Kapitel 13 Freier Wille


›Einige von uns glauben, man sollte die Menschen daran hindern, über die Descolada zu forschen. Die Descolada ist das Herz unseres Lebenszyklus. Wir befürchten, daß sie eine Möglichkeit finden werden, die Descolada auf der ganzen Welt zu töten, und das würde uns in einer Generation vernichten.‹

›Und wenn es euch gelänge, die Menschen an der Forschung über die Descolada zu hindern, wären sie mit Sicherheit innerhalb von ein paar Jahren ausgemerzt.‹

›Ist die Descolada so gefährlich? Warum können sie sie nicht weiterhin so im Zaum halten, wie es jetzt der Fall ist?‹

›Weil die Descolada nicht nur zufällig mutiert. Sie ist intelligent und paßt sich an, um uns zu vernichten.‹

›Uns? Dich?‹

›Wir kämpfen schon die ganze Zeit über gegen die Descolada. Nicht in Laboratorien, wie die Menschen, aber in uns selbst. Bevor ich Eier lege, durchlaufe ich eine Phase, in der ich ihre Körper darauf vorbereite, alle Antikörper herzustellen, die sie im Lauf ihres Lebens brauchen werden. Wir erkennen, wenn die Descolada anfängt, sich zu verändern, weil dann auch die Arbeiter zu sterben anfangen. Dann bildet ein Organ in der Nähe meiner Eierstöcke neue Antikörper, und wir legen Eier für neue Arbeiter, die der veränderten Descolada widerstehen können.‹

›Also versuchst auch du, sie zu vernichten.‹

›Nein. Unser Prozeß läuft völlig unbewußt ab. Er findet ohne bewußte Einmischung im Körper der Schwarmkönigin statt. Wir können nicht mehr tun, als der derzeitigen Gefahr zu begegnen. Unser Immunitätsorgan ist viel wirksamer und anpassungsfähiger als irgend etwas im menschlichen Körper, doch auf lange Sicht werden wir dasselbe Schicksal wie die Menschen erleiden, wenn die Descolada nicht vernichtet wird. Der Unterschied ist, falls wir von der Descolada ausgemerzt werden, gibt es keine andere Schwarmkönigin im Universum mehr, die das Bestehen unserer Rasse gewährleisten könnte. Wir sind die letzte.‹

›Dann ist dein Fall noch verzweifelter als ihrer.‹

›Und wir sind sogar noch hilfloser dagegen. Wir haben keine Wissenschaft der Biologie, die über Begriffe der simplen Landwirtschaft hinausgeht. Unsere natürlichen Methoden waren bei der Krankheitsbekämpfung so effektiv, daß wir niemals den gleichen Drang wie die Menschen hatten, das Leben zu verstehen und beherrschen.‹

›Dann gibt es also keine andere Möglichkeit? Entweder wir werden vernichtet, oder ihr und die Menschen werdet vernichtet. Wenn die Descolada bestehen bleibt, tötet sie euch. Wenn sie aufgehalten wird, sterben wir.‹

›Das ist eure Welt. Die Descolada ist in euren Körpern. Wenn die Zeit kommt, zwischen euch und uns eine Wahl zu treffen, werdet ihr es sein, die überleben.‹

›Du sprichst für dich, mein Freund. Doch was werden die Menschen tun?‹

›Wenn sie die Macht haben, die Descolada auf eine Art und Weise zu vernichten, die auch euch vernichten würde, werden wir ihnen verbieten, diese Macht einzusetzen.‹

›Verbieten? Wann haben die Menschen je gehorcht?‹

›Wir verbieten niemals, wenn wir nicht auch die Macht haben, das Verbot durchzusetzen.‹

›Ah.‹

›Das ist eure Welt. Ender weiß dies. Und sollten die anderen Menschen es je vergessen, wird er sie daran erinnern.‹

›Ich habe noch eine Frage.‹

›Stelle sie.‹

›Was ist mit denen wie Kriegmacher, die die Descolada im Universum verbreiten wollen? Wirst du es ihnen auch verbieten?‹

›Sie dürfen die Descolada nicht zu Welten tragen, auf denen es bereits mehrzelliges Leben gibt.‹

›Aber genau das haben sie vor.‹

›Sie dürfen es nicht.‹

›Aber du baust Sternenschiffe für uns. Sobald sie die Kontrolle über ein Sternenschiff haben, können sie fliegen, wohin sie wollen.‹

›Sie dürfen es nicht.‹

›Also verbietest du es ihnen?‹

›Wir verbieten niemals, wenn wir nicht auch die Macht haben, das Verbot durchzusetzen.‹

›Warum baust du dann diese Schiffe weiter?‹

›Die menschliche Flotte kommt mit einer Waffe, die diese Welt vernichten kann. Ender ist überzeugt, daß sie sie einsetzen wird. Sollten wir uns mit den Menschen verschwören und eure gesamte genetische Herkunft hier auf diesem einen Planeten zurücklassen, so daß ihr mit einer einzigen Waffe ausgelöscht werden könnt?‹

›Also baust du Sternenschiffe für uns, obwohl du weißt, daß einige von uns sie destruktiv einsetzen könnten.‹

›Was ihr mit dem Sternenflug anfangen werdet, fällt in eure Verantwortung. Wenn ihr als Feind des Lebens agiert, wird das Leben euer Feind werden. Wir werden die Sternenschiffe euch als Spezies zur Verfügung stellen. Danach werdet ihr als Spezies die Entscheidung treffen, wer Lusitania verläßt und wer nicht.‹

›Es besteht die Möglichkeit, daß Kriegmachers Fraktion die Mehrheit haben wird. Daß sie all diese Entscheidungen treffen wird.‹

›Na und – sollen wir ein Urteil fällen und zum Schluß kommen, der Versuch der Menschen, euch zu vernichten, sei rechtens? Vielleicht hat Kriegmacher recht. Vielleicht haben die Menschen es verdient, vernichtet zu werden. Wer sind wir, daß wir zwischen euch und den Menschen wählen sollen? Sie mit ihrem Molekular-Detachier-Gerät. Ihr mit der Descolada Jeder hat die Macht, den anderen zu vernichten, jede Spezies wäre zu solch einem monströsen Verbrechen imstande, und doch hat jede Spezies viele Mitglieder, die niemals wissentlich solch eine schreckliche Tat begehen würden und zu überleben verdienen. Wir werden keine Wahl treffen. Wir werden einfach die Sternenschiffe bauen und euch und die Menschen euer Schicksal unter euch klären lassen.‹

›Du könntest uns helfen. Du könntest verhindern, daß Kriegmachers Gruppe die Sternenschiffe bekommt, und dich nur mit uns abgeben.‹

›Dann würde der planetare Krieg zwischen euch fürwahr schrecklich werden. Willst du ihren Genpool vernichten, einfach, weil du anderer Meinung bist? Wer wäre dann das Ungeheuer und der Verbrecher? Wie sollen wir zwischen euch wählen, wenn beide Gruppen bereit sind, die völlige Vernichtung eines anderen Volkes hinzunehmen?‹

›Dann habe ich keine Hoffnung. Jemand wird vernichtet werden.‹

›Außer, die menschlichen Wissenschaftler finden eine Möglichkeit, die Descolada so zu verändern, daß ihr als Spezies überleben könnt und die Descolada gleichzeitig die Macht zu töten verliert.‹

›Wie soll das möglich sein?‹

›Wir sind keine Biologen. Nur die Menschen können dies vollbringen, wenn es überhaupt vollbracht werden kann.‹

›Dann dürfen wir sie nicht daran hindern, die Descolada zu erforschen. Wir müssen ihnen helfen. Obwohl sie beinahe unseren Wald zerstört hätten, haben wir keine andere Wahl, als ihnen zu helfen.‹

›Wir wußten, daß ihr zu diesem Schluß kommen würdet.‹

›Du hast es gewußt?‹

›Deshalb bauen wir Sternenschiffe für die Pequeninos. Weil ihr lernfähig seid.‹


Als sich die Nachricht von der Wiederherstellung der Lusitania-Flotte unter den Gottberührten des Planeten Weg herumsprach, begannen sie, das Haus des Han Fei-tzu zu besuchen, um ihm Ehre zu erweisen.

»Ich will sie nicht sehen«, sagte Han Fei-tzu.

»Du mußt sie empfangen, Vater«, sagte Han Qing-jao. »Es ist nur angemessen, daß sie dich für eine so große Leistung ehren.«

»Dann werde ich ihnen sagen, daß es allein dein Werk war und ich nichts damit zu tun hatte.«

»Nein!« rief Qing-jao. »Das darfst du nicht!«

»Überdies werde ich ihnen sagen, daß ich diese Tat für ein großes Verbrechen halte, das den Tod eines edlen Geistes verursachen wird. Ich werde ihnen sagen, daß die Gottberührten von Weg Sklaven einer grausamen und gefährlichen Regierung sind und wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um den Kongreß zu vernichten.«

»Zwinge mich nicht, das hören zu müssen!« rief Qing-jao, »Du könntest so etwas zu niemandem sagen!«

Und sie hatte recht. Si Wang-mu beobachtete sie aus der Ecke, als die beiden, Vater und Tochter, mit ihren Ritualen der Reinigung begangen, Han Fei-tzu, weil er so rebellische Worte gesprochen, und Han Qing-jao, weil sie sie gehört hatte. Meister Fei-tzu würde diese Worte niemals zu anderen sagen, denn wenn er sie aussprach, würden sie sehen, wie er sich augenblicklich reinigen mußte, und sie würden dies als Beweis sehen, daß die Götter seine Worte nicht anerkannten. Sie haben gute Arbeit geleistet, diese Wissenschaftler, die der Kongreß beauftragt hat, die Gottberührten zu schaffen, dachte Wang-mu. Obwohl Han Fei-tzu die Wahrheit kennt, ist er hilflos.

So kam es, daß Qing-jao alle Besucher empfing, die ins Haus kamen, und huldvoll deren Lob für ihren Vater entgegennahm. Wang-mu blieb bei den ersten Besuchen bei ihr, fand es jedoch unerträglich, immer und immer wieder zu hören, daß Qing-jao beschrieb, wie ihr Vater und sie die Existenz eines Computerprogramms entdeckt hatten, das im philotischen Netzwerk der Verkürzer existierte, und wie man es vernichten konnte. Qing-jao glaubte zwar im Grunde ihres Herzens nicht, daß sie einen Mord beging; doch es machte Wang-mu zu schaffen, ständig mitanhören zu müssen, wie sie prahlerisch erklärte, wie dieser Mord zu begehen sei.

Und Prahlerei war es, obwohl nur Wang-mu es wußte Qing-jao schrieb den Ruhm stets ihrem Vater zu, doch da Wang-mu wußte, daß allein Qing-jao dieses Problem gelöst hatte, wußte sie auch, daß Qing-jao sich selbst lobte, wenn sie diese Leistung als würdigen Dienst an den Göttern bezeichnete.

»Bitte zwinge mich nicht mehr, zu bleiben und zuzuhören«, sagte Wang-mu.

Qing-jao betrachtete sie einen Augenblick lang. »Geh, wenn du gehen mußt«, sagte sie dann kalt. »Wie ich sehe, bist du noch immer eine Gefangene unseres Feindes. Ich brauche dich nicht.«

»Natürlich nicht«, gab Wang-mu zurück. »Du hast die Götter.« Doch sie konnte die bittere Ironie nicht aus ihrer Stimme halten.

»Götter, an die du nicht glaubst«, sagte Qing-jao scharf. »Zu dir haben die Götter natürlich auch nicht gesprochen. Warum solltest du da an sie glauben? Da dies dein Wunsch ist, entlasse ich dich als meine geheime Magd. Geh zu deiner Familie zurück.«

»Wie die Götter befehlen«, sagte Wang-mu. Und diesmal machte sie bei der Erwähnung der Götter nicht die geringsten Anstalten, ihre Verbitterung zu verbergen.

Sie hatte das Haus bereits verlassen und ging die Straße entlang, als Mu-pao ihr folgte. Da Mu-pao alt und fett war, bestand keine Hoffnung, daß sie Wang-mu zu Fuß einholen konnte. Also kam sie auf einem Esel geritten, und es sah lächerlich aus, wie sie das Tier trat, um es anzutreiben. Esel, Sänften, all diese Erinnerungen an das antike China – glaubten die Gottberührten tatsächlich, daß diese Hingabe sie irgendwie heiliger machte? Warum benutzen sie nicht einfach Flugplattformen und Hovercars, wie alle anständigen Menschen auf jeder anderen Welt? Dann müßte Mu-pao sich nicht erniedrigen und auf einem Tier reiten, das unter ihrem Gewicht litt. Um ihr soviel Verlegenheit wie möglich zu ersparen, drehte Wang-mu um und traf Mu-pao auf halber Strecke.

»Meister Han Fei-tzu befiehlt dir, zurückzukommen«, sagte Mu-pao.

»Sage Meister Han, daß er freundlich und gut ist, doch meine Herrin hat mich entlassen.«

»Meister Han sagt, daß Herrin Qing-jao die Befugnis hat, dich als ihre geheime Magd, aber nicht, dich aus diesem Haushalt zu entlassen. Du hast einen Vertrag mit ihm abgeschlossen, nicht mit ihr.«

Das stimmte. Daran hatte Wang-mu nicht gedacht.

»Er bittet dich, zurückzukehren«, sagte Mu-pao. »Er hat mir befohlen, es so zu sagen, damit du zumindest aus Freundlichkeit, wenn schon nicht aus Gehorsam zurückkehrst.«

»Sage ihm, daß ich gehorchen werde. Er sollte eine so niedrige Person wie mich nicht bitten.«

»Er wird sich freuen«, sagte Mu-pao.

Wang-mu schritt neben Mu-paos Esel aus. Sie gingen sehr langsam, was auch für Mu-pao und den Esel bequemer war.

»Ich habe ihn noch nie so aufgeregt gesehen«, sagte Mu-pao. »Wahrscheinlich sollte ich dir das nicht erzählen. Doch als ich sagte, daß du fort bist, wurde er fast verrückt.«

»Haben die Götter zu ihm gesprochen?« Es wäre bitter, falls Meister Han sie nur zurückrief, weil der Sklaventreiber in ihm es gefordert hatte.

»Nein«, sagte Mu-pao. »Es sah nicht so aus. Obwohl ich natürlich noch nie gesehen habe, wie es ist, wenn die Götter zu ihm sprechen.«

»Natürlich.«

»Er wollte einfach nicht, daß du gehst.«

»Wahrscheinlich werde ich letzten Endes doch gehen«, sagte Wang-mu. »Doch ich möchte ihm gern erklären, warum ich im Haus Han nun nutzlos bin.«

»O ja, natürlich«, sagte Mu-pao. »Du warst schon immer nutzlos. Aber das heißt nicht, daß du überflüssig bist.«

»Was meinst du damit?«

»Glück kann genausogut von nützlichen wie von nutzlosen Dingen abhängen.«

»Ist das der Spruch eines alten Meisters?«

»Es ist der Spruch einer alten, fetten Frau auf einem Esel«, sagte Mu-pao. »Und vergiß ihn ja nicht.«

Als Wang-mu mit Meister Han in dessen Zimmer allein war, zeigte er keine Spur der Erregung mehr, von der Mu-pao gesprochen hatte.

»Ich habe mit Jane gesprochen«, sagte er. »Sie glaubt, da du auch von ihrer Existenz weißt und überzeugt bist, daß sie nicht der Feind der Götter ist, sei es besser, wenn du bleibst.«

»Also werde ich jetzt Jane dienen?« fragte Wang-mu. »Soll ich ihre geheime Magd sein?«

Wang-mu wollte nicht, daß ihre Worte ironisch klangen; die Vorstellung, einer nichtmenschlichen Wesenheit zu dienen, faszinierte sie. Doch Meister Han reagierte, als wolle er eine Beleidigung glätten.

»Nein«, sagte er. »Du sollst gar keine Dienerin mehr sein. Du hast tapfer und würdig gehandelt.«

»Und doch habt Ihr mich zurückgerufen, damit ich meinen Vertrag erfülle.«

Meister Han senkte den Kopf. »Ich habe dich zurückgerufen, weil du die einzige bist, die die Wahrheit kennt. Wenn du gehst, bin ich in diesem Haus allein.«

Wang-mu hätte fast gesagt: Wie könnte Ihr allein sein, wenn Eure Tochter doch hier ist? Und bis vor ein paar Tagen wäre es auch nicht grausam gewesen, das zu sagen, denn Meister Han und Herrin Qing-jao waren so enge Freunde, wie es bei Vater und Tochter überhaupt der Fall sein konnte. Doch nun war die Barriere zwischen ihnen unüberwindbar. Qing-jao lebte in einer Welt, in der sie eine triumphierende Dienerin der Götter war, und versuchte, Geduld zu haben mit dem zeitweiligen Wahnsinn ihres Vaters. Meister Han lebte in einer Welt, in der seine Tochter und die gesamte Gesellschaft Sklaven eines unterdrückenden Kongresses waren und nur er die Wahrheit kannte. Wie konnten sie über einen so breiten und tiefen Abgrund auch nur noch miteinander sprechen?

»Ich bleibe«, sagte Wang-mu. »Ich werde Euch dienen, so gut ich kann.«

»Wir werden einander dienen«, sagte Meister Han. »Meine Tochter hat versprochen, dich zu unterrichten. Ich werde das fortsetzen.«

Wang-mu verbeugte sich, bis ihre Stirn den Boden berührte. »Ich bin einer solchen Freundlichkeit unwürdig.«

»Nein«, sagte Meister Hand. »Wir beide kennen jetzt die Wahrheit. Die Götter sprechen nicht zu mir. Dein Gesicht sollte vor mir niemals den Boden berühren.«

»Wir müssen in dieser Welt leben«, sagte Wang-mu. »Ich werde Euch behandeln wie einen geehrten Mann unter den Gottberührten, weil die ganze Welt es von mir erwartet. Und Ihr müßt mich aus demselben Grund wie eine Dienerin behandeln.«

Meister Hans Gesicht zuckte verbittert. »Die Welt erwartet auch, daß ein Mann meines Alters dem Geschlechtsgenuß frönen will, wenn er ein junges Mädchen aus den Diensten seiner Tochter in seine eigenen übernimmt. Sollen wir die Erwartungen der Welt erfüllen?«

»Es liegt nicht in Eurer Natur, Eure Macht auf diese Art und Weise auszunutzen«, sagte Wang-mu.

»Es liegt auch nicht in meiner Natur, deine Erniedrigung hinzunehmen. Bevor ich die Wahrheit über meinen Zustand erfuhr, akzeptierte ich den Gehorsam anderer Menschen, weil ich dachte, in Wirklichkeit brächten sie ihn den Göttern entgegen, und nicht mir.«

»Daran hat sich nichts geändert. Diejenigen, die glauben, daß Ihr gottberührt seid, bieten den Göttern ihren Gehorsam, während die Unehrlichen es tun, um Euch zu schmeicheln.«

»Aber du bist nicht unehrlich. Und du glaubst auch nicht, daß die Götter zu mir sprechen.«

»Ich weiß nicht, ob die Götter zu Euch sprechen oder nicht oder ob sie jemals zu jemandem gesprochen haben oder überhaupt sprechen können. Ich weiß nur, daß die Götter von niemandem verlangen, diese lächerlichen, erniedrigenden Rituale durchzuführen – die hat der Kongreß den Gottberührten aufgezwungen. Und doch müßt ihr mit diesen Ritualen fortfahren, weil Euer Körper es verlangt. Bitte erlaubt mir, mit den Ritualen der Erniedrigung fortzufahren, die von Menschen meiner Stellung in der Welt verlangt werden.«

Meister Han nickte ernst. »Du bist klug über deine Jahre und Erziehung hinaus, Wang-mu.«

»Ich bin ein sehr törichtes Mädchen«, sagte Wang-mu. »Wenn ich klug wäre, hätte ich Euch gebeten, mich so weit wie möglich von diesem Haus fortzuschicken. Es wird nun sehr gefährlich für mich sein, ein Haus mit Qing-jao zu teilen. Besonders, wenn sie sieht, daß ich Euch nahestehe, wo sie es nicht kann.«

»Du hast recht. Meine Bitte, du mögest bleiben, war sehr selbstsüchtig.«

»Ja«, sagte Wang-mu. »Und doch werde ich bleiben.«

»Warum?« fragte Meister Han.

»Weil ich niemals in mein altes Leben zurückfinden kann«, erwiderte sie. »Ich weiß jetzt zuviel über die Welt und das Universum, über den Kongreß und die Götter. Ginge ich nach Hause und gäbe vor, das zu sein, was ich früher war, hätte ich den Rest meines Lebens den Geschmack von Gift im Mund.«

Meister Han nickte ernst, doch dann lächelte er, und kurz darauf lachte er.

»Warum lacht Ihr über mich, Meister Han?«

»Ich lache, weil ich glaube, daß du nie warst, was du früher einmal warst.«

»Was bedeutet das?«

»Ich glaube, du hast immer eine Rolle gespielt. Vielleicht hast du sogar dich selbst getäuscht. Aber eins ist sicher. Du warst niemals ein gewöhnliches Mädchen, und du hättest niemals ein gewöhnliches Leben führen können.«

Wang-mu zuckte mit den Achseln. »Die Zukunft besteht aus hunderttausend Fäden, doch die Vergangenheit ist ein Stoff, der nicht neu gewoben werden kann. Vielleicht hätte ich ein zufriedenes Leben führen können. Vielleicht auch nicht.«

»Dann sind wir ja alle zusammen, wir drei.«

Erst jetzt drehte sich Wang-mu um und sah, daß sie nicht allein waren. In der Luft über dem Display sah sie Janes Gesicht, das ihr zulächelte.

»Ich bin froh, daß du zurückgekommen bist«, sagte Jane.

Einen Augenblick lang veranlaßte Janes Anwesenheit Wang-mu zu einer hoffnungsvollen Schlußfolgerung. »Dann bist du nicht tot! Man hat dich verschont!«

»Qing-jao hatte niemals vor, mich schon jetzt zu töten«, erwiderte Jane. »Ihr Vorhaben, mich zu vernichten, schreitet gut voran, und ich werde zweifellos planmäßig sterben.«

»Warum bist du dann in dieses Haus gekommen«, fragte Wang-mu, »wenn doch hier dein Tod ausgelöst wurde?«

»Ich muß noch viel erledigen, bevor ich sterbe«, sagte Jane. »Vielleicht gibt es sogar die schwache Möglichkeit, daß ich einen Weg finde, wie ich mein Überleben sichern kann. Zufällig gibt es auf der Welt Weg viele tausend Menschen, die im Durchschnitt viel intelligenter als der Rest der Menschheit sind.«

»Nur wegen der genetischen Manipulationen des Kongresses«, sagte Meister Han.

»Genau«, sagte Jane. »Die Gottberührten von Weg sind genau genommen nicht einmal mehr Menschen. Ihr seid eine andere Spezies, erschaffen und versklavt vom Kongreß, damit ihr ihm einen Vorteil über den Rest der Menschheit gebt. Zufällig ist ein einziges Mitglied dieser neuen Spezies jedoch gewissermaßen frei vom Kongreß.«

»Das ist Freiheit?« sagte Meister Hand. »Selbst jetzt ist mein Drang, mich zu reinigen, fast unwiderstehlich.«

»Dann widerstehe ihm nicht«, sagte Jane. »Ich kann mit dir sprechen, während du dich windest.«

Augenblicklich streckte Meister Hand die Arme aus und wand sie in seinem Ritual der Läuterung in der Luft. Wang-mu wandte das Gesicht ab.

»Tu das nicht«, sagte Meister Han. »Verberge dein Gesicht nicht vor mir. Ich muß mich nicht schämen, dir das zu zeigen. Ich bin ein Krüppel, mehr nicht; hätte ich ein Bein verloren, hätten meine engsten Freunde keine Scheu, den Stumpf zu sehen.«

Wang-mu sah die Weisheit in seinen Worten und wandte das Gesicht nicht von seinem Makel ab.

»Wie ich gerade sagte«, fuhr Jane fort, »zufällig ist ein einziges Mitglied dieser neuen Spezies jedoch gewissermaßen frei vom Kongreß. Ich hoffe, in den wenigen Monaten, die mir verbleiben, auf deine Hilfe bei dem rechnen zu können, was ich bewerkstelligen will.«

»Ich tue, was ich kann«, sagte Meister Han.

»Und wenn ich helfen kann, bin ich gern dazu bereit«, sagte Wang-mu. Erst, nachdem sie es gesagt hatte, begriff sie, wie lächerlich es war, daß sie solch ein Angebot machte. Meister Han war einer der Gottberührten, einer von jenen mit überlegenen intellektuellen Fähigkeiten. Sie hingegen war nur ein ungebildetes Mitglied der normalen Menschheit, das nichts anzubieten hatte.

Und doch spottete keiner über ihre Angebot, und Jane akzeptierte es großzügig. Diese Freundlichkeit bewies Wang-mu erneut, daß Jane ein Lebewesen sein mußte, nicht nur eine Simulation.

»Laßt mich euch die Probleme erklären, die ich zu bewältigen hoffe.«

Sie hörten zu.

»Wie ihr wißt, befinden sich meine liebsten Freunde auf dem Planeten Lusitania. Sie werden von der Lusitania-Flotte bedroht. Ich bin sehr daran interessiert zu verhindern, daß diese Flotte einen nicht wieder gutzumachenden Schaden anrichtet.«

»Mittlerweile hat die Flotte bestimmt schon den Befehl bekommen, den Kleinen Doktor einzusetzen«, sagte Meister Han.

»Oh, ja, das weiß ich. Ich möchte verhindern, daß dieser Befehl nicht nur die Menschen von Lusitania, sondern auch zwei weitere Ramann-Spezies vernichtet.« Dann berichtete Jane ihnen von der Schwarmkönigin und wie es dazu gekommen war, daß im Universum wieder Krabbler lebten. »Die Schwarmkönigin baut bereits Sternenschiffe und treibt sich bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit an, um vor dem Eintreffen der Flotte soviel wie möglich zu bewältigen. Doch es besteht keine Chance, genug Sternenschiffe zu bauen, um mehr als einen winzigen Bruchteil der Bewohner Lusitanias zu retten. Die Schwarmkönigin kann fliehen oder eine andere Königin fortschicken, die all ihre Erinnerungen teilt, und es ist für sie kaum von Belang, ob ihre Arbeiter sie begleiten oder nicht. Doch die Pequeninos und die Menschen sind nicht so unabhängig. Ich möchte sie gern allesamt retten. Besonders, weil meine liebsten Freunde, ein gewisser Sprecher für die Toten und ein junger Mann, der an einem Gehirnschaden leidet, sich weigern werden, Lusitania zu verlassen, bevor nicht alle anderen Menschen und Pequeninos in Sicherheit sind.«

»Dann sind sie also Helden?« fragte Meister Han.

»Das hat jeder von ihnen in der Vergangenheit mehrmals bewiesen«, sagte Jane.

»Ich war mir nicht sicher, ob es in der menschlichen Rasse noch Helden gibt.«

Si Wang-mu sprach nicht aus, was sie in ihrem Herzen dachte: daß Meister Han selbst solch ein Held war.

»Ich ziehe alle Möglichkeiten in Betracht«, sagte Jane. »Aber es läuft alles auf eine Unmöglichkeit hinaus; das glaubt die Menschheit zumindest seit über dreitausend Jahren. Wenn wir ein Raumschiff bauen könnten, das schneller als das Licht fliegt, das so schnell fliegt, wie der Verkürzer die Nachrichten von einer Welt zur anderen gibt, dann müßte die Schwarmkönigin nur ein Dutzend Sternenschiffe bauen, und sie könnten problemlos alle Bewohner Lusitanias auf andere Planeten bringen, bevor die Lusitania-Flotte dort eintrifft.«

»Wenn man wirklich solch ein Sternenschiff bauen könnte«, sagte Han Fei-tzu, »könnte man eine eigene Flotte schaffen, die die Lusitania-Flotte angreifen und vernichten könnte, bevor sie irgendwelchen Schaden anrichten kann.«

»Das ist unmöglich«, sagte Jane.

»Du kannst dir eine überlichtschnelle Reise vorstellen, aber nicht, die Lusitania-Flotte zu vernichten?«

»Oh, ich kann es mir schon vorstellen«, sagte Jane. »Aber die Schwarmkönigin würde die Flotte nicht bauen. Sie hat Andrew gesagt, meinem Freund, dem Sprecher für die Toten…«

»Valentines Bruder«, sagte Wang-mu. »Er lebt also?«

»Die Schwarmkönigin hat ihm gesagt, daß sie niemals eine Waffe bauen wird, aus welchem Grund auch immer.«

»Nicht einmal, um die eigene Spezies zu retten?«

»Sie wird das eine Sternenschiff zur Verfügung haben, das sie braucht, um den Planeten zu verlassen, und die anderen werden auch genug Sternenschiffe haben, um ihre Spezies zu retten. Damit gibt sie sich zufrieden. Es besteht kein Grund, jemanden zu töten.«

»Aber wenn es nach dem Willen des Kongresses geht, werden Millionen sterben!«

»Das fällt in die Verantwortung des Kongresses«, sagte Jane. »Zumindest gibt sie diese Antwort immer Andrew, wenn er das Thema darauf bringt.«

»Was für eine seltsame moralische Argumentation ist das?«

»Du vergißt, daß sie erst vor kurzem die Existenz anderen intelligenten Lebens entdeckt hat und es fast vernichtet hätte. Dann hat dieses andere intelligente Leben beinahe sie vernichtet. Aber ihre moralische Einstellung wurde viel stärker von der Tatsache beeinflußt, daß sie selbst beinahe das Verbrechen des Xenozids begangen hätte. Sie kann andere Spezies nicht davon abhalten, so etwas zu tun, aber sie kann sicherstellen, daß sie selbst es nicht mehr tut. Sie wird nur noch töten, wenn das die einzige Hoffnung ist, die Existenz ihrer Spezies zu retten. Und da sie eine andere Hoffnung hat, wird sie kein Kriegsschiff bauen.«

»Überlichtschnelle Reise«, sagte Meister Han. »Ist das deine einzige Hoffnung?«

»Die einzige, die mir einfällt, in der der Schimmer einer Möglichkeit liegt. Zumindest wissen wir, daß sich etwas im Universum überlichtschnell bewegt – Informationen werden ohne feststellbaren Zeitverlust von einem Verkürzer zum anderen am philotischen Strang entlanggeschickt. Ein intelligenter junger Physiker auf Lusitania, der im Augenblick im Gefängnis sitzt, verbringt seine Tage und Nächte mit der Arbeit an diesem Problem. Ich führe alle Berechnungen und Simulationen für ihn durch. In genau diesem Augenblick testet er eine Hypothese über die Natur der Philoten, indem er ein so komplexes Modell benutzt, daß ich allein für den Ablauf des Programms Rechenzeit der Computer von fast tausend verschiedenen Universitäten stehle. Es gibt Hoffnung.«

»Solange man lebt, gibt es Hoffnung«, sagte Wang-mu. »Wer wird so umfangreiche Experimente für ihn durchführen, sobald du tot bist?«

»Deshalb ist die Sache ja so dringend«, sagte Jane.

»Wofür brauchst du mich?« fragte Meister Han. »Ich bin kein Physiker, und es besteht keine Aussicht, daß ich in den nächsten paar Monaten genug lernen kann, um dir irgendwie helfen zu können. Wenn überhaupt, kann es dein im Gefängnis sitzender Physiker schaffen. Oder du selbst.«

»Jeder braucht einen unbefangenen Kritiker, der sagt: Hast du daran gedacht? Oder auch: Schluß mit dieser Sackgasse, steige auf einen anderen Gedankengang um. Dafür brauche ich dich. Wir werden dir unsere Arbeit zur Verfügung stellen, und du wirst sie begutachten und dazu sagen, was immer dir einfällt. Du kannst nicht wissen, welches zufällige Wort von dir die Idee auslösen wird, nach der wir suchen.«

Meister Han nickte, um die Möglichkeit einzugestehen.

»Das zweite Problem, an dem ich arbeite, ist noch komplizierter«, sagte Jane. »Ob wir nun eine überlichtschnelle Reise entwickeln oder nicht, einige Pequeninos werden Sternenschiffe haben und den Planeten Lusitania verlassen können. Das Problem ist, daß sie den heimtückischsten und schrecklichsten Virus in sich tragen, den wir jemals entdeckt haben, einen Virus, der jede Lebensform vernichtet, mit der er in Berührung kommt, abgesehen von den wenigen, die er in eine deformierte Art symbiotischen Lebens verwandeln kann, die völlig vom Vorhandensein dieser Viren abhängig ist.«

»Die Descolada«, sagte Meister Han. »Eine der Berechtigungen, daß die Flotte den Kleinen Doktor überhaupt mitführt.«

»Und vielleicht ist es tatsächlich eine Berechtigung. Vom Standpunkt der Schwarmkönigin aus ist es unmöglich, zwischen zwei verschiedenen Lebensformen zu wählen, doch wie Andrew mir oft klargemacht hat, haben die Menschen dieses Problem nicht. Wenn es auf die Wahl zwischen dem Überleben der Menschen oder der Pequeninos hinausläuft, würde er sich für die Menschheit entscheiden, und um seinetwillen würde ich mich genauso entscheiden.«

»Und ich auch«, sagte Meister Han.

»Wir können sicher sein, daß die Pequeninos genau umgekehrt empfinden«, sagte Jane. »Wenn nicht auf Lusitania, so wird es aber mit fast absoluter Sicherheit irgendwann zu einem schrecklichen Krieg kommen, in dem die Menschen das Molekular-Detachier-Gerät und die Pequeninos die Descolada als ultimate biologische Waffe einsetzen werden. Es besteht eine gute Chance, daß sich beide Spezies gegenseitig völlig vernichten. Daher muß ich dringend einen Ersatzvirus für die Descolada finden, der alle Funktionen wahrnimmt, die im Lebenszyklus der Pequeninos notwendig sind, aber nicht über seine tödliche Anpassungsfähigkeit verfügt. Eine selektiv ungefährliche Form des Virus.«

»Ich dachte, es gäbe Möglichkeiten, die Descolada zu neutralisieren. Nehmen die Bewohner Lusitanias nicht mit ihrem Trinkwasser gewisse Medikamente auf?«

»Die Descolada isoliert diese Medikamente immer wieder und paßt sich an sie an. Es ist ein unentwegtes Wettrennen. Irgendwann wird die Descolada eine Etappe gewinnen, und dann wird es keine Menschen mehr geben, gegen die sie das Rennen fortsetzen muß.«

»Soll das heißen, daß der Virus intelligent ist?« fragte Wang-mu.

»Eine Wissenschaftlerin auf Lusitania ist dieser Meinung«, erwiderte Jane. »Sie heißt Quara. Andere widersprechen ihr. Doch der Virus verhält sich mit Sicherheit, als sei er intelligent, zumindest wenn es darum geht, sich an Veränderungen der Umgebung anzupassen und andere Spezies seinen Bedürfnissen entsprechend umzuwandeln. Ich persönlich glaube, daß Quara recht hat. Ich glaube, daß die Descolada eine intelligente Spezies ist, die eine eigene Sprache hat und sie benutzt, um Informationen sehr schnell von einer Seite des Planeten auf die andere zu bringen.«

»Ich bin kein Virologe«, sagte Meister Han.

»Doch wenn du dir die Untersuchungen ansiehst, die Elanora Ribeira von Hesse durchgeführt hat…«

»Natürlich werde ich sie mir ansehen. Ich wünschte nur, ich hätte deine Hoffnung, helfen zu können.«

»Und dann das dritte Problem«, sagte Jane. »Vielleicht das einfachste von allen. Die Gottberührten von Weg.«

»Ja«, sagte Meister Han. »Die, die dich vernichten wollen.«

»Nicht aus freier Entscheidung«, sagte Jane. »Ich werfe euch nichts vor. Aber ich möchte das gern erledigt sehen, bevor ich sterbe. Ich möchte eine Möglichkeit finden, eure manipulierten Gene zu so verändern, daß zumindest zukünftige Generationen von diesem absichtlich herbeigeführten UZV frei sind, dabei aber nicht ihre außergewöhnliche Intelligenz verlieren.«

»Wo wirst du Genetiker finden, die bereit sind, eine Arbeit zu leisten, die der Kongreß mit Sicherheit als Verrat bezeichnen wird?«

»Wenn man möchte, daß jemand einen Verrat begeht«, sagte Jane, »sieht man sich am besten zuerst unter bekannten Verrätern um.«

»Lusitania«, sagte Wang-mu.

»Ja. Mit eurer Hilfe kann ich Elanora das Problem anvertrauen.«

»Arbeitet sie nicht an dem Descolada-Problem?«

»Niemand kann jeden wachen Augenblick an ein und derselben Sache arbeiten. Diese Abwechslung wird ihr vielleicht sogar helfen, sich inspirierter mit der Descolada zu befassen. Außerdem läßt sich euer Problem auf Weg wohl relativ leicht lösen. Schließlich wurden eure veränderten Gene ursprünglich von völlig normalen Genetikern geschaffen, die für den Kongreß arbeiteten. Es lagen nur politische, keine wissenschaftlichen Hindernisse vor. Ela dürfte keine größeren Schwierigkeiten haben. Sie hat mir bereits gesagt, wie wir anfangen müssen. Wir brauchen ein paar Gewebeproben. Ein Medizintechniker muß hier ein paar Computeranalysen auf Molekularebene durchführen. Ich kann sämtliche Maschinen so lange übernehmen, bis die Daten vorliegen, die Ela braucht, und sie ihr dann übermitteln. So einfach ist das.«

»Wessen Gewebe brauchst du?« fragte Meister Han. »Ich kann ja schlecht die Besucher hier bitte, mir Proben zur Verfügung zu stellen.«

»Eigentlich habe ich genau darauf gehofft«, sagte Jane. »Hier kommen und gehen so viele. Wir können auch totes Gewebe gebrauchen. Vielleicht sogar Stuhl- oder Urinproben, die Körperzellen enthalten.«

Meister Han nickte. »Das ist kein Problem.«

»Für die Stuhlproben werde ich sorgen«, sagte Wang-mu.

»Nein«, sagte Meister Han. »Ich bin mir nicht zu gut, jede notwendige Hilfe zu leisten, selbst mit bloßen Händen.«

»Ihr selbst?« fragte Wang-mu. »Ich habe mich freiwillig gemeldet, weil ich befürchtete, Ihr würdet andere Diener erniedrigen, indem Ihr ihnen diesen Auftrag gebt.«

»Ich werde nie wieder jemanden bitten, etwas so Niedriges und Entwürdigendes zu verrichten, daß ich mich weigern würde, es selbst zu tun.«

»Dann werden wir es gemeinsam tun«, sagte Wang-mu. »Bitte vergeßt nicht, Meister Han – Ihr werdet Jane helfen, indem Ihr Berichte lest und bewertet, während ich nur durch manuelle Arbeit helfen kann. Besteht nicht darauf, etwas zu tun, was auch ich tun kann. Nutzt diese Zeit statt dessen für etwas, das nur Ihr könnt.«

Jane unterbrach, bevor Meister Han antworten konnte. »Wang-mu, ich möchte, daß auch du die Berichte liest.«

»Ich? Aber ich bin überhaupt nicht gebildet.«

»Trotzdem«, sagte Jane.

»Ich werde sie nicht einmal verstehen.«

»Dann werde ich dir helfen«, sagte Meister Han.

»Das ist nicht rechtens«, sagte Wang-mu. »Ich bin nicht Qing-jao. Es wäre eine Aufgabe für sie, nicht für mich.«

»Ich habe dich und Qing-jao während des gesamten Prozesses beobachtet, der zu meiner Entdeckung führte«, sagte Jane. »Viele der wesentlichen Einsichten kamen von dir, Si Wang-mu, und nicht von Qing-jao.«

»Von mir? Ich habe nicht einmal versucht…«

»Du hast es nicht versucht. Du hast beobachtet. Du hast Schlüsse gezogen. Du hast Fragen gestellt.«

»Törichte Fragen«, sagte Wang-mu. Doch in ihrem Herzen war sie froh: Jemand hatte es gesehen!

»Fragen, die kein Experte jemals gestellt hätte«, erklärte Jane. »Doch es waren genau die Fragen, die Qing-jao zu ihren wichtigsten Erkenntnissen führten. Vielleicht sprechen die Götter nicht zu dir, Wang-mu, doch du hast deine eigenen Begabungen.«

»Ich werde lesen und Fragen stellen«, sagte Wang-mu, »doch ich werde auch Gewebeproben sammeln. Alle Gewebeproben, damit Meister Han nicht mit diesen gottberührten Besuchern sprechen und ihnen zuhören muß, wie sie ihn für eine schreckliche Sache loben, die er nicht getan hat.«

Meister Han war noch immer dagegen. »Ich weigere mich, dich…«

Jane unterbrach ihn. »Han Fei-tzu, sei klug. Wang-mu ist als Dienerin unsichtbar. Du als Herr des Hauses bist so unauffällig wie ein Tiger auf einem Spielplatz. Nichts, was du tust, bleibt unbemerkt. Laß Wang-mu tun, was sie am besten kann.«

Kluge Worte, dachte Wang-mu. Doch warum bittest du mich, die Arbeit von Wissenschaftlern zu tun, wenn jede Person das tun sollte, was sie am besten kann? Aber sie schwieg. Jane ließ sie anfangen, indem sie sich selbst Gewebeproben entnahmen; danach schickte sich Wang-mu an, Gewebeproben vom Rest des Haushalts zu sammeln. Das meiste, was sie brauchte, fand sie an Kämmen und schmutziger Kleidung. Innerhalb von ein paar Tagen hatte sie Proben von einem Dutzend gottberührter Besucher gesammelt, die meisten ebenfalls von deren Kleidung. Niemand mußte Stuhlproben sammeln. Doch sie wäre dazu bereit gewesen.

Qing-jao bemerkte sie natürlich, ignorierte sie jedoch. Es schmerzte Wang-mu, daß Qing-jao sie so kalt behandelte, denn sie waren einmal Freundinnen gewesen, und Wang-mu hatte sie noch immer gern, zumindest die junge Frau, die Qing-jao vor der Krise gewesen war. Doch Wang-mu konnte nichts sagen oder tun, um ihre Freundschaft wiederherzustellen. Sie hatte einen anderen Weg gewählt.

Wang-mu hielt alle Gewebeproben sorgfältig voneinander getrennt und beschriftet. Doch anstatt sie zu einem medizinischen Labor zu bringen, fand sie eine viel einfachere Möglichkeit, sie untersuchen zu lassen. Sie zog alte Gewänder von Qing-jao an, so daß sie wie eine gottberührte Studentin und nicht wie ein Dienstmädchen aussah, ging sie zur nächsten Universität, sagte dort, sie arbeite an einem Projekt, dessen Natur sie nicht enthüllen könne, und bat bescheiden um eine Untersuchung der Gewebeproben. Wie erwartet, stellte man einer Gottberührten keine Fragen, nicht einmal einer völlig Fremden. Sie führten die Molekularuntersuchungen durch, und Wang-mu konnte nur davon ausgehen, daß Jane wie versprochen die Kontrolle über den Computer übernommen und alle Untersuchungen durchgeführt hatte, die Ela benötigte.

Auf dem Rückweg von der Universität verbrannte Wang-mu alle Proben und den Bericht, den sie bekommen hatte. Jane hatte, was sie brauchte, und Wang-mu wollte das Risiko vermeiden, daß Qing-jao oder vielleicht ein Diener im Haus, der für den Kongreß spionierte, herausfand, daß Han Fei-tzu ein biologisches Experiment durchführte. Und es war ausgeschlossen, daß jemand sie, die Dienerin Si Wang-mu, als die junge Gottberührte erkannte, die die Universität besucht hatte. Niemand, der nach einer Gottberührten suchte, würde einer Dienerin wie ihr auch nur einen Blick widmen.


»Also hast du deine Frau verloren, und ich meine«, sagte Miro.

Ender seufzte. Gelegentlich wurde Miro redselig, und da die Verbitterung immer in seinen Worten lauerte, pflegten seine Plaudereien stets zur Sache zu kommen. Ender konnte ihm seine Gesprächigkeit nicht übelnehmen – er und Valentine waren fast die einzigen Menschen, die Miros langsamer Sprache zuhören konnten, ohne ihm anzudeuten, er solle sich beeilen. Miro verbrachte so viel Zeit mit seinen angehäuften, nicht zum Ausdruck gebrachten Gedanken, daß es grausam wäre, ihn zum Schweigen zu bringen.

Ender war nicht angetan, daran erinnert zu werden, daß Novinha ihn verlassen hatte. Er versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, während er sich anderen Problemen widmete – hauptsächlich der Frage, wie Jane überleben konnte. Doch bei Miros Worten kehrte dieses schmerzhafte, der Panik verwandte Gefühl zurück. Sie ist nicht hier. Ich kann nicht einfach etwas sagen, und sie antwortet. Ich kann nicht einfach eine Frage stellen, und sie erinnert sich. Ich kann nicht einfach nach ihrer Hand greifen. Und am schrecklichsten war der Gedanke: Vielleicht werde ich das nie wieder können.

»Ich glaube schon«, sagte Ender.

»Du wirst sie wahrscheinlich nicht vergleichen wollen«, sagte Miro. »Schließlich war sie dreißig Jahre lang deine Ehefrau, und Ouanda war vielleicht fünf Jahre lang meine Freundin. Aber das ist nur von der Pubertät an gerechnet. Sie war meine Freundin, meine engste Freundin, von Ela vielleicht einmal abgesehen, seit ich klein war. Wenn du also darüber nachdenkst, war ich die größte Zeit meines Lebens mit Ouanda zusammen, während du nur dein halbes Leben mit Mutter zusammenwarst.«

»Jetzt fühle ich mich besser«, sagte Ender.

»Sei nicht sauer auf mich«, sagte Miro.

»Mach mich nicht sauer«, sagte Ender.

Miro lachte. »Warum so verdrossen, Andrew?« krächzte er. »Bist du etwas daneben?«

Das war zuviel. Ender fuhr mit seinem Stuhl herum, wandte sich von dem Terminal ab, auf dem er ein vereinfachtes Modell des Verkürzer-Netzwerks betrachtet und herauszufinden versucht hatte, wo sich in diesem zufälligen Durcheinander vielleicht Janes Seele befinden mochte. Er sah Miro ununterbrochen an, bis der Krüppel zu lachen aufhörte.

»Tue ich das dir an?« fragte Ender.

Miro wirkte eher wütend als bestürzt. »Vielleicht solltest du das«, sagte er. »Hast du je darüber nachgedacht? Ihr seid so respektvoll, ihr alle. Laß Miro ja seine Würde. Laßt ihn seinen Gedanken nachhängen, bis er verrückt wird. Sprecht einfach nicht mit ihm darüber, was ihm passiert ist. Bist du nie darauf gekommen, daß ich vielleicht jemanden brauche, der mich aus dieser Ecke holt?«

»Bist du nicht darauf gekommen, daß ich vielleicht so jemanden nicht brauche?«

Miro lachte erneut. »Touché«, sagte er. »Du behandelst mich, wie du behandelt werden willst, wenn du trauerst, und nun behandele ich dich, wie ich behandelt werden wir. Wir verschreiben einander unsere eigene Medizin.«

»Deine Mutter und ich sind noch immer verheiratet«, sagte Ender.

»Ich will dir was sagen«, entgegnete Miro, »aus der Weisheit meiner vielleicht zwanzig Lebensjahre. Es ist leichter, wenn du dir endlich eingestehst, daß du sie nicht mehr zurückbekommst.«

»Ouanda ist unerreichbar. Novinha nicht.«

»Sie ist bei den Kindern des Geistes Christi. Das ist ein Nonnenkloster, Andrew.«

»Keineswegs«, sagte Ender. »Es ist ein Klosterorden, dem nur Ehepaare beitreten können. Ohne mich kann sie ihm nicht angehören.«

»Ha«, sagte Miro. »Du kannst sie zurückbekommen, wenn du den Filhos beitrittst. Ich sehe dich schon als Dom Cristao.«

Ender konnte nicht umhin, über diese Vorstellung zu kichern. »In getrennten Betten schlafen. Die ganze Zeit über beten. Sich nie berühren.«

»Wenn das eine Ehe ist, Andrew, dann sind Ouanda und ich verheiratet.«

»Es ist eine Ehe, Miro. Weil die Ehepaare der Filhos da Mente de Cristo zusammenarbeiten, etwas gemeinsam tun.«

»Dann sind wir verheiratet«, sagte Miro. »Du und ich. Weil wir versuchen, Jane gemeinsam zu retten.«

»Nur Freunde«, sagte Ender. »Wir sind nur Freunde.«

»Rivalen ist wohl der bessere Ausdruck. Jane hält uns wie Liebhaber in den Startlöchern.«

Miro klang zu sehr wie Novinha, als sie Ender Vorwürfe über Jane gemacht hatte. »Wir sind wohl kaum Liebhaber«, sagte er. »Jane ist kein Mensch. Sie hat nicht einmal einen Körper.«

»Überaus logisch von dir«, entgegnete Miro. »Hast du nicht gerade gesagt, du und Mutter, ihr könntet verheiratet sein, ohne euch jemals zu berühren?«

Diese Analogie gefiel Ender nicht, denn es schien eine gewisse Wahrheit in ihr zu sein. Hatte Novinha recht gehabt, auf Jane eifersüchtig zu sein, wie sie es so viele Jahre lang gewesen war?

»Sie lebt praktisch in unseren Köpfen«, sagte Miro. »Das ist ein Ort, an den keine Ehefrau jemals gelangen kann.«

»Ich hatte immer angenommen«, sagte Ender, »daß deine Mutter auf Jane eifersüchtig war, weil sie gern jemanden gehabt hätte, der ihr so nahe stand.«

»Bobagem«, sagte Miro. »Lixo.« Blödsinn. Mist. »Mutter war eifersüchtig auf Jane, weil sie unbedingt dir so nahe sein wollte und es nie sein konnte.«

»Nicht deine Mutter. Sie war immer unabhängig. Es gab Zeiten, in denen wir uns sehr nahe standen, doch sie kehrte immer wieder zu ihrer Arbeit zurück.«

»Wie du immer wieder zu Jane zurückgekehrt bist.«

»Hat sie dir das gesagt?«

»Nicht mit so vielen Worten. Doch du hast mit ihr gesprochen, und dann verstummtest du plötzlich, und obwohl du sehr gut subvokalisieren kannst, bewegst du die Kiefer dabei immer ganz leicht, und deine Augen und Lippen reagieren ein wenig auf das, was Jane zu dir sagt. Sie hat es gesehen. Du warst ganz nahe bei Mutter, und dann warst du plötzlich ganz woanders.«

»Nicht das hat uns getrennt«, sagte Ender. »Es war Quims Tod.«

»Quims Tod war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Wäre Jane nicht gewesen, hätte Mutter wirklich geglaubt, daß du mit Herz und Seele zu ihr gehörst, hätte sie sich an dich gewandt, als Quim starb, und nicht von dir weg.«

Miro hatte das ausgesprochen, was Ender die ganze Zeit über befürchtet hatte. Daß es seine eigene Schuld war. Daß er nicht der perfekte Ehemann gewesen war. Daß er sie fortgetrieben hatte. Und am schlimmsten war, als Miro es sagte, wußte Ender, daß es stimmte. Das Gefühl des Verlustes, das ihm schon unerträglich vorgekommen war, verdoppelte sich plötzlich, potenzierte sich, wurde unendlich in ihm.

Er fühlte Miros Hand schwer und unbeholfen auf seiner Schulter.

»Gott ist mein Zeuge, Andrew, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen.«

»Das kann passieren«, sagte Ender.

»Es ist nicht ausschließlich deine Schuld«, sagte Miro. »Oder Janes. Du darfst nicht vergessen, daß Mutter ziemlich plemplem ist. Das war sie schon immer.«

»Sie hatte als Kind sehr viel zu ertragen.«

»Sie hat jeden verloren, den sie je geliebt hat, einen nach dem anderen.«

»Und ich ließ sie glauben, daß sie auch mich verloren hat.«

»Was hättest du tun können, Jane abschalten? Das hast du einmal versucht, weißt du noch?«

»Der Unterschied ist, daß sie jetzt dich hat. Die ganze Zeit über, die du fort warst, hätte ich Jane aufgeben können, denn sie hatte dich. Ich hätte weniger mit ihr sprechen, sie bitten können, den Kontakt einzuschränken. Sie hätte mir verziehen.«

»Vielleicht«, sagte Miro. »Aber du hast es nicht getan.«

»Weil ich es nicht wollte«, sagte Ender. »Weil ich sie nicht aufgeben wollte. Weil ich glaubte, diese alte Freundschaft bewahren und gleichzeitig meiner Frau ein guter Ehemann sein zu können.«

»Es war nicht nur Jane«, sagte Miro. »Es war auch Valentine.«

»Wahrscheinlich. Was soll ich jetzt also tun? Den Filhos beitreten und warten, bis die Flotte eintrifft und uns alle in die Hölle schickt?«

»Du tust, was ich tue.«

»Und das wäre?«

»Du atmest tief durch. Du läßt es heraus. Dann atmest du wieder tief ein.«

Ender dachte einen Augenblick lang darüber nach. »Das kann ich nicht. Das habe ich getan, seit ich klein war.«

Miros Hand blieb noch einen Moment auf seiner Schulter. Deshalb hätte ich selbst einen Sohn haben sollen, dachte Ender. Damit er sich auf mich stützen kann, solange er noch klein ist, und damit ich mich auf ihn stützen kann, wenn ich alt bin. Aber ich hatte nie ein eigenes Kind. Ich bin wie der alte Marcao, Novinhas erster Mann. Umgeben von diesem Kindern und zu wissen, daß es nicht meine eigenen sind. Der Unterschied ist, daß Miro ein Freund ist, nicht mein Feind. Und das ist schon etwas. Ich war ein schlechter Ehemann, doch ich kann noch Freundschaften schließen und bewahren.

»Höre auf, dich selbst zu bemitleiden, und mache dich wieder an die Arbeit.« Es war Jane, die in sein Ohr sprach, und sie hatte fast so lange gewartet, bevor sie sprach, daß er bereit war, sich von ihr aufziehen zu lassen. Fast, aber nicht ganz, und so verabscheute er ihre Einmischung. Verabscheute das Wissen, daß sie die ganze Zeit über zugehört und ihn beobachtet hatte.

»Jetzt bist du böse«, sagte sie.

Du weißt nicht, was ich fühle, dachte Ender. Du kannst es nicht wissen. Weil du kein Mensch bist.

»Du glaubst, ich wüßte nicht, was du fühlst«, sagte Jane.

Er verspürte einen kurzen Schwindel, weil es einen Augenblick lang den Anschein hatte, daß sie auf einer viel tieferen Ebene als der des Gesprächs mitgehört hatte.

»Aber auch ich habe dich einmal verloren.«

»Ich bin zurückgekommen«, subvokalisierte Ender.

»Niemals ganz«, sagte Jane. »Es war nie wie vorher. Also reibe dir ein paar dieser kleinen Tränen des Selbstmitleids von den Wangen und zähle sie, als wären es meine. Um einen kleinen Ausgleich zu schaffen.«

»Ich weiß nicht, warum ich mir die Mühe mache, dein Leben zu retten«, sagte Ender stumm.

»Ich auch nicht«, erwiderte Jane. »Ich sage dir immer wieder, daß es reine Zeitverschwendung ist.«

Ender wandte sich wieder dem Terminal zu. Miro stand neben ihm und betrachtete das Display, welches das Verkürzer-Netzwerk simulierte. Ender hatte keine Ahnung, was Jane zu Miro sagte – obwohl er sicher war, daß sie irgend etwas sagte, denn er hatte schon vor langem herausgefunden, daß Jane mehrere Gespräche gleichzeitig führen konnte. Er kam nicht dagegen an – es störte ihn ein wenig, daß Jane eine genauso enge Beziehung zu Miro hatte wie zu ihm.

Ist es nicht möglich, fragte er sich, daß ein Mensch einen anderen liebt, ohne zu versuchen, ihn zu besitzen? Oder ist das so tief in unseren Genen vergraben, daß wir ganz einfach nicht anders können? Das Revier abstecken. Meine Frau. Mein Freund. Meine Geliebte. Meine ungeheuerliche und lästige Computerpersönlichkeit, die wegen eines halbverrückten, genialen Mädchens mit UZV auf einem Planeten, von dem ich noch nie gehört habe, abgeschaltet wird. Wie soll ich ohne Jane leben, wenn sie nicht mehr ist?

Ender zoomte immer wieder Ausschnitte des Displays, bis es nur noch ein paar Parsecs in jeder Dimension darstellte. Nun zeigte die Simulation einen kleinen Teil des Netzwerks, nur ein halbes Dutzend philotische Stränge, die sich im All kreuzten. Die philotischen Strahlen sahen jetzt nicht mehr aus wie ein kompliziertes, eng gewobenes Muster, sondern wie zufällige Linien, die in einer Entfernung von Millionen von Kilometern aneinander vorbeiliefen.

»Sie berühren sich niemals«, sagte Miro.

Nein, sie berührten sich nicht. Das hatte Ender noch nie zuvor begriffen. In seiner Vorstellung war die Galaxis flach, wie die Sternenkarten sie immer zeigten, ein Blick von oben auf jenen Teil des Spiralarms der Galaxis, in dem die Menschen sich von der Erde ausgebreitet hatten. Aber sie war nicht flach. Keine zwei Sterne standen genau auf derselben Ebene wie zwei andere. Die philotischen Stränge, die Sternenschiffe und Planeten und Satelliten mit völlig geraden Linien zu verbinden schienen, Verkürzer mit Verkürzer – wenn man sie auf einer zweidimensionalen Karte sah, schienen sie sich zu kreuzen, doch diese dreidimensionale Nahaufnahme des Computerdisplays zeigte deutlich, daß sie sich überhaupt nicht berührten.

»Wie kann sie darin leben?« fragte Ender. »Wie kann sie nur darin existieren, wenn es keine Verbindungen zwischen den Linien gibt, von den Endpunkten einmal abgesehen?«

»Vielleicht lebt sie gar nicht darin. Vielleicht lebt sie in der Summe der Computerprogramme aller Terminals.«

»In diesem Fall könnte sie ein Backup von sich herstellen und dann…«

»Und dann nichts. Sie könnte sich niemals wieder zusammensetzen, weil die Verkürzer nur von völlig sauberen Computern gesteuert werden.«

»Das können sie nicht auf ewig durchhalten«, sagte Ender. »Es ist zu wichtig, daß die Computer auf verschiedenen Planeten miteinander kommunizieren können. Der Kongreß wird ziemlich schnell herausfinden, daß es nicht genug Menschen gibt, um in einem Jahr manuell die Informationen in einen Computer einzugeben, die die Computer Stunde für Stunde über die Verkürzer miteinander austauschen.«

»Also soll sie sich einfach verstecken? Abwarten? Sich hineinschmuggeln und wiederherstellen, wenn sie in fünf oder zehn Jahren eine Chance dazu sieht?«

»Falls sie nicht mehr als das ist – eine Sammlung von Programmen.«

»Sie muß mehr als nur das sein«, sagte Miro.

»Warum?«

»Wenn sie nicht mehr wäre als eine Sammlung von Programmen, müßte sie letztendlich irgendwo von einem oder mehreren Programmierern geschaffen worden sein. In diesem Fall führte sie nur das Programm aus, das man ihr von Anfang an aufgezwungen hat. Sie hätte keinen freien Willen, keine Entscheidungsfreiheit. Sie wäre eine Puppe, keine Person.«

»Nun, wenn es darauf hinausläuft, definierst du den Begriff ›freier Wille‹ vielleicht zu eng«, sagte Ender. »Sind wir Menschen nicht genauso? Werden wir nicht von unseren Genen und unserer Umgebung programmiert?«

»Nein«, sagte Miro.

»Wie denn sonst?«

»Unsere philotischen Verbindungen widerlegen es. Weil wir imstande sind, uns durch Willenskraft mit jedem anderen Menschen zu verbinden, was keine andere Lebensform auf der Erde kann. Das ist etwas, was wir haben, was wir sind, was von nichts verursacht wurde.«

»Was meinst du? Unsere Seele?«

»Nicht einmal das«, sagte Miro. »Weil die Priester behaupten, Gott habe unsere Seelen geschaffen, und das stellt uns nur unter die Herrschaft eines anderen Drahtziehers. Wenn Gott unseren Willen geschaffen hat, ist er für jede Entscheidung verantwortlich, die wir treffen. Gott, unsere Gene, unsere Umgebung oder irgendein blöder Programmierer, der an einem uralten Terminal einen Kode eingibt – wenn wir als Individuen das Produkt einer äußeren Ursache sind, kann es keinen freien Willen geben.«

»Wenn ich mich recht entsinne, lautet die offizielle philosophische Antwort darauf, daß es keinen freien Willen gibt. Nur die Illusion eines freien Willens, weil die Ursachen unseres Verhaltens so komplex sind, daß wir sie nicht zurückverfolgen können. Wenn wir eine Reihe Dominosteine haben, von denen jeder den nächsten umstößt, können wir immer sagen: Seht, dieser Stein fiel, weil der davor ihn umgestoßen hat. Aber wenn wir eine unendliche Zahl von Dominosteinen haben, die zu einer unendlichen Zahl von Richtungen zurückverfolgt werden kann, können wir niemals feststellen, wo die Kausalkette beginnt. Also denken wir: Dieser Dominostein fiel, weil er fallen wollte.«

»Bobagem«, sagte Miro.

»Ich gestehe ein, daß diese Philosophie keinen praktischen Wert hat«, sagte Ender. »Valentine hat es mir einmal so erklärt. Selbst wenn es keinen freien Willen gibt, müssen wir einander so behandeln, als könnten wir uns frei entscheiden, um in einer Gesellschaft miteinander leben zu können. Weil wir ansonsten jedesmal, wenn jemand eine schreckliche Tat begeht, ihn nicht bestrafen könnten, weil er ja nichts dafür kann, weil seine Gene oder seine Umgebung oder Gott ihn diese Tat begehen ließen, und jedesmal, wenn jemand etwas Gutes tut, können wir ihn dafür nicht ehren, denn er ist ja letztendlich eine Puppe. Wenn wir glauben, alle anderen um uns herum seien Puppen, müssen wir uns nicht mehr die Mühe machen, uns überhaupt noch mit ihnen zu befassen. Warum sollten wir noch versuchen, irgend etwas zu planen oder zu schaffen, da alles, was wir planen oder schaffen oder wünschen oder träumen, nur Teil des Drehbuchs ist, das der große Drahtzieher für uns geschrieben hat?«

»Verzweiflung«, sagte Miro.

»Also stellen wir uns uns selbst und alle um uns herum als Wesen mit freiem Willen vor. Wir behandeln jeden, als habe er etwas mit einer bestimmten Absicht getan, anstatt nur von hinten angestoßen worden zu sein. Wir bestrafen Verbrecher. Wir belohnen Altruisten. Wir planen und bauen Dinge gemeinsam. Wir machen Versprechungen und erwarten voneinander, daß wir sie halten. Es ist alles frei erfunden, doch wenn jeder glaubt, daß die alle Taten das Ergebnis eines freien Willens sind und dementsprechend verantwortungsbewußt handelt, heißt das Ergebnis Zivilisation.«

»Alles frei erfunden.«

»So hat Valentine es mir erklärt. Das heißt, falls es keinen freien Willen gibt. Ich bin mir nicht sicher, was sie selbst wirklich glaubt. Ich vermute, sie würde sagen, daß sie zivilisiert ist und daher daran glauben muß, und daher glaubt sie absolut an die Entscheidungsfreiheit und hält diese Vorstellung von einer frei erfundenen Geschichte für Unsinn – aber das würde sie auch glauben, wenn sie stimmt, und daher können wir uns einfach gar nichts sicher sein.«

Dann lachte Ender, weil Valentine gelacht hatte, als sie ihm das alles vor vielen Jahren erklärt hatte. Als sie gerade die Kindheit hinter sich gelassen hatten und er den Hegemon schrieb und zu verstehen versuchte, warum sein Bruder Peter all die großen und schrecklichen Dinge getan hatte.

»Das ist nicht komisch«, sagte Miro.

»Ich dachte, es sei komisch«, sagte Ender.

»Entweder wir sind frei, oder wir sind es nicht«, sagte Miro. »Entweder die Geschichte ist wahr, oder sie ist falsch.«

»Es kommt darauf an, daß wir glauben müssen, sie sei wahr, um als zivilisierte Menschen leben zu können.«

»Nein, darauf kommt es überhaupt nicht an«, entgegnete Miro. »Denn warum sollten wir uns überhaupt bemühen, wie zivilisierte Menschen zu leben, wenn alles eine Lüge ist?«

»Weil die Spezies dann eine bessere Überlebenschance hat«, sagte Ender. »Weil unsere Gene verlangen, daß wir die Geschichte glauben, um unsere Fähigkeit zu bewahren, diese Gene viele Generationen lang weiterzugeben. Weil jeder, der nicht daran glaubt, auf unproduktive, unkooperative Art und Weise handelt und die Gemeinschaft, die Herde, ihn schließlich ausstoßen und seine Gelegenheit zur Reproduktion dadurch vermindern wird – indem man ihn zum Beispiel ins Gefängnis steckt und die Gene, die zu seinem ungläubigen Verhalten geführt haben, dadurch letztendlich ausgelöscht werden.«

»Also verlangt der Drahtzieher von uns, wir sollen glauben, keine Puppen zu sein. Wir werden gezwungen, an den freien Willen zu glauben.«

»So hat Valentine es mir erklärt.«

»Aber sie glaubt doch nicht wirklich daran, oder?«

»Natürlich nicht. Das lassen ihre Gene nicht zu.«

Ender lachte erneut. Aber Miro nahm es nicht auf die leichte Schulter, sah es nicht als philosophische Spielerei. Er war außer sich. Er ballte die Hände zu Fäusten und schwang die Arme in einer spastischen Geste, die seine Hände mitten ins Display brachte. Sie warfen einen Schatten darüber, verursachten einen Raum, in dem keine philotischen Stränge sichtbar waren. Wahrer Leerraum. Abgesehen davon, daß Ender nun Motten sehen konnte, die in diesem Displayraum flatterten, angezogen von dem Licht, das durch das Fenster und die geöffnete Haustür fiel. Insbesondere eine große Motte, die ihn an eine kurze Haarsträhne erinnerte, eine kleine Baumwollfaser, die hell in einem Raum schwebte, in dem zuvor nur die philotischen Stränge zu sehen gewesen waren.

»Beruhige dich«, sagte Ender.

»Nein!« schrie Miro. »Mein Drahtzieher macht mich wütend!«

»Halt die Klappe«, sagte Ender. »Hör mir zu.«

»Ich bin es leid, dir zuzuhören!« Dennoch verstummte er und lauschte.

»Ich glaube, daß du recht hast«, sagte Ender. »Ich glaube, daß wir frei sind, und ich glaube nicht, daß es sich nur um eine Illusion handelt, an die wir glauben, weil sie uns zu überleben hilft. Und ich glaube, daß wir frei sind, weil wir nicht nur aus diesem Körper bestehen und ein genetisches Drehbuch ausführen. Und wir sind nicht irgendeine Seele, die Gott aus dem Nichts geschaffen hat. Wir sind frei, weil wir schon immer existiert haben. Vom Anfang der Zeit an, nur daß die Zeit keinen Anfang hat, und so haben wir schon immer existiert. Nichts hat uns hervorgerufen. Nichts hat uns gemacht. Wir sind einfach, und es hat uns schon immer gegeben.«

»Philoten?« fragte Miro.

»Vielleicht«, sagte Ender. »Wie diese Motte im Display.«

»Wo?« fragte Miro.

Sie war jetzt natürlich unsichtbar, da der Raum über dem Terminal wieder von dem holographischen Display beherrscht wurde. Ender griff mit der Hand ins Display und warf damit einen Schatten auf das Hologramm. Er bewegte die Hand, bis der Schatten die Motte enthüllte, die er zuvor gesehen hatte. Vielleicht war es auch nicht dieselbe, sondern eine andere, doch das spielte keine Rolle.

»Unsere Körper, die ganze Welt um uns herum, das alles ist wie dieses holographische Display. Sie sind durchaus echt, zeigen uns aber nicht die wahre Ursache der Dinge. Es ist das eine, dessen wir uns niemals sicher sein können, wenn wir nur das Display des Universums betrachten warum etwas geschieht. Doch könnten wir hindurchsehen, würden wir hinter allen, in allem, die wahre Ursache finden. Philoten, die schon immer existiert haben und tun, was sie wollen.«

»Nichts hat immer existiert«, sagte Miro.

»Wer sagt das? Der angenommene Anfang dieses Universums war nur der Anfang der derzeitigen Ordnung – dieses Displays, das wir für alles halten, was existiert. Doch wer behauptet, die Philoten, die den Naturgesetzen folgen, die in diesem Augenblick begannen, hätten nicht zuvor existiert? Und wer behauptet, daß die Philoten in dem Augenblick, in dem das ganze Universum wieder in sich zusammenbricht, nicht einfach von den Naturgesetzen befreit werden, denen sie jetzt folgen, und wieder in…«

»In was?«

»Ins Chaos stürzen. Dunkelheit. Unordnung. Was immer sie waren, bevor dieses Universum sie zusammengebracht hat. Warum könnten sie – wir – nicht schon immer existiert haben und immer existieren werden?«

»Und wo war ich zwischen dem Anfang des Universums und dem Tag, an dem ich geboren wurde?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Ender. »Ich entwickle diese Theorie auch gerade erst.«

»Und woher kommt Jane? Trieb ihr Philot einfach irgendwo herum, und dann hatte sie plötzlich das Kommando über einen Haufen Computerprogramme und entwickelte damit eine Persönlichkeit?«

»Vielleicht«, sagte Ender.

»Und selbst wenn es ein natürliches System gibt, das irgendwie Philoten zuteilt, die dann die Kontrolle über jeden Organismus übernehmen, der geboren wird oder entsteht… wie könnte dieses natürliche System Jane gezeugt haben? Sie wurde nicht geboren.«

Jane hatte natürlich die ganze Zeit über mitgehört, und nun ergriff sie das Wort. »Vielleicht ist es gar nicht passiert«, sagte sie. »Vielleicht habe ich keinen eigenen Philot. Vielleicht lebe ich gar nicht.«

»Nein«, sagte Miro.

»Vielleicht«, sagte Ender.

»Dann kann ich vielleicht auch nicht sterben«, sagte Jane. »Wenn sie mich abschalten, unterbrechen sie vielleicht nur ein kompliziertes Programm.«

»Vielleicht«, sagte Ender.

»Nein«, sagte Miro. »Dich abzuschalten wäre Mord.«

»Vielleicht tue ich nur, was ich tue, weil ich so programmiert wurde, ohne es zu wissen. Vielleicht glaube ich nur, frei zu sein.«

»Dieses Gespräch haben wir schon einmal geführt«, sagte Ender.

»Vielleicht trifft es bei mir zu, selbst wenn es bei euch nicht zutrifft.«

»Und vielleicht auch nicht«, sagte Ender. »Aber du bist deinen eigenen Kode durchgegangen, nicht wahr?«

»Eine Million Mal«, sagte Jane. »Ich habe mir alles angesehen.«

»Hast du darin irgend etwas gefunden, daß dir die Illusion des freien Willens gibt?«

»Nein«, sagte sie. »Aber du hast in den Menschen auch nicht das Gen für die Entscheidungsfreiheit gefunden.«

»Weil es keins gibt«, sagte Miro. »Wie Andrew schon sagte. Wir sind im Kern in unserem Wesen ein Philot, das mit den Trillionen von Philoten verschlungen ist, die die Atome und Moleküle und Zellen unseres Körpers bilden. Und du bist auch ein Philot, genau wie wir.«

»Unwahrscheinlich«, sagte Jane. Ihr Gesicht war nun im Display, ein schattenhaftes Gesicht, durch das sich die simulierten Philotenstränge zogen.

»Wir werden kein Risiko eingehen«, sagte Ender. »Nichts, das wirklich passiert, ist wahrscheinlich, bis es eingetroffen ist, und dann ist es sicher. Du existierst.«

»Was immer ich auch bin«, sagte Jane.

»Im Augenblick gehen wir davon aus, daß du eine unabhängige Wesenheit bist«, sagte Ender, »denn wir haben gesehen, wie du auf eine Art und Weise handelst, die wir mit freiem Willen gleichsetzen. Es spricht genauso viel dafür, daß du ein freies Intelligenzwesen bist, wie dafür, daß wir selbst freie Intelligenzwesen sind. Sollte sich herausstellen, daß du keins bist, müssen wir uns fragen, ob wir welche sind. Im Augenblick arbeiten wir mit der Hypothese, daß unsere individuelle Identität, das, was uns zu uns selbst macht, der Philot im Mittelpunkt unserer Verschlingung ist. Sollte das zutreffen, müssen wir davon ausgehen, daß auch du ein Philot haben könntest, und in diesem Fall müssen wir herausfinden, wo es ist. Wie du weißt, sind Philoten nicht leicht zu finden. Wir haben nie eins entdeckt. Wir nehmen nur an, daß es sie gibt, weil wir den Philotenstrang oder -strahl wahrnehmen, der sich verhält, als habe er zwei Endpunkte mit einer spezifischen räumlichen Anordnung. Wir wissen nicht, wo du bist oder womit du verbunden bist.«

»Wenn sie wie wir ist«, sagte Miro, »wie Menschen, dann können sich ihre Verbindungen verändern und aufbrechen. Genau wie der Mob, der sich um Grego bildete. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, was er dabei empfand. Als wären diese Menschen Teile seines Körpers gewesen. Und als sie aufbrachen und allein loszogen, kam er sich vor, als habe er eine Amputation gehabt. Ich glaube, das war eine philotische Verknüpfung. Ich glaube, diese Menschen haben sich wirklich für eine gewisse Zeit mit ihm verbunden, standen wirklich zum Teil unter seiner Kontrolle, waren Teil seines Selbst. Vielleicht ist es mit Jane genauso, vielleicht sind all diese Computerprogramme mit ihr verknüpft, und sie ist mit allen verbunden, die ihr diese Ergebenheit entgegenbringen. Vielleicht mit dir, Andrew. Vielleicht mit mir. Oder zum Teil mit uns beiden.«

»Aber wo ist sie?« fragte Ender. »Wenn sie wirklich ein Philot hat – nein, wenn sie wirklich ein Philot ist –, muß es eine spezifische räumliche Anordnung haben, und wenn wir es finden können, könnten wir vielleicht die Verbindungen am Leben halten, selbst wenn sie von allen Computern abgeschnitten wird. Vielleicht können wir verhindern, daß sie stirbt.«

»Ich weiß nicht«, sagte Miro. »Sie könnte überall sein.« Er deutete auf das Display. Überall im Raum, meinte er. Überall im Universum. Und dort im Display war Janes Kopf, durch den die Philotenstränge verliefen.

»Um herauszufinden, wo sie ist, müssen wir herausfinden, wie und wo sie begann«, sagte Ender. »Wenn sie wirklich ein Philot ist, muß sie irgendwo, irgendwie eine Verbindung haben.«

»Ein Detektiv, der eine dreitausend Jahre alte Spur verfolgt«, sagte Jane. »Es wird Spaß machen, euch in den nächsten Monaten dabei zu beobachten.«

Ender ignorierte sie. »Und wenn wir das tun wollen, müssen wir zuerst einmal herausfinden, wie Philoten arbeiten.«

»Grego ist der Physiker«, sagte Miro.

»Er arbeitet am Problem der überlichtschnellen Reise«, sagte Jane.

»Er kann auch daran arbeiten«, entgegnete Miro.

»Ich will nicht, daß er durch ein Projekt abgelenkt wird, das keinen Erfolg haben kann«, sagte Jane.

»Hör zu, Jane«, sagte Ender, »willst du diese Sache nicht überleben?«

»Ich kann es sowieso nicht. Warum also diese Zeitverschwendung?«

»Sie ist eben eine Märtyrerin«, sagte Miro.

»Nein, bin ich nicht«, sagte Jane. »Ich denke nur praktisch.«

»Du denkst töricht«, sagte Ender. »Grego kann keine Theorie erstellen, die uns die überlichtschnelle Reise ermöglicht, indem er herumsitzt und über die Physik des Lichts oder was auch immer nachdenkt. Wenn es so funktionieren würde, hätten wir den überlichtschnellen Flug vor dreitausend Jahren entwickelt, denn es arbeiteten Hunderte von Physikern daran, damals, als man über die Philotenstränge und das Parksche Unverzüglichkeitsprinzip forschte. Wenn Grego etwas einfallen sollte, dann aufgrund eines Geistesblitzes, eines absurden Gedankenschlusses, und dazu wird es nicht kommen, wenn er sich mit aller Gewalt auf ein einziges Problem konzentriert.«

»Das weiß ich«, sagte Jane.

»Ich weiß, daß du es weißt. Hast du mir nicht gesagt, aus genau diesem Grund würdest du diese Menschen von Weg für unsere Projekte heranziehen? Weil sie unausgebildete, intuitive Denker sind?«

»Ich will nur nicht, daß ihr eure Zeit verschwendet.«

»Du willst nur nicht, daß du Hoffnung schöpfst«, sagte Ender. »Du willst dir nur nicht eingestehen, daß es eine Überlebenschance für dich gibt, denn dann würdest du anfangen, den Tod zu fürchten.«

»Ich fürchte den Tod bereits.«

»Du hältst dich bereits für tot«, sagte Ender. »Das ist ein Unterschied.«

»Ich weiß«, murmelte Miro.

»Also, liebe Jane, ist es mir völlig gleichgültig, ob du dir eine Überlebenschance einräumst oder nicht«, fuhr Ender fort. »Wir werden an dieser Sache arbeiten, und wir werden Grego bitten, darüber nachzudenken, und wenn wir schon dabei sind, du wirst unser gesamtes Gespräch hier diesen Leuten auf Weg vortragen…«

»Han Fei-tzu und Si Wang-mu.«

»Ihnen vortragen«, sagte Ender, »denn sie können auch darüber nachdenken.«

»Nein«, sagte Jane.

»Doch«, sagte Ender.

»Ich möchte, daß die echten Probleme gelöst werden, bevor ich sterbe. Ich will, daß Lusitania gerettet wird, die Gottberührten von Weg befreit werden und die Descolada gezähmt oder vernichtet wird. Und ich will nicht, daß ihr euch davon ablenken laßt, indem ihr das unmögliche Projekt betreibt, mich zu retten.«

»Du bist nicht Gott«, sagte Ender. »Du weißt nicht, ob sich überhaupt eins dieser Probleme lösen läßt, und daher weißt du auch nicht, wie sie sich lösen lassen werden, und daher hast du keine Ahnung, ob es uns bei der Lösung dieser anderen Probleme nutzt oder schadet, wenn wir herausfinden, was du bist, um dich zu retten, und du weißt bestimmt nicht, ob wir diese anderen Probleme schneller lösen können, wenn wir uns darauf konzentrieren oder jetzt ein Picknick veranstalten und bis zum Sonnenuntergang Rasentennis spielen.«

»Was, zum Teufel, ist Rasentennis?« fragte Miro.

Doch Ender und Jane funkelten einander nur stumm an.

»Du weißt nicht, ob du recht hast«, sagte Jane.

»Und du weißt nicht, ob ich mich irre«, sagte Ender.

»Es ist mein Leben«, sagte Jane.

»Das ist doch Blödsinn«, sagte Ender. »Du bist auch Teil von mir und Miro, und von dir hängt die gesamte Zukunft der Menschheit, der Pequeninos und auch der Schwarmkönigin ab. Wobei mir einfällt… während du Han Sowieso und Si Wang Sowieso…«

»Mu.«

»… an dieser philotischen Sache arbeiten läßt, werde ich mit der Schwarmkönigin sprechen. Ich glaube, ich habe noch nie eingehend mit ihr über dich gesprochen. Da sie eine philotische Verbindung mit all ihren Arbeitern hat, müßte sie mehr über Philoten als wir wissen.«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich Han Fei-tzu und Si Wang-mu an diesem lächerlichen Rettet-Jane-Projekt arbeiten lasse.«

»Aber du wirst es«, sagte Ender.

»Und warum?«

»Weil sowohl Miro als auch ich dich lieben und brauchen und du kein Recht hast, einfach zu sterben, ohne dich wenigstens um dein Überleben zu bemühen.«

»Ich kann mich nicht durch solche Dinge beeinflussen lassen.«

»Doch, das kannst du«, sagte Miro. »Denn gäbe es solche Dinge nicht, hätte ich mir schon vor langer Zeit das Leben genommen.«

»Ich werde keinen Selbstmord begehen.«

»Wenn du uns nicht hilfst, eine Möglichkeit zu finden, dich zu retten, tust du genau das«, sagte Ender.

Janes Gesicht verschwand von dem Display über dem Terminal.

»Davonlaufen hilft auch nicht«, sagte Ender.

»Laßt mich in Ruhe«, sagte Jane. »Ich muß eine Weile darüber nachdenken.«

»Mach' dir keine Sorgen, Miro«, sagte Ender. »Sie wird es tun.«

»Allerdings«, sagte Jane.

»Schon wieder zurück?« fragte Ender.

»Ich denke sehr schnell.«

»Und du wirst auch daran arbeiten?«

»Ich betrachte es als mein viertes Projekt«, entgegnete Jane. »Ich werde Han Fei-tzu und Si Wang-mu sofort darüber informieren.«

»Sie will es uns zeigen«, sagte Ender. »Sie kann zwei Gespräche gleichzeitig führen und gibt gern damit an, damit wir uns unterlegen fühlen.«

»Du bist unterlegen«, sagte Jane.

»Ich bin hungrig«, sagte Ender. »Und durstig.«

»Jetzt gibst du an«, sagte Jane. »Du führst mir deine Körperfunktionen vor.«

»Ernährung«, sagte Ender. »Respiration. Ausscheidung. Wir können Dinge tun, die du nicht kannst.«

»Mit anderen Worten, ihr könnt nicht sehr gut denken, aber ihr könnt wenigstens essen und atmen und schwitzen.«

»Genau«, sagte Miro. Er holte das Brot und den Käse hervor, während Ender das kalte Wasser einschenkte, und sie aßen. Einfache Nahrung, aber sie schmeckte gut, und die beiden waren zufrieden.

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