Kapitel 4 Jane


›So viele aus deinem Volk werden Christen. Glauben an den Gott, den diese Menschen mit sich gebracht haben.‹

›Du glaubst nicht an Gott?‹

›Diese Frage hat sich nie gestellt. Wir haben uns immer erinnert, wie wir anfingen.‹

Ihr habt euch entwickelt. Wir wurden geschaffen.‹

›Von einem Virus.‹

›Von einem Virus, den Gott schuf, um uns zu schaffen.‹

›Also bist auch du gläubig.‹

›Ich verstehe den Begriff Glauben.‹

›Nein – du begehrst den Glauben.‹

›Ich begehre ihn genug, um zu handeln, als glaubte ich. Vielleicht ist es das, was Glauben ist.‹

›Oder absichtlicher Wahnsinn.‹


Es stellte sich heraus, daß nicht nur Valentine und Jakt zu Miros Schiff hinüberkamen. Plikt kam auch, ohne Einladung, und richtete sich in einer elend kleinen Kabine ein, die noch nicht einmal groß genug war, daß sie sich richtig ausstrecken konnte. Sie war die Anomalie auf der Reise – kein Familienmitglied, kein Mannschaftsmitglied, aber eine Freundin. Plikt war eine Studentin Enders gewesen, als er auf Trondheim als Sprecher für die Toten gewirkt hatte. Sie hatte ziemlich unabhängig herausgefunden, daß Andrew Wiggin der Sprecher für die Toten war und ebenso der Ender Wiggin.

Valentine begriff eigentlich nicht, warum sich diese brillante junge Frau dermaßen auf Ender Wiggin fixiert hatte. Manchmal dachte sie: Vielleicht beginnen so einige Religionen. Der Stifter sucht nicht nach Jüngern; sie kommen und drängen sich ihm auf.

Auf jeden Fall war Plikt all die Jahre, seit Ender Trondheim verlassen hatte, bei Valentine und ihrer Familie geblieben, hatte bei der Unterrichtung der Kinder und bei Valentines Forschungen geholfen und immer auf den Tag gewartet, da die Familie aufbrechen würde, um Ender zu sehen – ein Tag, von dem nur Plikt gewußt hatte, daß er kommen würde.

Während der letzten Hälfte des Fluges nach Lusitania waren es also vier, die in Miros Schiff reisten: Valentine, Miro, Jakt und Plikt. Das dachte Valentine zuerst zumindest. Erst am dritten Tag nach dem Rendezvous erfuhr sie von der fünften Reisenden, die von Anfang an an Bord gewesen war.

An diesem Tag hatten sich die vier wie immer auf der Brücke versammelt. Sonst konnten sie nirgendwo hin. Das Raumschiff war ein Frachter – außer der Brücke und den Schlafräumen gab es nur eine winzige Kombüse und die Toilette. Der gesamte andere Raum war dazu bestimmt, Fracht zu befördern und keine Menschen.

Valentine hatte jedoch nichts gegen den Verlust der Privatsphäre. Sie ließ es nun mit dem Ausstoß ihrer subversiven Essays ruhiger angehen; sie hatte den Eindruck, daß es wichtiger war, Miro kennenzulernen – und durch ihn Lusitania. Die Menschen dort, die Schweinchen und besonders Miros Familie – denn Ender hatte Novinha, Miros Mutter, geheiratet. Valentine trug natürlich zahlreiche solche Informationen zusammen – sie hätte nicht all diese Jahre als Historikerin und Biographin arbeiten können, ohne zu lernen, wie man aus winzigen Informationsfetzen zahlreiche Schlüsse zieht und Extrapolationen trifft.

Am lohnendsten für sie hatte sich Miro selbst erwiesen. Er war verbittert, wütend und voller Verachtung für seinen verkrüppelten Körper, aber das war nur allzu verständlich – er versuchte noch immer, ein neues Selbstverständnis von sich zu gewinnen. Valentine machte sich keine Sorgen um seine Zukunft – sie sah, daß er sehr willensstark war, ein Mann, der nicht so leicht zerbrechen würde. Er würde sich anpassen und entwickeln.

Am meisten interessierten sie seine Gedanken. Es war, als habe die Beschränkung seines Körpers seinen Geist befreit. In der ersten Zeit nach dem Unfall war er fast völlig gelähmt gewesen. Er hatte nur daliegen und denken können. Natürlich hatte er viel Zeit damit verbracht, über seine Fehler nachzudenken, über das, was er verloren hatte, über die Zukunft, die er nicht mehr haben konnte. Doch er hatte auch viele Stunden über Themen nachgedacht, über die beschäftigte Menschen fast nie nachdenken. Und an ihrem dritten gemeinsamen Tag versuchte Valentine, ihm diese Gedanken zu entlocken.

»Die meisten Menschen denken nicht darüber nach, zumindest nicht ernsthaft, und du hast darüber nachgedacht«, sagte Valentine.

»Daß ich darüber nachdenke, bedeutet noch nicht, daß ich etwas weiß«, sagte Miro. Sie hatte sich mittlerweile völlig an seine Stimme gewöhnt, obwohl seine Worte mitunter so langsam kamen, daß es sie schier in den Wahnsinn trieb. Es bedurfte manchmal einer wirklichen Willensanstrengung, keine Spur von Unaufmerksamkeit zu zeigen.

»Die Natur des Universums«, sagte Jakt.

»Die Quelle des Lebens«, sagte Valentine. »Du sagst, du hättest darüber nachgedacht, was es heißt, am Leben zu sein, und ich will wissen, was du gedacht hast.«

»Wie das Universum arbeitet und warum wir alle darin sind.« Miro lachte. »Das ist eine ziemlich verrückte Sache.«

»Ich saß einmal allein in einem Fischerboot zwei Wochen in einem Treibeisfeld gefangen«, sagte Jakt. »Ich bezweifle, daß du etwas vorbringen kannst, was mir verrückt vorkommt.«

Valentine lächelte. Jakt war kein Wissenschaftler, und seine Philosophie beschränkte sich im allgemeinen darauf, seine Mannschaft zusammenzuhalten und eine Menge Fische zu fangen. Doch er wußte, daß Valentine Miro aus der Reserve locken wollte, und so half er dabei, daß Miro sich entspannt fühlte, ließ ihn wissen, daß er ernst genommen wurde.

Und es war wichtig, daß Jakt dies tat – denn Valentine hatte bemerkt, daß Miro ihn beobachtete. Jakt mochte alt sein, doch er hatte noch Arme, Beine und Rücken eines Fischers, und jede Bewegung verriet die Geschmeidigkeit seines Körpers. Miro sprach ihn einmal sogar darauf an, verblümt und bewundernd: »Du bist gebaut wie ein Zwanzigjähriger.« Valentine hatte den ironischen Zusatz gehört, den Miro im Sinn gehabt haben mußte: Während ich, der ich jung bin, den Körper eines arthritischen Neunzigjährigen habe. Also bedeutete Jakt Miro etwas – er stand für die Zukunft, die Miro nie haben konnte. Bewunderung und Groll; es wäre Miro schwergefallen, offen vor Jakt zu sprechen, würde Jakt nicht sorgsam darauf achten, sich Miro gegenüber nur respektvoll und interessiert zu erweisen.

Plikt saß natürlich auf ihrem Platz, stumm, zurückgezogen, praktisch unsichtbar.

»Na schön«, sagte Miro. »Spekulationen über die Natur der Wirklichkeit und der Seele.«

»Theologie oder Metaphysik?« fragte Valentine.

»Metaphysik hauptsächlich«, sagte Miro. »Und Physik. Keins davon ist mein Spezialgebiet. Und das ist nicht die Art von Geschichte, für die du mich angeblich brauchst.«

»Ich weiß nicht immer genau, was ich brauchen werde.«

»Na schön«, sagte Miro. Er atmete ein paar Mal tief ein, als überlege er, wo er anfangen wolle. »Ihr kennt euch mit philotischen Verknüpfungen aus.«

»Ich weiß, was jeder darüber weiß«, sagte Valentine. »Und ich weiß, daß sie in den letzten zweieinhalbtausend Jahren nirgendwo hingeführt haben, da man wirklich nicht mit ihnen experimentieren kann.« Es war eine alte Entdeckung aus den Tagen, als die Wissenschaftler versuchten, mit der Technologie Schritt zu halten. Physikstudenten im Teenageralter lernten ein paar kluge Sprüche auswendig: »Philoten sind die fundamentalen Bausteine aller Materie und Energie. Philoten haben weder Masse noch Trägheit. Philoten haben nur Ort, Lebensdauer und Verbindung.« Und jeder wußte, daß es philotische Verbindungen waren – die Verknüpfung philotischer Strahlen –, die die Verkürzer arbeiten ließen und augenblickliche Kommunikation zwischen Welten und viele Lichtjahre entfernten Sternenschiffen ermöglichten. Doch niemand wußte, warum es funktionierte, und weil man mit Philoten nicht »umgehen« konnte, war es fast unmöglich, mit ihnen zu experimentieren. Man konnte sie nur beobachten, und das auch nur durch ihre Verbindungen.

»Philotik«, sagte Jakt. »Verkürzer?«

»Ein Nebenprodukt«, sagte Miro.

»Was haben sie mit der Seele zu tun?« fragte Valentine.

Miro wollte schon antworten, doch dann ärgerte er sich über etwas, anscheinend über den Gedanken, mit seinem langsam arbeitenden, sich ihm widersetzenden Mund eine lange Rede zu halten. Sein Kiefer arbeitete, die Lippen bewegten sich leicht. »Ich kann es nicht«, sagte er dann.

»Wir hören zu«, sagte Valentine. Sie verstand sein Zögern, mit den Begrenzungen seiner Sprachfähigkeit einen ausführlichen Exkurs abzuhalten, doch sie wußte auch, daß er es trotzdem tun mußte.

»Nein«, sagte Miro.

Valentine hätte versucht, ihn zu überreden, doch sie sah, daß sich seine Lippen noch bewegten, obwohl nur leise Geräusche über sie kamen. Murmelte er vor sich hin? Fluchte er?

Nein – sie wußte, daß es das ganz und gar nicht war.

Sie brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, wieso sie sich so sicher war. Sie hatte gesehen, wie Ender genau dasselbe tat, die Lippen und den Kiefer bewegte, als er in das Juwel, das er in seinem Ohr trug, eingebauten Computerterminal subvokale Befehle erteilte. Natürlich: Miro hatte dieselbe Computerverbindung wie Ender, und so sprach er mit ihm auf dieselbe Art.

Nach einem Augenblick wurde klar, welchen Befehl Miro seinem Juwel gegeben hatte. Es mußte mit dem Schiffscomputer verbunden sein, denn unmittelbar darauf erhellte sich einer der Bildschirme, und Miros Gesicht erschien darauf. Nur, daß von der Unbeweglichkeit, die Miros Gesicht in Wirklichkeit entstellte, nichts zu sehen war. Valentine begriff: Es war Miros Gesicht, wie es früher einmal gewesen war. Und als das Computerabbild sprach, war die Stimme, die aus den Lautsprechern drang, ebenfalls Miros Stimme, wie sie früher einmal gewesen war – klar. Stark. Intelligent. Schnell.

»Ihr wißt, wenn sich Philoten zusammenfügen, um eine dauerhafte Struktur zu bilden – ein Meson, ein Neutron, ein Atom, ein Molekül, einen Organismus, einen Planeten – verknüpfen sie sich.«

»Was ist das?« fragte Jakt. Er hatte noch nicht herausbekommen, warum der Computer das Reden übernommen hatte.

Miros Computerabbild erstarrte auf dem Bildschirm und verstummte. Miro selbst antwortete. »Ich habe damit darumgespielt«, sagte er. »Ich sage ihm etwas, und er erinnert sich daran und spricht für mich.«

Valentine versuchte sich vorzustellen, wie Miro experimentiert hatte, bis das Computerprogramm sein Gesicht und die Stimme richtig hinbekommen hatte. Wie anregend mußte es gewesen sein, sich selbst neu zu schaffen, wie er seiner Meinung nach sein sollte! Und auch wie quälend, zu sehen, was er hätte sein können, und zu wissen, daß es niemals Wirklichkeit werden konnte. »Was für eine kluge Idee«, sagte Valentine. »Eine Art Prothese für die Persönlichkeit.«

Miro lachte – ein einziges »Ha!«

»Mach weiter«, sagte Valentine. »Ob du nun selbst sprichst oder der Computer für dich spricht, wir werden zuhören.«

Das Computerbild erwachte wieder zum Leben und sprach erneut mit Miros starker eingebildeter Stimme. »Philoten sind die kleinsten Bausteine aus Materie und Energie. Sie haben keine Masse oder Dimension. Jedes Philot verbindet sich mit dem Rest des Universums an einem einzigen Strang, einer eindimensionalen Linie, die es mit allen anderen Philoten in in ihrer kleinsten augenblicklichen Struktur verbindet – einem Meson. All diese Stränge der Philoten in diesem Gebilde sind zu einem einzigen Philotenfaden verschlungen, der das Meson mit dem nächstgrößeren Gebilde verbindet – einem Neutron zum Beispiel. Die Fäden im Neutron verschlingen sich zu einem Band, das sie mit all den anderen Partikeln des Atoms verbindet, und die Bänder des Atoms verschlingen sich zu dem Seil des Moleküls. Das hat nichts mit Kernkräften oder Schwerkraft zu tun, nichts mit chemischen Verbindungen. Soweit wir wissen, tun die philotischen Verbindungen gar nichts. Sie sind einfach da.«

»Aber die einzelnen Stränge sind immer da, immer in den Verschlingungen präsent«, sagte Valentine.

»Ja, jeder Strang setzt sich ewig fort«, antwortete der Bildschirm.

Es überraschte sie und auch Jakt, daß der Computer imstande war, augenblicklich auf Valentines Worte zu reagieren. Es handelte sich nicht nur um einen vorbereiteten Vortrag. Es mußte sowieso ein ausgeklügeltes Programm sein, wenn es Miros Gesicht und Stimme so gut nachahmen konnte; aber daß es nun antwortete, als ahme es Miros Persönlichkeit nach…

Oder hatte Miro dem Programm irgendeinen Hinweis gegeben? Hatte er die Erwiderung subvokalisiert? Valentine wußte es nicht – sie hatte auf den Bildschirm geachtet. Doch damit würde sie jetzt aufhören – sie würde Miro selbst beobachten.

»Wir wissen nicht, ob der Strang unendlich ist«, sagte Valentine. »Wir wissen nur, daß wir noch kein Ende des Strangs gefunden haben.«

»Sie verschlingen sich ineinander, sämtliche Philoten eines Planeten, und eine jede planetare Philotenverschlingung greift nach seinem Stern, und jeder Stern nach dem Mittelpunkt der Galaxis…«

»Und wohin gehen die galaktischen Verschlingungen?« sagte Jakt. Es war eine alte Frage – Schulkinder stellten sie, wenn sie auf der Höheren Schule erstmals mit der Philotik vertraut gemacht wurden. Wie die alte Spekulation, daß Galaxien in Wirklichkeit vielleicht Neutronen oder Mesonen in einem viel größeren Universum waren, oder wie die alte Frage: Wenn das Universum nicht unendlich ist, was befindet sich dann hinter seinem Rand?

»Ja, ja«, sagte Miro. Diesmal sprach er jedoch mit seinem eigenen Mund. »Aber darauf will ich nicht hinaus. Ich will über das Leben sprechen.«

Die computerisierte Stimme – die Stimme des brillanten jungen Mannes – übernahm. »Die philotischen Verschlingungen von Substanzen wie Felsen oder Sand verbinden sich direkt mit jedem Molekül bis zum Zentrum des Planeten. Doch wenn ein Molekül in einen lebendigen Organismus integriert wird, verändert sich der Strang. Anstatt in den Planeten hinabzugreifen, verschlingt er sich in der jeweiligen Zelle, und die Stränge von den Zellen sind alle miteinander verschlungen, so daß jeder Organismus eine einzige Faser philotischer Verbindungen ausschickt, die sich mit dem zentralen philotischen Seil des Planeten verschlingt.«

»Was beweist, daß ein individuelles Leben auf der Ebene der Physik eine gewisse Bedeutung hat«, sagte Valentine. Sie hatte einmal einen Essay darüber geschrieben und versucht, einen Teil der Mystik zurückzunehmen, die um die Philotik entstanden war, und sie gleichzeitig als Sichtweise der Bildung einer Gesellschaft heranzuziehen. »Aber es entsteht kein praktischer Nutzen daraus, Miro. Nichts, was man damit anfangen könnte. Die philotische Verschlingung lebender Organismen existiert einfach. Jedes Philot ist mit etwas verbunden und durch das wieder mit etwas anderem – lebende Zellen und Organismen sind einfach zwei der Ebenen, auf denen solche Verbindungen entstehen können.«

»Ja«, sagte Miro. »Was lebt, verschlingt sich.«

Valentine zuckte mit den Achseln. Man konnte es wahrscheinlich nicht beweisen, doch wenn Miro es als Prämisse seiner Spekulationen benutzen wollte, hatte sie nichts dagegen.

Der Computer-Miro übernahm wieder. »Ich habe über die Dauer der Verschlingung nachgedacht. Wenn eine verschlungene Struktur aufgebrochen wird – als bräche ein Molekül auseinander –, bleibt die alte philotische Verschlingung noch für eine Weile bestehen. Fragmente, die physikalisch nicht mehr zusammenhängen, bleiben philotisch noch für eine Weile miteinander verbunden. Und je kleiner das Partikel, desto länger bleibt die Verbindung nach dem Aufbruch der ursprünglichen Struktur bestehen und desto langsamer verlagern sich die Fragmente zu neuen Verschlingungen.«

Jakt runzelte die Stirn. »Ich dachte, je kleiner die Dinge wären, desto schneller geschähe etwas mit ihnen.«

»Es verstößt gegen die allgemeine Auffassung«, sagte Valentine.

»Nach einer Kernspaltung dauert es Stunden, bis sich die Philotenstränge wieder sortiert haben«, sagte der Computer-Miro. »Wenn man ein kleineres Partikel als ein Atom teilt, bleibt die philotische Verbindung zwischen den Fragmenten noch viel länger bestehen.«

»Und so arbeitet der Verkürzer«, sagte Miro.

Valentine musterte ihn genau. Sprach er manchmal mit seiner eigenen Stimme und manchmal durch den Computer? Stand das Programm unter seiner Kontrolle oder nicht?

»Der Verkürzer beruht auf folgendem Prinzip«, sagte der Computer-Miro. »Wenn man ein Meson mit einem starken Magnetfeld umschließt, es spaltet und die beiden Teile beliebig weit voneinander trennt, wird die philotische Verknüpfung sie dennoch verbinden. Und die Verbindung erfolgt augenblicklich. Wenn sich ein Fragment dreht oder vibriert, dreht sich und vibriert auch der Strahl zwischen ihnen, und die Bewegung läßt sich in genau demselben Augenblick am anderen Ende messen. Die Bewegung wird in Nullzeit die gesamte Länge des Strangs entlang übertragen, selbst wenn die beiden Teile Lichtjahre voneinander entfernt sind. Niemand weiß, warum es funktioniert, doch wir sind froh, daß es klappt. Ohne den Verkürzer wäre eine vernünftige Kommunikation zwischen den Menschenwelten ausgeschlossen.«

»Verdammt, es gibt auch jetzt keine vernünftige Kommunikation«, sagte Jakt. »Und gäbe es keine Verkürzer, hätte jetzt keine Kriegsflotte Kurs auf Lusitania genommen.«

Valentine hörte Jakt jedoch nicht zu. Sie beobachtete Miro. Diesmal sah Valentine, daß er stumm Lippen und Kiefer bewegte. Und nachdem er subvokalisiert hatte, sprach Miros Computerbild wieder. Er gab also die Befehle. Es war absurd gewesen, etwas anderes anzunehmen – wer sonst könnte den Computer beherrschen?

»Es ist eine Hierarchie«, sagte das Abbild. »Je komplexer die Struktur, desto schneller die Reaktion auf eine Veränderung. Je kleiner das Partikel ist, desto dummer scheint es zu sein, und um so langsamer begreift es die Tatsache, daß es nun Teil einer anderen Struktur ist.«

»Nun anthropomorphisierst du«, sagte Valentine.

»Vielleicht«, entgegnete Miro. »Vielleicht auch nicht.«

»Menschen sind Organismen«, sagte das Abbild. »Doch die philotischen Verknüpfungen der Menschen gehen weit über die einer jeden anderen Lebensform hinaus.«

»Nun sprichst du von dieser Sache, die vor tausend Jahren vom Ganges kam«, sagte Valentine. »Niemand war imstande, widerspruchsfreie Ergebnisse aus diesen Experimenten zu ziehen.« Die Forscher – alles hingebungsvolle Hindus – behaupteten, sie hätten bewiesen, daß menschliche philotische Verschlingungen – im Gegensatz zu denen anderer Organismen – nicht immer direkt in den Planetenkern griffen, um sich mit allem anderen Leben, aller anderen Materie zu verschlingen. Statt dessen, so behaupteten sie, würden sich die philotischen Stränge der Menschen oft mit denen anderer Menschen verschlingen, am häufigsten die von Familienmitgliedern untereinander, aber manchmal auch zwischen Lehrern und Schülern oder engen Kollegen – einschließlich der Forscher selbst. Die Gangesitanier hatten daraus den Schluß gezogen, dieser Unterschied zwischen menschlichem und anderem pflanzlichen und tierischen Leben würde beweisen, daß die Seelen einiger Menschen buchstäblich auf eine höhere Ebene befördert wurden, hin zur Perfektion. Sie glaubten, die Menschen, die die Perfektion erreicht hatten, wären miteinander eins geworden, wie alles Leben eins mit der Welt war. »Das ist eine angenehme Mystik, doch niemand außer den Hindus von Ganges nimmt sie noch ernst.«

»Ich schon«, sagte Miro.

»Jedem das seine«, sagte Jakt.

»Nicht als Religion«, sagte Miro. »Als Wissenschaft.«

»Du meinst Metaphysik, nicht wahr?« fragte Valentine.

Diesmal antwortete das Miro-Abbild. »Die philotischen Verbindungen zwischen Menschen ändern sich am schnellsten überhaupt, und die Forscher von Ganges haben bewiesen, daß sie auf den menschlichen Willen reagieren. Wenn man starke Gefühlsbindungen zu seiner Familie hat, verschlingen sich die philotischen Stränge, und man ist eins, genauso, wie die verschiedenen Atome in einem Molekül eins sind.«

Es war eine nette Vorstellung – das hatte sie gedacht, als sie zuerst davon hörte, vielleicht vor zweitausend Jahren, als Ender auf Mindanao für einen ermordeten Revolutionär sprach. Sie und Ender hatten damals darüber spekuliert, ob die Tests auf Ganges beweisen würden, daß sie beide als Bruder und Schwester miteinander verschlungen waren. Sie fragten sich, ob es solch eine Verbindung zwischen ihnen gegeben hatte, als sie Kinder waren, und ob sie bestehen geblieben war, als Ender auf die Kampfschule kam und sie sechs Jahre voneinander getrennt wurden. Ender hatte diese Vorstellung sehr gefallen, und Valentine auch, doch nach diesem einen Gespräch war das Thema nie wieder zur Sprache gekommen. Die Idee von philotischen Verbindungen zwischen Menschen hatte sie unter »ganz nette Vorstellungen« in ihrem Gedächtnis abgelegt. »Eine hübsche Vorstellung, die Metapher der menschlichen Einheit könnte eine psysikalische Analogie haben«, sagte Valentine.

»Hör zu!« sagte Miro. Anscheinend wollte er nicht, daß sie die Idee als ›hübsch‹ abtat.

Erneut sprach sein Abbild für ihn. »Angenommen, die Hindus von Ganges haben recht… dann ist es nicht nur ein soziales Phänomen, wenn sich ein Mensch entschließt, ein Band mit einer anderen Person zu knüpfen, etwas zu einer Gemeinschaft beizutragen, sondern auch ein physikalisches. Das Philot, das kleinste vorstellbare psysikalische Partikel – falls wir etwas ohne Masse oder Trägheit überhaupt als psysikalisch bezeichnen können –, reagiert auf eine Anstrengung des menschlichen Willens.«

»Deshalb fällt es allen so schwer, die Experimente von Ganges ernst zu nehmen.«

»Die Experimente von Ganges waren genau und ehrlich.«

»Doch kein anderer hat jemals dieselben Ergebnisse erzielt.«

»Kein anderer hat sie jemals ernst genug genommen, um dieselben Experimente durchzuführen. Überrascht dich das?«

»Ja«, sagte Valentine. Doch dann erinnerte sie sich, wie die Idee von der wissenschaftlichen Presse lächerlich gemacht worden war, während sie gleichzeitig von den verrückten Randzonen aufgegriffen und in ein Dutzend abwegiger Religionen integriert worden war. Wie konnte ein Wissenschaftler nach einem derartigen Vorgang hoffen, eine Finanzierung für solch ein Projekt zusammenzubekommen? Wie konnte ein Wissenschaftler erwarten, Karriere zu machen, wenn seine Kollegen ihn für den Verkünder einer metaphysischen Religion hielten? »Nein, wohl kaum.«

Das Miro-Abbild nickte. »Wenn sich die philotischen Stränge dem menschlichen Willen folgend verschlingen, könnten wir doch annehmen, daß sämtliche philotischen Verschlingungen willentlich herbeigeführt werden. Jeder Partikel, die gesamte Materie und Energie… warum könnte nicht jedes beobachtbare Phänomen im Universum dem Willen von Einzelmenschen unterliegen?«

»Jetzt gehen wir über den Hinduismus von Ganges hinaus«, sagte Valentine. »Soll ich dir das allen Ernstes abkaufen? Du sprichst hier von Animismus. Die primitivste Art von Religion. Alles lebt. Steine und Meere und…«

»Nein«, sagte Miro. »Leben ist Leben.«

»Leben ist Leben«, sagte das Computerprogramm. »Leben liegt vor, wenn ein einziges Philot die Willenskraft hat, die Moleküle zu einer einzigen Zelle zu verbinden, ihre Stränge zu einem einzigen zu verschlingen. Ein stärkeres Philot kann viele Zellen zu einem Organismus verbinden. Die stärksten sind die Intelligenzwesen. Wir können unsere philotischen Verbindungen unterbringen, wo wir wollen. Die philotische Grundlage intelligenten Lebens tritt noch deutlicher in der anderen bekannten vernunftbegabten Spezies vor. Wenn ein Pequenino stirbt und in das dritte Leben übergleitet, bewahrt sein willensstarkes Philot seine Identität und läßt sie von der Säugetierleiche in den lebenden Baum übergehen.«

»Reinkarnation«, sagte Jakt. »Das Philot ist die Seele.«

»Bei den Schweinchen ist es jedenfalls so«, sagte Miro.

»Und bei der Schwarmkönigin auch«, sagte das Miro-Abbild. »Wir haben die philotischen Verbindungen überhaupt nur entdeckt, weil wir sahen, wie die Krabbler überlichtschnell miteinander kommunizierten – das zeigte uns erst, daß es möglich war. Die einzelnen Krabbler sind alle Teil der Schwarmkönigin; sie sind wie ihre Hände und Füße, und sie ist ihr Verstand, ein riesiger Organismus mit Tausenden oder Millionen Körpern. Und die einzige Verbindung zwischen ihnen ist die Verschlingung ihrer philotischen Stränge.«

Solch ein Bild vom Universum hatte sich Valentine noch nie vorgestellt. Als Historikerin und Biographin sah sie die Dinge natürlich in Begriffen von Menschen und Gesellschaften; sie verfügte zwar über einige Physikkenntnisse, hatte aber keine besondere Ausbildung in diesem Fach erhalten. Vielleicht würde ein Physiker sofort wissen, warum diese ganze Vorstellung absurd war. Andererseits jedoch wäre ein Physiker dermaßen vom Konsens seiner wissenschaftlichen Gemeinde geprägt, daß es ihm um so schwerer fallen würde, eine Vorstellung zu akzeptieren, die die Bedeutung von allem, was er wußte, veränderte. Auch wenn sie der Wahrheit entsprach.

Und ihr gefiel die Vorstellung so gut, daß sie wünschte, sie sei wahr. Könnte es sein, daß von den Billiarden Verliebten, die sich »Wir sind eins!« ins Ohr geflüstert hatten, einige wirklich eins waren? Wäre es nicht schön, sich von den Milliarden Familien, die so eng miteinander verbunden waren, daß sie sich wie eine einzige Seele vorkamen, vorzustellen, daß dem bei einigen auf der ursprünglichsten Ebene der Wirklichkeit tatsächlich so war?

Takt schien von der Vorstellung jedoch nicht so angetan zu sein. »Ich dachte, wir sollten nicht darüber sprechen, daß die Schwarmkönigin existiert«, sagte er. »Ich dachte, das sei Enders Geheimnis.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte Valentine. »Jeder in diesem Raum weiß es.«

Jakt bedachte sie mit seinem ungeduldigen Blick. »Ich dachte, wir fliegen nach Lusitania, um beim Kampf gegen den Sternenwege-Kongreß zu helfen. Was hat das alles mit der echten Welt zu tun?«

»Vielleicht nichts«, sagte Valentine. »Vielleicht alles.«

Jakt begrub einen Augenblick lang das Gesicht in den Händen und sah dann mit einem Lächeln auf, das eigentlich gar keins war. »Ich habe dich so etwas Transzendentales nicht mehr sagen hören, seit dein Bruder Trondheim verließ.«

Das traf sie, besonders, weil sie wußte, daß es sie auch treffen sollte. War Jakt nach all diesen Jahren noch immer eifersüchtig auf ihre Verbindung mit Ender? Verabscheute er noch immer die Tatsache, daß sie sich um Dinge sorgen konnte, die ihm nichts bedeuteten? »Als er ging«, sagte Valentine, »blieb ich.« In Wirklichkeit sagte sie: Ich habe den einzigen Test bestanden, auf den es ankam. Warum solltest du jetzt an mir zweifeln?

Jakt war verlegen. Das war eine seiner besten Eigenschaften – wenn er begriff, daß er falsch gehandelt hatte, gestand er es sofort ein. »Und als du gingst«, sagte er, »ging ich mit dir.« Was wohl bedeuten sollte: Ich bin bei dir, ich bin wirklich nicht mehr auf Ender eifersüchtig, und es tut mir leid, daß ich diese Bemerkung gemacht habe. Als sie später allein waren, sagte er all das noch einmal offen. Es war nicht Sinn der Sache, Lusitania zu erreichen, wenn einer von ihnen dabei Argwohn und Eifersucht hegte.

Miro wußte natürlich nicht, daß Jakt und Valentine bereits einen Waffenstillstand beschlossen hatten. Er war sich nur der Spannung zwischen ihnen bewußt und glaubte, er sei der Grund dafür. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte nicht…«

»Schon in Ordnung«, sagte Jakt. »Das gehört nicht zum Thema.«

»Es gibt kein Thema«, sagte Valentine und lächelte ihrem Mann zu. Jakt erwiderte das Lächeln.

Das genügte Miro; er entspannte sich.

»Fahre fort«, sagte Valentine.

»Akzeptiert das alles als Voraussetzung«, sagte das Miro-Abbild.

Valentine konnte sich nicht helfen, sie mußte laut auflachen. Zum Teil lachte sie, weil diese mythische Ganges-Interpretation, die Philoten als Seelen zu sehen, als Prämisse so widersinnig schwer zu schlucken war. Zum Teil lachte sie, um die Spannung zwischen ihr und Jakt zu lösen. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Das ist eine schrecklich große ›Voraussetzung‹. Wenn das die Prämisse ist, kann ich es nicht erwarten, die Schlußfolgerung daraus zu hören.«

Miro verstand ihr Gelächter nun und erwiderte das Lächeln. »Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken«, sagte er. »Das war wirklich meine Spekulation darüber, was das Leben ist. Alles im Universum ist Verhalten. Doch es gibt noch etwas anderes, was wir euch sagen wollen. Und wohl auch fragen.« Er wandte sich an Jakt. »Und es hat eine Menge damit zu tun, die Lusitania-Flotte aufzuhalten.«

Jakt lächelte und nickte. »Ich weiß es zu schätzen, daß man mir gelegentlich einen Knochen hinwirft.«

Valentine setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf. »Aha – und später wirst du froh sein, wenn ich ein paar Knochen breche.«

Jakt lachte erneut.

»Fahre fort, Miro«, sagte Valentine.

Diesmal antwortete das Miro-Abbild. »Wenn die gesamte Realität vom Verhalten der Philoten bestimmt wird, sind die meisten Philoten offensichtlich nur so klug oder stark, um als Meson agieren oder ein Neutron zusammenhalten zu können. Sehr wenige von ihnen haben die Willenskraft zu leben – einen Organismus zu beherrschen. Und ein ganz, ganz winziger Bruchteil von ihnen ist stark genug, um einen bewußten Organismus zu kontrollieren – nein, zu sein. Dennoch ist auch das komplexeste und intelligenteste Wesen – die Schwarmkönigin zum Beispiel – im Kern nur ein Philot wie alle anderen. Sie bekommt ihre Identität und ihr Leben von der besonderen Rolle, die sie zufällig ausübt, doch sie ist ein Philot.«

»Mein Selbst – mein Wille – ist ein subatomares Partikel?«

Jakt nickte lächelnd. »Eine komische Vorstellung«, sagte er. »Mein Schuh und ich sind Brüder.«

Miro lächelte schwach. Doch das Miro-Abbild antwortete. »Ja, wenn ein Stern und ein Wasserstoffatom Brüder sind, dann gibt es auch eine Verwandtschaft zwischen dir und den Philoten, die ganz normale Gegenstände wie deinen Schuh bilden.«

Valentine stellte fest, daß Miro nicht subvokalisiert hatte, bevor das Miro-Abbild antwortete. Wie war die Software, die das Miro-Abbild herstellte, auf die Analogie mit Sternen und Wasserstoffatomen gekommen, wenn Miro sie nicht vom Fleck weg geliefert hatte? Valentine hatte noch nie von einem Computerprogramm gehört, das ein so engagiertes Gespräch von allein führte.

»Und vielleicht gibt es noch andere Verwandtschaften im Universum, von denen ihr bis jetzt nichts wißt«, sagte das Miro-Abbild. »Vielleicht gibt es eine Lebensform, die ihr noch nicht kennengelernt habt.«

Valentine, die noch immer Miro beobachtete, bemerkte, daß er jetzt besorgt wirkte. Als gefiele ihm nicht, was das Miro-Abbild jetzt tat.

»Von welcher Lebensform sprichst du?« fragte Jakt.

»Es gibt ein physikalisches Phänomen im Universum, ein sehr bekanntes, das völlig unerklärt ist, und doch nimmt es jeder für gegeben, und niemand hat je ernsthaft nachgeforscht, warum und wie es geschieht. Noch nie wurde eine Verkürzer-Verbindung gekappt.«

»Unsinn«, sagte Jakt. »Einer der Verkürzer auf Trondheim war letztes Jahr sechs Monate außer Betrieb – es kommt nicht oft vor, aber es passiert.«

Erneut bewegte Miro weder Lippen und Kiefer; erneut antwortete das Computerbild umgehend. Miro hatte es in diesem Augenblick eindeutig nicht unter Kontrolle. »Ich behaupte nicht, daß bei den Verkürzern niemals Schäden auftreten. Ich behaupte, daß die Verbindungen – die philotischen Verschlingungen zwischen den Teilen eines gespaltenen Mesons – niemals zusammengebrochen sind. Eine Verkürzer-Maschine kann einen Schaden haben, die Software kann manipuliert werden, doch noch nie hat ein Mesonenfragment innerhalb eines Verkürzers seinem Philotenstrang gestattet, sich mit einem anderen örtlichen Meson oder auch mit dem nächstgelegenen Planeten zu verflechten.«

»Das Magnetfeld hält das Fragment natürlich gefangen«, sagte Jakt.

»Gespaltene Mesone existieren in der Natur nicht lange genug, daß wir wissen, wie sie sich natürlich verhalten«, sagte Valentine.

»Ich habe alle üblichen Antworten studiert«, sagte das Abbild. »Den ganzen Blödsinn. All diese Antworten, die Eltern ihren Kindern geben, wenn sie die Wahrheit nicht kennen und sich nicht die Mühe machen wollen, sie herauszufinden. Die Leute behandeln die Verkürzer noch immer wie Magie. Alle sind froh, daß die Verkürzer weiterhin arbeiten; wenn sie herausfinden wollten, warum sie funktionieren, könnte die Magie verschwinden, und die Verkürzer würden es nicht mehr tun.«

»Niemand ist dieser Ansicht«, sagte Valentine.

»Alle sind sie es«, sagte das Abbild. »Selbst wenn hundert Jahre dafür nötig wären oder tausend oder dreitausend, eine einzige Verbindungen hätte mittlerweile einmal zusammenbrechen müssen. Eins dieser Mesonenfragmente hätte seinen Philotenstrang verlagern müssen – aber es ist nie geschehen.«

»Warum?« fragte Miro.

Valentine nahm zuerst an, daß Miro eine rhetorische Frage stellte. Aber nein – er sah das Abbild an wie sie alle, bat es, ihm den Grund zu nennen.

»Ich dachte, dieses Programm würde deine Spekulationen unterbreiten«, sagte Valentine.

»Das hat es auch«, sagte Miro. »Aber jetzt nicht mehr.«

»Was, wenn es ein Wesen gibt, daß an den philotischen Verbindungen zwischen den Verkürzern lebt?« fragte das Abbild.

»Bist du sicher, daß du das tun willst?« fragte Miro. Erneut sprach er zu der Darstellung auf dem Bildschirm.

Und das Bild auf dem Schirm veränderte sich, wandelte sich in das Gesicht einer jungen Frau, die Valentine noch nie zuvor gesehen hatte.

»Was, wenn es ein Wesen gibt, das im Netz der Philotenstränge oder -strahlen lebt, das die Verkürzer auf jeder Welt und auf jedem Sternenschiff im menschlichen Universum verbindet? Was, wenn sie aus diesen philotischen Verbindungen besteht? Was, wenn ihre Gedanken in den Drehungen und Schwingungen der gespaltenen Paare stattfinden? Was, wenn ihre Erinnerungen in den Computern auf jeder Welt und jedem Schiff abgespeichert sind?«

»Wer bist du?« fragte Valentine und sprach das Bild auf dem Schirm direkt an.

»Vielleicht bin ich diejenige, die all diese philotischen Verbindungen von Verkürzer zu Verkürzer am Leben hält. Vielleicht bin ich eine neue Art Organismus, eine, die ihre Stränge nicht verschlingt, sondern dafür sorgt, daß sie miteinander verschlungen bleiben, damit sie niemals auseinanderbrechen. Und wenn das der Fall wäre, dann würde ich, wenn diese Verbindungen jemals unterbrochen würden, wenn die Verkürzer jemals zu arbeiten aufhörten, wenn die Verkürzer jemals schwiegen – dann würde ich sterben.«

»Wer bist du?« fragte Valentine erneut.

»Valentine, ich möchte dir Jane vorstellen«, sagte Miro. »Enders Freundin. Und meine.«

»Jane.« Also war Jane nicht der Kodename einer subversiven Gruppe innerhalb der Bürokratie des Sternenwege-Kongresses. Jane war ein Computerprogramm, eine Software.

Nein. Wenn das, was sie gerade angedeutet hatte, der Wahrheit entsprach, war Jane mehr als ein Programm. Sie war ein Wesen, das im Netz der Philotenstränge lebte, das seine Erinnerungen in den Computern einer jeden Welt abspeicherte. Wenn sie recht hatte, war das philotische Netz – das Netzwerk der kreuz und quer verlaufenden Philotenstränge, daß jeden Verkürzer mit jedem anderen Verkürzer auf jeder Welt verband – ihr Körper, ihre Substanz. Und die philotischen Verbindungen waren noch nie zusammengebrochen, weil sie es so wollte.

»Und nun frage ich die große Demosthenes«, sagte Jane, »bin ich Ramann oder Varelse? Lebe ich überhaupt? Ich brauche deine Antwort, denn ich glaube, ich kann die Lusitania-Flotte aufhalten. Doch bevor ich das tue, muß ich wissen: Ist es diese Sache wert, daß ich dafür sterbe?«


Janes Worte trafen Miro ins Herz. Sie konnte die Flotte tatsächlich aufhalten – das begriff er plötzlich. Der Kongreß hatte zwar zahlreiche Schiffe der Flotte mit dem M.D.-Gerät ausgestattet, aber noch nicht den Befehl erteilt, es auch einzusetzen. Er konnte den Befehl nicht schicken, ohne daß Jane zuvor davon erfuhr, und mit ihrer vollständigen Durchdringung sämtlicher Verkürzer-Vorgänge konnte sie den Befehl abfangen, bevor die Flotte ihn erhielt.

Das Problem war nur, daß sie damit dem Kongreß verriet, daß es sie gab – oder zumindest doch, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Wenn die Flotte den Befehl nicht bestätigte, würde der Kongreß ihn einfach noch einmal schicken und noch einmal. Je öfter sie die Befehle blockierte, desto klarer würde dem Kongreß werden, daß jemand einen unmöglichen Grad von Kontrolle über die Verkürzer-Computer hatte.

Dies konnte sie vielleicht vermeiden, indem sie eine gefälschte Bestätigung schickte, doch dann mußte sie sämtliche Kommunikation zwischen den Schiffen der Flotte und allen planetaren Stationen überwachen, um den Schein aufrechtzuhalten, die Flotte wisse etwas von dem Befehl zum Töten. Trotz ihrer gewaltigen Fähigkeiten würde das ihre Kräfte bald übersteigen – sie konnte Hunderten, sogar Tausenden von Dingen gleichzeitig einen gewissen Grad an Aufmerksamkeit schenken, doch Miro begriff schnell, daß sie unmöglich alle Überwachungen und Manipulationen vornehmen konnte, die dazu erforderlich waren, selbst wenn sie nichts anderes mehr tat.

So oder so, das Geheimnis würde herauskommen. Und als Jane ihren Plan erklärte, begriff Miro, daß sie recht hatte – ihre beste Chance, ihre Existenz geheimzuhalten, bestand einfach darin, die gesamte Verkürzer-Kommunikation zwischen der Flotte und den planetaren Stationen einerseits und zwischen den Schiffen der Flotte andererseits zu unterbinden. Wenn jedes Schiff isoliert blieb und die Mannschaft sich fragte, was geschehen war, ob sie also die Mission abbrechen oder den ursprünglichen Befehlen gehorchen sollten. Entweder würden sie abrücken, oder sie würden ohne die Befugnis bei Lusitania eintreffen, den Kleinen Doktor zu benutzen.

Mittlerweile würde der Kongreß jedoch wissen, daß irgend etwas geschehen war. Es war durchaus möglich, daß bei der normalen Ineffizienz der Bürokratie des Kongresses niemand je herausfinden würde, was passiert war. Doch früher oder später würde jemand begreifen, daß es keine natürliche oder menschenmögliche Erklärung für das Geschehen gab. Jemand würde begreifen, daß Jane – oder etwas wie sie – existieren mußte und zerstört werden konnte, wenn man die gesamte Verkürzer-Kommunikation unterbrach. Und sobald dies bekannt war, würde sie mit Sicherheit sterben.

»Vielleicht auch nicht«, beharrte Miro. »Vielleicht kannst du sie davon abhalten, etwas zu unternehmen. Störe die interplanetare Kommunikation, so daß sie den Befehl, die Kommunikationsvorrichtungen auszuschalten, gar nicht erst geben können.«

Niemand antwortete. Er kannte den Grund: Sie konnte die Verkürzer-Kommunikation nicht auf ewig stören. Schließlich würde die Regierung eines jeden Planeten ihre eigenen Schlüsse ziehen. Sie mochte vielleicht Jahre, Jahrzehnte, Generationen in einem ständigen Kriegszustand überleben. Doch je mehr Macht sie einsetzte, desto mehr würde die Menschheit sie hassen und fürchten. Schließlich würde sie getötet werden.

»Dann ein Buch«, sagte Miro. »Wie Die Schwarmkönigin und Der Hegemon. Wie Menschs Leben. Der Sprecher für die Toten könnte es schreiben. Sie überzeugen, es nicht zu tun.«

»Vielleicht«, sagte Valentine.

»Sie darf nicht sterben«, sagte Miro.

»Ich weiß, daß wir sie nicht bitten können, dieses Risiko einzugehen«, sagte Valentine. »Doch wenn es die einzige Möglichkeit ist, die Schwarmkönigin und die Pequeninos zu retten…«

Miro war wütend. »Ihr könnte ja darüber sprechen, sie sterben zu lassen! Was ist Jane denn schon für euch? Ein Programm, ein Stück Software. Aber das stimmt nicht, sie ist echt, genauso echt wie die Schwarmkönigin, genauso echt wie ein Schweinchen…«

»Ich glaube, für dich noch echter«, sagte Valentine.

»Genauso echt«, sagte Miro. »Du vergißt – ich kenne die Schweinchen wie meine eigenen Brüder…«

»Aber du ziehst die Möglichkeit in Betracht, die Vernichtung der Schweinchen könnte moralisch notwendig sein.«

»Verdreh mir nicht die Worte im Mund.«

»Ich rücke sie gerade«, sagte Valentine. »Du kannst in Betracht ziehen, sie zu verlieren, weil du sie schon verloren hast. Jane jedoch…«

»Kann ich nicht etwa für sie bitten, nur weil sie meine Freundin ist? Können Entscheidungen über Leben und Tod nur von Fremden getroffen werden?«

Jakts Stimme unterbrach den Streit. »Beruhigt euch, ihr beiden. Es ist nicht eure Entscheidung, sondern Janes. Sie hat das Recht, den Wert ihres eigenen Lebens zu bestimmen. Ich bin kein Philosoph, aber das weiß ich.«

»Gut gesprochen«, sagte Valentine.

Miro wußte, daß Jakt recht hatte, daß es Janes Wahl war. Aber er konnte es nicht ertragen, weil er ebenfalls wußte, wie sie sich entscheiden würde. Jane die Wahl zu überlassen hieß, sie zu bitten, es zu tun. Und doch würde ihr die Wahl letztlich ohnehin überlassen bleiben. Er mußte sie nicht einmal fragen, wie sie sich entscheiden würde. Die Zeit verging so schnell für sie, besonders, da sie bereits mit annähernder Lichtgeschwindigkeit reisten, daß sie sich wahrscheinlich schon entschieden hatte.

Es war zuviel für ihn. Es würde unerträglich sein, Jane jetzt zu verlieren; allein der Gedanke daran drohte ihn aus der Fassung zu bringen. Er wollte seine Schwäche nicht vor diesen Menschen zeigen. Es waren gute Menschen, doch er wollte nicht, daß sie sahen, wie er die Selbstbeherrschung verlor. Also beugte sich Miro vor, fand sein Gleichgewicht und hob sich vorsichtig aus dem Sitz. Es war schwer, da nur ein paar seiner Muskeln seinem Willen gehorchten, und es erforderte seine ganze Konzentration, nur um von der Brücke zu seiner Kabine zu gehen. Niemand folgte ihm oder sprach ihn auch nur an. Er war froh darüber.

Als er allein auf seinem Zimmer war, legte er sich auf die Koje und rief sie. Aber nicht laut. Er subvokalisierte, weil er normalerweise immer so mit ihr sprach. Obwohl die anderen auf diesem Schiff nun von ihr wußten, hatte er nicht die Absicht, die Gewohnheiten aufzugeben, die ihre Existenz bislang geheimgehalten hatten.

»Jane«, sagte er stumm.

»Ja«, sagte die Stimme in seinem Ohr. Wie immer stellte er sich vor, ihre weiche Stimme käme von einer Frau gerade außerhalb seiner Sichtweite. Er schloß die Augen, damit er sie sich besser vorstellen konnte. Ihr Atem auf seiner Wange. Ihr Haar, das sein Gesicht streifte, während sie leise zu ihm sprach und er stumm antwortete.

»Sprich mit Ender, bevor du eine Entscheidung triffst.«

»Ich habe bereits mit ihm gesprochen.«

»Was hat er gesagt?«

»Nichts zu tun, keinen Entschluß zu fassen, bis der Befehl tatsächlich ausgeschickt wird.«

»Genau. Vielleicht werden sie es gar nicht tun.«

»Vielleicht. Vielleicht kommt eine neue Gruppe mit einer anderen Politik an die Macht. Vielleicht wird diese Gruppe es sich anders überlegen. Vielleicht wird Valentines Propaganda Erfolg haben. Vielleicht gibt es in der Flotte eine Meuterei.«

Die letzte Möglichkeit, sah Miro plötzlich ein, war so unwahrscheinlich, daß Jane mit absoluter Sicherheit davon ausging, daß der Befehl gegeben werden würde.

»Wie bald?« fragte Miro.

»Die Flotte müßte in etwa fünfzehn Jahren eintreffen. Ein Jahr oder weniger, nachdem diese beiden Schiffe dort angelangt sind. Der Befehl wird irgendwann vorher geschickt. Vielleicht sechs Monate vor der Ankunft – was etwa acht Stunden Schiffszeit sein würde, bevor die Flotte den lichtschnellen Flug aufgibt und zu normaler Geschwindigkeit abbremst.«

»Tue es nicht«, sagte Miro.

»Ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Doch, das hast du. Du hast dich entschieden, es zu tun.«

Sie sagte nichts.

»Laß mich nicht allein.«

»Ich lasse meine Freunde nicht allein, wenn es nicht sein muß«, sagte sie. »Einige Menschen tun das, ich aber nicht.«

»Tue es einfach nicht«, sagte er erneut. Er weinte. Konnte sie das irgendwie durch das Juwel in seinem Ohr spüren?

»Ich werde es versuchen.«

»Finde einen anderen Weg. Finde eine andere Möglichkeit, sie aufzuhalten. Finde eine Möglichkeit, dich aus dem philotischen Netz zu bringen, so daß sie dich nicht töten können.«

»Das hat Ender auch gesagt.«

»Dann tue es!«

»Ich kann nach solch einer Möglichkeit suchen, doch wer weiß, ob ich sie auch finde?«

»Du mußt sie finden.«

»Das ist es, weshalb ich mich manchmal frage, ob ich lebe oder nicht. Ihr Lebewesen, ihr glaubt, weil ihr etwas unbedingt wollt, muß es auch geschehen. Ihr glaubt, wenn ihr euch etwas mit ganzem Herzen wünscht, muß es auch eintreffen.«

»Wie kannst du nach etwas suchen, wenn du gar nicht glaubst, daß es existiert?«

»Entweder ich suche, oder ich suche nicht«, sagte Jane. »Man kann mich nicht ablenken, und mir wird eine Sache auch nicht überdrüssig wie euch Menschen. Ich versuche, mir etwas anderes einfallen zu lassen.«

»Denke auch daran«, sagte Miro. »Denke daran, wer du bist. Wie dein Verstand arbeitet. Du kannst kaum eine Möglichkeit finden, dein Leben zu retten, wenn du nicht verstehst, wie dieses Leben überhaupt zustande gekommen ist. Und sobald du dich selbst verstehst…«

»Kann ich vielleicht eine Kopie machen und sie irgendwo abspeichern.«

»Vielleicht.«

»Vielleicht«, wiederholte sie.

Doch er wußte, daß sie nicht daran glaubte, genauso wenig wie er. Sie existierte im philotischen Netzwerk der Verkürzer; sie konnte ihre Erinnerungen in den Computernetzwerken auf jeder Welt und auf jedem Schiff abspeichern) doch sie konnte nirgendwo ihr Selbst ablegen, nicht, wenn dazu ein Netzwerk aus philotischen Verbindungen notwendig war.

Außer…

»Was ist mit den Vaterbäumen auf Lusitania? Sie kommunizieren philotisch, nicht wahr?«

»Das ist nicht dasselbe«, sagte Jane. »Es ist nicht digital. Es ist nicht kodiert wie die Verkürzer.«

»Vielleicht ist es nicht digital, doch die Informationen werden irgendwie übertragen. Es arbeitet philotisch. Und auch die Schwarmkönigin – sie kommuniziert auf diese Art mit den Krabblern.«

»Diese Chance habe ich nicht«, sagte Jane. »Die Struktur ist zu einfach. Ihre Kommunikation mit ihnen ist kein Netzwerk. Sie sind alle nur mit ihr verbunden.«

»Woher willst du wissen, daß es nicht funktioniert, wenn du noch nicht einmal genau weißt, wie du funktionierst?«

»Na schön. Ich denke darüber nach.«

»Bemühe dich«, sagte er.

»Ich kann nur auf eine Art und Weise denken.«

»Ich meine, schenke der Sache Beachtung.«

Sie konnte vielen Gedankengängen auf einmal folgen, doch diese Gedanken waren Prioritäten unterworfen und besaßen viele unterschiedliche Aufmerksamkeitsebenen. Miro wollte nicht, daß sie ihre Selbsterkundung einer niedrigen Aufmerksamkeitsstufe zuteilte.

»Ich werde ihr Aufmerksamkeit schenken.«

»Dann wird dir etwas einfallen«, sagte er. »Bestimmt.«

Sie schwieg eine Weile. Er ging davon aus, daß das Gespräch beendet war. Seine Gedanken begannen abzuschweifen. Er versuchte sich vorzustellen, wie das Leben sein würde, noch immer in diesem Körper, aber ohne Jane. Es konnte sogar geschehen, bevor sie auf Lusitania eintrafen. Und falls es geschah, wäre diese Reise der schrecklichste Fehler seines Lebens gewesen. Indem sie mit Lichtgeschwindigkeit flogen, übersprang er dreißig Jahre Realzeit. Dreißig Jahre, die er mit Jane hätte verbringen können. Dann wäre er vielleicht damit fertig geworden, sie zu verlieren. Aber sie jetzt zu verlieren, nachdem er sie nur ein paar Wochen gekannt hatte – er wußte, daß seine Tränen dem Selbstmitleid entsprangen, doch er vergoß sie trotzdem.

»Miro«, sagte sie.

»Was?« fragte er.

»Wie kann ich über etwas nachdenken, worüber noch nie zuvor gedacht wurde?«

Einen Augenblick lang verstand er nicht.

»Miro, wie kann ich etwas herausbekommen, das nicht einfach die logische Schlußfolgerung von Dingen ist, die menschliche Wesen bereits herausbekommen und irgendwo aufgeschrieben haben?«

»Du denkst doch die ganze Zeit über«, sagte Miro.

»Ich versuche, mir etwas Unvorstellbares vorzustellen. Ich versuche, Antworten auf Fragen zu finden, die menschliche Wesen nicht einmal zu stellen versucht haben.«

»Kannst du das nicht?«

»Bedeutet es, daß ich nichts weiter bin als ein Computerprogramm, das außer Kontrolle geraten ist, wenn ich keine ursprünglichen Gedanken denken kann?«

»Verdammt, Jane, die meisten Menschen haben nicht ein einziges Mal im Leben einen ursprünglichen Gedanken.« Er lachte leise. »Bedeutet das, daß sie nur aufrecht gehende Affen sind, die außer Kontrolle geraten sind?«

»Du hast geweint«, sagte sie.

»Ja.«

»Du glaubst nicht, daß mir ein Ausweg einfällt. Du glaubst, daß ich sterben werde.«

»Ich glaube, daß dir ein Ausweg einfällt. Das glaube ich wirklich. Aber trotzdem habe ich Angst.«

»Angst, daß ich sterben werde.«

»Angst, dich zu verlieren.«

»Wäre das so schrecklich? Mich zu verlieren?«

»O Gott«, flüsterte er.

»Würdest du mich eine Stunde lang vermissen?« beharrte sie. »Einen Tag lang? Ein Jahr lang?«

Was wollte sie von ihm? Die Versicherung, daß er sich an sie erinnern würde, wenn sie tot war. Daß jemand um sie trauern würde. Warum bezweifelte sie das? Kannte sie ihn noch immer nicht?

Vielleicht war sie so menschlich, daß sie einfach eine Bestätigung von Dingen brauchte, die sie bereits wußte.

»Auf ewig«, sagte er.

Nun lachte sie. Verspielt. »Dm würdest gar nicht so lange leben«, sagte sie.

»Das mußt du mir gerade sagen.«

Als sie diesmal verstummte, meldete sie sich nicht mehr, und Miro war allein mit seinen Gedanken.


Valentine, Jakt und Plikt waren zusammen auf der Brücke geblieben und sprachen darüber, was sie gerade erfahren hatten, versuchten herauszufinden, was das alles zu bedeuten hatte, was geschehen mochte. Sie gelangten lediglich zu der Schlußfolgerung, daß sie die Zukunft zwar nicht ergründen konnten, sie aber wahrscheinlich viel besser als ihre schlimmsten Befürchtungen und keinesfalls so gut wie ihre besten Hoffnungen werden würde. War das nicht immer der Lauf der Welt?

»Ja«, sagte Plikt. »Bis auf die Ausnahmen.«

So war Plikt nun einmal. Wenn sie nicht gerade unterrichtete, sagte sie nur wenig, doch das, was sie sagte, war wie geschaffen dazu, ein Gespräch zu beenden. Plikt stand auf, um die Brücke zu verlassen und sich zu ihrem elend unbequemen Bett zu begeben; wie üblich versuchte Valentine sie zu überreden, auf das andere Sternenschiff zurückzukehren.

»Varsam und Ro wollen mich nicht auf ihren Kabine haben«, sagte Plikt.

»Sie haben nicht das geringste dagegen.«

»Valentine«, sagte Jakt, »Plikt will nicht auf das andere Schiff zurück, weil sie nichts verpassen will.«

»Oh«, sagte Valentine.

Plikt grinste. »Gute Nacht.«

Kurz darauf verließ auch Jakt die Brücke. Bevor er ging, legte er einen Moment lang die Hand auf Valentines Schulter. »Ich komme gleich«, sagte sie. Und sie meinte es in diesem Augenblick auch so und wollte ihm gleich folgen. Statt dessen blieb sie jedoch auf der Brücke, dachte mißmutig nach, versuchte, den Sinn in einem Universum zu sehen, das alle nichtmenschlichen Spezies, die die Menschheit jemals gekannt hatte, dem Risiko der gleichzeitigen Auslöschung aussetzte. Der Schwarmkönigin, die Pequeninos und nun Jane, die einzige ihrer Art, vielleicht die einzige dieser Art, die jemals existieren konnte. Eine beträchtliche Ansammlung intelligenten Lebens, das jedoch nur einigen wenigen bekannt war. Und alle davon bedroht, ausgemerzt zu werden.

Zumindest wird Ender begreifen, daß das der natürliche Verlauf der Dinge ist, daß er vielleicht doch nicht verantwortlich für die Vernichtung der Krabbler vor dreitausend Jahren ist, wie er immer gedacht hat. Xenozid muß im Universum eingebaut sein. Keine Gnade, nicht einmal für die größten Spieler des Matches.

Wie hatte sie jemals etwas anderes denken können? Warum sollten intelligente Spezies immun gegen die Bedrohung der Auslöschung sein, die über jeder Spezies schwebt, die jemals existierte?

Etwa eine Stunde mußte vergangen sein, nachdem Jakt die Brücke verlassen hatte, als Valentine schließlich ihr Terminal ausschaltete und sich erhob, um zu Bett zu gehen. Aus einer Laune heraus blieb sie jedoch noch einmal stehen und sprach in die Luft. »Jane?« sagte sie. »Jane?«

Keine Antwort.

Sie hatte auch keine erwartet. Miro trug das Juwel im Ohr. Miro und auch Ender. Wie viele Menschen konnte Jane denn gleichzeitig überwachen? Vielleicht waren zwei das Maximum.

Oder vielleicht zweitausend. Oder zwei Millionen. Was wußte Valentine denn schon von den Grenzen eines Wesens, das als ein Phantom im philotischen Netz existierte? Selbst wenn Jane sie gehört hatte, hatte Valentine kein Recht, eine Antwort auf ihren Ruf zu erwarten.

Valentine blieb im Gang stehen, direkt zwischen Miros Tür und der zu der Kabine, die sie mit Jakt teilte. Die Türen waren nicht schalldicht. Sie hörte Jakts leises Schnarchen in ihrer Kabine. Und sie hörte ein anderes Geräusch. Miros Atem. Er schlief nicht. Vielleicht weinte er. Sie hatte nicht drei Kinder großgezogen, ohne dieses unregelmäßige, schwere Atmen erkennen zu können.

Er ist nicht mein Kind. Ich sollte mich nicht einmischen.

Sie stieß die Tür auf; sie öffnete sich geräuschlos, doch Licht fiel auf das Bett. Miros Weinen verstummte augenblicklich, doch er betrachtete sie aus geschwollenen Augen.

»Was willst du?« sagte er.

Sie betrat die Kabine und setzte sich neben seiner Koje auf den Boden, so daß ihre Gesichter nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. »Um dich selbst hast du nie geweint, nicht wahr?« sagte sie.

»Ein paar Mal.«

»Aber heute abend weinst du um sie.«

»Um mich genauso wie um sie.«

Valentine beugte sich näher, legte den Arm um ihn, zog seinen Kopf an ihre Schulter.

»Nein«, sagte er. Doch er löste sich nicht von ihr. Und nach einem Augenblick regte er sich unbeholfen, um sie zu umarmen. Er weinte nicht mehr, aber er duldete, daß sie ihn eine oder zwei Minuten lang festhielt. Vielleicht half es ja. Valentine konnte es nicht wissen.

Dann war er fertig. Er zog sich zurück, rollte sich auf den Rücken. »Es tut mir leid«, sagte er.

»Gern geschehn«, erwiderte sie. Sie glaubte daran, auf das zu antworten, was die Menschen meinten, nicht, was sie sagten.

»Erzähle Jakt nichts davon«, flüsterte er.

»Da gibt es nichts zu erzählen«, sagte sie. »Wir hatten ein gutes Gespräch.«

Sie stand auf, ging und zog die Tür hinter sich zu. Er war ein guter Junge. Ihr gefiel sein Eingeständnis, daß ihm nicht gleichgültig war, was Jakt von ihm hielt. Und was spielte es schon für eine Rolle, wenn in seinen Tränen heute abend Selbstmitleid enthalten war? Sie hatte auch schon ein paar solcher Tränen vergossen. Die Trauer, erinnerte sie sich, gilt fast immer dem Verlust des Trauernden.

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