffen hat.

Doch so sehr er sich auch bemühte, daran konnte Ender nicht glauben. Die junge Val mag noch immer Heilkraft in den Augen haben, doch Peter hatte nichts davon in sich. Er hatte das Gesicht, das Ender Jahre zuvor gesehen hatte, wie es seinen Blick in einem Spiegel des Fantasyspiel erwiderte, in einem schrecklichen Raum, in dem er wieder und wieder gestorben war, bevor er schließlich das, was er von Peter in sich hatte, umarmen und weitermachen konnte.

Ich habe Peter umarmt und ein ganzes Volk vernichtet. Ich nahm ihn in mich auf und beging Xenozid. In all den Jahren, die seitdem vergangen sind, dachte ich, ich hätte mich von ihm befreit. Er sei verschwunden. Aber er wird mich niemals verlassen.

Die Vorstellung, sich aus der Welt zurückzuziehen und dem Orden der Kinder des Geistes Christi beizutreten, hatte eine große Anziehungskraft auf ihn. Vielleicht konnten Novinha und er sich dort von den Dämonen reinigen, die all diese Jahre in ihnen gewohnt hatten. Novinha hatte niemals so friedlich gewirkt, dachte Ender, wie heute abend.

Die junge Val bemerkte ihn und kam zu ihm zur Schwelle.

»Warum bist du hier?« fragte sie.

»Ich habe nach dir gesucht.«

»Plikt und ich verbringen die Nacht bei Olhados Familie«, sagte sie. Sie warf einen Blick auf Nimbo und lächelte. Der Junge grinste töricht.

»Jane sagt, daß du mit dem Sternenschiff aufbrechen willst«, sagte Ender leise.

»Wenn es Peter möglich ist, Jane in sich aufzunehmen, kann ich es auch«, gab sie zurück. »Miro begleitet mich. Wir wollen bewohnbare Welten suchen.«

»Nur, wenn du es auch wirklich willst«, sagte Ender.

»Sei doch nicht töricht«, entgegnete sie. »Seit wann hast du nur das getan, was du auch wirklich willst? Ich tue, was getan werden muß, was nur ich tun kann.«

Er nickte.

»Ist das alles, weshalb du gekommen bist?« fragte sie.

Er nickte erneut. »Ich glaube schon.«

»Oder bist du gekommen, weil du wünscht, du könntest wieder das Kind sein, das du warst, als du das letzte Mal ein Mädchen mit diesem Gesicht gesehen hast?«

Die Worte schmerzten – viel schlimmer als Peters Vermutungen darüber, welche Gefühle in Enders Herz waren. Ihr Mitgefühl war viel schlimmer als Peters Verachtung.

Sie mußte den Ausdruck von Schmerz auf seinem Gesicht gesehen – und falsch verstanden haben. Es erleichterte ihn, daß sie imstande war, etwas falsch zu verstehen. Mir bleiben noch ein paar eigene Gedanken übrig.

»Schämst du dich meiner?« fragte sie.

»Ich bin peinlich berührt«, sagte er. »Weil ich meine unbewußten Gedanken so öffentlich kundgetan habe. Aber ich schäme mich nicht. Nicht deiner.« Er warf Nimbo einen Blick zu und sah dann sie wieder an. »Bleibe hier und beende, was du angefangen hast.«

Sie lächelte leicht. »Er ist ein guter Junge, der geglaubt hat, das Richtige zu tun.«

»Ja«, sagte Ender. »Aber es ist ihm entglitten.«

»Er wußte nicht, was er tat«, sagte sie. »Wie kann man für die Folgen seiner Taten verantwortlich gemacht werden, wenn man sie nicht versteht?«

Er wußte, daß sie genauso von ihm sprach, Ender dem Xenoziden, wie von Nimbo. »Man muß nicht die Schuld auf sich nehmen«, sagte er, »aber die Verantwortung. Und die Wunden heilen, die man verursacht hat.«

»Ja«, sagte sie. »Die Wunden, die man verursacht hat. Aber nicht alle Wunden auf der Welt.«

»Ach?« fragte er. »Und warum nicht? Weil du vorhast, sie alle selbst zu heilen?«

Sie lachte – ein helles, mädchenhaftes Lachen. »Du hast dich kein bißchen verändert, Andrew«, sagte sie. »Nicht in all diesen Jahren.«

Er lächelte ihr zu, drückte sie leicht an sich und schickte sie zurück in das Licht des Zimmers. Er selbst jedoch wandte sich hinaus in die Dunkelheit und ging nach Hause. Es war noch hell genug, daß er den Weg fand, doch er stolperte oft und verirrte sich mehrmals.

»Du weinst«, sagte Jane in seinem Ohr.

»Das ist ein so glücklicher Tag«, sagte er.

»Weißt du, es ist wirklich ein glücklicher Tag. Und du bist so in etwa der einzige Mensch, der heute abend Selbstmitleid empfindet.«

»Na schön«, sagte Ender. »Wenn ich der einzige bin, gibt es wenigstens einen.«

»Du hast mich«, sagte sie. »Und unsere Beziehung war von Anfang an keusch.«

»Ich habe wirklich mehr als genug Keuschheit in meinem Leben gehabt«, gab er zurück. »Ich hoffe nicht auf mehr.«

»Letzten Endes ist jeder keusch. Jeder endet außerhalb der Reichweite aller Todsünden.«

»Aber ich bin nicht tot«, sagte er. »Noch nicht. Oder doch?«

»Fühlst du dich wie im Himmel?« fragte sie.

Er lachte, aber nicht freundlich.

»Nun ja, dann kannst du auch nicht tot sein.«

»Du vergißt«, sagte er, »daß das leicht die Hölle sein könnte.«

»Ach ja?« fragte sie ihn.

Er dachte über alles nach, was erreicht worden war. Elas Viren. Miros Heilung. Die Freundlichkeit, die die junge Val Nimbo entgegenbrachte. Das friedliche Lächeln auf Novinhas Gesicht. Das Frohlocken der Pequeninos über die Freiheit, die sich auf ihrer Welt ausbreitete. Ender wußte, daß sich das Gegenmittel einen immer breiteren Pfad durch die Capimprärie schnitt, die die Kolonie umgab; es mußte mittlerweile schon andere Wälder erreicht haben, und die nun hilflose Descolada wich zurück, während die stumme und passive Recolada ihre Stelle einnahm. All diese Veränderungen konnten einfach nicht in der Hölle stattgefunden haben.

»Ich glaube, ich lebe noch«, sagte er.

»Und ich auch«, sagte sie. »Das ist doch auch etwas. Peter und Val, sie sind nicht die einzigen Geschöpfe, die deinem Geist entsprangen.«

»Nein, das sind sie nicht«, sagte er.

»Wir beide leben noch, obwohl uns harte Zeiten bevorstehen.«

Er erinnerte sich daran, was sie noch erwartete, ihre geistige Verkrüppelung, die nur noch ein paar Wochen auf sich warten lassen würde, und er schämte sich, über seinen eigenen Verlust getrauert zu haben. »Es ist besser«, murmelte er, »etwas geliebt und verloren zu haben, als überhaupt nicht geliebt zu haben.«

»Es mag ein Klischee sein«, sagte Jane, »aber das heißt nicht, daß es nicht wahr sein kann.«

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