Kapitel 2 Eine Begegnung


›Das Seltsamste an den Menschen ist, wie sich die Männer und Frauen zusammenfinden. Sie liegen ständig im Krieg miteinander, können sich nie in Ruhe lassen. Sie scheinen einfach nicht zu begreifen, daß Männer und Frauen zwei verschiedene Spezies mit völlig anderen Bedürfnissen und Wünschen sind, die lediglich zusammenkommen müssen, um sich zu fortzupflanzen.‹

›Natürlich empfindest du so. Deine Paarungsgefährten sind nur verstandlose Drohnen, Ausweitungen deines Ichs, ohne eigene Identität.‹

›Wir kennen unsere Liebhaber und haben ein perfektes Verständnis für sie. Die Menschen erfinden einen imaginären Liebhaber und legen diese Maske auf das Gesicht des Körpers in ihrem Bett.‹

›Das ist die Tragik der Sprache, mein Freund. Die, die einander nur durch symbolische Darstellungen kennen, sind gezwungen, einander vorzustellen. Und weil ihre Vorstellungskraft nicht vollkommen ist, irren sie sich oft.‹

›Das ist die Quelle ihres Elends.‹

›Und zum Teil auch ihrer Kraft, glaube ich. Dein Volk und meins paaren sich, jeweils aus eigenen evolutionsbedingten Gründen, mit völlig verschiedenartigen Partnern. Unsere Partner sind uns intellektuell immer hoffnungslos unterlegen. Menschen paaren sich mit Wesen, die ihre Überlegenheit herausfordern. Es gibt Konflikte zwischen den Partnern, aber nicht, weil ihre Kommunikation der unseren unterlegen ist, sondern weil sie überhaupt miteinander kommunizieren.‹


Valentine Wiggin las ihren Aufsatz noch einmal durch und nahm hier und da ein paar Korrekturen vor. Als sie fertig war, standen die Worte über ihrem Computerterminal in der Luft. Sie war sehr mit sich zufrieden, Rymus Ojman, den Vorsitzenden des Kabinetts des Sternenwege-Kongresses, so deftig und ironisch auseinandergenommen zu haben.

»Haben wir einen weiteren Angriff auf die Herren der Hundert Welten abgeschlossen?«

Valentine drehte sich nicht zu ihrem Mann um. Anhand seiner Stimme wußte sie genau, was für ein Ausdruck auf seinem Gesicht lag, und so erwiderte sie das Lächeln, ohne ihn anzusehen. Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe konnten sie einander deutlich sehen, ohne hinschauen zu müssen. »Wir haben Rymus Ojman ins Lächerliche gezogen.«

Jakt beugte sich in ihr winziges Büro. Sein Gesicht war dem ihren so nahe, daß sie seinen leisen Atem hören konnte, als er die ersten Absätze las. Er war nicht mehr jung; die Anstrengung, sich in ihr Büro zu beugen, die Hände auf den Türrahmen zu legen, ließ seinen Atem schneller gehen, als es ihr gefiel.

Dann sprach er, doch sein Gesicht war so nahe, daß sie spürte, wie seine Lippen ihre Wangen streiften. Die Berührung kitzelte bei jedem Wort. »Von jetzt an wird sogar seine Mutter hinter vorgehaltener Hand lachen, wann immer sie den armen Hund sieht.«

»Es war nicht leicht, es komisch zu machen«, sagte Valentine. »Ich ertappte mich immer wieder, wie ich ihn brandmarkte.«

»So ist es besser.«

»Oh, ich weiß. Hätte ich meine Wut offen gezeigt, hätte ich ihn all seiner Verbrechen bezichtigt, wäre er nur um so mächtiger und furchtbarer erschienen, und die Herrschaft-durch-Gesetze-Fraktion hätte ihn um so mehr geliebt, während die Feiglinge auf allen Welten sich nur um so tiefer vor ihm verbeugt hätten.«

»Wenn sie sich noch tiefer verbeugen wollen, müssen sie dünnere Teppiche kaufen«, sagte Jakt.

Sie lachte, vor allem, weil das Kitzeln seiner Lippen auf ihrer Wange unerträglich wurde. Allmählich quälte es, sie auch mit einem Verlangen, das auf dieser Reise einfach nicht befriedigt werden konnte. Das Sternenschiff war zu klein und überfüllt; ihre ganze Familie befand sich an Bord, und so etwas wie eine Privatsphäre gab wirklich nicht. »Jakt, wir haben die Hälfte der Strecke bald hinter uns. Wir haben während der Mischmisch-Fänge jedes Jahr unseres Lebens länger enthaltsam gelebt.«

»Wir könnten ein Schild an die Tür hängen. Bitte nicht stören!«

»Dann könntest du genauso gut das Schild an die Tür hängen: ›Drinnen frischt nacktes älteres Ehepaar Erinnerungen auf.‹«

»Damit meinst du doch nicht mich?«

»Du bist über sechzig.«

»Wenn sich der ältere Soldat noch erheben und salutieren kann, soll er ruhig bei der Parade mitmarschieren.«

»Keine Parade, bis die Reise vorüber ist. Es sind ja nur noch ein paar Wochen. Wir haben nur noch das Treffen mit Enders Stiefsohn vor uns, und dann nehmen wir wieder Kurs auf Lusitania.«

Jakt wich von ihr zurück, schob sich über die Schwelle und richtete sich im Gang auf – einer der wenigen Stellen im Raumschiff, wo er wirklich aufrecht stehen konnte. Doch er stöhnte dabei.

»Du knarrst wie eine rostige alte Tür«, sagte Valentine.

»Ich habe gehört, wie du die gleichen Geräusche machtest, als du von deinem Schreibtisch aufgestanden bist. Ich bin nicht der einzige senile, klapprige, elende alte Tattergreis in unserer Familie.«

»Verschwinde und laß mich den Artikel senden.«

»Ich bin es gewohnt, auf einer Reise arbeiten zu müssen«, sagte Jakt. »Aber hier erledigen die Computer alles, und dieses Schiff rollt oder schlingert niemals in der See.«

»Lies ein Buch.«

»Ich mache mir Sorgen um dich. Soviel Arbeit und keine Spiele lassen Val zu einer griesgrämigen alten Schachtel werden.«

»Jede Minute, die wir uns hier unterhalten, entspricht achteinhalb Stunden Realzeit.«

»Unsere Zeit hier auf diesem Raumschiff ist genauso real wie ihre Zeit da draußen«, sagte Jakt. »Manchmal wünschte ich, Enders Freunde hätten keine Möglichkeit gefunden, daß unser Raumschiff Verbindung mit dem Land hält.«

»Dafür ist eine gewaltige Menge Computerzeit erforderlich«, sagte Val. »Bislang konnte nur das Militär mit fast lichtschnell fliegenden Raumschiffen kommunizieren. Wenn Enders Freunde das bewerkstelligen konnten, bin ich es ihnen schuldig, es auch zu benutzen.«

»Du tust das alles doch nicht, weil du jemandem etwas schuldig bist.«

Das entsprach allerdings der Wahrheit. »Wenn ich jede Stunde einen Essay schreibe, Jakt, bedeutet das für den Rest der Menschheit, daß Demosthenes nur alle drei Wochen etwas veröffentlicht.«

»Du kannst unmöglich jede Stunde einen Essay schreiben. Du mußt schlafen und essen.«

»Du sprichst, ich höre zu. Verschwinde, Jakt.«

»Wenn ich gewußt hätte, daß die Rettung eines Planeten vor der Vernichtung bedeuten würde, daß ich wie ein Eunuch leben muß, hätte ich niemals zugestimmt.«

Das war nur halb im Spaß gesagt. Es war für ihre gesamte Familie eine schwere Entscheidung gewesen, Trondheim zu verlassen – auch für sie, obschon sie wußte, daß sie Ender wiedersehen würde. Die Kinder waren jetzt alle beinahe erwachsen; sie betrachteten diese Reise als großes Abenteuer. Ihre Vorstellungen von der Zukunft waren nicht so sehr an einen bestimmten Ort gebunden. Keiner von ihnen war wie ihr Vater Seemann geworden; sie alle wollten Gelehrte oder Wissenschaftler werden und wie ihre Mutter ein Leben mit öffentlichen Vorträgen und privaten Betrachtungen führen. Sie konnten ihr Leben ohne große Veränderungen auf jeder Welt verbringen. Jakt war stolz auf sie, andererseits jedoch enttäuscht, daß die sieben Generationen zurückreichende Familientradition, das Leben auf den Meeren Trondheims zu verbringen, mit ihm enden würde. Trondheim aufzugeben war das schwerste, was sie je von Jakt hätte verlangen können, und er hatte ohne Zögern zugestimmt.

Vielleicht würde er eines Tages dorthin zurückkehren, und die Meere, das Eis, die Stürme, die Fische, die unerträglich süßen grünen Wiesen des Sommers würden noch dort sein. Aber seine Mannschaften würden verschwunden sein, waren bereits verschwunden. Die Männer, die er besser als seine eigenen Kinder, besser als seine Frau gekannt hatte – diese Männer waren bereits fünfzehn Jahre älter, und wenn er zurückkehrte, falls er zurückkehrte, würden weitere vierzig Jahre verstrichen sein. Dann würden ihre Enkelsöhne die Schiffe bemannen. Sie würden den Namen Jakt nicht mehr kennen. Er wäre ein ausländischer Schiffseigner, der aus dem Himmel gekommen war, kein Seemann, kein Mann mit dem Gestank und dem gelblichen Blut der Mischmisch an seinen Händen. Er wäre dann keiner von ihnen mehr.

Wenn er sich also beschwerte, daß sie ihn vernachlässigte, wenn er sie wegen des Mangels an Intimitäten während ihrer Reise hänselte, steckte mehr dahinter als nur das verspielte Begehren eines alternden Ehemannes. Ob er nun wußte, was er damit sagte, oder nicht, sie verstand die wahre Bedeutung seiner Angebote: Hast du mir nichts zu geben nach allem, was ich für dich aufgegeben habe?

Und er hatte recht – sie trieb sich härter an, als es eigentlich notwendig war. Sie machte mehr Opfer, als gemacht werden mußten – und verlangte von ihm ebenfalls zuviel. Nicht die bloße Anzahl subversiver Artikel, die Demosthenes während dieser Reise veröffentlichte, machte den Unterschied aus. Es kam darauf an, wie viele Menschen lasen und glaubten, was sie schrieb, und wie viele danach als Feinde des Sternenwege-Kongresses dachten, sprachen und handelten. Vielleicht noch wichtiger war die Hoffnung, daß einige Mitglieder der Bürokratie des Kongresses selbst dazu bewegt werden würden, sich stärker der Menschlichkeit verpflichtet zu fühlen und ihre Solidarität zu der wahnwitzigen Institution aufzugeben. Einige würden sich durch ihre Artikel bestimmt ändern. Nicht viele, aber vielleicht genug. Und vielleicht noch rechtzeitig, um zu verhindern, daß sie den Planeten Lusitania zerstörten.

Wenn nicht, würden sie und Jakt und diejenigen, die Leben lang Seemann sein und eine Mannschaft führen, wenn man nicht ziemlich selbstgenügsam war. Soweit Valentine wußte, waren sie und die Kinder die einzigen Menschen, die er willentlich jemals gebraucht hatte.

Selbst dann hatte er sie nicht so dringend gebraucht, daß er sein Leben als Seemann und Fischer nicht fortsetzen konnte und tagelang, oft Wochen und manchmal sogar Monate von zu Hause fort war. Anfangs, als sie so hungrig aufeinander waren, daß sie einfach niemals befriedigt waren, hatte Valentine ihn gelegentlich begleitet. Doch nach wenigen Jahren war ihr Hunger der Geduld und dem Vertrauen gewichen; wenn er fort war, recherchierte sie und schrieb ihre Bücher, um ihm und den Kindern dann ihre gesamte Aufmerksamkeit zu widmen, wenn er zurückkehrte.

»Würde Vater doch nur nach Hause zurückkehren, damit Mutter aus ihrem Zimmer kommt und wieder mit uns spricht«, pflegten sich die Kinder damals zu beschweren. Ich war keine sehr gute Mutter, dachte Valentine. Es ist reines Glück, daß die Kinder so gut geraten sind.

Der Essay hing noch immer über dem Terminal in der Luft. Sie mußte ihm nur noch den letzten Schliff geben. Unter dem Text setzte sie den Cursor in die Mitte und tippte den Namen, unter dem all ihre Artikel veröffentlicht wurden:

Demosthenes

Diesen Namen hatte ihr älterer Bruder Peter ihr gegeben, als sie gemeinsam Kinder waren, vor fünfzig Jahren – nein, vor dreitausend.

Der bloße Gedanke an Peter reichte noch immer aus, sie aufzuwühlen, es sie innerlich kalt und heiß durchfließen zu lassen. Peter der Grausame, Peter der Gewalttätige, dessen Verstand so subtil arbeitete und so gefährlich war, daß er mich mit zwei Jahren und die Welt mit zwanzig Jahren manipulieren konnte. Als sie im 22. Jahrhundert auf der Erde noch Kinder waren, hatte er die politischen Schriften großer Männer und Frauen, lebender und toter, studiert, nicht, um ihre Vorstellungen zu begreifen – die erfaßte er auf Anhieb –, sondern um zu lernen, wie sie sie vorbrachten. Um praktisch zu lernen, wie man wie ein Erwachsener klingt. Als er das beherrschte, brachte er es Valentine bei und zwang sie, unter dem Namen Demosthenes unbedeutende demagogische politische Schriften zu verfassen, während er unter dem Namen Locke ausgeklügelte staatsmännische Essays verfaßte. Dann speisten sie sie in die Computernetzwerke ein, und nach wenigen Jahren befanden sie sich am Herzen der größten tagespolitischen Themen.

Damals stieß Valentine bitter auf – und es traf sie heute noch immer ein wenig, da sie es vor Peters Tod niemals aufgelöst hatten –, daß er, von Machtgier verzehrt, sie gezwungen hatte, die Art Artikel zu schreiben, die seinem Charakter entsprachen, während er die friedensliebenden, erhabenen Gefühlsregungen ausdrückte, die ihrer Natur entsprachen. In jenen Tagen war ihr der Name ›Demosthenes‹ wie eine schreckliche Last vorgekommen. Alles, was sie unter diesem Namen schrieb, war eine Lüge, und nicht einmal ihre Lüge, sondern Peters. Eine Lüge innerhalb einer Lüge.

Aber jetzt nicht mehr. Nicht mehr seit 3000 Jahren. Ich habe den Namen zu meinem eigenen gemacht. Ich habe Geschichtsbücher und Biographien geschrieben, die das Denken Millionen Gelehrter auf den Hundert Welten veränderten und dabei halfen, die Identitäten Dutzender Nationen zu formen. Das ist daraus geworden, Peter. Das ist aus dem geworden, wozu du mich machen wolltest.

Bis auf die Tatsache, daß sie nun, als sie den Essay betrachtete, den sie gerade geschrieben hatte, begriff, daß sie sich zwar von Peters Oberhoheit befreit hatte, aber noch immer seine Schülerin war. Alles, was sie über Rhetorik und Polemik wußte, hatte sie von ihm oder wegen seines Beharrens gelernt. Und obwohl sie diese Fähigkeiten nun für eine edle Sache einsetzte, führte sie trotzdem genau dieselben politischen Manipulationen durch, die Peter so geliebt hatte.

Peter war schließlich zum Hegemon geworden, zu Anfang der Großen Expansion war er sechzig Jahre lang Herrscher über die gesamten Menschheit; er war derjenige gewesen, der all die miteinander im Streit liegenden Staaten der Menschheit vereinigt und auf die gewaltige Aufgabe eingeschworen hatte, Sternenschiffe zu allen Welten zu schicken, auf denen einst die Krabbler gehaust hatten, und dann weitere bewohnbare Welten zu entdecken, bis zur Zeit seines Todes schließlich alle Hundert Welten entweder besiedelt worden oder zumindest Kolonistenschiffe zu ihnen unterwegs waren. Natürlich sollten weitere tausend Jahre vergehen, bevor der Sternenwege-Kongreß erneut die gesamte Menschheit unter einer Regierung vereinigte, doch die Erinnerung an den ersten Hegemon war das Herz der Geschichte, die die menschliche Einheit möglich gemacht hatte.

Aus einer moralischen Einöde wie Peters Seele waren Harmonie, Einheit und Frieden gekommen. Während Enders Erbe, soweit sich die Menschheit erinnerte, aus Mord, Massenmord, Xenozid bestand.

Ender, Valentines jüngerer Bruder, den zu besuchen sie und ihre Familie unterwegs waren, war der zärtliche, der Bruder, den sie liebte und frühen zu beschützen versucht hatte. Er war der gute. Ja, er hatte zwar einen Anflug von Skrupellosigkeit, der der Peters gleichkam, doch er hatte den Anstand, von seiner eigenen Brutalität abgestoßen zu werden. Sie hatte ihn so innig geliebt, wie sie Peter verabscheut hatte; und als Peter seinen jüngeren Bruder von der Erde verbannt hatte, die Peter zu beherrschen entschlossen war, ging Valentine mit Ender – ihre endgültige Zurückweisung von Peters persönlicher Hegemonie über sie.

Und hier bin ich wieder, dachte Valentine, mitten in der Politik.

Sie sprach scharf, mit der abgehackten Stimme, die ihrem Terminal verriet, daß sie einen Befehl gab. »Senden«, sagte sie.

Das Wort ›Senden‹ erschien über ihrem Essay in der Luft. Normalerweise hätte sie damals, als sie wissenschaftliche Arbeiten schrieb, ein Ziel angeben müssen – den Essay über irgendwelche verschlungenen Wege, so daß er nicht so leicht zu Valentine Wiggin zurückgeführt werden konnte, an einen Verleger schicken müssen. Nun jedoch erledigte eine subversive Freundin Enders, die unter dem offensichtlichen Kodenamen ›Jane‹ arbeitete, all das für sie – sie brachte das Kunststück fertig, eine Nachricht über den Verkürzer von einem Schiff, das fast mit Lichtgeschwindigkeit flog, in eine Nachricht umzuwandeln, die von einem auf einem Planeten installierten Verkürzer gelesen werden konnte, für den die Zeit über fünfhundert Mal schneller verging.

Da die Kommunikation mit einem Sternenschiff große Mengen planetarer Verkürzer-Zeit verschlang, wurden normalerweise nur Navigationsdaten und Befehle gesendet. Lediglich hochrangige Beamte der Regierung oder des Militärs durften ausführliche Textbotschaften übermitteln. Valentine begriff nicht, wie es ›Jane‹ gelang, soviel Verkürzer-Zeit für diese Textübertragungen zu bekommen – und gleichzeitig zu verhindern, daß jemand herausfand, woher diese subversiven Dokumente kamen. Des weiteren benutzte ›Jane‹ Verkürzer-Zeit, indem sie ihr die veröffentlichten Reaktionen auf ihre Schriften sendete und ihr alle Argumente und Strategien mitteilte, die die Regierung benutzte, um gegen Valentines Propaganda zu arbeiten. Wer auch immer ›Jane‹ war – und Valentine vermutete, daß ›Jane‹ einfach der Name für eine geheime Organisation war, die die höchsten Regierungsebenen durchsetzt hatte –, sie war außerordentlich gut. Und außerordentlich tollkühn. Doch wenn Jane das Risiko einging, sich bloßzustellen, war es Valentine ihr – ihnen – schuldig, so viele Traktate wie möglich zu produzieren und sie so mächtig und gefährlich wie möglich zu gestalten.

Wenn Worte tödliche Waffen sein können, muß ich sie mit einem Arsenal ausstatten.

Doch sie war auch eine Frau; und sogar Revolutionäre dürfen ein Privatleben haben, nicht wahr? Augenblicke der Freude – oder vielleicht nur der Erleichterung, die hier und da abgezweigt wurden. Sie erhob sich von ihrem Sitz, ignorierte die Schmerzen, die daher stammten, daß sie sich bewegte, nachdem sie so lange gesessen hatte, und zwängte sich zur Tür ihres winzigen Büros hinaus – eigentlich eines Vorratsraums, bevor sie das Sternenschiff ihren Zwecken gemäß umgebaut hatten. Sie schämte sich ein wenig, weil sie so versessen darauf war, zu dem Raum zu kommen, in dem Jakt auf sie wartete. Die meisten großen revolutionären Propagandisten der Geschichte hätten drei Wochen der körperlichen Abstinenz ertragen können. Oder etwa nicht? Sie fragte sich, ob jemals eine Untersuchung über diese Frage vorgenommen worden war.

Sie stellte sich noch immer vor, wie ein Forscher wohl einen Antrag auf Bewilligung finanzieller Unterstützung für solch ein Projekt verfassen würde, als sie die Vierbett-Kabine erreichte, die sie mit Syfte und deren Mann Lars teilten, der ihr erst ein paar Tage vor ihrem Abflug einen Heiratsantrag gemacht hatte, als er begriff, daß Syfte Trondheim wirklich verlassen würde. Es war nicht einfach, mit frisch Verheirateten eine Kabine zu teilen – Valentine kam sich immer wie ein Eindringling vor, wenn sie den Raum betrat. Doch sie hatte keine andere Wahl. Obwohl es sich bei diesem Sternenschiff um eine Luxusjacht mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten handelte, war es einfach nicht für so viele Passagiere geschaffen.

Ihre zwanzig Jahre alte Tochter Ro und Varsam, ihr sechzehnjähriger Sohn, teilten sich eine weitere Kabine mit Plikt, ihrer lebenslangen Lehrerin und der besten Freundin der Familie. Die ursprünglichen Besatzungsmitglieder der Jacht, die sich entschlossen hatten, mit ihnen auf die Reise zu gehen – es wäre unrecht gewesen, sie alle zu entlassen –, benutzten die beiden anderen Kabinen. Die Brücke, der Speisesaal, die Kombüse, der Salon, die Schlafkabinen – alle Räume waren voller Menschen, die ihr Bestes gaben, die Verärgerung darüber, so eingepfercht leben zu müssen, nicht außer Kontrolle geraten zu lassen.

Doch im Augenblick befand sich keiner von ihnen auf dem Gang, und Jakt hatte bereits ein Schild an ihre Tür geklebt:

Bleibt draußen oder sterbt

Es war mit ›Der Eigner‹ unterschrieben. Valentine öffnete die Tür. Jakt stand so dicht neben der Tür an die Wand gelehnt, daß sie sich erschreckte und einen leisen Schrei ausstieß.

»Schön zu wissen, daß mein Anblick Schreie des Vergnügens bei dir auslösen kann.«

»Des Erschreckens.«

»Tritt ein, meine süße Aufwieglerin.«

»Du weißt ja, daß technisch gesehen ich die Eignerin dieses Sternenschiffes bin.«

»Was dein ist, ist auch mein. Ich habe dich deines Besitzes wegen geheiratet.«

Er schloß die Tür der Kabine und verriegelte sie.

»Mehr bin ich nicht für dich?« fragte sie. »Nur Grundbesitz?«

»Ein kleines Fleckchen Land, auf dem ich pflügen und pflanzen und ernten kann, alles zu seiner richtigen Zeit.« Er griff nach ihr; sie trat in seine Arme. Seine Hände glitten leicht ihren Rücken hinauf und umfingen ihre Schultern. Sie fühlte sich in seiner Umarmung geborgen, niemals eingeengt.

»Es ist schon spät im Herbst«, sagte sie. »Es geht auf den Winter zu.«

»Vielleicht ist es an der Zeit zum Eggen«, sagte Jakt. »Oder es ist vielleicht schon an der Zeit, das Feuer zu schüren und die alte Hütte warm zu halten, bevor der Schnee kommt.«

Er küßte sie, und es fühlte sich wie beim ersten Mal an.

»Wenn du mich heute bitten würdest, dich noch einmal zu heiraten, würde ich ja sagen«, sagte Valentine.

»Und wenn ich dir heute zum ersten Mal begegnet wäre, würde ich dich bitten.«

Sie hatten dieselben Worte schon viele, viele Male gesprochen. Und doch lächelten sie, als sie sie hörten, denn sie waren noch immer wahr.


Die beiden Sternenschiffe hatten ihr gewaltiges Ballett fast vollendet, tanzten mit großen Sprüngen und komplizierten Richtungsänderungen durch den Raum, bis sie sich endlich treffen und berühren konnten. Miro Ribeira hatte den gesamten Verlauf von der Brücke seines Sternenschiffs aus beobachtet; er hatte die Schultern eingezogen und den Kopf auf die Stütze seines Sitzes gelehnt. Auf andere wirkte diese Haltung immer unbeholfen. Wann immer Mutter ihn damals auf Lusitania in dieser Stellung erwischt hatte, war sie zu ihm gekommen und hatte darauf bestanden, ihm ein Kissen zu bringen, damit er es bequem hatte. Sie schien einfach nicht begreifen zu können, daß er den Kopf nur in dieser unbeholfen wirkenden Haltung ohne bewußte Anstrengung aufrecht halten konnte.

Er ertrug ihre Belehrungen, weil es nicht der Mühe wert war, mit ihr zu streiten. Mutter dachte und bewegte sich immer so schnell, daß es ihr fast unmöglich war, langsam genug zu agieren, um ihm zuhören zu können. Seitdem er einen Gehirnschaden erlitten hatte, als er durch das Disruptorfeld schritt, das die Kolonie der Menschen vom Wald der Schweinchen trennte, war seine Sprache unerträglich langsam hervorzubringen und schwierig zu verstehen. Miros Bruder Quim, der Religiöse, hatte gemeint, er solle Gott dankbar sein, überhaupt noch sprechen zu können – in den ersten paar Wochen hatte er lediglich kommunizieren können, indem er jede Nachricht Buchstabe um Buchstabe zusammensetzte.

In mancher Hinsicht jedoch war es besser gewesen, Mitteilungen zu buchstabieren. Zumindest war Miro dabei stumm gewesen; er hatte nicht seine eigene Stimme hören müssen. Der dumpfe, unbeholfene Klang, die quälende Langsamkeit. Wer von seiner Familie hatte schon die Geduld, ihm zuzuhören? Selbst bei denjenigen, die es versuchten – seine jüngere Schwester Ela; sein Freund und Stiefvater Andrew Wiggin, der Sprecher für die Toten; und Quim natürlich –, konnte er Ungeduld spüren. Sie neigten dazu, seine Sätze für ihn zu beenden. Sie mußten die Dinge beschleunigen. Obwohl sie also sagten, sie wollten mit ihm sprechen, obwohl sie sich tatsächlich zu ihm setzten und zuhörten, konnte er nicht frei zu ihnen sprechen. Er konnte nicht über Vorstellungen sprechen; er konnte keine langen, komplizierten Sätze von sich geben, denn wenn er endlich fertig war, wußten seine Zuhörer nicht mehr, wie er angefangen hatte.

Miro war zum Schluß gekommen, daß das menschliche Gehirn genau wie ein Computer Daten nur mit einer bestimmten Geschwindigkeit aufnehmen konnte. Wenn man zu langsam wurde, schweifte die Aufmerksamkeit des Zuhörers ab, und die Informationen waren verloren.

Aber auch nicht nur die Zuhörer. Miro mußte fair sein – er war mit sich genauso ungeduldig wie sie. Wenn er an die schiere Anstrengung dachte, die nötig war, eine komplizierte Idee zu erklären, wenn er erwartungsvoll versuchte, die Worte mit den Lippen, der Zunge und dem Kiefer zu bilden, und sie ihm nicht gehorchen wollten, wenn er daran dachte, wie lange das alles dauern würde, kam er sich normalerweise zu müde vor, um überhaupt zu sprechen. Sein Verstand raste so schnell wie eh und je und dachte mitunter so viele Gedanken, daß Miro am liebsten sein Gehirn abgeschaltet und sich gewünscht hätte, daß es schwieg und ihm Frieden gab. Doch diese Gedanken verblieben bei ihm; er teilte sie mit niemandem.

Bis auf Jane. Mit Jane konnte er sprechen. Sie war ihm zum ersten Mal zu Hause auf seinem Terminal erschienen; ihr Gesicht hatte auf dem Bildschirm Gestalt angenommen. »Ich bin eine Freundin des Sprechers für die Toten«, hatte sie gesagt. »Ich glaube, wir können diesen Computer dazu bringen, etwas schneller zu reagieren.« Von da an hatte Miro festgestellt, daß Jane die einzige Person war, mit der er problemlos sprechen konnte. Zum einen war sie unendlich geduldig. Sie führte seine Sätze niemals zu Ende. Sie konnte darauf warten, daß er sie selbst beendete, so daß er sich niemals gedrängt fühlte, niemals den Eindruck hatte, sie zu langweilen.

Noch wichtiger war vielleicht, daß er für sie seine Worte nicht so vollständig ausbilden mußten wie für menschliche Zuhörer. Andrew hatte ihm ein persönliches Terminal gegeben – einen Computerempfänger, der von einem ähnlichen Juwel umschlossen wurde wie das, das Andrew in seinem Ohr trug. Von diesem günstigen Ausgangspunkt konnte Jane mit Hilfe der Sensoren des Juwels jedes Geräusch wahrnehmen, das er machte, jede Bewegung des Muskeln in seinem Kopf. Er mußte nicht jedes Geräusch vollenden, er mußte es nur beginnen, und sie verstand ihn. So konnte er faul sein. Er konnte schneller sprechen und wurde verstanden.

Und er konnte auch stumm sprechen. Er konnte subvokalisieren – er mußte nicht diese unbeholfene, bellende, heulende Stimme benutzen. Wenn er also mit Jane sprach, konnte er schnell und natürlich sprechen, ohne daran erinnert zu werden, daß er ein Krüppel war. Wenn er mit Jane sprach, fühlte er sich wie er selbst.

Nun saß er auf der Brücke des Frachters, der den Sprecher für die Toten erst vor ein paar Monaten nach Lusitania gebracht hatte. Er schreckte vor dem Rendezvous mit Valentines Schiff zurück. Wäre ihm ein anderer Ort eingefallen, wohin er gehen könnte, er wäre vielleicht dorthin gegangen – er hatte nicht den geringsten Wunsch, Andrews Schwester Valentine oder sonst jemandem zu begegnen. Er wäre zufrieden gewesen, auf ewig allein in dem Sternenschiff bleiben zu können und nur mit Jane zu sprechen.

Aber das konnte er nicht. Er würde nie wieder zufrieden sein.

Zumindest waren diese Valentine und ihre Familie eine neue Erfahrung. Auf Lusitania kannte er jeden oder zumindest jeden, an dem ihm etwas lag – die gesamte wissenschaftliche Gemeinde dort, die Menschen mit Bildung und Verständnis. Er kannte sie alle so gut, daß er nicht umhin konnte, ihr Mitleid zu sehen, ihre Trauer darüber, was aus ihm geworden war. Wenn sie ihn musterten, konnten sie nur den Unterschied zwischen dem sehen, was er zuvor gewesen und was aus ihm geworden war.

Es bestand die Möglichkeit, daß neue Menschen – Valentine und ihre Familie – imstande waren, ihn anzuschauen und etwas anderes in ihm zu sehen.

Doch auch das war unwahrscheinlich. Fremde würden ihn anschauen und weniger als die sehen, die ihn gekannt hatten, bevor er zum Krüppel geworden war. Zumindest wußten Mutter, Andrew, Ela und Ouanda und all die anderen, daß er einen Verstand hatte, daß er imstande war, Ideen zu verstehen. Was werden neue Menschen denken, wenn sie mich sehen? Sie werden einen Körper sehen, der bereits verkümmert ist; sie werden meinen schlurfenden Gang sehen; sie werden mich beobachten, wie ich Hände wie Klauen benutze, wie ein dreijähriges Kind einen Löffel umklammere; sie werden meine dumpfe, halb verständliche Stimme hören; und sie werden annehmen, daß solch ein Mensch keine komplizierten oder schwierigen Dinge verstehen kann.

Warum bin ich hierher gekommen?

Ich bin nicht gekommen. Ich ging. Ich bin nicht hierher gekommen, um diese Menschen zu treffen. Ich bin dort aufgebrochen. Gegangen. Nur habe ich mich selbst belogen. Ich dachte daran, auf eine Reise von dreißig Jahren zu gehen, doch so wird es nur ihnen vorkommen. Für mich sind nur anderthalb Wochen vergangen. Überhaupt keine Zeit. Und schon ist meine Zeit der Einsamkeit vorbei. Die Zeit, die ich allein mit Jane verbracht habe, die mir zuhört, als sei ich noch ein menschliches Wesen, ist verstrichen.

Beinahe. Beinahe hätte er die Worte gesprochen, die das Rendezvous abgebrochen hätten. Er hätte Andrews Sternenschiff stehlen und auf eine Reise gehen können, die ewig gedauert hätte, ohne daß er noch einmal einer anderen lebenden Seele gegenübertreten mußte.

Doch solch ein nihilistischer Akt entsprach ihm nicht, noch nicht. Er war zum Schluß gekommen, daß er noch nicht verzweifelt hatte. Vielleicht konnte er noch etwas tun, was ihm eine Rechtfertigung gab, in diesem Körper weiterzuleben. Und vielleicht würde es damit beginnen, daß er sich mit Andrews Schwester traf.

Die Schiffe vereinigten sich nun; ihre Nabelschnüre schlängelten sich hinaus und tasteten suchend, bis sie einander berührten. Miro sah auf den Monitoren zu und lauschte den Computerberichten über jede erfolgreiche Verbindung. Die Schiffe vereinigten sich auf jede mögliche Art und Weise, so daß sie den Rest der Reise nach Lusitania im perfekten Zweiergespann zurücklegen konnten. Sie würden alle Hilfsmittel miteinander teilen. Da es sich bei Miros Schiff um einen Frachter handelte, konnte es kaum mehr als eine Handvoll Menschen aufnehmen, dafür aber einen beträchtlichen Teil der lebensnotwendigen Vorräte des anderen Schiffes; gemeinsam errechneten die beiden Bordcomputer ein perfektes Gleichgewicht.

Nachdem sie die beste Verteilung der Fracht ermittelt hatten, errechneten sie genau, wie schnell jedes Schiff beschleunigen konnte, damit beide wieder in perfektem Gleichklang annähernde Lichtgeschwindigkeit erreichten. Es war eine äußerst heikle und komplizierte Abstimmung zwischen den beiden Computern nötig, die genau wissen mußten, welche Lasten ihre Schiffe beförderten und was sie leisten konnten. Sie war abgeschlossen, bevor die Passagierröhre die beiden Schiffe vollständig miteinander verbunden hatte.

Miro hörte schlurfende Schritte im Gang, der von der Röhre zur Brücke führte. Er drehte seinen Stuhl und sah, wie sie auf ihn zukam. Sie ging etwas gebückt, ihr Haar weiß, mit ein paar mausgrauen Strähnen. Als sie stehen blieb, betrachtete er abschätzend ihr Gesicht. Alt, aber nicht ältlich. Falls sie angesichts dieser Begegnung Nervosität empfand, zeigte sie sie nicht. Aber andererseits hatte sie nach allem, was Andrew und Jane ihm über sie erzählt hatten, schon eine Menge Leute kennengelernt, die wesentlich furchterregender waren als ein zwanzigjähriger Krüppel.

»Miro?« fragte sie.

»Wer sonst?« sagte er.

Sie brauchte einen Augenblick, nur einen Herzschlag, um die seltsamen Geräusche zu verstehen, die aus seinem Mund kamen.

»Ich bin Valentine«, sagte sie.

»Ich weiß«, gab er zurück. Er machte die Sache mit seinen lakonischen Erwiderungen nicht gerade einfacher, aber was sonst gab es zu sagen? Es handelte sich nicht gerade um eine Begegnung zwischen Staatsführern, bei der eine Reihe lebenswichtiger Entscheidungen getroffen werden mußte. Doch er mußte sich etwas Mühe geben, um nicht feindselig zu wirken.

»Dein Name, Miro – er bedeutet ›Ich schaue hin‹, nicht wahr?«

»Ich schaue genau hin. Vielleicht auch ›Ich schenke Beachtung‹.«

»Es ist wirklich nicht so schwer, dich zu verstehen«, sagte Valentine.

Es verblüffte ihn, daß sie die Sache so offen ansprach.

»Ich glaube, ich habe mehr Probleme mit deinem portugiesischen Akzent als mit dem Gehirnschaden.«

Einen Augenblick lang hämmerte sein Herz wie verrückt – sie sprach offener über seine Lage als jeder andere, von Andrew einmal abgesehen. Aber andererseits war sie auch Andrews Schwester. Er hätte damit rechnen müssen, daß sie kein Blatt vor den Mund nahm.

»Oder ziehst du es vor, daß wir so tun, als gäbe es keine Barriere zwischen dir und anderen Menschen?«

Anscheinend hatte sie seine Erschütterung gespürt. Doch nun kam ihm in den Sinn, daß er wahrscheinlich nicht wütend, sondern eher froh sein sollte, daß sie das Thema nicht verschweigen mußten. Und trotzdem war er wütend, und er brauchte einen Augenblick, bis er den Grund dafür erkannte.

»Mein Gehirnschaden ist nicht dein Problem«, sagte er.

»Wenn er es mir erschwert, dich zu verstehen, ist er ein Problem, mit dem ich mich befassen muß. Sei nicht schon eingeschnappt, junger Mann. Ich habe gerade erst angefangen, dich zu ärgern, und du hast erst angefangen, mich zu ärgern. Also sei nicht sauer, weil ich deinen Gehirnschaden irgendwie als mein Problem hingestellt habe. Ich habe nicht die geringste Absicht, jedes meiner Worte auf die Goldwaage zu legen, aus Angst, ich könnte einen überempfindlichen jungen Mann beleidigen, der der Ansicht ist, die ganze Welt drehe sich um seine Enttäuschungen.«

Miro war außer sich vor Zorn, daß sie schon ein Urteil über ihn gefällt hatte. Es war zudem unfair – und entsprach gar nicht dem, was er von einer Autorin von Demosthenes' Bedeutung erwartet hatte. »Ich glaube nicht, daß sich die ganze Welt um meine Enttäuschungen dreht! Aber glaube du nicht, du könntest hier hereinplatzen und auf meinem Schiff die Dinge in die Hand nehmen!« Das war es, was ihn verärgerte, nicht ihre Worte. Sie hatte recht – ihre Worte waren nichts. Es war ihre Einstellung, ihr vollständiges Selbstvertrauen. Er war es nicht gewöhnt, daß die Menschen ihn ohne Betroffenheit oder Mitleid betrachteten.

Sie nahm in dem Sitz neben ihm Platz. Er drehte sich zu ihr um. Sie ihrerseits wandte den Blick nicht ab, sondern musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Er hat gesagt, daß du ein harter Fall bist. Er hat gesagt, daß du verkrümmt, aber nicht gebrochen bist.«

»Willst du meine Therapeutin spielen?«

»Willst du mein Feind sein?«

»Sollte ich das?« fragte Miro.

»Genausowenig, wie ich deine Therapeutin sein sollte. Andrew hat uns nicht zusammengeführt, damit ich dich heilen kann. Er hat uns zusammengeführt, damit du mir helfen kannst. Wenn du das nicht willst, na schön. Wenn doch, auch gut. Laß mich nur ein paar Dinge klarstellen. Ich verbringe jeden wachen Augenblick damit, subversive Propaganda zu schreiben, um die öffentliche Einstellung auf den Hundert Welten und in den Kolonien anzustacheln. Ich versuche, die Menschen gegen die Flotte aufzubringen, die der Sternenwege-Kongreß ausgeschickt hat, um Lusitania zu unterwerfen. Deine Welt, nicht meine, wie ich hinzufügen möchte.«

»Dein Bruder ist dort.« Er wollte nicht zulassen, daß sie völlige Selbstlosigkeit für sich beanspruchte.

»Ja, wir beide haben Familie dort. Und wir beide sind bestrebt, die Pequeninos vor der Vernichtung zu bewahren. Und wir beide wissen, daß Ender die Schwarmkönigin auf deiner Welt wiederhergestellt hat, so daß zwei außerirdische Spezies vernichtet werden, wenn der Sternenwege-Kongreß seinen Willen bekommt. Es steht sehr viel auf dem Spiel, und ich tue schon alles, was ich nur kann, um diese Flotte aufzuhalten. Wenn es mir nun hilft, diese Aufgabe besser zu erledigen, ein paar Stunden in deiner Gegenwart zu verbringen, dann ist es die Zeit wert, die ich nicht schreiben kann. Aber ich habe nicht die Absicht, meine Zeit damit zu verschwenden, mir ständig den Kopf darüber zu zerbrechen, ob ich dich nun beleidigen könnte oder nicht. Wenn du also mein Widersacher sein willst, kannst du hier oben allein sitzen bleiben, und ich mache mich wieder an die Arbeit.«

»Andrew hat gesagt, du seiest der beste Mensch, den er je gekannt hat.«

»Er kam zu dieser Schlußfolgerung, bevor er miterlebte, wie ich drei barbarische Kinder zu Erwachsenen großzog. Wie ich gehört habe, hat deine Mutter sechs Kinder.«

»Genau.«

»Und du bist das älteste.«

»Ja.«

»Sehr schade. Eltern machen ihre schlimmsten Fehler immer bei den ältesten Kindern. Da wissen die Eltern am wenigsten und sind am besorgtesten. Also ist es um so wahrscheinlicher, daß sie Fehler begehen und gleichzeitig darauf beharren, sie hätten richtig gehandelt.«

Miro gefiel es nicht, daß diese Frau vorschnelle Schlüsse über seine Mutter zog. »Sie ähnelt dir nicht im geringsten.«

»Natürlich nicht.« Sie beugte sich auf ihrem Sitz vor. »Nun, zu welchem Schluß bist du gekommen?«

»Zu welchem Schluß worüber?«

»Arbeiten wir nun zusammen, oder hast du dich für nichts und wieder nichts aus dreißig Jahren menschlicher Geschichte ausgeklinkt?«

»Was willst du von mir?«

»Geschichten, natürlich. Die Fakten kann ich vom Computer bekommen.«

»Geschichten worüber?«

»Über dich. Die Schweinchen. Dich und die Schweinchen. Diese ganze Sache mit der Lusitania-Flotte begann schließlich mit dir und den Schweinchen. Weil ihr euch eingemischt habt, wollen sie…«

»Wir haben ihnen geholfen!«

»Oh, habe ich schon wieder das falsche Wort benutzt?« Miro funkelte sie an. Doch noch im gleichen Augenblick wußte er, daß sie recht hatte – er war überempfindlich. Das Wort eingemischt war, in einem wissenschaftlichen Zusammenhang benutzt, fast völlig wertneutral. Es bedeutete lediglich, daß er in die Kultur, die er studiert hatte, eine Veränderung eingebracht hatte. Und wenn es tatsächlich einen negativen Beiklang hatte, denn deshalb, weil er seine wissenschaftliche Perspektive verloren hatte – er hatte damit aufgehört, die Pequeninos zu studieren und sie als Freunde behandelt. Dessen war er mit Sicherheit schuldig. Nein, nicht schuldig – er war stolz darauf, diesen Übergang vollzogen zu haben. »Fahre fort«, sagte er.

»All das begann, weil du das Gesetz gebrochen hast und die Schweinchen anfingen, Amarant zu pflanzen.«

»Jetzt nicht mehr.«

»Ja, es ist die reinste Ironie, nicht wahr? Der Descolada-Virus ist eingedrungen und hat jeden Amarant-Züchtungsstamm getötet, den deine Schwester für sie entwickelt hat. Also war deine Einmischung vergeblich.«

»Das war sie nicht«, sagte Miro. »Sie lernen.«

»Ja, ich weiß. Genauer gesagt, sie wählen. Was sie lernen, was sie tun sollen. Du hast ihnen Freiheit gebracht. Ich billige deinen Entschluß von ganzem Herzen. Aber meine Aufgabe ist es, für die Menschen dort draußen auf den Hundert Welten und den Kolonien über dich zu schreiben, und sie werden die Dinge nicht unbedingt so sehen. Ich brauche von dir also die Geschichte, wie und warum du das Gesetz gebrochen und dich in die Belange der Schweinchen eingemischt hast und warum die Regierung und das Volk von Lusitania gegen den Kongreß rebellierten, anstatt dich wegzuschicken, damit dir der Prozeß gemacht wird und du für deine Verbrechen bestraft wirst.«

»Andrew hat dir diese Geschichte schon erzählt.«

»Und ich habe schon darüber geschrieben. Nun brauche ich die persönlichen Dinge. Ich will anderen Menschen verständlich machen können, daß die sogenannten Schweinchen ein Volk sind. Und ich will, daß sie dich verstehen. Ich muß dafür sorgen, daß sie dich als Person kennenlernen. Wenn es möglich ist, wäre es schön, sie dazu zu bringen, dich zu mögen. Dann wird die Lusitania-Flotte wie eine gewaltige Überreaktion auf eine Bedrohung aussehen, die es nie gab.«

»Die Flotte bedeutet Xenozid.«

»Das habe ich als Propaganda geschrieben«, sagte Valentine.

Er konnte ihren unerschütterlichen Glauben an sich selbst nicht ertragen. Also mußte er ihr widersprechen, doch dazu mußte er mit Ideen hinausplatzen, die er noch nicht völlig zu Ende gedacht hatte. »Die Flotte ist auch eine Selbstverteidigung.«

Es hatte den gewünschten Effekt – es unterbrach ihren gelehrten Vortrag und ließ sie sogar die Stirn runzeln und ihn fragend ansehen. Das Problem war nur, daß er nun erklären mußte, was er damit meinte.

»Die Descolada«, sagte er. »Das ist die gefährlichste Lebensform überhaupt.«

»Die Antwort darauf lautet Quarantäne. Und nicht, eine Flotte auszuschicken und mit dem M.D.-Gerät zu bewaffnen, damit sie imstande ist, Lusitania und jedes Lebewesen darauf in mikroskopischen interstellaren Staub zu verwandeln.«

»Du bist dir so sicher, daß du recht hast?«

»Ich bin mir sicher, daß es vom Sternenwege-Kongreß nicht rechtens ist, auch nur in Erwägung zu ziehen, eine andere bewußt denkende Spezies auszulöschen.«

»Die Schweinchen können ohne die Descolada nicht leben«, sagte Miro, »und wenn sich die Descolada jemals auf einen anderen Planeten ausbreitet, wird sie dort jegliches Leben mit Sicherheit vernichten.«

Die Feststellung, daß Valentine auch verblüfft dreinschauen konnte, bereitete ihm Vergnügen. »Aber ich dachte, sie hätten den Virus im Griff. Deine Großmutter hat doch eine Möglichkeit gefunden, ihn aufzuhalten, ihn in Menschen ruhen zu lassen.«

»Die Descolada paßt sich an«, sagte Miro. »Jane hat mir gesagt, daß sie sich schon ein paar Mal verändert hat. Meine Mutter und meine Schwester Ela arbeiten daran – sie versuchen, der Descolada einen Schritt voraus zu bleiben. Manchmal hat es sogar den Anschein, die Descolada täte es absichtlich und fände Strategien, um um die Chemikalien herumzukommen, mit denen wir sie im Griff halten und verhindern, daß sie Menschen tötet. Sie dringt in die von der Erde stammenden Getreidesorten ein, die die Menschen brauchen, um auf Lusitania zu überleben. Sie müssen sie jetzt besprühen. Was passiert wohl, wenn die Descolada eine Möglichkeit findet, um all unsere Barrieren herumzukommen?«

Valentine schwieg. Sie hatte diese Frage nicht von allen Seiten betrachtet – niemand hatte das, bis auf Miro.

»Ich habe das nicht einmal Jane gesagt«, fuhr Miro fort. »Aber was, wenn die Flotte recht hat? Was, wenn die einzige Möglichkeit, die Menschheit vor der Descolada zu retten, darin besteht, Lusitania jetzt zu zerstören?«

»Nein«, sagte Valentine. »Das hat nichts mit den Gründen zu tun, aus denen der Sternenwege-Kongreß die Flotte ausgeschickt hat. Ihre Gründe haben nur mit interplanetarer Politik zu tun. Sie wollen den Kolonien zeigen, wer der Herr ist. Es hat mit einer außer Kontrolle geratenen Bürokratie und einem Militär zu tun, das…«

»Hör mir zu!« sagte Miro. »Du hast gesagt, du wolltest meine Geschichten hören, also höre dir auch diese Geschichte an: Es spielt keine Rolle, was für Gründe sie haben. Es spielt keine Rolle, ob sie ein Haufen mörderischer Tiere sind. Das ist mit egal. Wichtig ist nur – sollten sie Lusitania in die Luft jagen?«

»Was für ein Mensch bist du nur?« fragte Valentine. Er konnte sowohl Ehrfurcht als auch Abscheu in ihrer Stimme hören.

»Du bist die Moralphilosophin«, sagte Miro. »Du mußt es mir sagen. Erwartet man von uns, daß wir die Pequeninos so sehr lieben, daß wir zulassen, daß der Virus, den sie in sich tragen, die ganze Menschheit vernichtet?«

»Natürlich nicht. Wir müssen einfach eine Möglichkeit finden, die Descolada zu neutralisieren.«

»Und wenn wir das nicht können?«

»Dann stellen wir Lusitania unter Quarantäne. Selbst, wenn alle Menschen auf dem Planeten sterben – deine Familie und meine – müssen wir die Pequeninos nicht auslöschen.«

»Wirklich?« fragte Miro. »Was ist mit der Schwarmkönigin?«

»Ender hat mir gesagt, daß sie sich wiederhergestellt hat, aber…«

»Sie enthält eine vollständige Industriegesellschaft in sich. Sie wird Sternenschiffe bauen und den Planeten verlassen.«

»Sie wird die Descolada nicht mitnehmen!«

»Sie hat keine Wahl. Die Descolada ist bereits in ihr. Sie ist in mir

Damit hatte er sie endlich geschafft. Er sah sie in ihren Augen – die Furcht.

»Sie wird auch in dir sein. Selbst wenn du in dein Schiff zurückläufst und mich abschottest und nicht infiziert worden bist, wird die Descolada in dich und deinen Mann und deine Kinder eindringen, sobald du auf Lusitania landest. Sie müssen die Chemikalien tagtäglich in ihre Nahrung und ihr Wasser geben, ihr Leben lang. Und sie können Lusitania nie wieder verlassen, oder sie werden den Tod und die Vernichtung mit sich nehmen.«

»Wir wußten wohl, daß diese Möglichkeit bestand«, sagte Valentine.

»Als ihr abgeflogen seid, war es nur eine Möglichkeit. Wir glaubten, die Descolada würde bald unter Kontrolle sein. Jetzt sind sie sich nicht mehr sicher, ob sie überhaupt je unter Kontrolle zu bekommen ist. Und das bedeutet, daß ihr Lusitania nie wieder verlassen könnt, sobald ihr erst einmal gelandet seid.«

»Hoffentlich gefällt uns das Wetter.«

Miro betrachtete ihr Gesicht, versuchte zu ergründen, wie sie die Informationen verarbeitete, die er ihr gegeben hatte. Die ursprüngliche Furcht war verschwunden. Sie war wieder sie selbst – und dachte nach. »Weißt du, was ich glaube?« sagte Miro. »Ich glaube, ganz gleich, wie schrecklich der Kongreß ist, ganz gleich, wie böse seine Pläne auch sein mögen, diese Flotte könnte die Rettung der Menschheit sein.«

Valentine suchte nach Worten und antwortete dann bedächtig. Miro war froh, dies zu sehen – sie war ein Mensch, der nicht zurückschoß, ohne vorher nachzudenken. Sie war lernfähig. »Ich sehe ein, daß es eine Zeit geben könnte, wenn dem so sein wird, falls die Ereignisse einen ganz bestimmten möglichen Verlauf nehmen – aber das ist sehr unwahrscheinlich. Zuerst einmal… nachdem die Schwarmkönigin das alles weiß, ist es unwahrscheinlich, daß sie Sternenschiffe bauen wird, die die Descolada von Lusitania verschleppen werden.«

»Kennst du die Schwarmkönigin?« fragte Miro. »Verstehst du sie?«

»Selbst wenn sie so etwas tun würde«, sagte Valentine, »deine Mutter und Schwester arbeiten doch daran, oder? Wenn wir Lusitania erreichen – wenn die Flotte Lusitania erreicht –, haben sie vielleicht schon eine Möglichkeit gefunden, die Descolada ein für alle Mal zu kontrollieren.«

»Und wenn«, sagte Miro, »sollen sie sie auch anwenden?«

»Warum denn nicht?«

»Wie könnten sie den gesamten Descolada-Virus töten? Der Virus ist ein integraler Bestandteil des Lebenszyklus der Schweinchen. Wenn die Körperform der Pequeninos stirbt, ermöglicht der Descolada-Virus die Umwandlung in den Baumzustand, den die Schweinchen das dritte Leben nennen – und nur im dritten Leben können die männlichen Schweinchen die Gattinnen befruchten. Wenn es den Virus nicht mehr gibt, gibt es auch keinen Übergang ins dritte Leben mehr, und diese Schweinchen-Generation ist die letzte.«

»Das macht es nicht unmöglich, sondern nur schwerer. Deine Mutter und Schwester müssen eine Möglichkeit finden, die Descolada im menschlichen Körper und den Pflanzen, die wir essen, zu neutralisieren, ohne ihre Fähigkeit zu zerstören, die Pequeninos in ihr Erwachsenendasein übergehen zu lassen.«

»Und dazu haben sie nicht einmal fünfzehn Jahre Zeit«, sagte Miro. »Nicht sehr wahrscheinlich.«

»Aber nicht unmöglich.«

»Ja. Es besteht eine Chance. Und bloß auf diese Chance hin willst du die Flotte loswerden?«

»Die Flotte wurde ausgeschickt, um Lusitania zu vernichten, ob wir den Descolada-Virus nun im Griff haben oder nicht.«

»Und ich sage es erneut – das Motiv derer, die sie ausgeschickt haben, ist irrelevant. Ganz gleich, aus welchem Grund, die Vernichtung Lusitanias könnte vielleicht die einzige sichere Schutzmaßnahme für den gesamten Rest der Menschheit sein.«

»Und ich sage, du irrst dich.«

»Du bist Demosthenes, nicht wahr? Andrew sagt, du bist es.«

»Ja.«

»Also hast du dir die Hierarchie der Fremdartigkeit ausgedacht. Utlänningen sind Fremde von unserer eigenen Welt. Framlinge sind Fremde unserer eigenen Spezies, aber von einer anderen Welt. Ramänner sind Fremde einer anderen Spezies, aber imstande, mit uns zu kommunizieren, imstande, gemeinsam mit der Menschheit zu existieren. Die letzten sind die Varelse – und was sind die?«

»Die Pequeninos sind keine Varelse. Die Schwarmkönigin auch nicht.«

»Aber die Descolada ist es. Varelse. Eine außerirdische Lebensform, die imstande ist, die gesamte Menschheit zu vernichten…«

»Wenn wir sie nicht zähmen können…«

»… mit der wir jedoch nicht kommunizieren können, eine außerirdische Spezies, mit der wir nicht leben können. Du bist diejenige, die gesagt hat, daß in solch einem Fall ein Krieg unvermeidbar ist. Wenn eine außerirdische Spezies es anscheinend darauf angelegt hat, uns zu vernichten, und wir nicht mit ihr kommunizieren können, sie nicht verstehen können, wenn es keine Möglichkeit gibt, sie friedlich von ihrem Weg abzubringen, dann sind wir zu jedem notwendigen Vorgehen berechtigt, um uns zu retten, einschließlich der völligen Vernichtung der anderen Spezies.«

»Ja«, sagte Valentine.

»Aber was, wenn wir die Descolada vernichten müssen und sie nicht vernichten können, ohne auch jedes lebende Schweinchen, die Schwarmkönigin und jeden Menschen auf Lusitania zu vernichten?«

Zu Miros Überraschung waren Valentines Augen feucht vor Tränen. »Also dazu bist du geworden.«

Miro war verwirrt. »Wann wurde dieses Gespräch zu einer Diskussion über meine Person?«

»Du hast darüber nachgedacht, du hast alle zukünftigen Möglichkeiten gesehen, die guten wie auch die schlechten – und doch ist die einzige Zukunft, an die du zu glauben bereit bist, die Zukunft deiner Vorstellung, die du als Grundlage für unsere gesamten moralischen Urteile nimmst, die einzige Zukunft, in der jeder, den du und ich je geliebt haben, und alles, was wir uns je erhofft haben, ausgelöscht werden muß.«

»Ich habe nicht gesagt, daß mir diese Zukunft gefällt…«

»Das habe ich auch nicht behauptet«, sagte Valentine. »Ich habe gesagt, daß das die Zukunft ist, auf die du dich vorbereitet hast. Aber ich nicht. Ich lebe lieber in einem Universum, in dem es noch etwas Hoffnung gibt. Ich ziehe es vor, in einem Universum zu leben, in dem deine Mutter und Schwester eine Möglichkeit finden werden, die Descolada zu bändigen, in einem Universum, in dem der Sternenwege-Kongreß reformiert oder durch etwas anderes ersetzt werden kann, in einem Universum, in dem der Kongreß weder die Macht noch den Wunsch hat, eine ganze Spezies zu vernichten.«

»Und was, wenn du dich irrst?«

»Dann habe ich noch immer genug Zeit, um zu verzweifeln, bevor ich sterbe. Aber du – nimmst du jede Gelegenheit zur Verzweiflung wahr? Ich kann den Impuls verstehen, der vielleicht dazu führen könnte. Andrew hat mir gesagt, daß du ein stattlicher Mann warst – nun ja, du bist noch immer einer – und es dich tief verletzt hat, deinen Körper nicht mehr vollständig beherrschen zu können. Doch andere Menschen haben mehr als du verloren, ohne so eine rabenschwarze Sicht von der Welt zu bekommen.«

»Das ist deine Analyse meiner Person?« fragte Miro. »Wir kennen uns seit einer halben Stunde, und jetzt weißt du alles über mich?«

»Ich weiß, daß dies das deprimierendste Gespräch ist, das ich je im Leben geführt habe.«

»Und so gehst du davon aus, es liege daran, daß ich ein Krüppel bin. Nun, ich will dir etwas sagen, Valentine Wiggin. Ich hoffe dasselbe, das du hoffst. Ich hoffe sogar, eines Tages mehr von meinem Körper zurückzubekommen. Hätte ich das nicht gehofft, wäre ich jetzt tot. Was ich dir gerade gesagt habe, rührt nicht von meiner Verzweiflung her. Ich habe das alles gesagt, weil es möglich ist. Und weil es möglich ist, müssen wir darüber nachdenken, damit wir nicht später davon überrascht werden. Wir müssen darüber nachdenken, damit wir, falls es wirklich zum Schlimmsten kommt, bereits wissen, wie wir in diesem Universum leben können.«

Valentine schien sein Gesicht zu betrachten; er schien ihren Blick fast wie ein schwaches Kitzeln unter der Haut fühlen zu können. »Ja«, sagte sie. »Ja was?«

»Ja, mein Mann und ich werden herüberkommen und auf deinem Schiff wohnen.« Sie erhob sich von ihrem Sitz und ging auf den Korridor zu, der zur Röhre führte. »Warum hast du diesen Entschluß gefaßt?«

»Weil es auf unserem Schiff zu beengt ist. Und weil es sich eindeutig lohnt, mit dir zu sprechen. Und nicht nur, um Material für die Essays zu sammeln, die ich schreiben muß.«

»Ach, dann habe ich deine Prüfung bestanden?«

»Ja, hast du«, sagte sie. »Und habe ich deine bestanden?«

»Ich habe dich nicht auf die Probe gestellt.«

»Den Teufel hast du«, sagte sie. »Aber falls du es nicht gemerkt haben solltest, will ich es dir sagen – ich habe bestanden. Oder du hättest nicht das alles zu mir gesagt, was du gesagt hast.«

Sie war weg. Er hörte, wie sie den Gang entlangschlurfte, und dann meldete der Computer, daß sie durch die Röhre zwischen den Schiffen ging.

Er vermißte sie bereits.

Weil sie recht hatte. Sie hatte seinen Test bestanden. Sie hatte ihm zugehört, wie sonst niemand zuhörte – ohne Ungeduld, ohne seine Sätze zu beenden, ohne den Blick von seinem Gesicht streifen zu lassen. Er hatte mit ihr gesprochen, nicht mit vorsichtiger Genauigkeit, sondern mit großer Gefühlsbetontheit. Die meiste Zeit über mußten seine Worte sicher fast unverständlich gewesen sein. Doch sie hatte so aufmerksam und gut zugehört, daß sie all seine Argumente verstanden und ihn nicht ein einziges Mal gebeten hatte, etwas zu wiederholen. Er konnte zu dieser Frau so natürlich sprechen, wie er mit allen gesprochen hatte, bevor sein Gehirn geschädigt worden war. Ja, sie hatte eine vorgefaßte Meinung, sie war halsstarrig, befehlsgewohnt und zog vorschnelle Schlüsse. Aber sie konnte sich auch eine konträre Meinung anhören und ihre ändern, wenn es nötig war. Sie konnte zuhören, und so konnte er sprechen. Vielleicht konnte er bei ihr noch Miro sein.

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