›Wieso kannst du direkt mit Enders Geist sprechen?‹
›Nun, da wir wissen, wo er ist, ist das so natürlich wie die Nahrungsaufnahme.‹
›Wie hast du ihn gefunden? Ich konnte noch nie mit dem Geist von jemandem sprechen, der noch nicht ins dritte Leben übergewechselt war.‹
›Wir haben ihn durch die Verkürzer gefunden und die mit ihnen verbundene Elektronik – seinen Körper – im Raum gefunden. Um seinen Geist zu erreichen, mußten wir ins Chaos greifen und eine Brücke bilden.‹
›Eine Brücke?‹
›Ein Übergangswesen, das teilweise seinem Geist und teilweise unserem entspricht.‹
›Warum hast du ihn nicht daran gehindert, dich zu vernichten, wenn du doch seinen Geist erreichen konntest?‹
›Das menschliche Gehirn ist sehr seltsam. Bevor das, was wir dort fanden, für uns einen Sinn ergab, bevor wir lernen konnten, wie man in diesen verzerrten Raum spricht, waren all meine Schwestern und Mütter tot. Während all der Jahre, die wir im Kokon warteten, fuhren wir damit fort, seinen Geist zu studieren, bis er uns fand; als er dann kam, konnten wir direkt zu ihm sprechen.‹
›Was geschah mit der Brücke, die ihr gemacht habt?‹
›Darüber haben wir nie nachgedacht. Wahrscheinlich ist sie noch irgendwo dort draußen.‹
Die neue Kartoffelzüchtung starb ab. Ender sah die verräterischen braunen Kreise auf den Blättern, die abgebrochenen Pflanzen, wo die Stengel so spröde geworden waren, daß die leichteste Brise sie verbog, bis sie brachen. An diesem Morgen waren war sie noch gesund gewesen. Der Ausbruch dieser Krankheit war so plötzlich erfolgt, ihre Wirkung so verheerend, daß es sich nur um den Descolada-Virus handeln konnte.
Ela und Novinha würden enttäuscht sein – sie hatten so große Hoffnungen in diese Züchtung gesetzt. Ela, Enders Stieftochter, hatte an einem Gen gearbeitet, das jede Zelle in einem Organismus veranlassen sollte, drei verschiedene Chemikalien zu produzieren, von denen bekannt war, daß sie den Descolada-Virus hemmten oder abtöteten. Novinha, Enders Frau, hatte an einem Gen gearbeitet, das die Zellkerne veranlassen sollte, für jedes Molekül undurchdringlich zu werden, das größer war als ein Zehntel der Größe der Descolada. Bei dieser Kartoffelzüchtung hatten sie beide Gene eingebracht, und als die ersten Test erwiesen hatten, daß sich beide Wesenszüge durchgesetzt hatten, hatte Ender die Sämlinge zu der Experimentalfarm gebracht und dort eingepflanzt. Er und seine Assistenten hatten sie in den letzten sechs Wochen gehegt und gepflegt. Alles schien gut zu verlaufen.
Falls die Methode funktioniert hätte, hätte man sie bei allen Pflanzen und Tieren anwenden können, von denen die Menschen auf Lusitania nahrungsmäßig abhängig waren. Doch der Descolada-Virus war einfach zu gerissen – irgendwann durchschaute er all ihre Strategien. Trotzdem waren sechs Wochen besser als die normalen zwei oder drei Tage. Vielleicht waren sie auf dem richtigen Weg.
Oder vielleicht waren die Dinge bereits zu weit fortgeschritten. Damals, als Ender auf Lusitania eingetroffen war, überstanden neue Züchtungen von irdischen Pflanzen und Tieren zumindest mehr als zwei Jahre auf den Feldern, bevor der Descolada-Virus ihre genetischen Moleküle dekodierte und sie zerriß. Doch in den letzten Jahren hatte der Descolada-Virus anscheinend einen Durchbruch erzielt, der es ihm erlaubte, jedes Molekül von der Erde in Tagen oder sogar Stunden zu dekodieren.
Heutzutage war es den menschlichen Kolonisten nur möglich, ihre Pflanzen zu ziehen und Tiere zu züchten, weil sie ein Spray einzusetzen, das für den Descolada-Virus augenblicklich tödlich war. Es gab menschliche Kolonisten, die den ganzen Planeten besprühen und den Descolada-Virus ein für alle Mal auslöschen wollten.
Einen ganzen Planeten zu besprühen war zwar unpraktisch, aber nicht unmöglich; andere Gründe sprachen gegen diesen Vorschlag. Jede einheimische Lebensform des Planeten war bei ihrer Reproduktion völlig vom Descolada-Virus abhängig. Das galt auch für die Schweinchen – die Pequeninos, die Intelligenzwesen dieser Welt –, deren Reproduktionszyklus unausweichlich mit der einzigen einheimischen Baumspezies verknüpft war. Sollte der Descolada-Virus vernichtet werden, würde diese Generation Pequeninos die letzte sein. Es wäre Xenozid.
Bislang war die Vorstellung, irgend etwas zu tun, was die Schweinchen auslöschen wurde, nachdrücklich von den meisten Menschen auf Lusitania zurückgewiesen worden. Bislang. Doch Ender wußte, daß viele es sich anders überlegen würden, sobald ein paar weitere Fakten bekanntgemacht werden würden. Zum Beispiel wußte nur eine Handvoll Menschen, daß sich die Descolada bereits zweimal an die Chemikalien angepaßt hatte, die sie benutzten, um sie zu töten. Ela und Novinha hatten bereits mehrere neue Versionen der Chemikalie entwickelt, um bei der nächsten Anpassung der Descolada sofort auf ein anderes Virizid zurückgreifen zu können. Ebenso hatten sie einmal versucht, den Descolada-Hemmer zu verändern, der verhinderte, daß die Menschen an dem Descolada-Virus starben, der sich im Körper eines jeden Mitglieds der Kolonie befand. Alle Nahrungsmittel der Kolonie wurden mit dem Hemmer versetzt, so daß jeder Mensch ihn mit jeder Mahlzeit zu sich nahm.
Doch alle Hemmer und Virizide beruhten auf denselben grundlegenden Prinzipien. Genau wie der Descolada-Virus gelernt hatte, sich im allgemeinen an die auf der Erde geborenen Gene anzupassen, würde er auch lernen, wie er mit den unterschiedlichen Chemikalien fertig würde, und dann spielte es keine Rolle mehr, wie viele neue Versionen sie hatten – die Descolada würde ihre Vorräte innerhalb von ein paar Tagen vernichten.
Nur ein paar Menschen wußten, wie unsicher das Überleben der Lusitania-Kolonie in Wirklichkeit war. Nur ein paar Menschen begriffen, wieviel von der Arbeit abhing, die Ela und Novinha als Lusitanias Xenobiologen leisteten; wie knapp ihr Wettlauf mit der Descolada war; wie verheerend die Folgen sein würden, gerieten sie jemals ins Hintertreffen.
Auch gut. Wenn die Kolonisten es wüßten, würden viele sagen: Wenn es unausweichlich ist, daß uns die Descolada eines Tages überwältigen wird, sollten wir sie jetzt auslöschen. Wir bedauern, daß dadurch alle Schweinchen sterben, doch wenn es heißt, wir oder sie, dann entscheiden wir uns für uns.
Es war gut und schön, daß Ender die Dinge langfristig betrachtete, aus der philosophischen Perspektive gewissermaßen, und sagte: Besser, eine kleine Menschenkolonie wird ausgelöscht, als daß eine ganze vernunftbegabte Rasse stirbt. Er wußte, daß er mit diesem Argument bei den Menschen auf Lusitania nichts erreichen konnte. Ihr eigenes Leben stand hier auf dem Spiel und das Leben ihrer Kinder; es wäre absurd, von ihnen die Bereitschaft zu erwarten, für eine andere Rasse in den Tod zu gehen, die sie nicht verstanden und die nur die wenigsten von ihnen überhaupt mochten. Es ergab genetisch keinen Sinn – die Evolution ermutigt nur Geschöpfe, die darauf bedacht sind, ihre eigenen Gene zu schützen. Selbst wenn der Bischof persönlich erklären würde, es sei der Wille Gottes, daß die Menschen von Lusitania ihr Leben für die Schweinchen aufgaben, würden ihm kaum jemand gehorchen.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich selbst solch ein Opfer bringen würde, dachte Ender. Obwohl ich keine Kinder habe. Obwohl ich bereits die Vernichtung einer bewußten Rasse miterlebt habe – obwohl ich diese Vernichtung selbst ausgelöst habe und weiß, welch eine schreckliche moralische Last das ist –, bin ich mir nicht sicher, ob ich meine Mitmenschen dem Tod ausliefern könnte.
Und doch – könnte ich der Vernichtung der Pequeninos zustimmen? Könnte ich einen weiteren Xenozid zulassen?
Er nahm einen der abgebrochenen Kartoffelstengel mit den fleckigen Blättern auf. Er würde ihn natürlich Novinha bringen müssen. Novinha – oder Ela – würde ihn untersuchen, und sie würden bestätigen, was bereits offensichtlich war. Noch ein Fehlschlag. Er steckte den Kartoffelstengel in einen sterilen Beutel.
»Sprecher.«
Es war Pflanzer, Enders Assistent und engster Freund unter den Schweinchen. Pflanzer war ein Sohn des Pequeninos namens Mensch, den Ender ins ›dritte Leben‹ geführt hatte, das Baumstadium des Lebenszyklus der Pequeninos. Ender hielt den durchsichtigen Plastikbeutel hoch, damit Pflanzer die Blätter darin sehen konnte.
»Wirklich sehr tot, Sprecher«, sagte Pflanzer ohne jede erkennbare Gefühlsregung. Das war am Anfang das Unangenehmste bei der Arbeit mit den Pequeninos gewesen – sie zeigten keine Gefühle, die die Menschen leicht und gewohnheitsmäßig deuten konnten. Diese Eigenschaft war ausschlaggebend dafür, daß die meisten Kolonisten die Schweinchen nicht akzeptierten. Die Schweinchen waren nicht niedlich oder süß; sie waren lediglich fremd.
»Wir versuchen es noch einmal«, sagte Ender. »Ich glaube, wir kommen der Sache näher.«
»Deine Gattin will dich sprechen«, sagte Pflanzer. Das Wort Gattin, selbst in eine Menschensprache wie Stark übersetzt, war für einen Pequenino so voller Spannungen, daß er das Wort kaum natürlich aussprechen konnte – Pflanzer kreischte es fast.
»Ich wollte sowieso gerade zu ihr«, sagte Ender. »Würdest du bitte diese Kartoffeln ausmessen und aufzeichnen?«
Pflanzer sprang buchstäblich hoch – wie ein Popcorn, dachte Ender. Obwohl sein Gesicht für menschliche Augen ausdruckslos blieb, drückte der vertikale Sprung seine Freude aus. Pflanzer arbeitete liebend gern mit der elektronischen Ausrüstung, weil Maschinen ihn faszinierten und es seinen Status unter den anderen männlichen Pequeninos beträchtlich erhöhte. Pflanzer schickte sich augenblicklich an, die Kamera und den dazugehörigen Computer aus der Tasche zu holen, die er immer bei sich trug.
»Wenn du fertig bist, bereitest du dieses Feld bitte für das Abblitzen vor«, sagte Ender.
»Ja, ja«, sagte Pflanzer. »Ja, ja, ja.«
Ender seufzte. Pequeninos ärgerten sich maßlos, wenn Menschen ihnen etwas sagten, was sie bereits wußten. Pflanzer kannte die Routine, die ablief, wenn die Descolada sich an eine neue Züchtung angepaßt hatte – der »gelehrige« Virus mußte vernichtet werden, solange er noch isoliert war. Sie mußten verhindern, daß sämtliche Descolada-Viren davon profitierten, was dieser Strang gelernt hatte. Und doch befriedigten die Menschen so ihr Verantwortungsgefühl – sie vergewisserten sich noch einmal, obwohl sie wußten, daß es überflüssig war.
Pflanzer war so beschäftigt, daß er kaum bemerkte, daß Ender das Feld verließ. Als Ender im Isolationsschuppen am Ende des Feldes war, das der Stadt am nächsten lag, zog er sich aus, steckte seine Kleidung in den Reinigungskasten und vollführte dann den Reinigungstanz – er streckte die Hände nach oben aus, ließ die Arme an den Schultern rotieren, drehte sich im Kreis, bückte sich und richtete sich wieder auf, damit kein Teil seines Körpers von der Kombination aus Strahlung und Gasen, die den Schuppen ausfüllte, verfehlt wurde. Er atmete tief durch Mund und Nase ein und hustete dann wie gewöhnlich, weil die Gase kaum in der menschlichen Toleranzschwelle lagen. Drei volle Minuten mit tränenden Augen und brennenden Lungen, während er mit den Armen winkte und sich hinhockte und wieder aufstand: ein Ritual des Gehorsams für die allmächtige Descolada. So erniedrigen wir uns vor dem unbestrittenen Herren des Lebens auf diesem Planeten.
Schließlich war er fertig. Als endlich frische Luft in den Schuppen strömte, nahm er seine noch warme Kleidung aus dem Kasten und zog sie an. Sobald er den Schuppen verlassen hatte, würde er sich aufheizen, bis die Temperatur weit über der erwiesenen Wärmetoleranzgrenze des Descolada-Virus lag. Diese letzte Stufe der Reinigung konnte nichts in dem Schuppen überstehen. Wenn beim nächsten Mal jemand den Schuppen betrat, würde er absolut steril sein.
Doch Ender konnte den Gedanken nicht verdrängen, daß der Descolada-Virus irgendwie einen Weg finden würde, durch den er schlüpfen konnte – wenn nicht durch den Schuppen, dann durch die leichte Disruptorbarriere, die die Felder mit den Experimentalpflanzen umgab wie eine unsichtbare Festungsmauer. Offiziell kam kein Molekül, das aus über einhundert Atomen bestand, durch diese Barriere, ohne aufgebrochen zu werden. Zäune auf beiden Seiten der Barriere verhinderten, daß sich sowohl Menschen als auch Schweinchen in die Todeszone verirrten – doch Ender hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, wenn doch jemand durch das Auflösungsfeld ginge. Wenn die Zellkernsäuren aufbrachen, würde jede einzelne Körperzelle augenblicklich absterben. Vielleicht würde der Körper seine Form behalten. Doch in Enders Vorstellung zerfiel er auf der anderen Seite der Barriere immer zu Staub, den der Wind wie Rauch davontrug, bevor er den Boden berührte.
Kopfzerbrechen bereitete Ender, daß das Auflösungsfeld auf demselben Prinzip beruhte wie das Molekular-Detachier-Gerät. Ursprünglich dazu konstruiert, gegen Sternenschiffe und Raketen eingesetzt zu werden, hatte Ender es vor dreitausend Jahren, als er die menschliche Kriegsflotte kommandierte, gegen den Heimatplaneten der Krabbler eingesetzt. Und dieselbe Waffe hatte der Sternenwege-Kongreß nun nach Lusitania geschickt. Jane zufolge hatte der Sternenwege-Kongreß bereits versucht, den Einsatzbefehl zu schicken. Sie hatte ihn abgeblockt, indem sie die Verkürzerkommunikation zwischen der Flotte und dem Rest der Menschheit unterbrochen hatte, doch man konnte nicht sagen, ob irgendein übereifriger Schiffskapitän, der in Panik geraten war, weil sein Verkürzer nicht mehr funktionierte, die Waffe nicht doch einsetzen würde, wenn er Lusitania erreicht hatte.
Es war undenkbar, doch sie hatten es getan – der Kongreß hatte den Befehl gegeben, eine Welt zu vernichten. Xenozid zu begehen. Hatte Ender die Schwarmkönigin vergeblich geschrieben? Hatten sie bereits vergessen, was geschehen war?
Doch für sie war ›bereits‹ der falsche Ausdruck. Für die meisten Menschen lag das Geschehen dreitausend Jahre zurück. Und obwohl Ender Menschs Leben geschrieben hatte, wurde dem Buch noch nicht genug Glauben geschenkt. Die Menschen hatten das Buch noch nicht so weit akzeptiert, daß der Kongreß es nicht wagen würde, gegen die Pequeninos vorzugehen.
Warum hatte der Kongreß den Befehl gegeben? Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, aus dem die Xenobiologen die Disruptorbarriere errichtet hatten: um einen gefährlichen Virus zu isolieren, damit er sich nicht weiter ausbreiten konnte. Der Kongreß versuchte wahrscheinlich besorgt, die Infektion einer planetaren Revolte einzudämmen. Doch wenn die Flotte hier eintraf, würde sie den Chirurgen, ob nun mit oder ohne Befehl, wahrscheinlich als Endlösung für das Descolada-Problem einsetzen. Wenn es keinen Planeten Lusitania mehr gab, würde es auch keinen selbstmutierenden, halbintelligenten Virus geben, der auf die Gelegenheit hoffte, die Menschheit und all ihre Arbeit auf Lusitania auszulöschen.
Die Strecke von den Experimentalfeldern zu der neuen xenobiologischen Station war nicht weit. Der Pfad wand sich über einen niedrigen Hügel, schnitt den Rand des Waldes, der für diesen Pequenino-Stamm Vater, Mutter und lebenden Friedhof darstellte, und verlief dann weiter zum Nordtor durch den Zaun, der die menschliche Kolonie umgab.
Der Zaun stellte für Ender ein Ärgernis da. Nun, da die Politik des minimalen Kontakts zwischen Menschen und Pequeninos beendet war, war er schlichtweg überflüssig geworden, und beide Spezies benutzten das Tor ungehindert. Als Ender auf Lusitania eingetroffen war, war der Zaun mit einem Feld geladen, das bei jedem, der hineingeriet, quälende Schmerzen bewirkte. Während des Kampfes um das Recht, ungehindert mit den Pequeninos zu kommunizieren, hatte Enders ältester Stiefsohn Miro mehrere Minuten lang in dem Feld gelegen, was zu irreparablen Gehirnschäden geführt hatte. Doch Miros Erlebnis war nun der schmerzhafteste Ausdruck dessen, was der Zaun in den Seelen der Menschen, die er umschloß, anrichtete. Die Psychobarriere war vor dreißig Jahren ausgeschaltet worden. In all dieser Zeit hatte es keinen Grund gegeben, irgendeine Barriere zwischen den Menschen und Pequeninos aufrecht zu halten – doch der Zaun war geblieben. Die menschlichen Kolonisten von Lusitania wollten, daß die Barriere zwischen Mensch und Pequenino bestehen blieb.
Deshalb waren die Xenobiologie-Laboratorien von ihrer alten Stelle unten am Fluß verlegt worden. Wenn Pequeninos an den Forschungen teilhaben sollten, mußte das Labor in der Nähe des Zauns liegen und alle Experimentalfelder außerhalb, damit Menschen und Pequeninos nicht in Gefahr liefen, sich unerwartet zu begegnen.
Als Miro aufbrach, um sich mit Valentine zu treffen, hatte Ender geglaubt, bei seiner Rückkehr würden die großen Veränderungen auf Lusitania ihn verblüffen. Er hatte geglaubt, Miro würde sehen, daß Menschen und Pequeninos Seite an Seite existierten, zwei Spezies, die in Harmonie miteinander lebten. Statt dessen würde Miro die Kolonie fast unverändert vorfinden. Mit wenigen Ausnahmen sehnten sich die Menschen Lusitanias nicht nach enger Gesellschaft mit einer anderen Spezies.
Nur gut, daß Ender der Schwarmkönigin geholfen hatte, die Rasse der Krabbler so weit von der menschlichen Kolonie auf Lusitania entfernt auferstehen zu lassen. Ender hatte ursprünglich vorgehabt, die Krabbler und die Menschen langsam aneinander zu gewöhnen. Statt dessen waren er, Novinha und ihre Familie gezwungen gewesen, die Existenz der Krabbler auf Lusitania sorgsam geheim zu halten. Wenn die menschlichen Kolonisten schon nicht mit den säugetierähnlichen Pequeninos zurechtkamen, hätte das Wissen um die insektenähnlichen Krabbler sehr schnell gewalttätige Xenophobie provoziert.
Ich habe zu viele Geheimnisse, dachte Ender. All diese Jahre lang bin ich ein Sprecher für die Toten gewesen, habe Geheimnisse enthüllt und den Menschen geholfen, im Licht der Wahrheit zu leben. Jetzt erzähle ich niemandem mehr auch nur die Hälfte von dem, was ich weiß, denn wenn ich die ganze Wahrheit sagte, würde es Furcht, Haß, Brutalität, Mord und Krieg geben.
Nicht weit vom Tor entfernt, aber außerhalb, standen zwei Vaterbäume, der eine namens Wühler, der andere namens Mensch. Vom Tor aus gesehen stand Wühler links, Mensch rechts. Mensch war der Pequenino, den Ender damals mit eigenen Händen rituell töten mußte, um den Vertrag zwischen Menschen und Pequeninos zu besiegeln. Danach war Mensch in Zellulose und Chlorophyll wiedergeboren worden, endlich ein reifes, erwachsenes Männchen und imstande, Kinder zu zeigen.
Im Augenblick hatte Mensch noch immer ein gewaltiges Ansehen, nicht nur unter den Schweinchen seines eigenen Stammes, sondern auch bei denen vieler anderer. Ender wußte, daß er noch lebte; doch wenn er den Baum sah, wurde er immer wieder daran erinnert, wie Mensch gestorben war.
Ender hatte keine Schwierigkeiten, sich mit Mensch als Person zu befassen, denn er hatte schon oft mit diesem Vaterbaum gesprochen. Es gelang ihm nur nicht, sich diesen Baum als dieselbe Person vorzustellen, die er als Mensch gekannt hatte. Vom Intellekt her verstand Ender durchaus, daß der Wille und die Erinnerungen die Identität einer Person ausmachten und daß Wille und Erinnerungen intakt vom dem Pequenino in den Vaterbaum gewechselt waren. Doch es machte einen Unterschied, ob man etwas mit dem Intellekt oder aus dem Bauch heraus verstand. Mensch war jetzt so fremd.
Doch er war noch immer Mensch und noch immer Enders Freund. Ender berührte im Vorbeigehen die Borke des Baumes. Dann wich er ein paar Schritte von seinem Weg ab, ging zu dem älteren Vaterbaum namens Wühler und berührte auch dessen Borke. Er hatte Wühler nie als Pequenino gekannt – er war durch andere Hand gestorben, und sein Baum war bereits groß und breit, als Ender auf Lusitania eingetroffen war. Wenn Ender mit Wühler sprach, plagte ihn kein Gefühl des Verlusts.
Zwischen Wühlers Wurzeln lagen zahlreiche Stöcke. Einige waren hierher gebracht, andere aus Wühlers Ästen geschnitten worden. Es waren Sprechstöcke. Die Pequeninos benutzten sie, um einen Rhythmus auf den Stamm eines Vaterbaums zu schlagen; der Vaterbaum wandelte daraufhin die Hohlräume in seinem Stamm ab, um den Klang zu verändern und langsam zu sprechen. Ender konnte den Rhythmus schlagen – unbeholfen, aber noch so deutlich, um eine Antwort von den Bäumen zu erhalten.
Heute jedoch lag Ender nichts an einem Gespräch. Sollte Pflanzer den Vaterbäumen berichten, daß ein weiteres Experiment fehlgeschlagen war. Ender würde später mit Wühler und Mensch sprechen. Er würde mit der Schwarmkönigin reden. Er würde mit Jane sprechen. Er würde mit allen sprechen. Und nach den Gesprächen würden sie einer Lösung für irgendeins der Probleme, die Lusitanias Zukunft bedrohten, nicht näher sein. Weil die Lösung ihrer Probleme nun nicht mehr von Gesprächen abhing. Sie hing von Wissen und Taten ab – Wissen, das nur andere Menschen lernen konnten, Taten, die nur andere Menschen vollbringen konnten. Ender selbst konnte zur Lösung der Probleme nichts beitragen.
Er konnte nur zuhören und sprechen. Zu anderen Zeiten, anderen Orten, hatte das genügt. Jetzt nicht mehr. Die Vernichtung schwebte drohend in mannigfacher Gestalt über Lusitania. Einige Ausprägungen davon hatte Ender selbst heraufbeschworen, und doch konnte keine einzige durch eine Tat, ein Wort oder einen Gedanken Andrew Wiggins gelöst werden. Wie die aller anderen Bewohner Lusitanias lag auch seine Zukunft in den Händen anderer Menschen. Der Unterschied zwischen ihm und den anderen war, daß Ender alle Gefahren kannte, alle möglichen Konsequenzen eines jeden Fehlschlags oder Fehlers. Auf wem lag der größere Fluch, auf dem, der bis zum Augenblick seines Todes unwissend bleibt, oder dem, der tage-, wochen-, jahrelang beobachtet, wie sich das Ende Schritt für Schritt nähert?
Ender verließ den Vaterbaum und ging über den ausgetretenen Weg zur Menschensiedlung. Durch das Tor, durch die Tür des Xenobiologie-Labors. Der Pequenino, der als Elas vertrauenswürdigster Assistent diente – er hieß Taub, obwohl er eindeutig nicht schwerhörig war –, führte ihn sofort zu Novinhas Büro, wo Ela, Novinha, Quara und Grego bereits auf ihn warteten. Ender hielt den Beutel mit dem Teil der Kartoffelpflanze hoch.
Ela schüttelte den Kopf; Novinha seufzte. Aber sie wirkten nicht halb so enttäuscht, wie Ender es erwartet hatte. Es beschäftigte sie eindeutig etwas anderes.
»Damit mußten wir wohl rechnen«, sagte Novinha.
»Wir mußten es trotzdem versuchen«, sagte Ela.
»Warum mußten wir es versuchen?« fragte Grego. Novinhas jüngster Sohn – und demzufolge Enders Stiefsohn – war jetzt Mitte Dreißig und selbst ein brillanter Wissenschaftler; doch bei allen Diskussionen in der Familie schien er die Rolle des Advokaten des Teufels einzunehmen, ob es nun um Xenobiologie ging oder die Farbe der neuen Tapeten. »Indem wir diese neuen Züchtungen pflanzen, bringen wir der Descolada doch nur bei, wie sie jeder Strategie ausweichen kann, mit der wir sie töten wollen. Wenn wir sie nicht bald ausmerzen, wird sie uns ausmerzen. Und sobald die Descolada ausgemerzt ist, können wir normale alte Kartoffeln ohne diesen Unsinn pflanzen.«
»Das können wir nicht!« rief Quara. Ihre Nachdrücklichkeit überraschte Ender. Quara ergriff nur selten das Wort; diese Lautstärke entsprach ganz und gar nicht ihrem Charakter. »Ich sage euch, die Descolada ist ein Lebewesen.«
»Und ich sage euch, ein Virus ist ein Virus«, sagte Grego.
Es störte Ender, daß Grego die Ausmerzung der Descolada verlangte – es entsprach ihm gar nicht, so leicht etwas zu fordern, das die Pequeninos vernichten würde. Er war praktisch unter Pequeninomännchen aufgewachsen – er kannte sie besser, sprach ihre Sprache besser als jeder andere.
»Kinder, seid ruhig und laßt es mich Ender erklären«, sagte Novinha. »Wir sprachen darüber, was wir tun sollen, wenn auch diese Kartoffelzüchtung ein Fehlschlag ist, Ela und ich, und sie hat gesagt… nein, erkläre du es, Ela.«
»Der Plan ist doch ganz einfach. Anstatt Pflanzen zu züchten, die den Wuchs des Descolada-Virus hemmen, müssen wir an den Virus selbst heran.«
»Genau«, sagte Grego.
»Halt die Klappe«, sagte Quara.
»Bitte, tue uns allen den Gefallen, Grego, und erfülle deiner Schwester ihre höfliche Bitte«, sagte Novinha.
Ela seufzte und fuhr fort. »Wir können ihn nicht einfach töten, weil wir damit auch alles andere einheimische Leben auf Lusitania töten würden. Ich schlage also vor, eine neue Descolada-Züchtung zu entwickeln, die sich beim Fortpflanzungszyklus aller Lebensformen von Lusitania genauso verhält wie der derzeitige Virus, aber nicht die Fähigkeit hat, sich an neue Spezies anzupassen.«
»Du kannst diesen Teil des Virus eliminieren?« fragte Ender. »Du kannst ihn finden?«
»Wahrscheinlich nicht. Aber ich glaube, ich kann alle Teile des Virus finden, die bei den Schweinchen und allen anderen Tier-Pflanzen-Paaren aktiv sind, diese bewahren und alle anderen fallenlassen. Dann fügen wir eine rudimentäre Reproduktionsfähigkeit hinzu und lassen uns ein paar Rezeptoren einfallen, damit der neue Virus richtig auf die entsprechenden Veränderungen in den Gastkörpern reagiert, stecken die ganze Sache in ein kleines Organell, und dann hätten wir es – ein Ersatz für die Descolada, damit die Pequeninos und alle anderen einheimischen Spezies sicher sind, während wir ohne Angst leben können.«
»Du willst den ursprünglichen Descolada-Virus besprühen, um ihn auszumerzen?« fragte Ender. »Was ist, wenn es bereits einen resistenten Strang gibt?«
»Nein, wir besprühen sie nicht, denn damit könnten wir nicht die Viren ausmerzen, die sich bereits im Körper eines jeden Geschöpfs auf Lusitania befinden. Das ist der wirklich komplizierte Teil…«
»Als ob der Rest einfach wäre«, sagte Novinha, »ein neues Organell aus dem Nichts zu schaffen…«
»Wir können diese Organellen nicht einfach in ein paar Schweinchen injizieren oder sogar in alle von ihnen, weil wir sie dann auch in jedes andere einheimische Tier, in jeden Baum und Grashalm injizieren müßten.«
»Das ist unmöglich«, sagte Ender.
»Also müssen wir einen Mechanismus entwickeln, der die Organellen überall verbreitet und gleichzeitig die alten Descolada-Viren ein für alle Mal vernichtet.«
»Xenozid«, sagte Quara.
»Das ist der Streitpunkt«, sagte Ela. »Quara behauptet, die Descolada habe ein Bewußtsein.«
Ender musterte seine jüngste Stieftochter. »Ein bewußtes Molekül?«
»Sie haben eine Sprache, Andrew.«
»Wann ist das passiert?« fragte Ender. Er versuchte sich vorzustellen, wie ein genetisches Molekül – selbst eins, das so komplex wie der Descolada-Virus war – möglicherweise sprechen könnte.
»Ich habe es schon seit langen geahnt. Ich wollte nichts sagen, bis ich sicher war, aber…«
»Was heißt, daß es nicht sicher ist«, sagte Grego triumphierend.
»Aber ich bin mir jetzt fast sicher, und wir können nicht eine ganze Spezies vernichten, wenn wir keine Gewißheit haben.«
»Wie sprechen sie?« fragte Ender.
»Natürlich nicht wie wir«, sagte Quara. »Sie tauschen die Informationen auf einer molekularen Ebene miteinander aus. Ich bin darauf gekommen, als ich an dem Problem arbeitete, wieso sich die neuen resistenten Descoladastränge so schnell ausbreiten und alle alten Viren so schnell ersetzen. Ich konnte dieses Problem nicht lösen, weil ich die falsche Frage gestellt habe. Sie ersetzen die alten Viren nicht. Sie geben einfach Nachrichten weiter.«
»Sie werfen mit Pfeilen«, sagte Grego.
»Das war mein eigener Begriff dafür«, sagte Quara. »Ich habe nicht begriffen, daß es sich dabei um Sprache handelt.«
»Weil es keine Sprache ist«, sagte Grego.
»Das war vor fünf Jahren«, sagte Ender. »Du hast gesagt, die Pfeile, die sie ausschicken, enthalten die benötigten Gene, und dann ändern alle Viren, die die Pfeile empfangen haben, ihre Struktur ab und nehmen das neue Gen auf. Das ist kaum eine Sprache.«
»Aber nicht nur bei dieser Gelegenheit schicken sie Pfeile aus«, sagte Quara. »Diese Nachrichtenmoleküle bewegen sich die ganze Zeit über hinein und hinaus, und die meiste Zeit über befinden sie sich nicht mal im Körper. Sie werden von verschiedenen Teilen der Descolada gelesen und dann aneinander weitergegeben.«
»Das ist Sprache?« fragte Grego.
»Noch nicht«, sagte Quara. »Aber irgendwann, nachdem ein Virus einen dieser Pfeile gelesen hat, macht es einen neuen Pfeil und schickt ihn aus. Und das verrät mir, daß es sich um eine Sprache handelt: Der vordere Teil des neuen Pfeils beginnt immer mit einer Molekülfolge, die dem hinteren Anhängsel des Pfeils ähnelt, den er beantwortet. Er hält den Gesprächsfaden zusammen.«
»Gespräch«, sagte Grego verächtlich.
»Sei still oder stirb«, sagte Ela. Ender spürte, daß Elas Stimme auch nach all diesen Jahren noch die Macht hatte, Gregos vorlautem Mundwerk Einhalt zu gebieten – manchmal jedenfalls.
»Ich habe bei einigen dieser Gespräche bis zu hundert Aussagen und Antworten festgestellt. Die meisten davon sterben viel früher ab. Ein paar werden in den Hauptkörper des Virus aufgenommen. Aber jetzt kommt das interessanteste – es geschieht völlig freiwillig. Manchmal nimmt ein Virus einen Pfeil auf und bewahrt ihn, während die meisten anderen ihn wieder ablegen. Manchmal behalten die meisten Viren einen spezifischen Pfeil. Aber die Stelle, an der sie diese Pfeile in ihren Körper aufnehmen, ist genau diejenige, die am schwierigsten zu verzeichnen ist. Sie ist so schwierig zu verzeichnen, weil sie nicht Teil ihrer Struktur ist, sondern ihr Gedächtnis, und die einzelnen Viren sich alle voneinander unterscheiden. Sie neigen auch dazu, ein paar Erinnerungsfragmente auszusondern, wenn sie zu viele Pfeile aufgenommen haben.«
»Das ist alles faszinierend«, sagte Grego, »aber es ist keine Wissenschaft. Es gibt zahlreiche Erklärungen für diese Pfeile und die zufällige Aufnahme und Abgabe…«
»Nicht zufällig«, sagte Quara.
»Nichts davon ist Sprache«, sagte Grego.
Ender ignorierte den Streit, da Jane ihm durch den Empfänger in seinem Ohr etwas zuflüsterte. Sie sprach jetzt seltener zu ihm als in den vergangenen Jahren. Er lauschte aufmerksam und nahm nichts als gegeben hin. »Sie ist einer wichtigen Sache auf der Spur«, sagte Jane. »Ich habe mir ihre Forschungen angesehen, und dort geht etwas vor, was mit keinem anderen subzellularen Geschöpf geschieht. Ich habe die Daten verschiedenen Analysen unterzogen, und je mehr ich simuliere und dieses besondere Verhalten der Descolada teste, desto weniger sieht es nach einer genetischen Kodierung und um so mehr nach einer Sprache aus. Im Augenblick können wir die Möglichkeit, daß es sich um eine freiwillige Informationsaufnahme handelt, nicht ausschließen.«
Als Ender seine Aufmerksamkeit wieder dem Streit zuwandte, führte Grego gerade das Wort. »Warum müssen wir alles, was wir uns noch nicht erklären können, als eine Art mystische Erfahrung darstellen?« Grego schloß die Augen und fuhr übertrieben pathetisch fort: »Ich habe neues Leben gefunden! Ich habe neues Leben gefunden!«
»Hör auf!« rief Quara.
»Das Gespräch gerät uns aus der Hand«, sagte Novinha. »Grego, versuche, deine Äußerungen auf der Ebene einer rationalen Diskussion zu halten.«
»Das ist schwer, wenn die ganze Sache so irrational ist. Ate agora quem ja imaginou microbiologista que se torna namorada de uma molecula?« Wer hat je von einer Mikrobiologin gehört, die sich in ein Molekül verknallt?
»Das reicht!« sagte Novinha scharf. »Quara ist genauso Wissenschaftlerin wie du, und…«
»Sie war mal eine«, murmelte Grego.
»Und – wenn du mich freundlicherweise ausreden lassen würdest – sie hat ein Recht darauf, gehört zu werden.« Novinha war jetzt ziemlich wütend, doch wie üblich wirkte Grego keineswegs beeindruckt. »Du solltest mittlerweile wissen, Grego, daß es oft die Ideen sind, die zuerst am absurdesten sind und gegen jede Intuition zu verstoßen scheinen, die dann später fundamentale Veränderungen in der Art und Weise bewirken, wie wir die Welt sehen.«
»Haltet ihr das wirklich für eine dieser grundlegenden Entdeckungen?« fragte Grego und musterte sie einen nach dem anderen. »Ein sprechender Virus? Se Quara sabe tanto, porque ela nao diz o que e que aqueles bichos dizem?« Warum sagt sie uns nicht, was diese kleinen Tierchen sagen, wenn sie doch soviel darüber weiß? Es war ein Zeichen, daß die Diskussion aus der Hand geriet, daß er ins Portugiesische fiel, anstatt Stark zu sprechen, die Sprache der Wissenschaft – und der Diplomatie.
»Spielt das eine Rolle?« fragte Ender.
»Eine Rolle!« sagte Quara.
Ela betrachtete Ender konsterniert. »Es geht nur um den Unterschied, eine gefährliche Krankheit zu kurieren und eine ganze vernunftbegabte Spezies zu vernichten. Ich glaube, es spielt eine Rolle.«
»Ich meinte«, sagte Ender geduldig, »spielt es eine Rolle, ob wir wissen, was sie sagen?«
»Nein«, sagte Quara. »Wir werden ihre Sprache wahrscheinlich niemals verstehen, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß sie ein Bewußtsein haben. Was sollten sich Viren und Menschen überhaupt zu sagen haben?«
»Wie wäre es mit: ›Bitte hört auf, uns zu töten?‹« sagte Grego. »Es wäre vielleicht ganz nützlich, wenn du herausfändest, wie du das in der Virensprache sagen kannst.«
»Aber Grego«, sagte Quara mit spöttischer Freundlichkeit, »sagen wir das zu ihnen, oder sagen sie das zu uns?«
»Wir müssen uns nicht heute entscheiden«, sagte Ender. »Wir können es uns leisten, noch eine Weile zu warten.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Grego. »Woher willst du wissen, daß wir morgen nachmittag nicht alle aufwachen, und es zerrt und juckt und schmerzt, und wir verbrennen vor Fieber und sterben schließlich, weil der Descolada-Virus über Nacht herausgefunden hat, wie er uns ein für alle Mal ausmerzen kann? Es heißt wir oder sie.«
»Ich glaube, Grego hat uns gerade gezeigt, warum wir warten müssen«, sagte Ender. »Habt ihr gehört, wie er von der Descolada gesprochen hat? Sie findet heraus, wie sie uns ausmerzen kann. Sogar er ist der Ansicht, daß die Descolada einen Willen hat und Entscheidungen trifft.«
»Das war nur so eine Redensart«, sagte Grego.
»Wir alle sprechen so«, sagte Ender. »Und denken auch so. Weil wir alle fühlen, daß wir mit der Descolada im Krieg liegen. Das ist mehr, als nur eine Krankheit zu bekämpfen – es ist, als ob wir einen intelligenten, einfallsreichen Feind haben, der all unsere Schachzüge im voraus neutralisiert. In der gesamten Geschichte der medizinischen Forschung hat noch nie jemand gegen eine Krankheit gekämpft, die so viele Möglichkeiten hatte, die gegen sie eingesetzten Strategien auszuschalten.«
»Nur, weil noch nie jemand gegen einen Krankheitserreger mit einem so übergroßen und komplexen genetischen Molekül gekämpft hat«, sagte Grego.
»Genau«, sagte Ender. »Es handelt sich um einen einzigartigen Virus, und demzufolge könnte er Fähigkeiten haben, die wir uns bei einer Spezies von geringerer Komplexität als ein Wirbeltier nie vorgestellt haben.«
Einen Augenblick lang hingen Enders Worte in der Luft und wurden von Schweigen beantwortet; einen Augenblick lang glaubte Ender, in dieser Runde doch noch eine nützliche Funktion wahrgenommen, nur durch Worte eine gewisse Übereinstimmung erzielt zu haben.
Grego nahm ihm diese Hoffnung schnell wieder. »Selbst wenn Quara hundertprozentig recht hätte und alle Descolada-Viren Philosophieprofessoren wären und ständig Dissertationen veröffentlichten, wie man den Menschen übel mitspielen kann, bis sie tot sind… was dann? Werfen wir uns alle auf die Erde und strecken alle viere von uns, nur weil der Virus, der uns töten will, so verdammt klug ist?«
»Ich glaube, Quara und Ela sollten ihre Forschungen fortsetzen«, antwortete Novinha ruhig. »Und wir sollten ihnen mehr Mittel zur Verfügung stellen.«
Diesmal hatte Quara einen Einwand. »Warum sollte ich mir die Mühe machen, sie zu verstehen versuchen, wenn ihr anderen noch daran arbeitet, sie zu töten?«
»Das ist eine gute Frage, Quara«, sagte Novinha. »Andererseits… warum solltest du dich bemühen, sie zu verstehen, wenn sie plötzlich einen Weg finden, an all unseren chemischen Barrieren vorbeizukommen und uns alle zu töten?«
»Wir oder sie«, murmelte Grego.
Ender wußte, daß Novinha eine gute Entscheidung getroffen hatte – sie betrieben beide Forschungslinien weiter und würden später einen Entschluß fassen, wenn sie mehr wußten. Quara und Grego begriffen beide nicht, worauf es ankam, gingen beide davon aus, alles hinge davon ab, ob die Descolada ein Bewußtsein habe oder nicht. »Selbst wenn sie ein Bewußtsein haben«, sagte Ender, »bedeutet das nicht, daß sie unantastbar sind. Es hängt alles davon ab, ob sie Ramänner oder Varelse sind. Wenn sie Ramänner sind – wenn wir sie und sie uns so gut verstehen können, daß wir eine Möglichkeit zu einer Koexistenz finden, schön und gut. Wir werden gerettet, sie werden gerettet.«
»Der große Friedensschaffer hat vor, einen Vertrag mit einem Molekül zu schließen?« fragte Grego.
Ender ignorierte seinen spöttischen Tonfall. »Wenn sie jedoch versuchen, uns zu vernichten, und wir keine Möglichkeit finden, mit ihnen zu kommunizieren, dann sind sie Varelse – vernunftbegabte Außerirdische, aber unversöhnlich feindselig und gefährlich. Varelse sind Außerirdische, mit denen wir nicht leben können. Varelse sind Außerirdische, mit denen wir uns natürlich und permanent auf einen Krieg bis zum Tod verstricken, und dann besteht unsere einzige moralische Wahl darin, alles zu tun, was nötig ist, um zu gewinnen.«
»Genau«, sagte Grego.
Trotz des triumphalen Tonfalls ihres Bruders hatte Quara genau auf Enders Worte geachtet und sie abgewogen. Nun nickte sie zögernd. »Solange wir nicht von der Voraussetzung ausgehen, daß sie Varelse sind«, sagte sie.
»Und selbst dann gibt es vielleicht noch einen Mittelweg«, sagte Ender. »Vielleicht kann Ela eine Möglichkeit finden, alle Descolada-Viren zu ersetzen, ohne dieses Gedächtnis- und Sprach-Phänomen zu zerstören.«
»Nein!« sagte Quara wieder heftiger. »Das könnt ihr nicht – ihr habt nicht einmal das Recht, ihnen ihre Erinnerung zu belassen und ihre Anpassungsfähigkeit zu nehmen. Das wäre dasselbe, als würden sie uns allen eine Frontallobotomie verpassen. Wenn es Krieg ist, ist es Krieg. Tötet sie, aber laßt ihnen nicht ihre Erinnerung, während ihr ihren Willen raubt.«
»Es spielt keine Rolle«, sagte Ela. »Es ist unmöglich. Ich glaube, ich habe mir eine unlösbare Aufgabe gestellt. Es ist nicht einfach, an der Descolada zu arbeiten. Keineswegs so, als würde man ein Tier untersuchen und operieren. Wie soll ich das Molekül betäuben, damit es sich nicht selbst heilt, während ich noch mitten in der Operation bin? Vielleicht versteht die Descolada nicht viel von Physik, aber in der Molekularchirurgie ist sie verdammt besser als ich.«
»Bis jetzt«, sagte Ender.
»Bis jetzt wissen wir gar nichts«, sagte Grego. »Bis auf die Tatsache, daß die Descolada alles daransetzt, uns alle zu töten, während wir noch immer herauszufinden versuchen, ob wir zurückschlagen sollen oder nicht. Ich werde noch eine Weile stillhalten, aber nicht für immer.«
»Was ist mit den Schweinchen?« fragte Quara. »Haben sie nicht das Recht, mitzubestimmen, ob wir das Molekül verwandeln, das es ihnen nicht nur ermöglicht, sich fortzupflanzen, sondern das sie wahrscheinlich überhaupt erst als vernunftbegabte Spezies geschaffen hat?«
»Dieses Ding versucht, uns zu töten«, sagte Ender. »Solange die von Ela entwickelte Lösung den Virus ausmerzen kann, ohne den Fortpflanzungszyklus der Schweinchen zu stören, haben sie zu einem Einspruch wohl kein Recht.«
»Vielleicht sind sie da anderer Meinung.«
»Dann wäre es vielleicht besser, wenn sie nicht herausfänden, was wir vorhaben.«
»Wir erzählen den Leuten – Mensch oder Pequenino – gar nichts über die Forschungen, die wir hier betreiben«, sagte Novinha scharf. »Das könnte schreckliche Mißverständnisse verursachen, die zu Gewalt und Tod führen könnten.«
»Also sind wir Menschen die Richter über alle anderen Geschöpfe«, sagte Quara.
»Nein, Quara. Wir Wissenschaftler sammeln Informationen«, sagte Novinha. »Und bis wir genug Informationen gesammelt haben, kann niemand über irgend etwas richten. Also gilt das Gebot der Geheimhaltung für alle hier. Sowohl für Quara als auch für Grego. Ihr sprecht mit niemandem darüber, bis ich es sage, und ich werde es erst sagen, wenn wir mehr wissen.«
»Bis du es sagst«, fragte Grego unverschämt, »oder bis der Sprecher für die Toten es sagt?«
»Ich bin die Chefxenobiologin«, sagte Novinha. »Die Entscheidung darüber, wann wir genug wissen, obliegt mir allein. Ist das klar?«
Sie wartete, bis alle ihr zugestimmt hatten, dann erhob sie sich. Die Versammlung war beendet. Quara und Grego gingen fast sofort; Novinha gab Ender einen Kuß auf die Wange und drängte ihn und Ela dann aus ihrem Büro.
Ender blieb noch im Labor, um mit Ela zu sprechen. »Gibt es eine Möglichkeit, deinen Ersatzvirus in der gesamten Population jeder einheimischen Rasse auf Lusitania zu verbreiten?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Ela. »Das größere Problem ist sowieso, ihn so schnell in jede Zelle eines Organismus zu bekommen, daß die Descolada sich nicht anpassen oder entkommen kann. Ich werde eine Art Trägervirus erschaffen müssen, und den muß ich wahrscheinlich teilweise nach der Descolada selbst formen – die Descolada ist der einzige Parasit, der so schnell und gründlich in einen Gastkörper eindringt, wie es auch der Trägervirus tun muß. Die reinste Ironie – ich lerne, die Descolada zu ersetzen, indem ich die nötigen Techniken von dem Virus selbst stehle.«
»Das ist keine Ironie«, sagte Ender. »So funktioniert die Welt nun einmal. Jemand hat einmal gesagt, der einzige Lehrer, der wirklich etwas wert sei, sei ein Feind.«
»Dann müssen sich Quara und Grego ja gegenseitig viel beibringen«, sagte Ela.
»Ihr Streit ist nur nützlich. Er zwingt uns, jeden Aspekt unseres Vorgehens abzuwägen.«
»Er ist nicht mehr nützlich, sobald einer von ihnen das Thema außerhalb der Familie zur Sprache bringt.«
»Diese Familie plaudert ihre Angelegenheiten nicht vor Fremden aus. Gerade ich müßte das doch wissen.«
»Ganz im Gegenteil, Ender. Gerade du müßtest wissen, wie schnell wir bereit sind, uns einem Fremden anzuvertrauen – wenn wir glauben, unsere Not sei groß genug, um es zu rechtfertigen.«
Ender mußte eingestehen, daß sie recht hatte. Quara und Grego, Miro und Quim und Olhado dazu zu bringen, ihm so weit zu vertrauen, daß sie mit ihm sprachen – das war nicht einfach gewesen, als Ender gerade auf Lusitania eingetroffen war. Doch Ela hatte von Anfang an mit ihm gesprochen, und Novinhas andere Kinder und Novinha selbst schließlich auch. Die Familie war sehr loyal, doch sie waren auch willensstark und hatten alle eine eigene Meinung, und es gab nicht einen unter ihnen, der sein eigenes Urteil nicht über das aller anderen setzte. Beide, Grego und Quara, konnten durchaus zum Schluß kommen, es geschähe nur zu Lusitanias Bestem oder zu dem der Menschheit oder der Wissenschaft, sich einem anderen anzuvertrauen, und das Geheimhaltungsgebot war dahin. Genau wie die Regel, keinen Kontakt zu den Schweinchen aufzunehmen, gebrochen worden war, noch bevor Ender hier eingetroffen war.
Wie nett, dachte Ender. Eine weitere mögliche Quelle für eine Katastrophe, die völlig außerhalb meiner Kontrolle steht.
Als Ender das Labor verließ, wünschte er sich, wie schon so oft zuvor, Valentine sei hier. Sie vermochte es, ein ethisches Dilemma aufzulösen. Sie würde bald hier sein – aber noch rechtzeitig? Ender verstand die Standpunkte, die sowohl Quara als auch Grego vertraten, und stimmte größtenteils mit beiden überein. Am meisten störte ihn die Notwendigkeit, das Problem geheimzuhalten; das verhinderte, mit den Pequeninos, nicht einmal mit Mensch selbst, über eine Entscheidung sprechen zu können, die sie genauso betraf wie jeden Kolonisten von der Erde. Und doch hatte Novinha recht. Die Sache jetzt öffentlich zu besprechen, bevor sie überhaupt wußten, was möglich war – das würde bestenfalls zu Verwirrung führen, schlimmstenfalls zu Anarchie und Blutvergießen. Die Pequeninos waren jetzt friedlich, doch die Geschichte der Spezies war blutig.
Als Ender aus dem Tor trat, um auf die Experimentalfelder zurückzukehren, sah er, daß Quara neben dem Vaterbaum Mensch stand, die Stöcke in der Hand und in ein Gespräch vertieft. Sie hatte nicht gegen den Stamm geschlagen, oder Ender hätte es gehört. Also wollte sie sich ungestört unterhalten. Das war in Ordnung. Ender würde einen Umweg machen, damit er ihr nicht so nahe kam, daß er mithören konnte.
Doch als sie sah, daß Ender in ihre Richtung schaute, beendete Quara augenblicklich ihr Gespräch mit Mensch und ging schnellen Schrittes den Pfad zum Tor entlang. Natürlich kam sie dabei direkt an Ender vorbei.
»Verrätst du Geheimnisse?« fragte Ender. Er hatte seine Bemerkung als bloße Hänselei gemeint. Erst als die Worte über seine Lippen gekommen waren und Quara solch einen verstohlenen Gesichtsausdruck aufsetzte, begriff Ender, was für ein Geheimnis Quara vielleicht verraten hatte. Und ihre Worte bestätigten seinen Verdacht.
»Mutters Vorstellung von Fairneß ist nicht immer die meine«, sagte Quara. »Und deine übrigens auch nicht.«
Er hatte gewußt, daß sie es vielleicht tun würde, aber niemals geglaubt, daß sie es so schnell tun würde, nachdem sie versprochen hatte, es nicht zu tun. »Aber ist Fairneß nicht immer die wichtigste Erwägung?« fragte Ender.
»Für mich ja«, sagte Quara.
Sie versuchte, sich umzudrehen und durch das Tor zu gehen, doch Ender hielt sie am Arm fest.
»Laß mich los.«
»Es Mensch zu verraten ist eine Sache«, sagte Ender. »Er ist sehr weise. Doch verrate es keinem sonst. Einige Pequeninos, einige Männchen, können ziemlich aggressiv werden, wenn sie glauben, sie hätten einen Grund dazu.«
»Sie sind nicht einfach Männchen«, sagte Quara. »Sie nennen sich Gatten. Vielleicht sollten wir sie Männer nennen.« Sie bedachte Ender mit einem triumphierenden Lächeln. »Du bist nicht halb so aufgeschlossen, wie du gern glaubst.« Dann stürmte sie an ihm vorbei und ging durch das Tor in die Stadt.
Ender ging zu Mensch weiter und blieb vor ihm stehen. »Was hat sie dir gesagt, Mensch? Hat sie dir gesagt, daß ich eher sterben würde, bevor ich zuließe, daß jemand die Descolada ausmerzt, wenn dadurch dir und deinem Volk Schaden zugefügt würde?«
Natürlich hatte Mensch keine umgehende Antwort für ihn, denn Ender hatte nicht die Absicht, mit den Sprechstöcken auf seinen Stamm zu schlagen; in diesem Fall würden die männlichen Pequeninos es hören und angelaufen kommen. Es gab kein privates Gespräch zwischen Pequeninos und Vaterbäumen. Wenn ein Vaterbaum Zurückgezogenheit wünschte, konnte er immer stumm mit den anderen Vaterbäumen sprechen – sie kommunizierten miteinander von Geist zu Geist, wie die Schwarmkönigin mit den Krabblern sprach, die ihr als Ohren, Augen, Hände und Füße dienten. Wäre ich doch nur Teil dieses Kommunikationsnetzwerks, dachte Ender. Augenblickliche Sprache, die aus reinen Gedanken bestand und überall ins Universum ausgestrahlt wurde.
Doch er mußte etwas sagen, um dem entgegenzuwirken, was Quara wahrscheinlich gesagt hatte. »Mensch, wir tun alles, was wir können, um sowohl die Menschen als auch die Pequeninos zu retten. Wir versuchen sogar, den Descolada-Virus zu retten, falls es möglich ist. Ela und Novinha sind auf ihren Fachgebieten sehr gut. Grego und Quara übrigens auch. Aber bitte, vertraue uns für den Augenblick und sage den anderen nichts. Bitte. Wenn Menschen und Pequeninos begreifen sollten, in welcher Gefahr wir uns befinden, bevor wir bereit sind, Schritte zu unternehmen, zu sie bannen, wären die Auswirkungen gewalttätig und schrecklich.«
Sonst gab es nichts zu sagen. Ender kehrte zu den Experimentalfeldern zurück. Vor Anbruch der Nacht waren er und Pflanzer mit den Messungen fertig; danach brannten sie das ganze Feld ab. Innerhalb der Auflösungsbarriere konnte kein größeres Molekül überleben. Sie hatten alles getan, was in ihrer Macht stand, um sicherzustellen, daß die Descolada vergessen würde, was auch immer sie von diesem Feld gelernt hatte.
Doch weder die Menschen noch die Pequeninos waren jemals imstande, die Viren loszuwerden, die sie in ihren eigenen Zellen trugen. Was, wenn Quara recht hatte? Was, wenn die Descolada innerhalb der Barriere vor ihrem Tod den Viren, die Pflanzer und Ender in sich trugen, ›verraten‹ konnte, was sie von dieser neuen Kartoffelzüchtung gelernt hatte? Wenn sie Mitteilungen über die Verteidigungsmaßnahmen machen konnte, die Ela und Novinha einzubauen versucht hatten? Über die Methoden, die dieser Virus entdeckt hatte, um ihre Taktik zunichte zu machen?
Wie konnte Ender, wie konnte irgendeiner von ihnen hoffen, am Ende den Sieg davonzutragen, falls die Descolada wirklich intelligent war und eine Sprache hatte, um Informationen und Verhaltensmaßregeln von einem Individuum an viele andere weiterzugeben? Auf lange Sicht war es durchaus möglich, daß es sich bei der Descolada um die anpassungsfähigste Spezies überhaupt handelte, um diejenige, die am besten geeignet war, Welten zu unterwerfen und Rivalen auszuschalten, die stärker war als die Menschen oder Schweinchen oder Krabbler oder irgendein anderes lebendes Geschöpf auf irgendeiner besiedelten Welt. Mit diesem Gedanken ging Ender an diesem Abend zu Bett, und dieser Gedanke beschäftigte ihn noch, während er mit Novinha schlief, so daß sie den Drang verspürte, ihn zu trösten, als sei er es und nicht sie, auf dessen Schultern die Last einer ganzen Welt lag. Er wollte sich entschuldigen, sah aber schnell ein, daß es vergeblich war. Warum sollte er ihre Sorgen vergrößern, indem er ihr von seinen eigenen berichtete?
Mensch lauschte Enders Worten, doch er konnte mit dem, was Ender von ihm erbat, nicht einverstanden sein. Schweigen? Nicht, wenn die Menschen neue Viren erschufen, die den Lebenszyklus der Pequeninos vielleicht veränderten. Oh, Mensch würde den unreifen Männchen und Weibchen nichts sagen. Doch er konnte – und würde – es allen anderen Vaterbäumen auf ganz Lusitania verraten. Sie hatten das Recht zu wissen, was vor sich ging, und konnten dann gemeinsam beschließen, was zu unternehmen war.
Vor Anbruch der Nacht wußte jeder Vaterbaum in jedem Wald alles, was Mensch wußte: von den Plänen der Menschen und seiner Einschätzung, wie weit man ihnen vertrauen konnte. Die meisten pflichteten ihm bei – wir werden die Menschen für den Augenblick gewähren lassen. Doch wir werden sie sorgsam beobachten und uns auf eine Zeit vorbereiten, die vielleicht kommen wird, obwohl wir es nicht hoffen wollen, wenn die Menschen und Pequeninos gegeneinander in den Krieg ziehen. Wir können nicht kämpfen und auf den Sieg hoffen – doch vielleicht können wir, bevor sie uns abschlachten, einen Weg finden, daß einigen von uns die Flucht gelingt.
Und so hatten sie noch vor Anbruch der Morgendämmerung Pläne und Vorkehrungen mit der Schwarmkönigin geschmiedet, der einzigen nichtmenschlichen Wesenheit auf Lusitania, der eine Hochtechnologie zur Verfügung stand. Beim nächsten Sonnenuntergang würde die Konstruktion eines Sternenschiffes, mit dem sie Lusitania verlassen konnten, bereits begonnen haben.