Kapitel 14 Virenschöpfer


›Ich habe darüber nachgedacht, was die Reise zwischen den Sternen für uns bedeuten könnte.‹

›Abgesehen vom Überleben der Spezies?‹

›Wenn du deine Arbeiter ausschickst, siehst du selbst Lichtjahre entfernt noch durch ihre Augen, nicht wahr?‹

›Und schmecke durch ihre Fühler und fühle den Rhythmus jeder Vibration. Wenn sie essen, fühle ich, wie die Nahrung zwischen ihren Kiefern zermalmt wird. Deshalb spreche ich im Zusammenhang mit mir auch immer von wir, wenn ich meine Gedanken in eine Form umwandle, die ihr verstehen könnt, Andrew oder du, denn ich lebe mein Leben in der ständigen Gegenwart von allem, was sie sehen und schmecken und fühlen.‹

›Bei den Vaterbäumen ist es nicht ganz so. Wir müssen uns anstrengen, wollen wir das Leben eines anderen wahrnehmen. Aber wir können es. Zumindest hier auf Lusitania.‹

›Ich sehe nicht, warum die philotische Verbindung bei euch nicht funktionieren sollte.‹

›Dann werde auch ich alles fühlen, was sie fühlen, und das Licht einer anderen Sonne auf meinen Blättern schmecken und die Geschichten einer anderen Welt hören. Es wird wie die Verwirrung sein, die entstand, als die Menschen hier eintrafen. Wir hätten niemals geglaubt, etwas könnte anders sein als die Welt, wie wir sie bis dahin gesehen haben. Doch sie brachten seltsame Geschöpfe mit, und sie waren selbst seltsam, und sie hatten Maschinen, die Wunder vollbrachten. Die anderen Wälder konnten kaum glauben, was unsere Vaterbäume ihnen damals berichteten. Ich erinnere mich sogar, daß unsere Vaterbäume kaum glauben konnten, was die Brüder des Stammes ihnen über die Menschen erzählten. Wühler trug die schwerste Last, überzeugte sie, daß es keine Lüge, Wahnsinn oder ein Scherz war.‹

›Ein Scherz?‹

›Es gibt Geschichten von verschlagenen Brüdern, die die Vaterbäume belügen, doch sie werden immer ertappt und schrecklich bestraft.‹

›Andrew verriet mir, daß solche Geschichten erzählt werden, um zu einem zivilisierten Verhalten anzuregen.‹

›Es ist stets eine Versuchung, die Vaterbäume zu belügen. Ich habe es selbst manchmal getan. Keine Lügen. Nur Übertreibungen. Sie machen es jetzt manchmal bei mir.‹

›Und du bestrafst sie?‹

›Ich erinnere mich daran, welche gelogen haben.‹

›Wenn wir einen Arbeiter haben, der nicht gehorcht, lassen wir ihn allein, und er stirbt.‹

›Ein Bruder, der zuviel lügt, hat keine Chance, ein Vaterbaum zu werden. Das wissen sie. Sie lügen nur, um mit uns zu spielen. Schlußendlich sagen sie uns immer die Wahrheit.‹

›Was wäre, wenn ein ganzer Stamm seine Vaterbäume belügt? Wie würdet ihr es jemals erfahren?‹

›Sprich lieber von einem Stamm, der seine eigenen Vaterbäume fällt oder abbrennt.‹

›Ist das jemals passiert?‹

›Haben sich die Arbeiter jemals gegen die Schwarmkönigin gestellt und sie getötet?‹

›Wie könnten sie das? Dann würden sie sterben.‹

›Jetzt verstehst du. Es gibt einige Dinge, die zu schrecklich sind, als daß man darüber nachdenken könnte. Statt dessen denke ich daran, wie es sich anfühlen wird, wenn ein Vaterbaum zum ersten Mal seine Wurzeln in den Boden eines anderen Planeten steckt und seine Äste in einen fremden Himmel streckt und Sonnenlicht von einem fremden Stern trinkt.‹

›Du wirst bald lernen, daß es keine fremden Sterne gibt, keine fremden Himmel.‹

›Nein?‹

›Nur Himmel und Sterne, mit all ihren Unterschieden. Ein jeder mit seinem eigenen Geschmack, und alle schmecken gut.‹

›Jetzt denkst du wie ein Baum. Der Geschmack des Himmels!‹

›Ich habe die Wärme vieler Sterne gekostet, und sie alle schmeckten süß.‹


»Du bittest mich, mir bei deiner Rebellion gegen die Götter zu helfen?«

Wang-mu blieb vor ihrer ehemaligen Herrin knien und schwieg. Im Herzen hatte sie Worte, die sie hätte sagen können. Nein, meine Herrin, ich bitte dich, uns bei unserem Kampf gegen die schrecklichen Ketten zu helfen, in die der Kongreß die Gottberührten gelegt hat. Nein, meine Herrin, ich bitte dich, dich an die angemessenen Pflichten gegenüber deinem Vater zu erinnern, die selbst Gottberührte nicht ignorieren dürfen, wenn sie rechtschaffen sein wollen. Nein, meine Herrin, ich bitte dich, uns dabei zu helfen, eine Möglichkeit zu finden, ein anständiges und hilfloses Volk, die Pequeninos, vor dem Xenozid zu retten.

Doch Wang-mu sagte nichts, denn das war eine der ersten Lektionen, die sie von Meister Han gelernt hatte. Wenn du Kenntnisse hast, von denen eine andere Person weiß, daß sie sie braucht, gibst du sie bereitwillig. Doch wenn die andere Person noch nicht weiß, daß sie deine Kenntnisse braucht, behältst du sie für dich. Nahrung sieht nur für einen Hungrigen gut aus. Quin-jao war nicht hungrig auf Kenntnisse, die Wang-mu hatte, und würde es niemals sein. Also konnte Wang-mu lediglich Schweigen anbieten und nur hoffen, daß Quing-jao ihren Weg zu angemessenem Gehorsam, nüchternem Anstand oder dem Kampf für die Freiheit finden würde.

Jedes einzelne dieser Motive würde genügen, solange sie Qing-jaos brillanten Verstand auf ihre Seite ziehen konnten. Wang-mu war sich noch nie in ihrem Leben so nutzlos vorgekommen, während sie Meister Han über die Fragen nachdenken sah, die Jane ihm gestellt hatte. Um über die überlichtschnelle Reise nachdenken zu können, studierte er Physik; wie konnte Wang-mu ihm helfen, wenn sie gerade erst in Geometrie unterrichtet wurde? Um über den Descolada-Virus nachdenken zu können, studierte er Mikrobiologie; Wang-mu wußte gerade erst, was Gaialogie und Evolution bedeuteten. Und wie konnte sie eine Hilfe sein, wenn er über Janes Natur nachsann? Sie war ein Kind von Arbeitern, und ihre Hände, nicht ihr Verstand enthielten ihre Zukunft. Philosophie stand so weit über ihr wie der Himmel über der Erde. »Aber der Himmel scheint nur weit entfernt zu sein«, sagte Meister Han, als sie ihm dies gestand. »In Wirklichkeit ist er überall um dich herum. Du atmest ihn ein und aus, selbst wenn du mit den Händen im Schlamm wühlst. Das ist wahre Philosophie.« Aber sie entnahm daraus nur, daß Meister Han freundlich war und nicht wollte, daß sie sich wegen ihrer Nutzlosigkeit Vorwürfe machte.

Qing-jao jedoch wäre nicht nutzlos. Also hatte Wang-mu ihr ein Papier mit den Projektnamen und den Paßwörtern dafür gegeben.

»Weiß Vater, daß du mir das gibst?«

Wang-mu sagte nichts. In Wirklichkeit hatte Meister Han dies selbst vorgeschlagen, doch Wang-mu hielt es für besser, wenn Qing-jao zu diesem Zeitpunkt nicht wußte, daß Wang-mu als Gesandte ihres Vaters kam.

Qing-jao interpretierte Wang-mus Schweigen genau so, wie Wang-mu vermutet hatte – als Eingeständnis, daß Wang-mu insgeheim gekommen war, um Qing-jao um Hilfe zu bitten.

»Wenn Vater selbst mich gefragt hätte, hätte ich eingewilligt, denn es ist meine Pflicht als Tochter«, sagte Qing-jao.

Doch Wang-mu wußte, daß Qing-jao dieser Tage nicht mehr auf ihren Vater hörte. Sie würde vielleicht sagen, sie wolle gehorsam sein, doch in Wirklichkeit erfüllte ihr Vater sie mit solchem Unbehagen, daß sich Qing-jao zu Boden geworfen und wegen des schrecklichen Konflikts in ihrem Herzen den ganzen Tag lang Linien verfolgt hätte, weil ihr Vater von ihr verlangte, daß sie den Göttern gegenüber ungehorsam war.

»Ich schulde dir nichts«, sagte Qing-jao. »Du warst falsch und eine treulose Dienerin. Es gab nie eine unwürdigere und nutzlosere geheime Magd als dich. Für mich ist deine Anwesenheit in diesem Haus wie die Anwesenheit von Mistkäfern beim Mittagstisch.«

Erneut hielt Wang-mu die Zunge im Zaum. Doch sie verbeugte sich auch nicht tiefer. Zu Beginn dieses Gesprächs hatte sie die bescheidene Haltung einer Dienerin eingenommen, doch sie würde sich nicht mit dem verzweifelten Kotau einer Büßerin erniedrigen. Selbst die bescheidensten von uns haben ihren Stolz, und ich weiß, Herrin Qing-jao, daß ich dir keinen Schaden verursacht habe, daß ich dir jetzt treuer ergeben bin als du selbst.

Qing-jao wandte sich wieder ihrem Terminal zu und gab den ersten Projektnamen ein, der ›LOSLOESEN‹ lautete, eine wörtliche Übersetzung des Begriffs Descolada. »Das ist sowieso alles Unsinn«, sagte sie, während sie die Dokumente und Schaubilder betrachtete, die Lusitania geschickt hatte. »Es ist kaum vorstellbar, daß jemand den Verrat begehen würde, mit Lusitania zu kommunizieren, nur um so einen Unsinn zu bekommen. Es ist wissenschaftlich unmöglich. Keine Welt könnte nur einen Virus entwickelt haben, der so komplex ist, daß er im genetischen Kode jeder anderes Spezies des Planeten enthalten ist. Es wäre Zeitverschwendung für mich, überhaupt darüber nachzudenken.«

»Warum?« fragte Wang-mu. Jetzt durfte sie sprechen – denn obwohl Qing-jao erklärt hatte, sie weigere sich, die Angelegenheit zu diskutieren, diskutierte sie sie doch. »Schließlich hat die Evolution auch nur eine menschliche Rasse hervorgebracht.«

»Aber auf der Erde gab es Dutzende verwandter Spezies. Es gibt keine Spezies, die nicht mit einer anderen verwandt ist – wärest du nicht ein so dummes, rebellisches Mädchen, würdest du das verstehen. Die Evolution hätte niemals ein so spärliches System wie das hervorbringen können.«

»Wie erklärst du dir dann diese Dokumente der Bewohner Lusitanias?«

»Woher willst du wissen, daß sie wirklich von dort kommen? Du hast dafür nur das Wort dieses Computerprogramms. Vielleicht glaubt es, das sei alles. Oder vielleicht sind die Wissenschaftler dort sehr schlecht und haben nicht das nötige Pflichtgefühl, um alle verfügbaren Informationen zu sammeln. In dem ganzen Bericht gibt es keine zwei Dutzend Spezies – und sieh doch, sie hängen auf die absurdeste Art und Weise paarweise zusammen. Es ist unmöglich, so wenig Spezies zu haben.«

»Aber was wäre, wenn sie recht haben?«

»Wie können sie recht haben? Die Menschen von Lusitania waren von Anfang an auf einem winzigen Gelände zusammengepfercht. Sie haben nur gesehen, was diese kleinen Schweinchen ihnen gezeigt haben – woher wollen sie wissen, daß diese Schweinemenschen sie nicht belügen?«

Du nennst sie Schweinemenschen – willst du sich so selbst überzeugen, meine Herrin, daß es nicht zum Xenozid führen wird, wenn du dem Kongreß hilfst? Glaubst du, es sei richtig, sie abzuschlachten, wenn du sie mit einem Tiernamen belegst? Haben sie die Auslöschung verdient, wenn du ihnen eine Lüge vorwirfst? Doch Wang-mu sagte nichts von dem; sie stellte lediglich die gleiche Frage noch einmal. »Aber was wäre, wenn das das wahre Bild der Lebensformen auf Lusitania ist, und wenn die Descolada wirklich so in ihnen arbeitet?«

»Wenn diese Dokumente wahr wären, müßte ich sie in Ruhe lesen und studieren, um einen intelligenten Kommentar abgeben zu können. Aber sie sind nicht wahr. Wie weit bin ich mit deiner Ausbildung gekommen, bevor du mich verraten hast? Habe ich dich nichts über Gaialogie gelehrt?«

»Doch, Herrin.«

»Na also. Die Evolution ist das Mittel, mit dem sich die planetaren Organismen an Veränderungen in ihrer Umwelt anpassen. Wenn es mehr Wärme von der Sonne gibt, müssen die Lebensformen des Planeten in der Lage sein, ihre relativen Populationen anzupassen, um die Temperatur auszugleichen und zu senken. Erinnerst du dich an das klassische Gedankenexperiment mit der Gänseblümchenwelt?«

»Aber bei diesem Experiment gab es nur eine einzige Spezies auf dem ganzen Planeten«, sagte Wang-mu. »Wenn die Sonne zu heiß wird, wachsen weiße Gänseblümchen, die das Licht ins All zurückstrahlen, und wenn die Sonne zu kalt wird, wachsen dunkle Gänseblümchen, um das Licht zu absorbieren und als Wärme zu speichern.« Wang-mu war stolz, daß sie sich so deutlich an die Gänseblümchenwelt erinnern konnte.

»Nein, nein«, sagte Qing-jao. »Du hast natürlich nicht verstanden, worauf es ankommt. Es kommt darauf an, daß es bereits dunkle Gänseblümchen geben muß, auch wenn die hellen dominant sind, und helle Gänseblümchen, wenn die Welt mit dunklen bedeckt ist. Die Evolution kann eine neue Spezies nicht auf Anforderung hervorbringen. Sie schafft ständig neue Spezies, während sich die Gene verändern und geteilt und von der Strahlung gebrochen und durch Viren zwischen einzelnen Spezies ausgetauscht werden. Daher entsteht keine Spezies jemals ›zielgerecht‹.«

Wang-mu verstand den Zusammenhang noch nicht, und ihr Gesicht mußte ihre Verwirrung enthüllt haben.

»Bin ich nach allem, was geschehen ist, doch noch deine Lehrerin? Muß ich meinen Teil der Abmachung halten, obwohl du deinen aufgegeben hast?«

Bitte, sagte Wang-mu stumm. Ich würde dir auf ewig dienen, wenn du nur deinem Vater bei dieser Sache helfen würdest.

»Solange die ganze Spezies zusammen ist und sich ständig vermischt«, fuhr Qing-jao fort, »verändern sich einzelne Individuen, genetisch gesprochen, niemals zu stark; ihre Gene werden ständig neu mit anderen Genen derselben Spezies kombiniert, so daß die Variationen bei jeder Generation gleichmäßig unter der Population verteilt sind. Nur wenn die Umgebung sie unter solche Beanspruchung stellt, daß eine dieser zufällig entstandenen abweichenden Züge plötzlich Überlebenswert hat, nur dann werden all jene in jener besonderen Umgebung, die diesen Wesenszug nicht haben, aussterben, bis das neue Merkmal, das früher eine gelegentliche Abweichung war, nun allgemein die neue Spezies definiert. Das ist der fundamentale Lehrsatz der Gaialogie – ständige genetische Abweichungen sind notwendig für das Fortbestehen des Lebens als solches. Diesen Unterlagen zufolge ist Lusitania eine Welt mit absurd wenigen Spezies, und es gibt dort keine Möglichkeit einer genetischen Abweichung, weil diese unmöglichen Viren ständig alle eventuell auftretenden Veränderungen korrigieren. Solch ein System könnte sich nicht nur niemals entwickeln, es wäre auch unmöglich, daß das Leben dort fortbesteht – es könnte sich keiner Veränderung anpassen.«

»Vielleicht gibt es keine Veränderungen auf Lusitania.«

»Sei doch nicht so töricht, Wang-mu. Der Gedanke, jemals versucht zu haben, dich zu unterrichten, beschämt mich. Alle Sterne fluktuieren. Alle Planeten verändern ihre Umlaufbahnen. Wir haben dreitausend Jahre lang viele Welten beobachtet, und in dieser Zeit haben wir gelernt, was die Wissenschaftler auf der Erde in all den Jahren zuvor niemals lernen konnten – welches Verhalten bei allen Planeten und Sonnensystemen allgemein üblich ist, und welches nur bei der Erde und dem Solsystem vorkommt. Ich sage dir, es ist unmöglich für einen Planeten wie Lusitania, mehr als einige wenige Jahrzehnte ohne lebensbedrohende Umweltveränderungen zu existieren – Temperaturschwankungen, Störungen der Umlaufbahn, seismische und vulkanische Zyklen… wie wollte ein System mit wirklich nur einer Handvoll Spezies jemals damit fertig werden? Wie will sich eine Welt, die nur helle Gänseblümchen hat, jemals aufwärmen, wenn ihre Sonne abkühlt? Wie will sie sich heilen, wenn der Sauerstoff in der Atmosphäre eine giftige Konzentration erreicht und all ihre Lebensformen Kohlendioxyd atmen? Deine sogenannten Freunde von Lusitania sind Narren, daß sie dir so einen Unsinn schicken. Wären sie echte Wissenschaftler, wüßten sie, daß ihre Ergebnisse unmöglich sind.«

Qing-jao betätigte eine Taste, und das Display über ihrem Terminal erlosch. »Du hast Zeit verschwendet, die ich nicht habe. Komme nicht mehr zu mir, wenn du nichts besseres anzubieten hast. Du bist für mich weniger als nichts. Du bist ein Käfer, der in meinem Wasserglas treibt. Du verschmutzt das ganze Glas, nicht nur die Stelle, an der du schwimmst. Solange ich weiß, daß du in diesem Haus bist, wache ich mit Schmerzen auf.«

Dann bin ich also ›weniger als nichts‹ für dich? dachte Wang-mu. Das hört sich an, als wäre ich für dich wirklich sehr wichtig. Du magst sehr brillant sein, Qing-jao, aber du verstehst dich selbst nicht besser als alle anderen auch.

»Weil du ein einfaches, dummes Mädchen bist, verstehst du mich nicht«, sagte Qing-jao. »Ich habe dir befohlen zu gehen.«

»Aber dein Vater ist der Herr dieses Hauses, und Meister Han hat mich gebeten zu bleiben.«

»Kleine dumme Person, kleine Schwester der Schweine, wenn ich dich nicht auffordern kann, mein gesamtes Haus zu verlassen, so habe ich dir doch sicher klargemacht, daß du wenigstens mein Zimmer verlassen sollst.«

Wang-mu verbeugte sich, bis ihr Kopf fast – fast – den Boden berührte. Dann ging sie rückwärts hinaus, als wolle sie ihrer Herrin nicht ihr Hinterteil zeigen. Wenn du mich so behandelst, werde ich dich wie eine große Herrin behandeln, und wer von uns ist die Närrin, wenn du die Ironie in meinem Benehmen nicht entdeckst?


Meister Han war nicht in seinem Zimmer, als Wang-mu zurückkehrte. Vielleicht war er auf der Toilette und kam gleich zurück. Vielleicht führte er irgendein Ritual der Gottberührten durch; in diesem Fall würde er stundenlang fort sein. Wang-mu hatte zu viele Fragen, um auf ihn zu warten. Sie rief auf dem Terminal die Projektdaten auf, mit dem Wissen, daß Jane sie beobachten, überwachen würde. Daß Jane zweifellos alles überwacht hatte, was in Qing-jaos Zimmer geschehen war.

Dennoch wartete Jane, bis Wang-mu die Fragen gestellt hatte, die sie von Qing-jao bekommen hatte, bevor sie versuchte, sie zu beantworten. Und dann beantwortete Jane zuerst die Frage der Glaubwürdigkeit.

»Die Dokumente von Lusitania sind durchaus echt«, sagte Jane. »Ela, Novinha, Ouanda und all die anderen, die bei ihnen studiert haben, haben zwar ihre Spezialgebiete, sind aber auf ihren Gebieten sehr gut. Wenn Qing-jao Mensch Leben gelesen hätte, würde sie verstehen, wie dieses Dutzend Speziespaare funktioniert.«

»Aber ich verstehe trotzdem nicht ganz, was sie sagt«, erwiderte Wang-mu. »Ich habe versucht, mir zu überlegen, wie alles stimmen könnte – daß es dort zu wenig Spezies gibt, als daß sich eine echte Gaialogie entwickeln könnte, und daß der Planet Lusitania dennoch so gleichmäßige Bedingungen bietet, so daß das Leben dort fortbestehen kann. Gibt es auf Lusitania vielleicht keine Umweltveränderungen?«

»Nein«, sagte Jane. »Ich habe Zugang zu allen astronomischen Daten der dortigen Satelliten, und über den Zeitraum, da sich Menschen auf Lusitania befinden, weisen der Planet und seine Sonne alle normalen Fluktuationen auf. Im Augenblick deutet alles auf eine globale Abkühlung hin.«

»Wie werden die Lebensformen Lusitanias darauf reagieren?« fragte Wang-mu. »Der Descolada-Virus wird nicht zulassen, daß sie mutieren – er versucht, alles Fremde zu vernichten. Deshalb wird er ja auch die Menschen und die Schwarmkönigin töten, wenn er kann.«

Jane, deren kleines Abbild in der Lotusposition in der Luft über Meister Hans Terminal saß, hob eine Hand. »Einen Augenblick«, sagte sie.

Dann senkte sie die Hand wieder. »Ich habe deine Frage an meine Freunde weitergegeben, und Ela ist sehr aufgeregt.«

Ein neues Gesicht erschien im Display, direkt hinter und über Janes Bild, das einer dunkelhäutigen, negroid aussehenden Frau; oder ein Mischling vielleicht, da sie nicht so dunkel und ihre Nase schmal war. Das ist Elanora, dachte Wang-mu. Jane zeigt mir eine Frau von einer viele Lichtjahre entfernten Welt; zeigt sie mein Gesicht auch ihr? Was hält diese Ela von mir? Komme ich ihr hoffnungslos dumm vor?

Doch Ela dachte eindeutig überhaupt nicht über Wang-mu nach. Sie sprach statt dessen über Wang-mus Fragen. »Warum erlaubt der Descolada-Virus keine Vielfalt? Das sollte eigentlich ein Merkmal mit negativem Überlebenswert sein, und doch überlebt die Descolada. Wang-mu muß mich für eine Idiotin halten, daß mir das noch nicht aufgefallen ist. Aber ich bin keine Gaialogin, und ich wuchs auf Lusitania auf, und so habe ich die Gaialogie von Lusitania nie in Frage gestellt, ich habe mir einfach gedacht, wie sie auch aussehen mag, sie funktioniert, und dann habe ich weiterhin die Descolada studiert. Was hält Wang-mu davon?«

Wang-mu war entsetzt, solche Worte von einer Fremden zu hören. Was hatte Jane Ela über sie erzählt? Wie konnte Ela auch nur glauben, Wang-mu würde sie für eine Idiotin halten, wo sie doch Wissenschaftlerin und Wang-mu nur ein Dienstmädchen war?

»Was kann es für eine Rolle spielen, was ich davon halte?« fragte Wang-mu.

»Was hältst du davon?« entgegnete Jane. »Ela will es wissen, auch wenn du dir nicht vorstellen kannst, daß es eine Rolle spielt.«

Also teilte Wang-mu ihre Spekulationen mit. »Es ist ein sehr dummer Gedanke, weil es nur ein mikroskopischer Virus ist, aber irgendwie muß die Descolada das alles bewerkstelligen. Schließlich enthält sie die Gene aller Spezies in sich, nicht wahr? Also muß sie sich selbst um die Evolution kümmern. Anstelle dieser ganzen genetischen Abweichungen muß die Descolada für die Abweichungen sorgen. Das könnte sie doch, oder? Sie könnte die Gene einer ganzen Spezies verändern, selbst während diese Spezies noch lebt. Sie müßte nicht auf die Evolution warten.«

Jane hob erneut die Hand. Sie mußte Ela Wang-mus Gesicht zeigen und sie auch ihre Worte hören lassen.

»Nossa Senhora«, flüsterte Ela. »Auf dieser Welt ist die Descolada Gaia. Natürlich. Das würde alles erklären, oder? So wenig Spezies, weil die Descolada nur die Spezies duldet, die sie gezähmt hat. Sie hat eine gesamte planetare Gaialogie in fast etwas so Einfaches wie die Gänseblümchenwelt verwandelt.«

Wang-mu kam es fast komisch vor, eine hochqualifizierte Wissenschaftlerin wie Ela von der Gänseblümchenwelt sprechen zu hören, als sei sie nur eine junge Studentin, ein halb ausgebildetes Kind wie Wang-mu.

Neben Ela erschien das Gesicht eines älteren Weißen mit ergrauendem Haar und einem sehr ruhigen, friedlichen Ausdruck. »Doch ein Teil von Wang-mus Frage ist noch nicht beantwortet«, sagte der Mann. »Wieso konnte sich die Descolada jemals entwickeln? Wie konnte es jemals Proto-Descolada-Viren geben? Wieso bekam eine so beschränkte Gaialogie den Überlebensvorzug vor dem langsamen Evolutionsmodell, das jede andere Welt mit Leben darauf hat?«

»Diese Frage habe ich nicht gestellt«, sagte Wang-mu. »Qing-jao stellte den ersten Teil davon, aber der Rest ist seine Frage.«

»Still«, sagte Jane. »Qing-jao hat die Frage überhaupt nicht gestellt. Sie hat sie als Grund benutzt, die Lusitania-Dokumente nicht zu untersuchen. Lediglich du hast die Frage gestellt, und nur, weil Andrew Wiggin deine eigene Frage besser versteht als du selbst, bedeutet das nicht, daß es nicht deine Frage ist.«

Das also war Andrew Wiggin, der Sprecher für die Toten. Er sah überhaupt nicht alt und weise aus, gar nicht so wie Meister Han. Statt dessen wirkte dieser Wiggin töricht überrascht mit seinen großen, runden Augen, und sein Gesicht veränderte sich mit jeder neuen Stimmung, als habe er keine Kontrolle darüber. Doch er vermittelte tatsächlich einen sehr friedlichen Ausdruck. Vielleicht hatte er etwas von Buddha in sich. Buddha hatte schließlich seinen eigenen Weg gefunden. Vielleicht hatte auch dieser Andrew Wiggin zum Weg gefunden, obwohl er gar kein Chinese war.

Wiggin stellte noch immer die Fragen, die er für Wang-mus Fragen hielt. »Die Chancen gegen ein natürliches Auftreten solcher Viren sind… unglaublich. Lange, bevor sich ein Virus entwickeln kann, der die Spezies miteinander verbindet und eine ganze Gaialogie beherrscht, hätten die Proto-Descoladas schon alles Leben vernichten müssen. Es blieb keine Zeit für eine Evolution – der Virus ist einfach zu destruktiv. Er hätte jedes Leben in seiner frühesten Form getötet und wäre dann selbst ausgestorben, weil er keine Organismen mehr ausplündern konnte.«

»Vielleicht hat er sie erst später ausgeplündert«, sagte Ela. »Vielleicht entwickelte er sich in Symbiose mit einer anderen Spezies, die von seiner Fähigkeit profitierte, alle Individuen innerhalb von ein paar Tagen oder Wochen zu verwandeln. Vielleicht hat sich der Virus erst später auf andere Spezies ausgedehnt.«

»Vielleicht«, sagte Andrew.

Ein Gedanke kam Wang-mu in den Sinn. »Die Descolada ist wie ein Gott«, sagte sie. »Sie kommt und verändert alle, ob sie es wollen oder nicht.«

»Bis auf die Tatsache, daß die Götter den Anstand haben, wieder zu gehen«, sagte Wiggin.

Er antwortete so schnell, daß Wang-mu begriff, daß Jane nun alles, was getan oder gesagt wurde, augenblicklich über die Milliarden Kilometer Leerraum zwischen ihnen übertrug. Nach dem, was Wang-mu über Verkürzergebühren gelernt hatte, war dies eigentlich nur dem Militär möglich; eine Firma, die eine Echtzeit-Verkürzer-Verbindung herstellen wollte, mußte dafür so viel Geld bezahlen, daß man dafür auf einem armen Planeten jedem armen Menschen eine Unterkunft zur Verfügung stellen konnte. Ich bekomme das wegen Jane umsonst. Ich sehe ihre Gesichter, und sie sehen meines in dem Augenblick, in dem sie sprechen.

»Haben sie diesen Anstand?« fragte Ela. »Ich dachte, das ganze Problem auf Weg bestünde darin, daß die Götter nicht gehen und sie in Ruhe lassen.«

Wang-mu antwortete voller Verbitterung. »Die Götter sind in jeder Hinsicht wie die Descolada. Sie vernichten alles, was ihnen nicht gefällt, und die Menschen, die sie mögen, verwandeln sie in etwas, das sie nie waren. Qing-jao war früher ein gutes, kluges und lustiges Mädchen, und nun ist sie verächtlich und wütend und grausam, und alles nur wegen der Götter.«

»Alles nur wegen der genetischen Veränderung durch den Kongreß«, sagte Wiggin. »Eine absichtliche Veränderung, herbeigeführt von Leuten, die euch in ihren Plan pressen wollten.«

»Ja«, sagte Ela. »Genau wie die Descolada.«

»Was meinst du?« fragte Wiggin.

»Eine absichtliche Veränderung, die hier von Leuten herbeigeführt wurde, die Lusitania in ihren Plan pressen wollten.«

»Welche Leute?« fragte Wang-mu. »Wer würde so etwas Schreckliches tun?«

»Ich grüble seit Jahren darüber nach«, sagte Ela. »Es hat mich schon immer gestört, daß es auf Lusitania nur so wenig Lebensformen gibt – du erinnerst dich, Andrew, auch aus diesem Grund haben wir überhaupt erst herausgefunden, daß die Descolada in die Paarung der Spezies verwickelt ist. Wir wußten, daß es hier eine katastrophale Veränderung gegeben hatte, die all diese Spezies auslöscht und die wenigen Überlebenden umgebildet hat. Die Descolada hatte für die meisten Lebensformen auf Lusitania verheerendere Folgen als die Kollision mit einem Asteroiden. Aber weil wir die Descolada hier gefunden haben, gingen wir immer davon aus, daß sie sich auch hier entwickelt hat. Ich wußte, es ergab keinen Sinn – genau, wie Qing-jao es gesagt hat –, aber da es offensichtlich passiert war, spielte es keine Rolle, ob es Sinn ergab oder nicht. Aber was, wenn es nicht passiert ist? Was, wenn die Descolada von den Göttern kam? Nicht von echten Göttern, sondern von einer vernunftbegabten Spezies, die diesen Virus künstlich entwickelt hat?«

»Das wäre ungeheuerlich«, sagte Wiggin. »So ein Gift zu schaffen und es auf andere Welten zu bringen, ohne sich darum zu kümmern, was man damit umbringt…«

»Kein Gift«, sagte Ela. »Könnte die Descolada nicht ein Mittel zur Terraformung anderer Welten sein, wenn sie wirklich ein ganzes planetarisches System regulieren kann? Wir haben nie versucht, eine Welt zu terraformen – wir Menschen und vor uns die Krabbler besiedelten nur Welten, die von deren einheimischen Lebensformen in einen Zustand gebracht wurden, der dem der Erde ähnelt. Eine sauerstoffreiche Atmosphäre, die das Kohlendioxyd schnell genug heraussaugt, um erträgliche Temperaturen zu halten, wenn der Stern heller brennt. Was wäre, wenn es irgendwo eine Spezies gibt, die sich entschlossen hat, den Descolada-Virus vorauszuschicken – vielleicht Tausende von Jahren voraus –, um Planeten zur Kolonisierung vorzubereiten, sie genau auf die Zustände hin zu verändern, die diese Spezies braucht? Und wenn sie dann eintrifft, um sich dort häuslich niederzulassen, hat sie vielleicht den Gegenvirus dabei, der die Descolada ausschaltet, damit sie eine echte Gaialogie etablieren kann.«

»Oder vielleicht hat diese Spezies den Virus so gestaltet, daß er keine schädlichen Auswirkungen auf sie selbst und die Tiere hat, die sie zum Leben brauchen«, sagte Wiggin. »Vielleicht vernichtet sie auf jeder Welt alles überflüssige Leben.«

»Es würde jedenfalls alles erklären. Die Probleme, mit denen ich zu tun habe, die unmöglich unnatürliche Anordnung der Moleküle in der Descolada, der ich keinen Sinn entnehmen kann – der Virus kann nur weiterexistieren, weil er unaufhörlich diese inneren Widersprüche aufrechterhält. Aber ich konnte mir nie vorstellen, wie sich solch ein in sich widersprüchliches Molekül überhaupt entwickeln konnte. All diese Fragen wären beantwortet, wenn ich wüßte, daß jemand das Molekül entworfen und gemacht hat. Qing-jao hat beklagt, die Descolada habe sich nicht entwickeln können, Lusitanias Gaialogie könne in der Natur nicht existieren. Nun ja, sie existiert tatsächlich nicht in der Natur. Es ist ein künstlicher Virus und eine künstliche Gaialogie.«

»Und das kann Ihnen wirklich helfen?« fragte Wang-mu.

Ihre Gesichter zeigten, daß die anderen in ihrer Aufregung vergessen hatten, daß sie noch an dem Gespräch beteiligt war.

»Ich weiß es noch nicht«, sagte Ela. »Aber es ist eine neue Sichtweise. Zum einen kann ich nun von der Voraussetzung ausgehen, daß alles im Virus einen Sinn und Zweck hat. In der Descolada gibt es kein Durcheinander ein- und ausgeschalteter Gene wie in der Natur… nun, das wird mir helfen. Und da ich weiß, daß der Virus entworfen wurde, kann ich hoffen, daß ich ihn zerstören kann. Oder umwandeln.«

»Überstürze nichts«, sagte Wiggin. »Das ist nur eine Hypothese.«

»Sie klingt wahr«, sagte Ela. »Sie vermittelt das Gefühl der Wahrheit. Sie erklärt so viel.«

»Ich empfinde es auch so«, sagte Wiggin. »Aber wir müssen es mit den Leuten besprechen, die am meisten davon betroffen sind.«

»Wo ist Pflanzer?« fragte Ela. »Wir können es mit Pflanzer besprechen.«

»Und Mensch und Wühler«, sagte Wiggin. »Wir müssen mit den Vaterbäumen darüber sprechen.«

»Das wird sie wie ein Wirbelsturm treffen«, sagte Ela. Dann schien sie die Bedeutung ihrer Worte zu begreifen. »Es wird sie wirklich verletzen. Die Erkenntnis, daß ihre ganze Welt ein Terraforming-Projekt ist…«

»Nicht nur ihre Welt«, sagte Wiggin. »Sie selbst. Das dritte Leben. Die Descolada gab ihnen alles, was sie sind, und die fundamentalsten Grundlagen ihres Lebens. Vergeßt nicht, aller Wahrscheinlichkeit nach entwickelten sie sich als säugetierähnliche Wesen, die sich direkt miteinander paarten, Mann mit Frau. Die kleinen Mütter saugten das Leben aus den männlichen Geschlechtsorganen, ein halbes Dutzend gleichzeitig. Das waren sie. Dann verwandelte die Descolada sie und sterilisierte die Männer, bis sie schließlich starben und sich in Bäume verwandelten.«

»Ihre Natur…«

»Wir Menschen wurden nur sehr schwer damit fertig, als wir zum ersten Mal begriffen, wie sehr unser Verhalten von evolutionären Notwendigkeiten geprägt ist«, sagte Wiggin. »Es gibt noch immer unzählige Menschen, die nicht daran glauben wollen. Selbst wenn es sich als absolut wahr erweisen sollte, werden die Pequeninos diese Vorstellung wohl kaum so schnell akzeptieren, wie sie das Wunder der Sternenflugs geschluckt haben. Es ist eine Sache, Geschöpfe von einer anderen Welt zu sehen, aber eine ganz andere, herauszufinden, daß weder Gott noch die Evolution dich geschaffen hat – sondern irgendein Wissenschaftler einer anderen Spezies.«

»Aber wenn es wahr ist…«

»Wer weiß schon, ob es wirklich so ist? Diese Vorstellung ist uns nur nützlich. Und für die Pequeninos könnte sie so verheerend sein, daß sie sich einfach weigern, daran zu glauben.«

»Einige werden Sie hassen, weil Sie es ihnen gesagt haben«, warf Wang-mu ein. »Aber andere werden Ihnen dankbar sein.«

Sie sahen sie wieder an – oder zumindest zeigte Janes Computersimulation, daß sie sie ansahen. »Du mußt wissen, wie es ist, nicht wahr?« sagte Wiggin. »Du und Han Fei-tzu, ihr habt gerade herausgefunden, daß euer Volk künstlich verändert wurde.«

»Und in Ketten gelegt«, sagte Wang-mu. »Für mich und Meister Han. bedeutete diese Erkenntnis die Freiheit. Für Qing-jao…«

»Es könnte viele Qing-jaos unter den Pequeninos geben«, sagte Ela. »Aber Pflanzer und Mensch und Wurzler werden nicht dazugehören, oder? Sie sind sehr klug.«

»Das ist Qing-jao auch!« sagte Wang-mu. Sie sprach hitziger, als sie es eigentlich wollte. Doch die Treue einer geheimen Magd stirbt nur langsam.

»Wir wollten nicht sagen, daß sie nicht klug ist«, entgegnete Ender. »Aber in dieser Sache verhält sie sich bestimmt nicht klug, oder?«

»In dieser Sache nicht«, sagte Wang-mu.

»Das haben wir gemeint. Niemand findet gern heraus, daß die Geschichte über seine eigene Identität, an die er immer geglaubt hat, falsch ist. Viele Pequeninos glauben, daß Gott sie zu etwas Besonderem gemacht hat, genau, wie es bei euren Gottberührten der Fall ist.«

»Und wir sind nichts Besonderes, keiner von uns!« rief Wang-mu. »Wir sind so gewöhnlich wie Dreck! Es gibt keine Gottberührten. Es gibt keine Götter. Wir sind ihnen völlig gleichgültig.«

»Wenn es keine Götter gibt«, korrigierte Ela sie nachsichtig, »könnt ihr ihnen kaum gleichgültig oder nicht gleichgültig sein.«

»Wir sind nur wegen ihrer selbstsüchtigen Pläne entstanden!« rief Wang-mu. »Wer immer die Descolada geschaffen hat – die Pequeninos sind nur Teil ihres Plans. Und die Gottberührten sind Teil der Pläne des Kongresses.«

»Als einer, dessen Geburt von der Regierurig befohlen wurde«, sagte Wiggin, »habe ich Verständnis für deine Sichtweise. Aber deine Reaktion ist zu übereilt. Schließlich wollten mich meine Eltern auch. Und vom Augenblick meiner Geburt an hatte mein Leben einen Sinn. Nur weil das Volk deiner Welt glaubte, seine unbewußt-zwanghaften Verhaltensmuster seien Mitteilungen der Götter, heißt das noch lange nicht, daß es keine Götter gibt. Daß dein früheres Verständnis vom Sinn deines Lebens im Gegensatz zu deinen derzeitigen Kenntnissen steht, heißt noch lange nicht, daß dein Leben keinen Sinn hat.«

»Oh, ich weiß, daß es einen Sinn hat«, sagte Wang-mu. »Der Kongreß wollte Sklaven! Deshalb hat er Qing-jao geschaffen – damit sie ihre Sklavin ist. Und sie will ihre Sklaverei freiwillig fortsetzen!«

»Das war die Absicht des Kongresses«, sagte Wiggin. »Doch Qing-jao hatte auch eine Mutter und einen Vater, die sie liebten. Und ich auch. Das Leben kann vielerlei Sinn haben, und es gibt viele verschiedene Gründe für etwas. Und weil sich ein Grund, an den du geglaubt hast, als falsch erwiesen hat, darfst du nicht glauben, du könntest keinen anderen Gründen mehr vertrauen.«

»Oh, wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte Wang-mu. Sie schämte sich nun ihres Ausbruchs.

»Verbeuge dich nicht vor mir«, sagte Wiggin. »Oder hast du das gemacht, Jane?«

Jane mußte ihm geantwortet haben, ohne daß Wang-mu es hören konnte.

»Mir egal, was sie für Bräuche haben«, sagte Wiggin. »Der einzige Grund für so eine Verbeugung ist, eine Person vor einer anderen zu erniedrigen, und ich werde nicht dulden, daß sie das bei mir macht. Sie hat nichts getan, dessen sie sich schämen müßte. Sie hat uns eine Sichtweise der Descolada aufgetan, die vielleicht zur Rettung einer Reihe von Spezies fuhren wird.«

Wang-mu vernahm seinen Tonfall. Er glaubte daran. Er ehrte sie mit seinen Worten.

»Nicht ich«, protestierte sie. »Qing-jao. Es waren ihre Fragen.«

»Qing-jao«, sagte Ela. »Sie hat dich ja völlig für sie eingenommen, genau wie der Kongreß Qing-jao für sich eingenommen hat.«

»Sie dürfen sich nicht so verächtlich äußern, denn Sie kennen sie ja gar nicht«, sagte Wang-mu. »Aber sie ist brillant und gut, und ich kann nie wie sie sein.«

»Schon wieder die Götter«, sagte Wiggin.

»Immer die Götter«, sagte Ela.

»Was meinen Sie?« fragte Wang-mu. »Qing-jao behauptet nicht, eine Göttin zu sein, und ich sage das auch nicht von ihr.«

»Doch, das tust du«, sagte Ela. »›Qing-jao ist weise und gut‹, hast du gesagt.«

»Brillant und gut«, berichtigte Wiggin sie.

»›Und ich kann nie wie sie sein‹«, fuhr Ela fort.

»Ich will dir etwas über Götter erzählen«, sagte Wiggin. »Ganz gleich, wie klug oder stark du bist, es gibt immer jemanden, der klüger oder stärker ist, und wenn du jemandem begegnest, der klüger und stärker als alle anderen ist, denkst du: Das ist ein Gott. Das ist Perfektion. Aber ich kann dir versprechen, daß es irgendwo jemanden gibt, der deinen Gott wie eine Made aussehen läßt. Und jemanden, der in irgendeiner Hinsicht klüger oder besser oder beides ist. Also will ich dir sagen, was ich von Göttern halte. Ich glaube, ein echter Gott wird nicht so verängstigt oder wütend sein, daß er versucht, andere Menschen zu unterdrücken. Es hätte ein göttliches, ein großzügiges Geschenk vom Kongreß sein können, andere Menschen genetisch zu verändern, um sie klüger oder kreativer zu machen. Aber der Kongreß bekam es mit der Angst zu tun, und so hat er die Menschen von Weg gefesselt. Er wollte die Kontrolle über sie behalten. Ein echter Gott muß sich nicht um so etwas wie Kontrolle kümmern. Ein echter Gott hat bereits alles unter Kontrolle, was er unter Kontrolle haben muß. Echte Götter würden dich lehren wollen, genauso zu sein wie sie.«

»Qing-jao wollte mich unterrichten«, sagte Wang-mu.

»Aber nur, solange du gehorcht und getan hast, was sie wollte«, sagte Jane.

»Ich bin unwürdig«, entgegnete Wang-mu. »Ich bin zu dumm, um zu lernen, so klug wie sie zu sein.«

»Und doch wußtest du, daß ich die Wahrheit gesprochen habe«, sagte Jane, »als Qing-jao nur Lügen sehen konnte.«

»Bist du eine Göttin?« fragte Wang-mu.

»Was die Gottberührten und die Pequeninos erst jetzt über sich erfahren werden, habe ich schon immer gewußt. Ich wurde erschaffen.«

»Unsinn«, sagte Wiggin. »Jane, du hast immer geglaubt, du wärest aus Zeus' Kopf entsprungen.«

»Danke, ich bin nicht Minerva«, sagte Jane.

»Soweit wir wissen, bist du einfach zufällig entstanden«, sagte Wiggin. »Niemand hat dich geplant.«

»Wie tröstlich«, sagte Jane. »Während ihr also all eure Schöpfer nennen könnt – oder zumindest eure Eltern oder eine väterliche Regierungsabteilung –, bin ich der einzig echte Betriebsunfall im Universum.«

»Du kannst nicht beides haben«, sagte Wiggin. »Entweder hat jemand dich geschaffen, weil er dich sinnvoll einsetzen wollte, oder du bist zufällig entstanden. Und das ist nun mal ein Zufall – etwas, das einfach geschieht, ohne daß jemand es beabsichtigt hat. Willst du also beide Möglichkeiten verabscheuen? Sobald die Menschen von Weg herausgefunden haben, was der Kongreß ihnen angetan hat, werden sie ihn wie verrückt verabscheuen. Wirst du diesen Abscheu empfinden, weil dir niemand etwas angetan hat?«

»Wenn ich will, schon«, sagte Jane, aber mit einem spöttischen Anflug kindlichen Trotzes.

»Ich will dir sagen, was ich glaube«, fuhr Wiggin fort. »Ich glaube, du wirst erst erwachsen, sobald du aufhörst, dir Sorgen über den Sinn des Lebens anderer Leute zu machen und einen Sinn findest, den du für dich akzeptieren kannst.«


Ender und Ela erklärten zuerst Valentine alles, wahrscheinlich, weil sie zufällig in diesem Augenblick auf der Suche nach Ender ins Labor kam, mit dem sie etwas völlig anderes besprechen wollte. Es kam ihr genauso wahr vor wie Ela und Ender. Und genau wie sie begriff auch Valentine, daß sie die Hypothese der Descolada als Regulator der Gaialogie Lusitanias nicht klären konnten, bis sie mit den Pequeninos darüber gesprochen und deren Antwort gehört hatten.

Ender schlug vor, sie sollten es zuerst mit Pflanzer versuchen, bevor sie es Mensch oder Wühler erklärten. Ela und Valentine stimmten ihm zu. Weder Ela noch Ender, der seit Jahren mit den Vaterbäumen sprach, kannten sich so weit mit ihrer Sprache aus, daß sie leichtfertige Erklärungen abgegeben hatten. Wichtiger war jedoch die unausgesprochene Tatsache, daß sie den säugetierähnlichen Brüdern näher standen, als es bei einem Baum jemals der Fall sein konnte. Wie konnten sie, wenn sie einen Baum betrachteten, schließen, was er dachte oder wie er auf ihre Ausführungen reagierte? Nein, wenn sie einem Pequenino etwas sagen mußten, dann zuerst einem Bruder und nicht einem Vaterbaum.

Doch nachdem sie Pflanzer in Elas Büro bestellt, die Tür geschlossen und mit ihrer Erklärung angefangen hatten, begriff Ender, daß ein Gespräch mit einem Bruder kaum leichter war. Selbst nach dreißig Jahren des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit mit ihnen konnte Ender nur die gröbste und offensichtlichste Körpersprache der Pequeninos deuten. Pflanzer hörte anscheinend kaum betroffen zu, während Ender ihm erklärte, was während des Gesprächs mit Jane und Wang-mu ans Licht gekommen war. Er war nicht wie vor den Kopf geschlagen. Er schien eher rastlos wie ein kleiner Junge auf seinem Stuhl zu sitzen, verlagerte ständig sein Gewicht, wandte den Blick von ihnen ab und sah ins Leere, als seien ihre Enthüllungen unsagbar langweilig. Ender wußte natürlich, daß Augenkontakt für die Pequeninos nicht dasselbe bedeutete wie für Menschen; weder suchten noch vermieden sie ihn. Solange man zuhörte, war es ihnen fast völlig gleichgültig, wohin man sah. Doch normalerweise versuchten sich die Pequeninos, die eng mit Menschen zusammenarbeiteten, so zu benehmen, daß die Menschen den Eindruck hatten, sie schenkten ihnen Beachtung. Pflanzer war gut darin, doch im Augenblick versuchte er es erst gar nicht.

Erst als sie alles erklärt hatten, begriff Ender, wieviel Selbstbeherrschung Pflanzer gezeigt hatte, um überhaupt auf dem Stuhl sitzen zu bleiben, bis sie fertig waren. In dem Augenblick, in dem sie ihm sagten, das sei alles gewesen, sprang er hinab und lief – nein, tobte – durch den Raum, berührte alles. Er schlug nicht danach, stieß nichts um, wie ein Mensch es vielleicht getan hätte; statt dessen streichelte er alles, was er berührte, ertastete die Gegenstände. Ender stand da und wartete, daß Pflanzer zu ihm kam, hoffte, ihm etwas Trost bieten zu können, denn er wußte genug vom Verhalten der Pequeninos, um zu begreifen, daß solch ein ungewöhnliches Benehmen nur bedeuten konnte, daß Pflanzer unter höchstem Druck stand.

Pflanzer lief, bis er völlig erschöpft war, machte aber immer noch weiter, torkelte wie betrunken durch den Raum, bis er schließlich gegen Ender prallte, die Arme um ihn warf und sich an ihm festhielt. Einen Augenblick lang wollte Ender ihn ebenfalls umarmen, doch dann erinnerte er sich, daß Pflanzer kein Mensch war. Pflanzer rechnete gar nicht damit, daß Ender die Umarmung erwiderte; er klammerte sich an ihn, wie er sich an einen Baum klammern würde. Er suchte den Trost eines Stammes. Einen sicheren Platz, wo er sich festhalten konnte, bis die Gefahr vorbei war. Ender würde ihm weniger und nicht mehr Trost schenken, wenn er wie ein Mensch reagierte und die Umarmung erwiderte. Er mußte reagieren wie ein Baum. Also hielt er still und wartete. Wartete und hielt still. Bis wenigstens das Zittern aufhörte.

Als sich Pflanzer von ihm löste, waren sie beide in Schweiß gebadet. Meiner Baumähnlichkeit sind wohl Grenzen gesetzt, dachte Ender. Oder geben Mutterbäume und Vaterbäume Feuchtigkeit an die Brüder ab, die sich an sie klammern?

»Das ist sehr überraschend«, flüsterte Pflanzer.

Die Worte waren im Vergleich zu der Szene, die sich gerade abgespielt hatte, so absurd sanft, daß Ender unwillkürlich laut auflachen mußte. »Ja«, sagte er. »Das kann ich mir vorstellen.«

»Für sie ist es nicht komisch«, sagte Ela.

»Das weiß er«, sagte Valentine.

»Dann darf er nicht lachen«, sagte sie. »Du darfst nicht lachen, wenn Pflanzer solchen Schmerz empfindet.« Und sie brach in Tränen aus.

Valentine legte eine Hand auf ihre Schulter. »Er lacht, du weinst«, sagte sie. »Pflanzer läuft herum und klettert auf Bäume. Was für seltsame Tiere wir doch alle sind.«

»Alles kommt von der Descolada«, sagte Pflanzer. »Das dritte Leben, der Mutterbaum, die Vaterbäume. Vielleicht sogar unser Geist. Vielleicht waren wir nur Baumratten, als die Descolada kam und falsche Ramänner aus uns machte.«

»Echte Ramänner«, sagte Valentine.

»Wir wissen nicht, ob es stimmt«, sagte Ela. »Es ist nur eine Hypothese.«

»Es ist sehr, sehr wahr«, sagte Pflanzer. »Wahrer als wahr.«

»Woher willst du das wissen?«

»Alles paßt zusammen. Planetare Regulation – darüber weiß ich Bescheid. Ich habe Gaialogie studiert, und die ganze Zeit über dachte ich, wie kann diese Lehrerin uns diese falschen Dinge erzählen, wenn sich doch jeder Pequenino umsehen und erkennen kann, daß sie falsch sind? Aber wenn wir wissen, daß uns die Descolada verändert, daß sie dafür sorgt, daß wir das planetare System regulieren…«

»Wie kann die Descolada dafür sorgen, daß ihr den Planeten reguliert?« fragte Ela.

»Ihr kennt uns nicht lange genug«, sagte Pflanzer. »Wir haben euch nicht alles gesagt, weil wir dachten, ihr würdet uns für dumm halten. Jetzt wißt ihr, daß wir nicht dumm sind, sondern nur tun, was ein Virus uns sagt. Wir sind keine Dummköpfe, sondern Sklaven.«

Pflanzers Geständnis, daß die Pequeninos noch immer einiges auf sich nahmen, um die Menschen zu beeindrucken, verblüffte Ender. »Wieso hat euer Verhalten etwas mit der Regulierung des Planeten zu tun?«

»Bäume«, sagte Pflanzer. »Wie viele Wälder gibt es auf der ganzen Welt? Sie schwitzen ständig. Verwandeln Kohlendioxyd in Sauerstoff. Kohlendioxyd ist ein Treibhausgas. Wenn mehr davon in der Atmosphäre ist, wird die Welt wärmer. Was müssen wir also tun, um die Welt kälter zu machen?«

»Mehr Wälder pflanzen«, sagte Ela. »Mehr CO2 verbrauchen, damit mehr Wärme in den Raum entweichen kann.«

»Ja«, sagte Pflanzer. »Aber bedenke, wie wir unsere Bäume pflanzen.«

Die Bäume wachsen aus den Leichen der Toten, dachte Ender. »Krieg«, sagte er.

»Es gibt Zwistigkeiten zwischen den Stämmen, und manchmal führen sie kleine Kriege«, sagte Pflanzer. »Das ist im planetaren Maßstab gar nichts. Aber große Kriege, die die ganze Welt überziehen – Millionen und Abermillionen Brüder sterben in diesen Kriegen, und alle werden Bäume. Innerhalb von ein paar Monaten könnten sich die Wälder der Welt in Zahl und Größe verdoppeln. Das würde einen Unterschied machen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Ela.

»Und wäre viel wirksamer als alles, was durch natürliche Evolution geschehen könnten«, sagte Ender.

»Und dann hören die Kriege auf«, sagte Pflanzer. »Wir glauben immer, es gibt große Ursachen für diese Kriege, daß sie Kämpfe zwischen Gut und Böse sind. Und jetzt waren sie die ganze Zeit über nichts als planetare Regulation.«

»Nein«, sagte Valentine. »Das Bedürfnis zu kämpfen, der Zorn, das könnte von der Descolada kommen, aber es heißt nicht, daß die Gründe, weshalb ihr kämpft…«

»Der Grund, weshalb wir kämpfen, ist die planetare Regulation«, sagte Pflanzer. »Alles paßt zusammen. Was glaubt ihr, wie wir helfen, den Planeten zu erwärmen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Ela. »Selbst Bäume sterben schließlich an Altersschwäche.«

»Du weißt es nicht, weil ihr während einer Warmzeit gekommen seid, nicht während einer Kaltzeit. Doch wenn der Winter schlimm wird, bauen wir Häuser. Die Bruderbäume geben sich uns, damit wir Häuser bauen können. Wir alle, nicht nur die, die an kalten Orten leben. Wir alle bauen Häuser, und die Wälder werden um die Hälfte, um drei Viertel reduziert. Wir dachten, das sei ein großes Opfer, das die Bruderbäume dem Stamm zuliebe machen, doch jetzt begreife ich, daß es die Descolada ist, die mehr Kohlendioxyd in der Atmosphäre haben will, um den Planeten zu erwärmen.«

»Es ist trotzdem ein großes Opfer«, sagte Ender.

»All unsere großen Heldenlieder«, sagte Pflanzer. »All unsere Helden. Nur Brüder, die nach dem Willen der Descolada handeln.«

»Na und?« fragte Valentine.

»Wie kannst du das sagen? Ich erfahre, daß unser Leben nichts ist, daß wir nur Werkzeuge sind, die ein Virus benutzt, um das globale Ökosystem zu regulieren, und du sagst ›Na und‹?«

»Ja«, erwiderte Valentine. »Wir Menschen sind nicht anders. Bei uns mag es kein Virus sein, aber wir verbringen die meiste Zeit damit, unserer genetischen Programmierung zu folgen. Nimm die Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Männer neigen von Natur aus zu einer breit gefächerten Reproduktionsstrategie. Da Männer einen fast unbegrenzten Vorrat an Spermien haben und es sie nichts kostet, ihren Samen zu verteilen…«

»Nicht nichts«, sagte Ender.

»… zu verteilen«, fuhr Valentine fort, »besteht ihre vernünftigste Reproduktionsstrategie darin, ihn in jeder verfügbaren Frau zu deponieren – und besondere Anstrengungen zu unternehmen, ihn in den gesundesten Frauen zu deponieren, bei denen es am wahrscheinlichsten ist, daß ihr Nachwuchs ein reproduktionsfähiges Alter erreicht. Rein von der Fortpflanzung her gesehen, täte ein Mann am besten daran, so weit wie möglich herumzuziehen und zu kopulieren.«

»Herumgezogen bin ich«, sagte Ender. »Irgendwie muß ich das Kopulieren verpaßt haben.«

»Ich spreche von allgemein gültigen Trends«, sagte Valentine. »Es gibt immer seltsame Individuen, die die Normen nicht befolgen. Die weibliche Strategie ist genau umgekehrt, Pflanzer. Anstelle von Abermillionen Spermien haben sie nur ein Ei im Monat, und jedes Kind stellt eine gewaltige Investition dar. Also brauchen Frauen Stabilität. Sie müssen sicher sein, immer genug Nahrung zu bekommen. Einen Großteil der Zeit über sind wir relativ hilflos und unfähig, Nahrung zu sammeln oder zu suchen. Wir Frauen ziehen also nicht herum, sondern bleiben an Ort und Stelle und gründen eine Familie. Wenn wir das nicht können, besteht unsere nächstbeste Strategie daraus, uns mit dem stärksten und gesundesten zur Verfügung stehenden Mann zu paaren. Aber am besten ist es, einen starken, gesunden Mann zu haben, der bei uns bleibt und für uns sorgt, anstatt herumzuziehen und frei zu kopulieren.

Männer werden also zweierlei Druck ausgesetzt. Der eine besteht darin, ihren Samen zu verbreiten, der andere, anziehend auf Frauen zu wirken, indem sie stabile Versorger sind – indem sie also das Bedürfnis unterdrücken, herumzuziehen und sich gewaltsam fortzupflanzen. Genauso sind die Frauen zweierlei Druck ausgesetzt. Der eine besteht darin, den Samen des stärksten, lebenstüchtigsten Mannes zu bekommen, damit ihre Kinder gute Gene bekommen; daher wirken die starken, gewalttätigen Männer attraktiv auf sie. Der andere besteht darin, den Schutz des ausgeglichensten, gewaltlosesten Mannes zu bekommen, damit er ihre Kinder beschützt und für sie sorgt und so viele wie möglich von ihnen ein fortpflanzungsfähiges Alter erreichen.

Unsere gesamte Geschichte, alles, was ich auf meinen Wanderungen als reisende Historikerin gefunden habe, bevor ich mich von meinem Bruder löste und eine Familie gründete – all das kann man dahingehend interpretieren, daß die Menschen blindlings diese genetischen Strategien befolgen. Wir werden in diese beiden Richtungen gezerrt.

Unsere großen Zivilisationen sind nichts weiter als Sozialmaschinerien, die den idealen Familienhintergrund schaffen sollen, in der eine Frau auf die Stabilität zählen kann; unser Rechts- und Moralkodex ist der Versuch, die Gewalttätigkeit abzuschaffen, dauernden Besitz zu fördern und Verträge durchzusetzen, und repräsentiert damit die primäre weibliche Strategie, die Zähmung des Mannes.

Und die Stämme wandernder Barbaren außerhalb der Reichweite der Zivilisation verfolgen hauptsächlich die männliche Strategie. Verbreitet den Samen. Innerhalb des Stammes nimmt der stärkste, dominanteste Mann von den besten Frauen Besitz, entweder durch formelle Polygamie oder durch Kopulationen aus dem Augenblick heraus, denen die anderen Männer nichts entgegenzusetzen haben. Doch diese Männer mit niedrigerem Status werden bei der Stange gehalten, indem die Herrscher sie in den Krieg führen und sie ausgiebig vergewaltigen lassen, nachdem sie einen Sieg errungen haben. Sie vollziehen sexuelle Erwünschtheit, indem sie sich einem Gegner im Kampf stellen, dann alle männlichen Rivalen töten und im Falle eines Sieges mit den verwitweten Frauen kopulieren. Ein schreckliches, monströses Verhalten – aber auch ein wachstumsfähiges Ausführen der genetischen Strategie.«

Ender fühlte sich sehr unbehaglich, als er Valentine so reden hörte. Er wußte, daß soweit alles zutraf, und er hatte alles schon einmal gehört, doch es machte ihn betroffen, daß Pflanzer nun ähnliche Dinge über sein eigenes Volk erfahren mußte. Ender wollte alles abstreiten, wollte sagen: Einige Männer sind von Natur aus zivilisiert. Doch war er in seinem Leben nicht auch den Gesetzen der Dominanz und Kriegsführung gefolgt? War er nicht herumgezogen? In diesem Zusammenhang war seine Entscheidung, auf Lusitania zu bleiben, in Wirklichkeit die Entscheidung, sein männlich-dominantes Rollenmodell aufzugeben, das ihm als junger Soldat in der Kampf schule eingegeben worden war, und ein zivilisierter Mann in einer stabilen Familie zu werden.

Doch selbst dann hatte er eine Frau geheiratet, die kein Interesse daran hatte, weitere Kinder zu bekommen. Eine Frau, die sich in der Ehe letztendlich alles andere als zivilisiert erwiesen hatte. Wenn ich dem männlichen Modell folge, bin ich ein Versager. Kein Kind gibt meine Gene weiter. Keine Frau akzeptiert meine Herrschaft. Ich bin eindeutig atypisch.

Doch da ich mich nicht reproduziert habe, werden meine atypischen Gene mit mir sterben, und daher sind die männlichen und weiblichen Sozialmodelle sicher vor einer Person wie mir, die zwischen allen Stühlen steht.

Noch während Ender für sich Valentines Interpretation der Menschheitsgeschichte abschätzte, brachte Pflanzer seine Erwiderung zum Ausdruck, indem er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, eine Geste, die von Verachtung kündete. »Soll ich mich besser fühlen, weil auch die Menschen Werkzeuge eines genetischen Moleküls sind?«

»Nein«, sagte Ender. »Du sollst nur begreifen, daß nicht das gesamte Verhalten der Pequeninos bedeutungslos ist, nur weil ein Großteil dieses Verhaltens als Reaktion auf die Bedürfnisse einiger genetischer Moleküle erklärt werden kann.«

»Die Menschheitsgeschichte kann als Kampf zwischen den Bedürfnissen der Frauen und denen der Männer erklärt werden«, sagte Valentine, »doch ich bin der Meinung, daß es trotzdem Helden und Ungeheuer, große Ereignisse und edle Taten gibt.«

»Wenn ein Bruderbaum sein Holz gibt«, sagte Pflanzer, »sollte es eigentlich bedeuten, daß er sich für den Stamm opfert. Und nicht für einen Virus.«

»Wenn du über den Stamm hinaus zum Virus schauen kannst, dann schau über den Virus hinaus zur Welt«, sagte Ender. »Die Descolada hält diesen Planeten bewohnbar. Also opfert sich der Bruderbaum, um die ganze Welt zu retten.«

»Sehr klug«, sagte Pflanzer. »Doch du vergißt – um den Planeten zu retten, spielt es keine Rolle, welcher Bruderbaum sich opfert, solange es nur eine bestimmte Anzahl tut.«

»Richtig«, sagte Valentine. »Es ist der Descolada gleichgültig, welche Bruderbäume ihr Leben geben. Aber für die Bruderbäume spielt es eine Rolle, oder? Und es spielt eine Rolle für die Brüder wie euch, die sich in diese Häuser kuscheln, um nicht zu erfrieren. Ihr wißt die edle Geste des Bruderbaums, der für euch gestorben ist, zu schätzen, auch wenn die Descolada keinen Bruderbaum vom anderen unterscheiden kann.«

Pflanzer antwortete nicht. Ender hoffte, das als Anzeichen für gewisse Fortschritte sehen zu können.

»Und in den Kriegen«, sagte Valentine, »ist es der Descolada gleichgültig, wer gewinnt oder verliert, solange genug Brüder sterben und genug Bäume aus den Leichen wachsen. Oder? Aber das ändert nichts daran, daß einige Brüder edel und andere feige oder grausam sind.«

»Pflanzer«, sagte Ender, »die Descolada veranlaßt vielleicht all eure Gefühle – daß ihr zum Beispiel viel schneller in eine mörderische Wut fallt –, so daß sich Zwistigkeiten zu Kriegen entwickeln, anstatt unter den Vaterbäumen beigelegt zu werden. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß einige Wälder einfach zur Selbstverteidigung kämpfen und andere einfach blutdürstig sind. Ihr habt noch immer eure Helden.«

»Ich gebe einen Scheißdreck um Helden«, sagte Ela. »Helden neigen dazu, früh zu sterben, wie mein Bruder Quim. Wo ist er jetzt, da wir ihn brauchen? Ich wünschte, er wäre kein Held gewesen.« Sie schluckte und kämpfte gegen die Trauer an.

Pflanzer nickte – eine Geste, die er gelernt hatte, um mit den Menschen kommunizieren zu können. »Wir leben jetzt in Kriegmachers Welt«, sagte er. »Was ist er, wenn nicht ein Vaterbaum, der sich verhält, wie die Descolada es befiehlt? Die Welt wird zu warm. Wir brauchen mehr Bäume. Also ist er mit der Inbrunst erfüllt, die Wälder auszudehnen, Warum? Die Descolada läßt ihn so fühlen. Deshalb hören so viele Brüder und Vaterbäume auf ihn – weil er einen Plan anbietet, ihren Drang zu befriedigen, sich auszubreiten und mehr Bäume zu pflanzen.«

»Weiß die Descolada, daß er all diese neuen Bäume auf anderen Welten pflanzen will?« fragte Valentine. »Das würde nicht viel dazu beitragen, Lusitania abzukühlen.«

»Die Descolada erzeugt den Drang in ihnen«, sagte Pflanzer. »Wie kann ein Virus von Sternenschiffen wissen?«

»Wie kann ein Virus von Mutterbäumen und Vaterbäumen, Brüdern und Gattinnen, Kindern und kleinen Müttern wissen?« sagte Ender. »Das müßte schon ein sehr intelligenter Virus sein.«

»Kriegmacher ist das beste Beispiel für meine Sichtweise«, sagte Valentine. »Sein Name deutet an, daß er im letzten großen Krieg eine wichtige und erfolgreiche Rolle gespielt hat. Erneut entsteht der Druck, die Anzahl der Bäume zu erhöhen. Doch Kriegmacher wendet seinen Drang einem neuen Sinn zu, will neue Wälder schaffen, indem er zu den Sternen greift, anstatt sich mit anderen Pequeninos in einen Krieg zu verzetteln.«

»Wir hätten es sowieso getan, ganz gleich, was Kriegmacher gesagt oder getan hat«, erwiderte Pflanzen. »Seht uns an. Kriegmachers Gruppe schickte sich an, sich auszubreiten und auf anderen Welten neue Wälder zu pflanzen. Doch als sie Vater Quim getötet haben, entstand im Rest von uns eine solche Wut, daß wir losziehen und sie bestrafen wollten. Ein großes Gemetzel, und wieder würden neue Bäume wachsen. Wieder hätten wir getan, was die Descolada verlangt. Und nun, da die Menschen unseren Wald abgebrannt haben, wird Kriegmachers Volk doch noch den Sieg davontragen. So oder so, wir müssen uns ausbreiten und vermehren. Wir greifen nach jeder Entschuldigung, die wir finden können. Die Descolada wird über uns siegen. Wir sind Werkzeuge, die versuchen, sich irgendwie zu überzeugen, unsere Taten wären unsere eigene Idee.«

Er klang so hoffnungslos. Ender fiel nichts mehr ein, was er oder Valentine nicht schon gesagt hatte, um ihn von seiner Schlußfolgerung abzubringen, das Leben der Pequeninos sei unfrei und bedeutungslos.

Also war es Ela, die als nächste sprach, in einem Tonfall der ruhigen Überlegung, der irgendwie zusammenhanglos wirkte, als habe sie die schreckliche Besorgnis vergessen, die Pflanzer überkommen hatte. »Man kann nicht wissen, auf welcher Seite die Descolada stünde, wenn sie von alledem wüßte«, sagte sie.

»Auf welcher Seite wovon?« fragte Valentine.

»Will sie nun eine globale Abkühlung hervorrufen, indem sie hier mehr Wälder pflanzen läßt, oder treibt ihr Instinkt sie zur Ausbreitung, so daß sie sich von den Pequeninos auf andere Welten tragen läßt? Ich meine, was wäre den Virenschöpfern lieber? Den Virus zu verbreiten oder den Planeten zu regulieren?«

»Der Virus will wahrscheinlich beides, und er wird wahrscheinlich auch beides bekommen«, sagte Pflanzer. »Kriegmachers Gruppe wird zweifellos die Kontrolle über die Schiffe bekommen. Doch entweder vorher oder nachher wird es einen Krieg geben, bei dem die Hälfte der Brüder sterben. Nach allem, was wir wissen, veranlaßt die Descolada beides.«

»Nach allem, was wir wissen«, sagte Ender.

»Nach allem, was wir wissen«, sagte Pflanzer, »sind wir vielleicht die Descolada.«

Also, dachte Ender, sind sie sich doch dieser Möglichkeit bewußt, trotz unseres Entschlusses, sie den Pequeninos noch nicht beizubringen.

»Hast du mit Quara gesprochen?« fragte Ela.

»Ich spreche jeden Tag mit ihr«, sagte Pflanzer. »Aber was hat sie damit zu tun?«

»Sie ist derselben Auffassung. Daß die Intelligenz der Pequeninos vielleicht von der Descolada kommt.«

»Glaubt ihr, nach all euren Gesprächen darüber, die Descolada sei vielleicht intelligent, wäre uns das noch nicht in den Sinn gekommen?« sagte Pflanzer. »Und was werdet ihr tun, wenn es stimmt? Eure gesamte Spezies sterben lassen, damit wir unsere kleinen zweitklassigen Gehirne behalten können?«

Ender protestierte sofort. »Wir haben eure Gehirne nie für…«

»Ach nein?« sagte Pflanzer. »Warum glaubt ihr denn, wir würden diese Möglichkeit erst in Betracht ziehen, wenn ihr Menschen uns mit der Nase darauf stoßt?«

Ender hatte keine gute Antwort. Er mußte sich eingestehen, daß er die Pequeninos in mancher Hinsicht für Kinder hielt, die beschützt werden mußten. Probleme mußte man ihnen verheimlichen. Ihm war nicht in den Sinn gekommen, daß sie durchaus imstande waren, die schrecklichsten Tatbestände selbst herauszufinden.

»Und wenn unsere Intelligenz von der Descolada kommt, und wenn ihr eine Möglichkeit findet, sie zu vernichten… was wird dann aus uns?« Pflanzer sah sie an, triumphierend in seinem bitteren Sieg. »Baumratten«, sagte er.

»Das ist das zweite Mal, daß du diesen Ausdruck benutzt hast«, sagte Ender. »Was sind Baumratten?«

»Das haben einige der Männer gerufen, die den Mutterbaum getötet haben«, sagte Pflanzer.

»So ein Tier gibt es nicht«, sagte Valentine.

»Ich weiß«, erwiderte Pflanzer. »Grego hat es mir erklärt. ›Baumratte‹ ist ein Ausdruck für Eichhörnchen. Im Gefängnis zeigte er mir auf seinem Computer ein Holo von einem.«

»Du hast Grego besucht?« Ela war schlichtweg entsetzt.

»Ich mußte ihn fragen, warum er versucht hat, uns erst zu töten und dann zu retten«, sagte Pflanzer.

»Na also!« rief Valentine triumphierend. »Du mußt doch einsehen, daß das, was Grego und Miro an diesem Abend getan haben… zu verhindern, daß der Mob Wühler und Mensch verbrennt… du mußt doch einsehen, daß sie dabei nicht einfach ihren genetischen Triebfedern gefolgt sind!«

»Ich habe niemals gesagt, das menschliche Verhalten sei bedeutungslos«, erwiderte Pflanzer. »Ihr habt versucht, mich mit dieser Vorstellung zu trösten. Wir wissen, daß ihr Menschen eure Helden habt. Wir Pequeninos hingegen sind nur Werkzeuge gaialogischer Viren.«

»Nein«, sagte Ender. »Es gibt auch Helden unter den Pequeninos. Wühler und Mensch zum Beispiel.«

»Helden?« sagte Pflanzer. »Sie haben getan, was sie getan haben, um zu bekommen, was sie bekommen haben – ihren Status als Vaterbäume. Vielleicht haben sie auf euch Menschen, die nur einmal sterben, wie Helden gewirkt, doch der Tod, den sie erlitten haben, war in Wirklichkeit eine Geburt. Sie haben sich nicht geopfert.«

»Dann hat sich euer ganzer Wald heldenhaft benommen«, sagte Ela. »Ihr habt euch von den alten Wegen gelöst und einen Vertrag mit uns geschlossen, der von euch verlangte, mit einigen eurer am tiefsten verwurzelten Bräuche zu brechen.«

»Wir wollen das Wissen, die Maschinen und die Macht, die ihr Menschen hattet. Was ist heldenhaft an einem Vertrag, der nur von uns verlangt, daß wir euch nicht mehr töten, und uns dafür einen Sprung von tausend Jahren in unserer technologischen Entwicklung gibt?«

»Du willst einfach keinen positiven Schluß gelten lassen, nicht wahr?« sagte Valentine.

Pflanzer ignorierte sie. »Die einzigen Helden in dieser Geschichte«, fuhr er fort, »waren Pipo und Libo, die Menschen, die so tapfer handelten, obwohl sie wußten, daß sie sterben würden. Sie hatten die Freiheit von ihrer genetischen Abstammung gewonnen. Welches Schweinchen hat das jemals geschafft?«

Es machte Ender sehr betroffen, daß Pflanzer für sich und sein Volk den Begriff Schweinchen benutzte. In den letzten Jahren war dieses Wort nicht mehr so freundschaftlich benutzt worden wie zu der Zeit, als Ender auf Lusitania eingetroffen war; es galt nun als verächtlich, und die Menschen, die mit den Bewohnern des Planeten zusammenarbeiteten, benutzten nun den Begriff Pequenino. Was für ein Haß auf sich selbst trieb Pflanzer dazu, und stellte er eine Reaktion auf das dar, was er heute erfahren hatte?

»Die Bruderbäume geben ihr Leben«, warf Ela hilfreich ein.

Doch Pflanzer antwortete voller Verachtung. »Die Bruderbäume leben nicht so wie die Vaterbäume. Sie können nicht sprechen. Sie können nur gehorchen. Wir sagen ihnen, was sie tun sollen, und sie haben keine Wahl. Werkzeuge, keine Helden.«

»Mit der richtigen Geschichte kannst du alles verdrehen«, sagte Valentine. »Du kannst jedes Opfer abstreiten, indem du sagst, derjenige, der sich geopfert hat, habe sich so gut dabei gefühlt, daß es eigentlich gar kein Opfer war, sondern nur ein selbstsüchtiger Akt.«

Plötzlich sprang Pflanzer von dem Stuhl auf. Ender rechnete damit, daß er sich wie vorhin verhielt, doch er lief nicht durch den Raum. Statt dessen ging er zu Ela, die auf ihrem Stuhl saß, und legte beide Hände auf ihre Knie.

»Ich weiß, wie ich ein echter Held sein kann«, sagte er. »Ich weiß, wie ich gegen die Descolada vorgehen kann. Wie ich sie zurückweisen und bekämpfen und hassen und dazu beitragen kann, sie zu vernichten.«

»Ich auch«, sagte Ela.

»Ein Experiment«, sagte Pflanzer.

Sie nickte. »Um festzustellen, ob die Intelligenz der Pequeninos tatsächlich in der Descolada und nicht im Gehirn verankert ist.«

»Ich mache es«, sagte Pflanzer.

»Ich hätte dich niemals darum gebeten.«

»Ich weiß, daß du mich nie gebeten hättest. Ich verlange es von mir aus.«

Es überraschte Ender, daß sich Ela und Pflanzer auf ihre Art genauso nahe standen wie Ender und Valentine, daß sie die Gedanken des anderen kannten, ohne sich erklären zu müssen. Ender hatte nicht geglaubt, daß dies zwischen zwei Wesen unterschiedlicher Spezies möglich sein konnte. Andererseits jedoch – warum sollte es nicht möglich sein? Besonders, wenn sie so eng in derselben Umgebung zusammenarbeiteten.

Ender brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was Pflanzer und Ela untereinander vereinbart hatten; Valentine, die nicht wie Ender schon seit Jahren mit ihnen zusammenarbeitete, begriff es noch immer nicht. »Was ist los?« fragte sie. »Wovon sprechen sie?«

Ela antwortete. »Pflanzer schlägt vor, daß wir einen Pequenino von allen Descolada-Viren befreien, ihn an einen sauberen Ort bringen, wo er nicht verseucht werden kann, und feststellen, ob er dann noch einen Verstand hat.«

»Das kann keine gute Wissenschaft sein«, sagte Valentine. »Dabei treten zu viele Variable auf. Ich dachte, die Descolada spiele bei jedem Teil des Lebens eines Pequeninos eine Rolle.«

»Ohne die Descolada würde Pflanzer augenblicklich krank werden und dann schließlich sterben. Was das Vorhandensein der Descolada Quim angetan hat, wird ihr Fehlen Pflanzer antun.«

»Das heißt, wir dürfen es nicht zulassen«, sagte Valentine. »Es würde nichts beweisen. Vielleicht verliert er wegen der Krankheit den Verstand. Fieber läßt die Patienten ins Delirium stürzen.«

»Was können wir sonst tun?« fragte Pflanzer. »Abwarten, bis Ela eine Möglichkeit findet, den Virus zu zähmen, nur um dann herauszufinden, daß wir ohne seine intelligente, virulente Erscheinungsform keine Pequeninos, sondern nur Schweinchen sind? Daß wir nur die Fähigkeit der Sprache haben, wenn der Virus in uns ist, und daß wir, wenn man ihn zähmen kann, alles verlieren und nicht mehr werden können als Bruderbäume? Sollen wir das herausfinden, wenn ihr den Virustöter einsetzt?«

»Aber es ist kein ernsthaftes, kontrollierbares Experiment…«

»Doch, es ist ein ernsthaftes Experiment«, sagte Ender, »Ein Experiment, wie man es durchführt, wenn man einen Dreck um die Grundlagen gibt und sofort Ergebnisse braucht. Ein Experiment, wie man es durchführt, wenn man keine Vorstellung hat, wie das Ergebnis aussehen wird, oder auch nur, ob man es interpretieren kann. Doch ein Haufen verrückter Pequeninos haben vor, Sternenschiffe zu besteigen und eine absolut tödliche Krankheit in der ganzen Galaxis zu verbreiten. Also müssen wir etwas tun.«

»Es ist ein Experiment«, sagte Pflanzer, »wie man es durchführt, wenn ihr einen Held braucht.«

»Wenn wir einen Held brauchen?« fragte Ender. »Oder wenn du ein Held sein mußt?«

»Ich würde an deiner Stelle nicht so sprechen«, sagte Valentine trocken. »Du hast im Verlauf der Jahrhunderte selbst ein paar Auftritte als Held gehabt.«

»Es ist nicht gesagt, daß wir dabei etwas erfahren«, warf Ela ein. »Quara weiß viel mehr über die Descolada, als sie uns verrät. Vielleicht weiß sie auch schon, ob man die Intelligenzadaption der Descolada von ihren lebenserhaltenden Funktionen trennen kann. Wenn wir so einen Virus schaffen könnten, könnten wir die Auswirkung der Descolada auf die Intelligenz der Pequeninos testen, ohne das Leben des Versuchsobjekts zu gefährden.«

»Das Problem ist nur«, sagte Valentine, »daß Quara uns wohl genausowenig die Geschichte glauben wird, daß die Descolada ein künstliches Objekt ist, das von einer anderen Spezies geschaffen wurde, wie Qing-jao glauben konnte, daß die Stimme ihrer Götter nur ein genetisch verursachtes unbewußt-zwanghaftes Verhalten ist.«

»Du begreifst, daß der Versuch vielleicht sinnlos ist«, sagte Ela.

»Dann wäre es wirklich ein Opfer«, sagte Pflanzer.

»Wenn du anfängst, den Verstand auf eine Art und Weise zu verlieren, die eindeutig in keinem Zusammenhang mit der Krankheit deines Körpers steht, werden wir das Experiment abbrechen, weil wir die Antwort haben.«

»Vielleicht«, sagte Pflanzer.

»Es ist möglich, daß du dich dann wieder erholst.«

»Mir ist es gleichgültig, ob ich mich erhole oder nicht.«

»Wir werden es auch abbrechen«, sagte Ender, »wenn du den Verstand auf eine Art und Weise verlierst, die im Zusammenhang mit der Krankheit deines Körpers steht, denn dann werden wir wissen, daß das Experiment sinnlos ist und wir nichts aus ihm erfahren werden.«

»Wenn ich ein Feigling bin, muß ich nur vorgeben, den Verstand zu verlieren, und mein Leben wird gerettet«, sagte Pflanzer. »Nein, ganz gleich, was geschieht, ich verbiete euch, das Experiment abzubrechen. Und falls ich bei Verstand bleibe, müßt ihr mich bis zum Tod weitermachen lassen, denn nur wenn ich bis zum Ende bei Verstand bleibe, werden wir wissen, daß unsere Seele nicht nur ein Kunstprodukt der Descolada ist. Versprecht es mir!«

»Ist das Wissenschaft oder ein Abkommen zum Selbstmord?« fragte Ender. »Bist du so versessen darauf, die wahrscheinliche Rolle der Descolada in der Geschichte der Pequeninos herauszufinden, daß du unbedingt sterben willst?«

Pflanzer stürmte zu Ender, kletterte an seinem Körper hoch und drückte die Nase gegen die Enders. »Du Lügner!« schrie er.

»Ich habe nur eine Frage gestellt«, flüsterte Ender.

»Ich will frei sein!« rief Pflanzer. »Ich will, daß die Descolada aus meinem Körper verschwindet und nie mehr zurückkehrt! Ich will helfen, alle Schweinchen zu befreien, damit wir in Wirklichkeit und nicht nur dem Namen nach Pequeninos sein können!«

Ender schob ihn sanft zurück. Seine Nase schmerzte von Pflanzers Druck.

»Ich will ein Opfer machen, das beweist, daß ich frei bin«, sagte Pflanzer, »und nicht nur handeln, wie meine Gene es vorschreiben. Nicht nur ins dritte Leben gehen.«

»Selbst die Märtyrer des Christentums und Islams waren bereit, im Himmel für ihre Opfer eine Belohnung anzunehmen«, sagte Valentine.

»Dann waren sie alle selbstsüchtige Schweine«, sagte Pflanzer. »Das sagt ihr doch über Schweine, nicht wahr? Selbstsüchtige Schweine. Das ist der richtige Name für uns Schweinchen, nicht wahr? Unsere Helden haben alle versucht, Vaterbäume zu werden. Unsere Bruderbäume waren von Anfang an Versager. Außer uns selbst dienen wir nur der Descolada. Nach allem, was wir wissen, sind wir vielleicht sogar die Descolada. Aber ich werde frei sein. Ich werde wissen, was ich bin, ohne die Descolada oder meine Gene oder irgend etwas außer mir.«

»Du wirst tot sein«, sagte Ender.

»Aber zuerst frei«, sagte Pflanzer. »Und der erste meines Volkes, der frei sein wird.«


Nachdem Wang-mu und Jane Meister Han alles berichtet hatten, was sich an diesem Tag zugetragen hatte, nachdem das Haus in der Dunkelheit der Nacht still geworden war, lag Wang-mu auf ihrer Matte in der Ecke von Meister Hans Zimmer noch wach, lauschte seinem leisen, aber beharrlichen Schnarchen und dachte über alles nach, was an diesem Tag gesagt worden war.

Sie hatten so viele Ideen hervorgebracht, und die meisten davon standen so hoch über ihr, daß sie daran verzweifelte, sie wirklich zu verstehen. Besonders, was Wiggin über Sinn und Absicht gesagt hatte. Sie sprachen ihr den Ruhm zu, auf eine Lösung für das Problem des Descolada-Virus gekommen zu sein, und doch konnte sie den Ruhm nicht akzeptieren, weil sie es nicht gewollt hatte; sie hatte gedacht, sie würde lediglich Qing-jaos Fragen wiederholen. Konnte sie den Ruhm für etwas akzeptieren, das sie völlig zufällig getan hatte?

Man sollte die Menschen nur für etwas verdammen oder loben, was sie wirklich gewollt hatten. Wang-mu hatte instinktiv immer daran geglaubt; sie erinnerte sich nicht daran, daß es ihr jemand mit so vielen Worten gesagt hatte. Die Verbrechen, die sie dem Kongreß vorwarf, waren alle absichtlich durchgeführt worden – die genetische Veränderung der Menschen von Weg, um die Gottberührten zu schaffen, und die Aussendung des M.D.-Geräts, um die Heimat der einzig anderen vernunftbegabten Rasse zu vernichten, die ihres Wissens im Universum existierte.

Doch wollten sie das auch? Viele von ihnen glaubten zumindest, sie würden das Universum für die Menschheit sicherer machen, indem sie Lusitania zerstörten – nach allem, was Wang-mu über die Descolada gehört hatte, konnte es das Ende allen erdgeborenen Lebens bedeuten, wenn sie sich von einer von Menschen besiedelten Welt zur nächsten ausbreitete. Vielleicht hatten auch einige Mitglieder des Kongresses die Gottberührten von Weg geschaffen, damit die gesamte Menschheit einen Nutzen davon hatte, doch ihnen dann das UZV in die Gehirne gepflanzt, damit sie nicht außer Kontrolle geraten und alle unterlegenen, »normalen« Menschen versklaven konnten. Vielleicht hatten sie bei den schrecklichen Dingen, die sie getan hatten, eine gute Absicht im Sinn gehabt.

Und Qing-jao hatte auch eine gute Absicht im Sinn, nicht wahr? Wie konnte Wang-mu sie also wegen ihrer Taten verdammen, wenn sie glaubte, sie würde den Göttern gehorchen?

Hatte nicht jeder bei all seinen Taten eine edle Absicht im Sinn? War nicht jeder seiner Meinung zufolge gut?

Bis auf mich, dachte Wang-mu. In meinen Augen bin ich töricht und schwach. Aber sie haben von mir gesprochen, als sei ich besser, als ich je annahm. Auch Meister Han hat mich gelobt. Und diese anderen haben mit Mitleid und Verachtung von Qing-jao gesprochen – und auch ich bringe ihr diese Gefühle entgegen. Doch verhält sich Qing-jao nicht edel, und verhalte ich mich nicht unwürdig? Ich habe meine Herrin verraten. Sie ist ihrer Regierung und ihren Göttern gegenüber, die für sie echt sind, obwohl ich nicht mehr an sie glaube, treu ergeben. Wie kann ich die guten Menschen von den schlechten unterscheiden, wenn die Schlechten irgendwie alle überzeugt sind, daß sie versuchen, Gutes zu tun, obwohl sie in Wirklichkeit etwas Schreckliches tun? Und die guten Menschen glauben, sehr schlecht zu sein, obwohl sie in Wirklichkeit Gutes tun?

Vielleicht kann man nur Gutes tun, wenn man sich für schlecht hält, und wenn man sich für gut hält, kann man nur Schlechtes tun.

Doch dieses Paradoxon war zu viel für sie. Die Welt war sinnlos, wenn man Menschen am Gegenteil von dem abschätzen mußte, was sie zu sein versuchten. War es einem guten Menschen denn nicht möglich, auch zu versuchen, einen guten Eindruck zu machen? Und nur, daß jemand behauptete, Abschaum zu sein, bedeutete noch lange nicht, daß er auch Abschaum war. Gab es denn keine Möglichkeit, die Menschen abzuschätzen, wenn man sie nicht einmal nach ihren Zielen abschätzen konnte?

Gab es keine Möglichkeit für Wang-mu, sich selbst abzuschätzen?

Die halbe Zeit über weiß ich nicht einmal, welchen Zweck das hat, was ich tue. Ich kam in dieses Haus, weil ich ehrgeizig war und die geheime Magd eines reichen, gottberührten Mädchens sein wollte. Es war reiner Egoismus meinerseits und reine Großzügigkeit von Qing-jao, daß sie mich aufgenommen hat. Und nun helfe ich Meister Han, Verrat zu begehen – was für einen Sinn hat meine Mitwirkung dabei? Ich weiß nicht einmal, warum ich tue, was ich tue. Wie kann ich wissen, was andere Menschen in Wirklichkeit beabsichtigen? Es gibt keine Hoffnung, jemals das Böse vom Guten unterscheiden zu können.

Sie setzte sich in der Lotusposition auf ihrer Matte auf und drückte die Hände vors Gesicht. Es war, als drücke sie ihr Gesicht gegen eine Wand, doch es war eine Wand, die sie selbst geschaffen hatte, und wenn sie nur die Möglichkeit finden konnte, sie zur Seite zu schieben konnte sie vielleicht zur Wahrheit vorstoßen.

Sie nahm die Hände weg und öffnete die Augen. Auf der anderen Seite des Zimmers stand Meister Hans Terminal. Hier hatte sie heute die Gesichter Elanora Ribeira von Hesses und Andrew Wiggins gesehen. Und Janes Gesicht.

Sie erinnerte sich daran, daß Wiggin ihr erklärt hatte, wie Götter in Wirklichkeit waren. Echte Götter würden einen nur lehren wollen, genau wie sie zu sein. Warum hatte er das gesagt? Wie konnte er wissen, wie ein Gott sein würde?

Jemand, der einen alles lehren will, was er weiß, der will, daß man tut, was immer er tut – Wiggin hatte in Wirklichkeit Eltern beschrieben, keine Götter.

Nur, daß es viele Eltern gab, die das nicht taten. Viele Eltern, die versuchten, ihre Kinder unten zu halten, sie zu beherrschen, Sklaven aus ihnen zu machen. Wo Wang-mu aufgewachsen war, hatte sie es oft genug gesehen.

Wiggins hatte ihr also eigentlich auch keine Eltern beschrieben. Er hatte gute Eltern beschrieben. Er hatte ihr nicht gesagt, was Götter waren, sondern was Güte war. Zu wollen, daß andere Menschen all die guten Dinge hatten, die man selbst hat. Und ihnen die schlechten zu ersparen, wenn man kann. Das war Güte.

Was waren dann die Götter? Sie würden wollen, daß alle anderen alle guten Dinge kannten und hatten. Sie würden einen lehren, mit einem teilen und einen ausbilden, aber einen niemals zu etwas zwingen.

Wie meine Eltern, dachte Wang-mu. Manchmal dumm und unbeholfen, wie alle Menschen, aber gut. Sie haben wirklich für mich gesorgt. Sogar als sie mich zwangen, etwas Schweres zu tun, weil sie wußten, daß es gut für mich war. Sogar, wenn sie sich manchmal irrten, waren sie gut. Ich kann sie also doch nach ihren Zielen abschätzen. Alle behaupten, gute Ziele zu haben, doch die meiner Eltern waren wirklich gut, weil alles, was sie taten, mir helfen sollte, klüger und stärker und besser zu werden. Selbst wenn sie mich zwangen, etwas Schweres zu tun, weil sie wußten, daß ich daraus lernte. Selbst wenn sie mir Schmerzen zufügten.

Das war es. So würden die Götter sein, wenn es Götter gäbe. Sie würden wollen, daß alle anderen alle guten Dinge im Leben hatten, zum Beispiel gute Eltern. Doch im Gegensatz zu Eltern und allen anderen Menschen würden die Götter wirklich wissen, was gut war, und die Macht haben, Gutes zu veranlassen, selbst wenn kein anderer wußte, daß es gut war. Wie Wiggin gesagt hat… echte Götter würden klüger und stärker als alle anderen sein. Sie würden alle Intelligenz und Macht haben, die man nur haben konnte.

Doch solch ein Wesen zu sein – wie konnte jemand wie Wang-mu über einen Gott urteilen? Sie konnte ihre Ziele nicht begreifen, auch wenn sie sie ihr verrieten. Wie konnte sie also jemals wissen, daß es gute Ziele waren? Doch alle anderen Möglichkeiten – ihnen zu vertrauen und absolut an sie zu glauben – war das nicht genau das, was Qing-jao tat?

Nein. Wenn sie wirklich Götter waren, würden sie niemals handeln, wie Qing-jao es annahm – andere Menschen versklaven, quälen und erniedrigen.

Außer, wenn Qualen und Erniedrigungen gut für sie waren…

Nein! Sie hätte fast laut aufgeschrien und drückte erneut die Hände vors Gesicht.

Ich kann nur nach dem, was ich verstehe, ein Urteil fällen. Wenn die Götter, an die Qing-jao glaubt, nach dem, was ich verstehen kann, nur böse sind, dann irre ich mich vielleicht, ja, dann verstehe ich vielleicht das große Ziel nicht, das sie erreichen wollen, indem sie die Gottberührten zu hilflosen Sklaven degradierten oder eine ganze Spezies vernichteten. Aber in meinem Herzen habe ich keine andere Wahl, als solche Götter abzulehnen, weil ich nichts Gutes in dem sehen kann, was sie tun. Vielleicht bin ich so dumm und töricht, daß ich immer der Feind der Götter sein und gegen ihre hohen und unverständlichen Ziele arbeiten werde. Aber ich muß mein Leben nach dem leben, was ich verstehe, und ich verstehe, daß es keine solchen Götter gibt, wie die Gottberührten uns weismachen wollen. Wenn sie doch existieren, finden sie Vergnügen an Unterdrückung und Täuschung, Erniedrigung und Unwissenheit. Sie wollen andere Menschen kleiner und sich selbst größer machen. Das wären dann keine Götter, selbst wenn es sie gäbe. Es wären Feinde. Teufel.

Dasselbe gilt für die Wesen, die den Descolada-Virus geschaffen haben. Ja, sie müssen schon sehr mächtig sein, um so ein Werkzeug schaffen zu können. Doch sie müssen auch herzlos, selbstsüchtig und arrogant sein, um zu glauben, sie könnten alles Leben im Universum manipulieren, wie sie es für richtig halten. Auch das können keine Götter sein.

Jane – nun, Jane mochte eine Göttin sein. Ihr stand eine gewaltige Menge an Informationen zur Verfügung, und sie handelte zum Wohl von anderen, selbst wenn es sie das Leben kosten sollte. Und Andrew Wiggin, er mochte auch ein Gott sein, so klug und freundlich, wie er wirkte, und er suchte nicht seinen eigenen Nutzen, sondern das Wohl der Pequeninos. And Valentine, die sich Demosthenes nannte – sie hatte versucht, anderen Menschen zu helfen, die Wahrheit zu finden und auf dieser Grundlage selbst kluge Entscheidungen treffen zu können. Und Meister Han, der immer versuchte, das Richtige zu tun, selbst wenn es ihn seine Tochter kostete. Vielleicht sogar Ela, die Wissenschaftlerin, obwohl sie nicht alles gewußt hatte, was sie hätte wissen sollen – denn es beschämte sie nicht, die Wahrheit von einem Dienstmädchen zu erfahren.

Natürlich waren das nicht die Götter, die im Unendlichen Westen lebten, im Palast der Königlichen Mutter. Noch hielten sie sich selbst für Götter – sie hätten schon allein über diesen Gedanken gelacht. Doch im Vergleich zu ihr waren sie in der Tat Götter. Sie waren um so vieles klüger als Wang-mu, und soweit Wang-mu ihre Ziele verstehen konnte, versuchten sie, anderen Menschen zu helfen, so klug und mächtig wie möglich zu werden. Obwohl sich Wang-mu vielleicht also irren mochte, wußte sie, daß ihre Entscheidung, mit diesen Menschen zusammenzuarbeiten, die richtige war.

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