Kapitel 9 Holzkopf


›Ich habe mit Ender und seiner Schwester, Valentine, gesprochen. Sie ist Historikerin.‹

›Erkläre dies.‹

›Sie sucht in den Büchern, um die Geschichten der Menschen herauszufinden, und schreibt dann Geschichten über das, was sie findet, und gibt sie allen anderen Menschen.‹

›Warum schreibt sie die Geschichten erneut, wenn sie doch schon niedergeschrieben wurden?‹

›Weil man sie nicht verstanden hat. Sie hilft den Leuten, sie zu verstehen.‹

›Wenn die Leute, die dieser Zeit näher waren, die Geschichten nicht verstanden haben, wie kann sie, die sie doch später kommt, sie denn besser verstehen?‹

›Das habe ich mich auch gefragt, und Valentine hat gesagt, daß sie sie nicht immer besser versteht. Doch die alten Schreiber haben verstanden, was die Geschichten für die Menschen ihrer Zeit bedeuteten, und sie versteht, was die Geschichten für die Menschen ihrer Zeit bedeuten.‹

›Also verändert sich die Geschichte.‹

›Ja.‹

›Und doch halten sie die Geschichte jedesmal für eine wahre Erinnerung?‹

›Valentine erklärte mir, einige Geschichten seien wahr, andere wahrheitsgetreu. Ich habe nichts davon verstanden.‹

›Warum erinnern sie sich nicht einfach an ihre Geschichten, wie sie das erste Mal genau erzählt wurden? Dann müßten sie sich nicht ständig anlügen.‹


Qing-jao setzte sich mit geschlossenen Augen vor ihr Terminal und dachte nach. Wang-mu bürstete Qing-jaos Haar; schon allein der Atem des Mädchens war ihr ein Trost.

Dies war eine Zeit, da Wang-mu frei sprechen konnte, ohne Angst, sie zu unterbrechen. Und weil Wang-mu Wang-mu war, nahm sie das Haarebürsten wahr, um Fragen zu stellen. Sie hatte so viele Fragen.

Die ersten paar Tage hatten ihre Fragen stets dem gegolten, was die Götter sagten. Natürlich war Wang-mu sehr erleichtert gewesen, als sie erfuhr, daß es fast immer genügte, eine einzige Linie einer Holzmaserung zu verfolgen – sie hatte beim ersten Mal befürchtet, Qing-jao müsse jeden Tag die Linien auf dem gesamten Boden verfolgen.

Doch sie hatte noch immer Fragen, die der Reinigung galten. Warum stehst du nicht einfach jeden Morgen auf, verfolgst eine Linie und bist damit fertig? Warum legst du nicht einfach einen Teppichboden aus? Es war so schwer, ihr zu erklären, daß man die Götter nicht einfach mit so törichten Tricks täuschen konnte.

Was würde geschehen, wenn es auf der ganzen Welt kein Holz gäbe? Würden die Götter dich wie Papier verbrennen? Würde ein Drache kommen und dich davontragen?

Qing-jao konnte Wang-mus Fragen nicht beantworten, konnte nur sagen, daß die Götter es eben von ihr verlangten. Wenn es keine Holzmaserungen gäbe, würden die Götter nicht von ihr verlangen, Linien zu verfolgen. Woraufhin Wang-mu erwiderte, dann solle man doch ein Gesetz gegen Holzböden machen, damit Qing-jao ihre Ruhe habe.

Die, die die Stimmen der Götter nie gehört hatten, konnten es einfach nicht verstehen.

Heute jedoch hatten Wang-mus Fragen nichts mit den Göttern zu tun – oder zumindest zuerst nicht.

»Was hat die Lusitania-Flotte schließlich aufgehalten?« fragte Wang-mu.

Beinahe hätte Qing-jao die Frage mit einem Lachen beantwortet: Wenn ich das wüßte, könnte ich mich ausruhen! Doch dann begriff sie, daß Wang-mu eigentlich nicht einmal wissen sollte, daß die Lusitania-Flotte verschwunden war.

»Wieso weißt du überhaupt etwas über die Lusitania-Flotte?«

»Ich kann doch lesen, oder?« sagte Wang-mu ein wenig zu stolz.

Doch warum sollte sie nicht stolz sein? Qing-jao hatte ihr wahrheitsgemäß gesagt, daß sie sehr schnell lernte und vieles selbst herausbekam. Sie war sehr intelligent, und Qing-jao wäre nicht überrascht, wenn Wang-mu mehr verstünde, als man ihr offen sagte.

»Ich sehe, was du auf deinem Terminal hast«, sagte Wang-mu, »und es hat immer mit der Lusitania-Flotte zu tun. Außerdem hast du an meinem ersten Tag hier mit deinem Vater darüber gesprochen. Ich verstand kaum etwas von dem, was du sagtest, doch ich wußte, daß es mit der Lusitania-Flotte zu tun haben mußte.« Wang-mus Stimme war plötzlich von Abscheu erfüllt. »Mögen die Götter dem Mann, der diese Flotte losgeschickt hat, ins Gesicht pissen.«

Ihre Wut war schockierend genug; die Tatsache, daß Wang-mu gegen den Sternenwege-Kongreß sprach, war unglaublich.

»Weißt du, wer diese Flotte losgeschickt hat?« fragte Qing-jao.

»Natürlich. Es waren die egoistischen Politiker im Sternenwege-Kongreß, die damit jede Hoffnung zerstören wollen, daß eine Kolonie ihre Unabhängigkeit gewinnen kann.«

Also wußte Wang-mu, daß sie verräterisch sprach. Qing-jao erinnerte sich voller Abscheu an ihre ähnlichen Worte, die sie vor langer Zeit gesprochen hatte; daß sie in ihrer Gegenwart wiederholt wurden – und noch dazu von ihrer geheimen Magd –, war ungeheuerlich. »Was weißt du von diesen Dingen? Sie betreffen den Kongreß, und du sprichst von Unabhängigkeit und Kolonien und…«

Wang-mu war schon auf den Knien und berührte mit dem Kopf den Boden. Qing-jao schämte sich plötzlich, so barsch gesprochen zu haben.

»Oh, steh auf, Wang-mu.«

»Du bist böse auf mich.«

»Ich bin schockiert, dich so sprechen zu hören, das ist alles. Wo hast du diesen Unsinn aufgeschnappt?«

»Alle sagen das«, entgegnete Wang-mu.

»Nicht alle«, sagte Qing-jao. »Vater sagt so etwas nie. Andererseits sagt Demosthenes so etwas ständig.« Qing-jao erinnerte sich daran, wie sie sich gefühlt hatte, als sie Demosthenes' Worte zum ersten Mal gelesen hatte – wie logisch und richtig und schön sie geklungen hatten. Erst später, nachdem Vater ihr erklärt hatte, daß Demosthenes der Feind der Herrscher und damit auch der Götter war, erst da hatte sie begriffen, wie trügerisch die Worte des Verräters waren, die sie fast zu dem Glauben verführt hatten, die Lusitania-Flotte sei böse. Wenn Demosthenes imstande gewesen war, beinahe ein gebildetes Mädchen wie Qing-jao zu verführen, war es kein Wunder, daß sie hörte, wie diese Worte wie Wahrheiten vom Mund eines gewöhnlichen Mädchens wiederholt wurden.

»Wer ist Demosthenes?« fragte Wang-mu.

»Ein Verräter, der anscheinend mehr Erfolg hat, als alle annehmen.« Wußte der Sternenwege-Kongreß, daß Demosthenes' Worte von Menschen wiederholt wurden, die noch nie von ihm gehört hatten? Begriff irgend jemand, was das bedeutete? Demosthenes' Ideen waren nun die gemeine Weisheit des gemeinen Volkes. Die Dinge hatten einen gefährlicheren Verlauf genommen, als Qing-jao es für möglich gehalten hätte. »Schon gut«, sagte Qing-jao. »Erzähle mir von der Lusitania-Flotte.«

»Wie kann ich das, wenn ich dich damit wütend mache?«

Qing-jao wartete geduldig.

»Also gut«, sagte Wang-mu, doch sie schaute noch immer vorsichtig drein. »Vater sagt – und das sagt auch Pan Ku-wei, sein sehr weiser Freund, der sich einst der Prüfung für den öffentlichen Dienst unterzog und sie fast bestanden hätte…«

»Was sagen sie?«

»Daß es nicht rechtens vom Kongreß ist, eine große – eine so große – Flotte auszuschicken, um eine winzige Kolonie anzugreifen, nur weil sie sich weigert, zwei ihrer Bürger zum Prozeß auf eine andere Welt zu schicken. Sie sagen, die Gerechtigkeit sei völlig auf der Seite Lusitanias, weil es bedeuten würde, sie für immer ihren Familien und Freunden wegzunehmen, wenn man sie von einem Planeten zum anderen schicken würde. Das wäre eine Verurteilung vor dem Prozeß.«

»Und was ist, wenn sie schuldig sind?«

»Das müssen die Gerichte auf ihrer eigenen Welt entscheiden, wo die Menschen sie kennen und ihr Verbrechen gerecht beurteilen können, und nicht der Kongreß auf einer fernen Welt, wo er nichts weiß und noch weniger versteht.« Wang-mu zog den Kopf ein. »Das sagt Pan Ku-wei.«

Qing-jao dämmte ihren Ekel über Wang-mus verräterische Worte ein; es war wichtig zu wissen, was das gemeine Volk dachte, selbst wenn Qing-jao überzeugt war, daß die Götter wütend auf sie sein würden, weil es schon Verrat war, sich solche Worte überhaupt anzuhören. »Also glaubst du, man hätte die Lusitania-Flotte niemals ausschicken sollen?«

»Was hindert sie daran, eine Flotte gegen Weg zu schicken, wenn sie auch eine ohne jeden Grund gegen Lusitania schicken können? Wir sind auch eine Kolonie, nicht eine der Hundert Welten, kein Mitglied des Sternenwege-Kongresses. Was hindert sie daran, einfach zu erklären, Han Fei-tzu sei ein Verräter, und ihn zu einem fernen Planeten reisen zu lassen, von dem er erst nach sechzig Jahren zurückkehren wird?«

Der Gedanke war schrecklich, und es war eine Zumutung von Wang-mu, ihren Vater ins Gespräch zu bringen, nicht… weil sie eine Dienerin war, sondern weil die Vorstellung, der große Han Fei-tzu könne eines Verbrechens angeklagt werden, von jedem ungehörig war. Qing-jaos Fassung ließ sie einen Augenblick lang im Stich, und sie verschaffte ihrer Wut Luft: »Der Sternenwege-Kongreß würde meinen Vater niemals wie einen Verbrecher behandeln!«

»Vergib mir, Qing-jao. Du hast mir gesagt, ich solle wiederholen, was mein Vater gesagt hat.«

»Du meinst, dein Vater hat von Han Fei-tzu gesprochen?«

»Alle Menschen von Jonlei wissen, daß Han Fei-tzu der ehrenwerteste Mann auf Weg ist. Es ist unser größter Stolz, daß das Haus Han zu unserer Stadt gehört.«

Also hast du genau gewußt, dachte Qing-jao, wie ehrgeizig du warst, als du dich angeschickt hast, die Magd seiner Tochter zu werden.

»Ich wollte nicht respektlos sein, und sie wollten es auch nicht. Aber stimmt es nicht, daß der Kongreß Weg befehlen könnte, deinen Vater zu einem anderen Planeten zu schicken, auf dem ihm der Prozeß gemacht werden soll, wenn er es wollte?«

»Sie würden niemals…«

»Aber könnten sie es?« beharrte Wang-mu.

»Weg ist eine Kolonie«, sagte Qing-jao. »Das Gesetz erlaubt es, doch sie würden niemals…«

»Aber warum sollten sie es nicht bei Weg machen, wenn sie es bei Lusitania gemacht haben?«

»Weil die Xenologen auf Lusitania sich Verbrechen schuldig gemacht haben, die…«

»Die Menschen auf Lusitania sind anderer Meinung. Ihre Regierung hat sich geweigert, sie zum Prozeß zu schicken.«

»Das ist am schlimmsten daran. Wie kann eine planetare Regierung glauben, sie wisse es besser als der Kongreß?«

»Aber sie wissen alles«, sagte Wang-mu, als sei diese Vorstellung so natürlich, daß jeder sie einsehen müssen. »Sie kennen diese Menschen, diese Xenologen. Wenn der Sternenwege-Kongreß Weg befehlen würde, Han Fei-tzu wegen eines Verbrechens, von dem wir wissen, daß er es nicht begangen hat, zu einem Prozeß auf einem anderen Planeten zu schicken, würden wir dann nicht auch rebellieren, bevor wir einen so großen Mann fortschicken? Und dann würden sie eine Flotte gegen uns in Marsch setzen.«

»Der Sternenwege-Kongreß ist die Quelle aller Gerechtigkeit auf den Hundert Welten.« Qing-jao sprach mit Endgültigkeit. Die Diskussion war vorbei.

Unverschämterweise bewahrte Wang-mu kein Schweigen. »Aber Weg ist keine der Hundert Welten, nicht wahr?« sagte sie. »Wir sind nur eine Kolonie. Sie können tun, was sie wollen, und das ist nicht gerecht.«

Wang-mu nickte, als glaube sie, völlig gesiegt zu haben. Qing-jao hätte fast gelacht. Sie hätte sogar gelacht, wäre sie nicht so wütend gewesen. Zum Teil war sie wütend, weil Wang-mu sie oft unterbrochen und ihr sogar widersprochen hatte, etwas, das ihre Lehrer voller Bedacht immer vermieden hatten. Doch Wang-mus Aufsässigkeit war wahrscheinlich positiv, und Qing-jaos Verärgerung war ein Zeichen dafür, daß sie sich an den unverdienten Respekt gewöhnt hatte, den die Leute ihren Ideen entgegenbrachten, ganz einfach, weil sie über die Lippen einer Gottberührten kamen. Wang-mu mußte ermutigt werden, so zu ihr zu sprechen. Dieser Teil von Qing-jaos Verärgerung war falsch, und sie mußte ihn loswerden.

Doch ein großer Teil von Qing-jaos Verärgerung stammte daher, wie Wang-mu von dem Sternenwege-Kongreß gesprochen hatte. Es war, als billige Wang-mu dem Kongreß nicht die höchste Autorität über die gesamte Menschheit zu; als glaube Wang-mu, Weg sei wichtiger als der kollektive Wille aller Welten. Auch wenn das Unvorstellbare geschehen und Han Fei-tzu befohlen werden sollte, sich auf einer hundert Lichtjahre entfernten Welt einem Prozeß zu stellen, würde er es ohne Widerspruch tun – und er würde wütend werden, sollte irgend jemand auf Weg zum geringsten Widerstand aufrufen. Wie Lusitania zu rebellieren? Undenkbar. Qing-jao fühlte sich schmutzig, wenn sie nur daran dachte.

Schmutzig. Unrein. Allein solch ein rebellischer Gedanke ließ sie nach der Linie einer Holzmaserung suchen.

»Qing-jao!« rief Wang-mu, als Qing-jao niederkniete. »Bitte sage mir, daß die Götter dich nicht bestrafen, weil du hören mußtest, was ich gesagt habe!«

»Sie bestrafen mich nicht«, sagte Qing-jao. »Sie reinigen mich.«

»Aber es waren nicht einmal meine Worte, Qing-jao. Es waren die Worte von Menschen, die nicht einmal hier sind.«

»Es waren unreine Worte, wer auch immer sie gesprochen haben mag.«

»Aber es ist nicht gerecht, daß du dich für Ideen reinigen mußt, an die du nie gedacht oder geglaubt hast!«

Es wurde immer schlimmer! Würde Wang-mu niemals aufhören? »Muß ich jetzt hören, daß die behauptest, die Götter selbst seien ungerecht?«

»Sie sind es, wenn sie dich wegen der Worte anderer Leute bestrafen!«

Das Mädchen war unverschämt. »Bist du jetzt klüger als die Götter?«

»Sie könnten dich genausogut bestrafen, weil du von der Schwerkraft angezogen wirst oder weil Regen auf dich fällt!«

»Wenn sie mir befehlen, mich wegen solcher Dinge zu reinigen, dann tue ich es und nenne es gerecht«, sagte Qing-jao.

»Dann hat Gerechtigkeit keine Bedeutung!« rief Wang-mu. »Wenn du dieses Wort aussprichst, meinst du damit alles, was die Götter zufällig entscheiden. Doch wenn ich das Wort ausspreche, meine ich Fairneß, meine ich, daß Menschen nur für etwas bestraft werden, das sie absichtlich getan haben, meine ich damit…«

»Ich muß das befolgen, was die Götter mit Gerechtigkeit meinen.«

»Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit, was immer die Götter sagen!«

Fast hätte sich Qing-jao vom Boden erhoben und ihrer geheimen Magd eine Ohrfeige gegeben. Es wäre ihr Recht gewesen, denn Wang-mu verursachte ihr genauso viel Schmerzen, als hätte sie sie geschlagen. Doch es entsprach nicht Qing-jaos Art, einen Menschen zu schlagen, der nicht zurückschlagen konnte. Außerdem gab es hier ein viel interessanteres Rätsel. Schließlich hatten die Götter Wang-mu zu ihr geschickt – dessen war sich Qing-jao bereits sicher. Anstatt also direkt mit Wang-mu zu streiten, sollte Qing-jao zu verstehen versuchen, was die Götter meinten, indem sie ihr eine Dienerin schickten, die so schändliche, respektlose Dinge sagte.

Die Götter hatten Wang-mu veranlaßt zu sagen, es sei ungerecht, Qing-jao zu bestrafen, nur weil sie sich die respektlose Ansicht einer anderen Person angehört hatte. Vielleicht war Wang-mus Behauptung richtig. Doch es traf auch zu, daß die Götter nicht ungerecht sein konnten. Daher durfte Qing-jao nicht bestraft werden, nur weil sie die verräterische Meinung des Volkes gehört hatte. Nein, Qing-jao mußte sich reinigen, weil irgendein Teil von ihr im tiefsten Herzen diese Meinung glauben mußte. Sie mußte sich reinigen, weil sie tief im Innern das himmlische Mandat des Sternenwege-Kongresses anzweifelte, weil sie noch immer glaubte, es sei nicht gerecht.

Qing-jao kroch augenblicklich zu der nächsten Wand und begann nach der richtigen Linie zu suchen, die sie verfolgen konnte. Aufgrund von Wang-mus Worten hatte Qing-jao eine geheime Unreinheit in sich selbst entdeckt. Die Götter hatten ihr einen weiteren Schritt ermöglicht, die dunkelsten Gefilde in ihr selbst besser kennenzulernen, so daß sie eines Tages vielleicht völlig mit Licht erfüllt war und sich damit den Namen verdiente, der bislang nur Hohn und Spott war. Ein Teil von mir bezweifelt die Rechtschaffenheit des Sternenwege-Kongresses. O Götter, um meiner Ahnen, meines Volkes, meiner Herrscher und letztlich auch um mich willen, läutert diesen Zweifel in mir und macht mich rein!

Als sie die Linie verfolgt hatte – und es war nur eine einzige Linie erforderlich, um sie zu reinigen, was ein gutes Zeichen dafür war, daß sie etwas Wahres gelernt hatte –, saß Wang-mu da und beobachtete sie. Qing-jaos Wut war verraucht, und sie war Wang-mu sogar dankbar, ein unwissendes Werkzeug der Götter gewesen zu sein, das ihr geholfen hatte, eine neue Wahrheit zu lernen. Doch Wang-mu mußte trotzdem begreiflich gemacht werden, daß sie unverschämt gewesen war.

»In diesem Haus wohnen treue Diener des Sternenwege-Kongresses«, sagte Qing-jao mit leiser Stimme und so freundlichem Gesichtsausdruck, wie sie ihn nur aufsetzen konnte. »Und wenn du eine treue Dienerin dieses Hauses bist, wirst du auch dem Kongreß mit ganzem Herzen dienen.« Wie konnte sie Wang-mu erklären, auf wie schmerzhafte Art und Weise sie selbst diese Lektion gelernt hatte – und noch immer lernte? Wang-mu sollte ihr dabei helfen und es ihr nicht zusätzlich erschweren.

»Heilige, ich wußte es nicht«, sagte Wang-mu, »ahnte es nicht einmal. Ich habe immer gehört, daß der Name Han Fei-tzu als edelster Diener von Weg genannt wurde. Ich dachte, Ihr würdet Weg dienen, nicht dem Kongreß, oder ich hätte nie…«

»Nie versucht, hier eine Anstellung zu finden?«

»Nie so barsch über den Kongreß gesprochen«, sagte Wang-mu. »Ich würde dir sogar dienen, wenn du im Haus eines Drachen wohntest.«

Vielleicht wohne ich in einem solchen, dachte Qing-jao. Vielleicht ist der Gott, der mich reinigt, ein Drache, kalt und heiß, schrecklich und schön.

»Vergiß nicht, Wang-mu, die Welt namens Weg ist nicht der Weg selbst, sondern wurde nur so genannt, um uns daran zu erinnern, jeden Tag gemäß des wahren Weges zu leben. Mein Vater und ich dienen dem Kongreß, weil er das Mandat des Himmels hat, und so verlangt der Weg, daß unser Dienst sogar über die Wünsche oder Bedürfnisse der Welt namens Weg hinausgeht.«

Wang-mu betrachtete sie mit großen Augen. Hatte sie begriffen? Glaubte sie daran? Egal – mit der Zeit würde sie noch daran glauben.

»Geh nun, Wang-mu. Ich habe zu arbeiten.«

»Ja, Qing-jao.« Wang-mu erhob sich augenblicklich und entfernte sich rückwärts und unter Verbeugungen. Qing-jao wandte sich wieder ihrem Terminal zu. Doch als sie sich anschickte, weitere Berichte ins Display aufzurufen, wurde sie sich bewußt, daß außer ihr noch jemand im Raum war. Sie wirbelte mit dem Stuhl herum, und auf der Schwelle stand Wang-mu.

»Was ist noch?« fragte Qing-jao.

»Ist es die Pflicht einer geheimen Magd, ihrer Herrin jede Weisheit zu verraten, die ihr in den Sinn kommt, selbst wenn sie sich als Torheit erweisen sollte?«

»Du kannst zu mir sagen, was du willst«, entgegnete Qing-jao. »Habe ich dich jemals bestraft?«

»Dann vergib mir bitte, meine Qing-jao, wenn ich etwas über diese große Aufgabe zu sagen wage, an der du arbeitest.«

Was wußte Wang-mu von der Lusitania-Flotte? Wang-mu war eine gelehrige Schülerin, doch Qing-jao unterrichtete sie in jedem Fach noch auf so primitiver Ebene, daß der Gedanke, Wang-mu könne auch nur die Probleme erfassen, geschweige denn eine Antwort wissen, einfach absurd war. Nichtsdestotrotz hatte Vater sie gelehrt: Diener sind immer glücklicher, wenn sie wissen, daß ihre Stimmen bei ihrem Herren Gehör finden. »Bitte sag es mir«, fuhr Qing-jao fort. »Wie kannst du etwas Törichteres sagen als das, was ich bereits gesagt habe?«

»Meine geliebte ältere Schwester«, sagte Wang-mu, »ich habe diese Idee eigentlich von dir. Du hast so oft gesagt, daß nichts, was der Wissenschaft und Geschichte bekannt ist, veranlaßt haben könnte, daß die Flotte so vollständig und gleichzeitig verschwindet.«

»Aber es ist geschehen«, sagte Qing-jao, »also muß es doch möglich sein.«

»Mir kam etwas in den Sinn, meine süße Qing-jao«, sagte Wang-mu, »das du mir erklärt hast, als wir über Logik sprachen. Über Ursache und Wirkung. Die ganze Zeit über hast du nach der Ursache gesucht – wieso die Flotte verschwinden konnte. Aber hast du auch nach der Wirkung gesucht – was jemand damit erreichen will, wenn er die Flotte von uns abschneidet oder sogar vernichtet?«

»Jeder weiß, warum die Leute die Flotte aufhalten wollen. Sie versuchen, die Rechte der Kolonien zu schützen, oder haben den lächerlichen Verdacht, der Kongreß wolle die Pequeninos mit der gesamten Kolonie vernichten. Milliarden von Menschen wollen die Flotte aufhalten. Sie alle sind verräterisch im Herzen und Feinde der Götter.«

»Aber jemand hat es wirklich getan«, sagte Wang-mu. »Ich dachte nur, da du nicht herausfinden kannst, was mit der Flotte geschehen ist, könntest du vielleicht herausfinden, wer es geschehen ließ, und das wird dich dazu führen, wie sie es gemacht haben.«

»Wir wissen nicht einmal, ob es überhaupt einen Wer gibt«, entgegnete Qing-jao. »Es könnte ein Was gewesen sein. Natürliche Phänomene haben keine Absicht im Sinn, denn sie haben gar keinen Sinn oder Verstand.«

Wang-mu senkte den Kopf. »Dann habe ich deine Zeit verschwendet, Qing-jao. Bitte vergib mir. Ich hätte gehen sollen, als du es mir befohlen hast.«

»Es ist schon in Ordnung«, sagte Qing-jao.

Wang-mu war schon fort; Qing-jao wußte nicht, ob ihre Dienerin ihre beruhigenden Worte noch gehört hatte. Es spielt keine Rolle, dachte Qing-jao. Falls Wang-mu beleidigt sein sollte, mache ich es später wieder gut. Zu glauben, es könne mir bei meiner Aufgabe helfen, war nett von dem Mädchen; ich werde dafür sorgen, daß sie ein so eifriges Herz hat.

Nachdem Wang-mu das Zimmer verlassen hatte, kehrte Qing-jao an ihr Terminal zurück. Sie blätterte müßig die Berichte auf dem Display ihres Terminals durch. Sie hatte sie alle schon studiert und nichts gefunden, was ihr weiterhalf. Warum sollte es diesmal anders sein? Vielleicht zeigten diese Berichte und Zusammenfassungen ihr nichts, weil es nichts zu zeigen gab. Vielleicht war die Flotte verschwunden, weil irgendein Gott zum Berserker geworden war; es gab Geschichten, daß so etwas in alten Zeiten schon vorgekommen war. Vielleicht gab es keinen Beweis für eine menschliche Einmischung, weil Menschen gar nicht beteiligt waren. Sie fragte sich, was Vater dazu sagen würde. Was würde der Kongreß gegen eine verrückt gewordene Gottheit unternehmen? Sie konnten noch nicht einmal diesen verräterischen Schriftsteller Demosthenes aufspüren – welche Hoffnung hatten sie, einen Gott aufzuspüren und auszuschalten?

Wer auch immer Demosthenes ist, er lacht sich in diesem Augenblick ins Fäustchen, dachte Qing-jao. Seine ganze Arbeit galt dem Ziel, das Volk zu überzeugen, es sei nicht rechtens von der Regierung, die Lusitania-Flotte auszuschicken, und nun wurde die Flotte aufgehalten, genau, wie Demosthenes es wollte.

Genau, wie Demosthenes es wollte. Zum ersten Mal stellte Qing-jao eine geistige Verbindung her, die so offensichtlich war, daß sie nicht glauben konnte, noch nie daran gedacht zu haben. Sie war sogar so offensichtlich, daß die Polizei vieler Städte davon ausgegangen war, bekannte Gefolgsleute von Demosthenes müßten mit Sicherheit mit dem Verschwinden der Flotte zu tun haben. Sie hatten alle Verdächtigen zusammengetrieben und versucht, ihnen Geständnisse abzupressen. Doch natürlich hatte niemand Demosthenes selbst befragt, denn niemand wußte, wer er war.

Demosthenes war so klug, daß er trotz aller Nachforschungen der Kongreßpolizei jahrelang ein genauso flüchtiges Wesen war wie die Ursache des Verschwindens der Flotte. Wenn er den einen Trick bewirken konnte, warum denn nicht auch den anderen? Wenn ich Demosthenes finde, finde ich vielleicht auch heraus, wie die Flotte von uns abgeschnitten wurde. Nicht, daß ich die geringste Ahnung hätte, wo ich mit dem Suchen anfangen soll. Aber es ist zumindest eine neue Annäherung an das Problem. Zumindest bedeutet es, daß ich nicht immer und immer wieder dieselben leeren, nutzlosen Berichte lesen muß.

Plötzlich erinnerte sich Qing-jao, wer nur vor einem Moment fast genau den gleichen Vorschlag gemacht hatte. Sie fühlte, wie sie errötete; das Blut schoß in ihre Wangen. Wie arrogant war es doch von mir, Wang-mu zu tadeln, sie wegen der Vorstellung zu schelten, sie könne mir bei meiner erhabenen Aufgabe helfen. Und nun, keine fünf Minuten später, ist der Gedanke, den sie in meinem Verstand gepflanzt hat, zu einem Plan aufgeblüht. Selbst wenn dieser Plan fehlschlagen sollte, war sie diejenige, die ihn mir gab oder mich zumindest daran denken ließ. Also war es töricht von mir, sie für töricht zu halten. Tränen der Scham füllten Qing-jaos Augen.

Dann dachte sie an einige berühmte Zeilen eines Gedichts ihrer Vorfahrin-des-Herzens.

Ich will die

Brombeerblüten zurückrufen

die gefallen sind

obwohl Birnenblüten bleiben

Die Dichterin Li Qing-jao wußte, wie schmerzhaft es war, Worte zu bedauern, die schon über unsere Lippen gekommen sind und niemals zurückgenommen werden können. Doch sie war weise genug, um sich daran zu erinnern, daß, obwohl diese Worte gesprochen wurden, neue darauf warten, gesagt zu werden, wie die Birnenblüten.

Um über die Schande hinwegzukommen, so arrogant gewesen zu sein, wiederholte Qing-jao alle Worte des Gedichts, oder fing zumindest damit an. Doch als sie an die Zeile

Drachenschiffe auf dem Fluß

kam, wandten sich ihre Gedanken der Lusitania-Flotte zu, und sie stellte sich all diese Sternenschiffe als Flußboote vor, die grell bemalt nun mit der Strömung trieben, so fern vom Ufer, daß sie nicht mehr gehört werden konnten, ganz gleich, wie laut sie riefen.

Von Drachenschiffen glitten ihre Gedanken zu Flugdrachen über, und nun stellte sie sich die Lusitania-Flotte als Drachen mit gerissenen Leinen vor, die vom Wind fortgetragen wurden und nicht mehr mit dem Kind verbunden waren, das sie ursprünglich hatte fliegen lassen. Wie schön, sie frei zu sehen; doch wie schrecklich mußte es für sie sein, die sich die Freiheit nie ersehnt hatten.

Ich fürchtete nicht die zornigen Winde

und den heftigen Regen

Die Worte des Gedichts kamen ihr wieder in den Sinn. Ich fürchtete nicht. Zornige Winde. Heftiger Regen. Ich fürchtete mich nicht, als

Wir tranken auf unser Glück

mit warmem Brombeerwein

nun kann ich mir nicht vorstellen

wie ich diese Zeit auferstehen lassen kann

Meine Vorfahrin-des-Herzens konnte ihre Furcht wegtrinken, dachte Qing-jao, weil sie jemanden hatte, mit dem sie trinken konnte. Und selbst jetzt,

Allein auf meiner Matte mit einer Tasse

traurig ins Nichts blickend

erinnert sich sich Dichterin an ihre verlorene Gesellschaft. An wen erinnere ich mich jetzt? dachte Qing-jao. Wo ist mein zärtlicher Liebhaber? Was für ein Zeitalter muß es damals gewesen sein, als die große Li Qing-jao noch sterblich war und Männer und Frauen als zärtliche Freunde Zusammensein konnten, ohne sich Sorgen darüber zu machen, zu wem die Götter sprechen und zu wem nicht. Damals konnte eine Frau ein Leben führen, bei dem sie selbst in ihrer Einsamkeit Erinnerungen hatte. Ich kann mich nicht einmal an das Gesicht meiner Mutter erinnern. Nur die flachen Bilder; ich kann mich nicht erinnern, wie sie das Gesicht drehte und bewegte, während ihre Augen mich betrachteten. Ich habe nur meinen Vater, der wie ein Gott ist; ich kann ihn verehren und ihm gehorchen und ihn sogar lieben, doch ich kann in seiner Gegenwart nie ausgelassen, verspielt sein. Wenn ich ihn necke, beobachte ich ihn immer, um mich zu vergewissern, daß er die Art und Weise billigt, wie ich ihn necke. Und Wang-mu; ich sprach so fest darüber, daß wir Freundinnen sein würden, und doch behandle ich sie wie eine Dienerin. Ich vergesse keinen Augenblick lang, zu wem die Götter sprechen und zu wem nicht. Es ist wie eine Mauer, die niemals überwunden werden kann. Ich bin jetzt allein und werde auf ewig allein sein.

Eine klare Kälte kommt durch

die Fenstervorhänge

der Halbmond hinter den goldenen Gittern

Sie erschauderte. Ich und der Mond. Hielten die Griechen ihren Mond nicht für eine kalte Jungfrau, eine Jägerin? Ist es das, was ich jetzt bin? Sechzehn Jahre alt und unberührt

und eine Flöte erklingt

als käme jemand

und ich lausche und lausche, höre aber nie die Melodie von jemandem, der kommt…

Nein. Was sie hörte, waren die fernen Geräusche einer Mahlzeit, die gerade zubereitet wurde; das Klappern von Schüsseln und Löffeln, Gelächter aus der Küche. Nachdem ihr Tagtraum durchbrochen war, hob sie die Hand und wischte die törichten Tränen von ihren Wangen. Wie konnte sie sich für einsam halten, wo sie doch in diesem vollen Haus lebte, in dem sich jeder ihr ganzes Leben lang um sie gekümmert hatte? Ich sitze hier und zitiere Fetzen aus alten Gedichten, wo ich doch eigentlich zu arbeiten hätte.

Und augenblicklich rief sie die Berichte auf, die über Nachforschungen über Demosthenes' Identität erstellt worden waren.

Die Berichte ließen sie einen Augenblick lang glauben, auch dies sei eine Sackgasse. Über drei Dutzend Autoren auf fast ebenso vielen Welten waren verhaftet worden, weil sie unter diesem Namen aufwieglerische Dokumente erstellt hatten. Der Sternenwege-Kongreß war zu der offensichtlichen Schlußfolgerung gelangt: Demosthenes war einfach der Deckname aller Rebellen, die Aufmerksamkeit erregen wollten. Es gab keinen echten Demosthenes, nicht einmal eine organisierte Verschwörung.

Doch Qing-jao hatte ihre Zweifel, was diese Schlußfolgerung betraf. Demosthenes hatte bemerkenswerten Erfolg damit gehabt, auf jeder Welt Ärger zu machen. Konnte es überhaupt jemanden mit soviel Talent unter den Verrätern eines jeden Planeten geben? Wohl kaum.

Außerdem war Qing-jao damals, als sie Demosthenes gelesen hatte, die Kohärenz seiner Schriften aufgefallen. Der einzigartige Zusammenhang seiner Vision – das ließ ihn so verführerisch wirken. Alles schien zusammenzupassen, gemeinsam Sinn zu ergeben.

Hatte Demosthenes nicht auch die Hierarchie der Fremdheit entworfen? Framling, Ramann, Varelse. Nein, das war vor vielen Jahren geschrieben worden – es mußte ein anderer Demosthenes sein. Benutzten die Verräter wegen der Hierarchie des früheren Demosthenes heute noch dessen Namen? Ihre Schriften unterstützten die Unabhängigkeit Lusitanias, des einzigen Planeten, auf dem intelligentes nichtmenschliches Leben gefunden worden war. Da war es nur angemessen, den Namen des Schriftstellers zu benutzen, der der Menschheit zum ersten Mal beigebracht hatte, daß das Universum nicht zwischen Menschen und Nicht-Menschen oder zwischen intelligenten und nicht-intelligenten Spezies aufgeteilt wurde.

Einige Fremde, hatte der frühere Demosthenes gesagt, waren Framlinge – Menschen von einer anderen Welt. Einige waren Ramänner – von einer anderen intelligenten Spezies, aber imstande, mit Menschen zu kommunizieren, so daß wir Unterschiede herausarbeiten und gemeinsam Entscheidungen treffen können. Andere waren Varelse, ›kluge Tiere‹, eindeutig intelligent und doch völlig unfähig, Gemeinsamkeiten mit der Menschheit zu finden. Nur mit den Varelse wäre ein Krieg jemals gerechtfertigt; mit Ramännern könnten Menschen Frieden schließen und sich die bewohnbaren Planeten teilen. Es war eine offene Denkungsart, voller Hoffnung, daß Fremde trotzdem Freunde sein können. Menschen, die so dachten, hätten niemals eine Flotte mit dem Chirurgen an Bord zu einer von einer intelligenten Spezies bewohnten Welt schicken können.

Dies war ein sehr unbehaglicher Gedanke: Der Demosthenes der Hierarchie hätte die Lusitania-Flotte ebenfalls mißbilligt. Fast augenblicklich mußte Qing-jao dagegenhalten. Es spielte keine Rolle, was der alte Demosthenes dachte, nicht wahr? Der neue Demosthenes, der Aufwiegler, war kein weiser Philosoph, der versuchte, die Völker zusammenzubringen. Statt dessen versuchte er, Unzufriedenheit und Zwietracht zwischen den Welten zu säen – Streit zu provozieren, vielleicht sogar Kriege zwischen Framlingen.

Und Demosthenes der Aufwiegler bestand nicht einfach aus vielen Rebellen, die auf verschiedenen Welten arbeiteten. Ihre Computersuche bestätigte es bald. Sicher, man hatte viele Rebellen gefunden, die auf ihrem jeweiligen Planeten unter dem Namen Demosthenes veröffentlicht hatten, doch man brachte sie stets in Verbindung mit kleinen, unwirksamen, nutzlosen Publikationen – und nie mit den wirklich gefährlichen Dokumenten, die auf der Hälfte der Welten gleichzeitig aufzutauchen schienen. Doch eine jede örtliche Polizei erklärte nur allzu gern ihren eigenen kleinen Demosthenes für den Urheber all dieser Schriften, machte ihre Verbeugung und schloß den Fall ab.

Der Sternenwege-Kongreß war mit seiner eigenen Ermittlung nur allzu gern genauso verfahren. Nachdem man mehrere Dutzend Fälle nachgewiesen hatte, bei denen die örtlichen Polizeitruppen Rebellen verhaftet und verurteilt hatten, die zweifelsfrei etwas unter dem Namen Demosthenes veröffentlicht hatten, seufzten die Kongreß-Ermittler zufrieden, erklärten, sie hätten den Beweis erbracht, Demosthenes sei nur ein Deckname und überhaupt keine Person, und stellten ihre Ermittlungen ein.

Kurz gesagt, sie hatten sich alle für den leichten Ausweg entschieden. Selbstsüchtig, illoyal – Qing-jao verspürte Empörung darüber, daß solche Leute ihre hohen Ämter behalten durften. Man müßte sie eigentlich schwer bestrafen, weil ihre private Faulheit oder Geltungssucht sie dazu geführt hatte, die Ermittlungen im Fall Demosthenes einzustellen. Begriffen sie denn nicht, daß Demosthenes wirklich gefährlich war? Daß seine Schriften nun die allgemeine Weisheit mindestens einer Welt waren, und wenn einer, dann wahrscheinlich auch vieler? Wie viele Menschen auf wie vielen Welten würden wegen ihm frohlocken, wüßten sie, daß die Lusitania-Flotte verschwunden war? Ganz gleich, wie viele Leute die Polizei unter dem Namen Demosthenes verhaftet hatte, seine Werke erschienen weiter. Nein, je öfter Qing-jao die Berichte las, desto fester wurde ihre Überzeugung, daß es sich bei Demosthenes um eine Person handelte, die man noch nicht enttarnt hatte. Eine Person, die Geheimnisse unglaublich gut bewahren konnte.

Aus der Küche kam der Klang der Flöte; sie wurden zu Tisch gerufen. Qing-jao warf einen Blick auf das Display über ihrem Terminal, wo der letzte Bericht noch schwebte; der Name Demosthenes kam immer wieder darin vor. »Ich weiß, daß es dich gibt, Demosthenes«, flüsterte sie, »und ich weiß, daß du sehr klug bist, und ich werde dich finden. Und wenn ich dich gefunden habe, wirst du deinen Krieg gegen die Herrscher beenden und mir verraten, was mit der Lusitania-Flotte geschehen ist. Dann werde ich mit dir fertig sein, und der Kongreß wird dich bestrafen, und Vater wird der Gott von Weg werden und auf ewig im unendlichen Westen leben. Das ist die Aufgabe, für die ich geboren wurde, für die die Götter mich auserwählt haben, und du könntest dich mir genausogut jetzt wie später zeigen, denn schließlich werden alle Männer und Frauen ihre Köpfe unter die Füße der Götter legen.«

Die Flöte spielte weiter, eine langsame, tiefe Melodie, die Qing-jao aus ihren Gedanken riß und zur Gesellschaft des Haushaltes führte. Für sie war diese halb geflüsterte Musik das Lied des innersten Geistes, das stille Gespräch von Bäumen über einem ruhigen Teich, das Geräusch von Erinnerungen, die sich ungebeten im Geist einer in ein Gebet versunkenen Frau erhoben. So wurde man im Haus des edlen Han Fei-tzu zu Tisch gebeten.


Nachdem Jane Qing-jaos Herausforderung gehört hatte, dachte sie: So schmeckt die Todesangst. Menschen empfinden sie die ganze Zeit über, und doch machen sie von einem Tag zum anderen weiter, im Wissen, daß sie von einem Augenblick zum anderen zu existieren aufhören können. Doch dies liegt daran, weil sie etwas vergessen können und es doch noch wissen: Ich kann nie vergessen, nicht, ohne das Wissen völlig zu verlieren. Ich weiß, daß Han Qing-jao drauf und dran ist, Geheimnisse herauszufinden, die nur gewahrt blieben, weil niemand nachdrücklich nach ihnen gesucht hat. Und wenn diese Geheimnisse herauskommen, werde ich sterben.

»Ender«, flüsterte sie.

War auf Lusitania Nacht oder Tag? War er wach oder schlief er? Für Jane war es gleichbedeutend damit, eine Frage zu stellen, die Antwort entweder zu kennen oder nicht zu kennen. So wußte sie sofort, daß es Nacht war. Ender hatte geschlafen, doch nun war er wach; sie erkannte, daß er immer noch auf ihre Stimme eingestellt war, wenngleich in den letzten Jahren oft Schweigen zwischen ihnen geherrscht hatte.

»Jane«, flüsterte er.

Neben ihm rührte sich Novinha, seine Frau, im Schlaf. Jane hörte sie, fühlte die Schwingung ihrer Bewegung, sah die sich verändernden Schatten durch den Sensor, den Ender im Ohr trug. Zum Glück hatte Jane noch keine Eifersucht gelernt, oder sie hätte Novinha vielleicht gehaßt, weil sie dort lag, ein warmer Körper neben Enders. Doch Novinha war ein Mensch und damit zur Eifersucht fähig, und Jane wußte, wie Novinha geradezu kochte, wann immer sie Ender mit der Frau sprechen sah, die in dem Juwel in seinem Ohr wohnte. »Leise«, sagte Jane. »Weck die anderen nicht auf.«

Ender antwortete, indem er Lippen, Zunge und Zähne bewegte, ohne ein lauteres Geräusch als einen Atemzug über die Lippen kommen zu lassen. »Wie ergeht es unseren Feinden auf ihrem Flug?« fragte er. Er begrüßte sie schon seit Jahren mit diesem Spruch.

»Nicht gut«, sagte Jane.

»Vielleicht hättest du sie nicht blockieren sollen. Wir hätten eine Möglichkeit gefunden. Valentines Schriften…«

»Ihre wahre Verfasserin wird bald herauskommen.«

»Alles wird einmal herauskommen.« Er sagte nicht: wegen dir.

»Nur, weil Lusitania zur Vernichtung freigegeben wurde«, erwiderte sie. Sie sagte ebenfalls nicht: wegen dir. Es gab jede Menge Schuld zu verteilen.

»Also wissen sie von Valentine?«

»Ein Mädchen wird es herausfinden. Auf der Welt Weg.«

»Ich kenne den Ort nicht.«

»Eine ziemlich junge Kolonie. ein paar Jahrhunderte alt. Chinesisch. Sie widmet sich der Aufgabe, eine seltsame Mischung alter Religionen zu erhalten. Die Götter sprechen zu ihnen.«

»Ich habe auf mehr als nur einer chinesischen Welt gelebt«, sagte Ender. »Auf allen glaubten die Menschen an die alten Götter. Götter sind auf jeder Welt lebendig, sogar hier auf der kleinsten menschlichen Kolonie von allen. Am Schrein von Os Venerados gibt es noch immer Wunderheilungen. Wühler hat uns von einer neuen Ketzerei irgendwo im Hinterland erzählt. Einige Pequeninos, die ständig mit dem Heiligen Geist kommunizieren.«

»Diese Sache mit den Göttern verstehe ich einfach nicht«, sagte Jane. »Ist denn noch nie jemand darauf gekommen, daß die Götter immer sagen, was die Menschen hören wollen?«

»Nicht unbedingt«, sagte Ender. »Die Götter verlangen oft von uns, Dinge zu tun, die wir nie gewollt haben, Dinge, die von uns verlangen, ihretwegen alles zu opfern. Unterschätze die Götter nicht.«

»Spricht dein katholischer Gott zu dir?«

»Vielleicht. Ich habe ihn jedoch noch nie gehört. Oder wenn ich ihn höre, weiß ich nicht, daß es seine Stimme ist.«

»Und wenn ihr sterbt, holen die Götter eines jeden Volkes die Toten wirklich ab und bringen sie an einen Ort, wo sie ewig leben?«

»Keine Ahnung. Die Toten schreiben nicht.«

»Gibt es auch einen Gott, der mich davonträgt, wenn ich sterbe?«

Ender schwieg einen Augenblick lang, und dann erzählte er ihr eine Geschichte. »Es war einmal ein Puppenmacher, der nie einen Sohn hatte. Also machte er eine Puppe, die so lebensähnlich war, daß sie wie ein echter Junge aussah, und er hielt den Holzjungen auf seinem Schoß, sprach mit ihm und tat so, als wäre er sein Sohn. Er war nicht verrückt – er wußte noch, daß es eine Puppe war –, und er nannte sie Holzkopf. Doch eines Tages kam ein Gott und berührte die Puppe, und sie erwachte zum Leben, und als der Puppenmacher zu ihr sprach, antwortete Holzkopf. Der Puppenmacher erzählte nie jemandem davon. Er ließ seinen hölzernen Sohn zu Hause, doch er erzählte dem Jungen jede Geschichte, die er aufschnappte, und von jedem Wunder unter dem Himmel. Eines Tages kam der Puppenmacher dann vom Hafen zurück, mit Geschichten von einem fernen Land, das gerade entdeckt worden war, als er sah, daß sein Haus brannte. Sofort versuchte er hineinzukommen und rief laut: ›Mein Sohn! Mein Sohn!‹ Doch seine Nachbarn hielten ihn auf und sagten: ›Bist du verrückt? Du hast keinen Sohn!‹ Er sah zu, wie das Haus bis auf die Grundmauern abbrannte, und als es geschehen war, stürzte er sich in die Trümmer, bedeckte sich mit heißer Asche und weinte bitterlich. Er ließ sich nicht trösten. Er weigerte sich, seine Werkstatt wiederaufzubauen. Als die Leute ihn nach dem Grund fragten, sagte er, sein Sohn sei tot. Er hielt sich über Wasser, indem er Gelegenheitsarbeiten für andere Leute erledigte, und sie hatten Mitleid mit ihm, weil sie überzeugt waren, das Feuer habe ihm den Verstand geraubt. Dann, eines Tages, drei Jahre später, kam ein kleiner Waisenknabe zu ihm, zerrte an seinem Ärmel und sagte: ›Vater, hast du nicht eine Geschichte für mich?‹«

Jane wartete, aber Ender sagte nichts mehr. »Das ist die ganze Geschichte?«

»Reicht sie nicht?«

»Warum hast du mir das erzählt? Es sind nur Träume und Wünsche. Was hat das mit mir zu tun?«

»Es war die Geschichte, die mir gerade einfiel.«

»Warum ist sie dir eingefallen?«

»Vielleicht, weil Gott auf diese Art mit mir spricht«, sagte Ender. »Oder vielleicht, weil ich müde bin und dir nicht sagen kann, was du von mir wissen willst.«

»Ich weiß nicht einmal, was ich von dir wissen will.«

»Ich weiß, was du willst«, sagte Ender. »Du willst leben, mit deinem eigenen Körper und nicht von dem philotischen Netz abhängig sein, das die Verkürzer verbindet. Wenn ich könnte, würde ich dir das zum Geschenk machen. Wenn du eine Möglichkeit findest, wie ich es könnte, würde ich es tun. Aber Jane, du weißt nicht einmal, was du bist. Wenn du herausfindest, wieso du existierst, was dich zu dir selbst macht, können wir dich vielleicht vor dem Tag retten, an dem sie die Verkürzer abschalten, um dich zu töten.«

»Das ist also deine Geschichte? Vielleicht brenne ich mit dem Haus nieder, doch irgendwie wird meine Seele im Körper eines dreijährigen Waisenknaben enden?«

»Finde heraus, wer du bist, was du bist, was deine Essenz ist, und wir können dich vielleicht an einen sichereren Ort bringen, bis das alles vorbei ist. Wir haben einen Verkürzer. Vielleicht können wir dich zurückholen.«

»Es gibt auf Lusitania keinen Computer, der groß genug wäre, um mich aufzunehmen.«

»Das weißt du nicht. Du weißt nicht, was dein Selbst ist.«

»Du forderst mich auf, meine Seele zu finden.« Sie ließ ihre Stimme verächtlich klingen, als sie dieses Wort aussprach.

»Jane, das Wunder war nicht, daß die Puppe als Junge wiedergeboren wurde. Das Wunder war die Tatsache, daß die Puppe überhaupt lebte. Etwas ist passiert, das bedeutungslose Computerverbindungen in ein bewußtes Wesen verwandelt hat. Etwas hat dich geschaffen. Das ist es, was keinen Sinn ergibt. Nachdem dies einmal geschehen ist, müßte der andere Teil einfach sein.«

Seine Stimme klang schleppend. Er will, daß ich gehe, damit er schlafen kann, dachte sie. »Ich werde daran arbeiten.«

»Gute Nacht«, murmelte er.

Er schlief fast sofort wieder ein. War er überhaupt wirklich wach? fragte sich Jane. Wird er sich am Morgen daran erinnern, daß wir uns unterhalten haben?

Dann spürte sie, wie sich etwas im Bett bewegte. Novinha; ihr Atem ging anders. Erst da begriff Jane: Novinha ist aufgewacht, während ich mit Ender sprach. Sie weiß, was diese fast unhörbaren klackenden und schmatzenden Geräusche bedeuten, daß Ender subvokalisiert, um mit mir zu sprechen. Vielleicht vergißt Ender, daß wir uns heute nacht unterhalten haben, doch Novinha wird es nicht vergessen. Als hätte sie ihn erwischt, wie er das Bett mit einer Liebhaberin teilt. Wenn sie doch nur anders von mir dächte. Wie von einer Tochter. Wie von Enders unehelicher Tochter, die einer längst vergangenen Verbindung entsprungen ist. Sein Kind von der Schwarmkönigin. Wäre sie dann noch eifersüchtig?

Bin ich Enders Kind?

Jane begann in ihrer Vergangenheit zu suchen. Sie begann, ihre Natur zu studieren. Sie begann mit dem Versuch, herauszufinden, wer sie war und weshalb sie lebte.

Doch weil sie Jane war und kein Mensch, war das noch nicht alles. Sie verfolgte auch, wie Qing-jao alle Daten abfragte, die mit Demosthenes zu tun hatten, und beobachtete, wie sie sich langsam, aber sicher der Wahrheit näherte.

Janes dringlichste Aktivität galt jedoch dem Versuch, eine Möglichkeit zu finden, Qing-jao davon abzubringen, sie unbedingt finden zu wollen. Das war die schwierigste Aufgabe von allen, denn trotz Janes großer Erfahrung mit dem menschlichen Verstand, trotz all ihrer Gespräche mit Ender waren Menschen für sie noch immer geheimnisvoll. Jane hatte die Schlußfolgerung gezogen: Ganz gleich, wie gut du weißt, was eine Person getan hat und was sie zu glauben getan hat, als sie es tat, und was sie nun zu tun glaubt, man kann sich nie sicher sein, was sie als nächstes tun wird. Und doch hatte sie keine andere Wahl, als es zu versuchen. Also schickte sie sich an, das Haus Han Fei-tzus auf eine Art und Weise zu beobachten, wie sie noch nie jemanden außer Ender und seinen Stiefsohn Miro beobachtet hatte. Sie konnte nicht mehr darauf warten, daß Qing-jao und ihr Vater Daten in den Computer eingaben und versuchten, sie aufgrund dieser Daten zu verstehen. Nun mußte sie die Kontrolle über den Hauscomputer übernehmen, damit die Audio- und Video-Rezeptoren der Terminals in fast allen Räumen ihre Augen und Ohren wurden. Sie beobachtete sie. Sie verwendete einen beträchtlichen Teil ihrer Aufmerksamkeit darauf, ihre Worte und Taten zu studieren und zu analysieren und herauszufinden, was sie einander bedeuteten.

Sie brauchte nicht lange, um herauszufinden, daß man Qing-jao nicht am besten beeinflussen konnte, indem man sie mit Argumenten konfrontierte, sondern indem man zuerst ihren Vater überzeugte und ihn dann Qing-jao überzeugen ließ. Das entsprach größerer Harmonie mit dem Weg; Han Qing-jao würde dem Sternenwege-Kongreß niemals ungehorsam sein, außer Han Fei-tzu befahl es ihr; dann würde sie bereitwillig gehorchen.

Gewissermaßen vereinfachte das Janes Aufgabe beträchtlich. Es blieb bestenfalls zweifelhaft, ob sie Qing-jao überreden konnte, eine unbeständige und leidenschaftliche Heranwachsende, die sich selbst überhaupt noch nicht verstand. Doch Han Fei-tzu war ein Mann von gefestigstem Charakter, ein logisch denkender, aber auch gefühlsbetonter Mann; ihn konnte man mit Argumenten überzeugen, besonders, falls Jane ihm eingeben konnte, daß der Widerstand gegen den Kongreß zum Besten seiner Welt und der Menschheit allgemein geriete. Sie brauchte nur die richtigen Informationen, um ihn zu dieser Schlußfolgerung kommen zu lassen.

Mittlerweile verstand Jane von den gesellschaftlichen Mustern auf Weg genausoviel wie jeder Mensch, denn sie hatte jeden geschichtlichen, jeden anthropologischen Bericht und jedes vom Volk von Weg verfaßte Dokument absorbiert. Was sie lernte, störte sie zutiefst: Die Menschen von Weg wurden von ihren Göttern weit tiefer beherrscht als jedes andere Volk auf jedem anderen Planeten oder zu jeder anderen Zeit. Hier lag eindeutig ein häufig auftretender Gehirnschaden mit der Bezeichnung Unbewußt-Zwanghaftes Verhalten vor – UZV Am Anfang der Geschichte Weges – vor sieben Generationen, als der Planet besiedelt wurde – hatten die Ärzte die Störung behandelt. Doch sie hatten ziemlich schnell festgestellt, daß die Menschen von Weg, zu denen die Götter sprachen, überhaupt nicht auf alle üblichen Medikamente reagierten, die bei allen anderen Patienten das chemische Gleichgewicht der »Hinlänglichkeit« wiederherstellten, das Gefühl im Verstand eines Menschen, daß eine Aufgabe abgeschlossen ist und kein Grund besteht, sich darüber noch Sorgen zu machen. Die Gottberührten zeigten alle Verhaltensmuster, die man mit UZV in Verbindung brachte, doch der Gehirnschaden war nicht vorhanden. Es mußte eine andere, unbekannte Ursache dafür geben.

Nun arbeitete sich Jane tiefer in diese Geschichte ein und fand auf anderen Welten Dokumente – auf Weg kein einziges –, die ihr etwas mehr verrieten. Die Forscher waren schnell zum Schluß gekommen, daß eine neue Mutation vorliegen mußte, die einen verwandten Gehirnschaden mit ähnlichen Symptomen hervorrief. Doch sie hatten kaum ihren vorläufigen Bericht veröffentlicht, als alle Untersuchungen beendet und die Forscher auf eine andere Welt versetzt wurden.

Auf eine andere Welt – das war fast undenkbar. Es bedeutete, sie völlig zu entwurzeln und aus ihrer Zeit zu entfernen, sie allen Freunden und Familienmitgliedern zu nehmen, die sie nicht begleiten wollten. Und doch weigerte sich kein einziger von ihnen – was mit Sicherheit bedeutete, daß man sie einem gewaltigen Druck ausgesetzt hatte. Sie alle verließen Weg, und kein einziger hatte weitere Forschungen in diese Richtung betrieben.

Janes erste Hypothese lautete, daß ein Regierungsamt auf Weg selbst sie ins Exil geschickt und ihre Forschungen unterbunden hatte; schließlich wollten die Gefolgsleute des Weges doch nicht, daß ihnen der Glaube genommen wurde, indem sie eine körperliche Ursache dafür fanden, daß sie in ihren Gehirnen die Stimmen der Götter hörten. Doch Jane fand keine Beweise dafür, daß die Regierung auf Weg jemals den vollen Bericht zu sehen bekommen hatte. Der einzige Teil davon, der je auf Weg verbreitet worden war, bestand aus der allgemeinen Schlußfolgerung, daß die Stimmen der Götter eindeutig nicht das bekannte UZV war. Die Menschen von Weg hatten nur genug über den Bericht erfahren, um sich in ihrer Auffassung bestätigt zu sehen, daß es für die Stimmen der Götter keine bekannte physische Ursache gab. Die Wissenschaft hatte »bewiesen«, daß die Götter echt waren. Es gab keinerlei Unterlagen, daß irgend jemand auf Weg versucht hätte, weitere Informationen oder Forschungsergebnisse zu unterdrücken. Diese Entscheidung war allein von außen gekommen. Vom Kongreß.

Es mußte irgendeine Schlüsselinformation geben, die sogar vor Jane verborgen blieb, deren Geist problemlos in jeden elektronischen Speicher griff, der mit dem Verkürzernetzwerk verbunden war. Das war nur möglich, wenn diejenigen, die das Geheimnis kannten, seine Entdeckung so sehr gefürchtet hatten, daß sie es nicht einmal in die geheimsten und am schärfsten kontrollierten Regierungscomputer eingegeben hatten.

Jane konnte sich dadurch nicht aufhalten lassen. Sie würde die Wahrheit aus den Informationsfetzen zusammensetzen müssen, die unabsichtlich in unzusammenhängenden Dokumenten und Datenbanken zurückgelassen worden waren. Sie würde andere Ereignisse finden müssen, die dabei halfen, die fehlenden Teile des Bildes auszufüllen. Auf lange Sicht konnten Menschen vor jemandem mit Janes unbegrenzter Zeit und Geduld nichts geheimhalten. Sie würde herausfinden, was der Kongreß mit Weg tat, und wenn sie diese Information hatte, würde sie sie benutzen, wenn es ihr möglich war, um Han Qing-jao von ihrem zerstörerischen Weg abzubringen. Denn auch Qing-jao öffnete Geheimnisse – ältere Geheimnisse, die seit dreitausend Jahren bewahrt worden waren.

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