Kapitel 11 Die Jade des Meisters Ho


›Also fängt das Töten jetzt an.‹

›Amüsant ist nur, daß dein Volk damit begonnen hat, nicht die Menschen.‹

›Dein Volk hat auch damit begonnen, als du deine Kriege mit den Menschen hattest.‹

›Wir haben damit angefangen, aber sie haben es beendet.‹

›Wie gelingt ihnen das nur, diesen Menschen – jedesmal so unschuldig anzufangen, um es dann mit dem meisten Blut an ihren Händen zu beenden?‹


Wang-mu beobachtete, wie sich die Worte und Zahlen durch das Display über dem Terminal ihrer Herrin bewegten. Qing-jao schlief leise atmend ganz in der Nähe auf ihrer Matte. Wang-mu hatte auch eine Weile geschlafen, doch irgend etwas hatte sie geweckt. Ein Schrei, nicht weit entfernt; vielleicht ein Schmerzensschrei. Es war ein Teil von Wang-mus Traum gewesen, doch als sie erwachte, hörte sie das Geräusch noch in der Luft verhallen. Es war nicht Qing-jaos Stimme gewesen. Vielleicht die eines Mannes, obwohl das Geräusch schrill gewesen war. Ein wehklagendes Geräusch. Es ließ Wang-mu an den Tod denken.

Aber sie erhob sich nicht, um nachzusehen. Das stand ihr nicht zu; ihr Platz war an der Seite ihrer Herrin, bis ihre Herrin sie fortschickte. Wenn Qing-jao hören mußte, was diesen Schrei verursacht hatte, würde eine andere Dienerin kommen und Wang-mu wecken, die dann ihre Herrin wecken würde – denn sobald eine Frau erst einmal eine geheime Magd hatte, durften sie, bis sie heiratete, nur deren Hände ungebeten berühren.

Also lag Wang-mu wach und wartete ab, ob jemand käme, um Qing-jao zu sagen, warum ein Mann in solcher Qual geschrien hatte, und so nahe, daß man ihn in diesem Zimmer hinten im Haus des Han Fei-tzu hören konnte. Während sie wartete, fiel ihr Blick auf das sich bewegende Display. Der Computer führte die Suchvorgänge durch, die Qing-jao programmiert hatte.

Plötzlich verharrte das Display. Gab es ein Problem? Wang-mu stützte sich auf einem Arm ab; nun war sie dem Display nahe genug, um die letzten Worte lesen zu können. Die Suche war abgeschlossen. Und diesmal gab der Computer nicht die übliche barsche Fehlmeldung: NICHT GEFUNDEN. KEINE INFORMATIONEN. KEINE SCHLUSSFOLGERUNG. Diesmal war die Meldung ein Bericht.

Wang-mu stand auf und trat zum Terminal. Sie tat, was Qing-jao ihr beigebracht hatte, drückte die Taste, die alle neuen Informationen abspeicherte, so daß der Computer sie bewahren würde, ganz gleich, was geschah. Dann ging sie zu Qing-jao und legte sanft eine Hand auf ihre Schulter.

Qing-jao erwachte fast sofort; ihr Schlaf war nie tief. »Der Computer hat etwas gefunden«, sagte Wang-mu.

Qing-jao schüttelte den Schlaf ab wie eine leichte Jacke. Sie eilte zum Terminal und las die Worte.

»Ich habe Demosthenes gefunden«, sagte sie.

»Wo ist er?« fragte Wang-mu atemlos. Der große Demosthenes – nein, der schreckliche Demosthenes. Meine Herrin wünscht, daß ich ihn für einen Feind halte. Aber auf jeden Fall der Demosthenes, dessen Worte sie so aufgewühlt hatten, als ihr Vater sie laut vorgelesen hatte. »Solange sich andere vor einem Mann verbeugen, weil er die Macht hat, sie und alles, was sie haben und lieben, zu vernichten, solange müssen wir alle gemeinsam Angst haben.« Wang-mu hatte diese Worte als Kind fast überhört – sie war nur drei Jahre alt gewesen –, doch nun fielen sie ihr wieder ein, weil sie ein Bild in ihrem Verstand heraufbeschworen hatten. Als ihr Vater diese Worte vorgelesen hatte, erinnerte sie sich an etwas: Ihre Mutter sprach, und ihr Vater wurde wütend. Er schlug sie nicht, doch er zog die Schultern hoch, und sein Arm zuckte leicht, als wolle sein Körper sie schlagen und er könne ihn nur mit Mühe zurückhalten. Obwohl es zu keiner Gewalttätigkeit kam, senkte Wang-mus Mutter den Kopf und murmelte etwas, und die Spannung ließ nach. Wang-mu wußte, daß sie gesehen hatte, was Demosthenes beschrieb: Mutter hatte sich vor Vater verbeugt, weil er die Macht hatte, sie zu verletzen. Und Wang-mu war verängstigt, sowohl damals und dann wieder, als sie sich daran erinnerte. Als sie also Demosthenes' Worte hörte, wußte sie, daß sie wahr waren, und wunderte sich, daß ihr Vater diese Worte vorlesen und ihnen sogar beipflichten konnte, ohne zu begreifen, daß er selbst genauso gehandelt hatte. Deshalb hatte Wang-mu immer mit großem Interesse allen Worten des großen – des schrecklichen – Demosthenes gelauscht, denn ob er nun groß oder schrecklich war, sie wußte, daß er die Wahrheit sagte.

»Nicht er«, sagte Qing-jao. »Demosthenes ist eine Frau.«

Diese Vorstellung verschlug Wang-mu den Atem. Eine Frau! Kein Wunder, daß ich soviel Mitgefühl bei Demosthenes hörte; sie ist eine Frau und weiß, wie es ist, jeden wachen Augenblick von anderen beherrscht zu werden. Sie ist eine Frau, und deshalb träumt sie von Freiheit, von einer Stunde, in der keine Pflicht darauf wartet, erledigt zu werden. Kein Wunder, daß die Revolution in ihren Worten brennt und sie doch immer Worte blieben und nie zu Gewalt wurden. Doch warum nur sieht Qing-jao das nicht? Warum hat Qing-jao entschieden, daß wir beide Demosthenes hassen müssen?

»Eine Frau namens Valentine«, sagte Qing-jao, und dann fuhr sie mit Ehrfurcht in der Stimme fort: »Valentine Wiggin, vor über drei… über dreitausend Jahren auf der Erde geboren.«

»Ist sie eine Göttin, daß sie so lange lebt?«

»Reisen. Sie reist von Welt zu Welt und bleibt nirgendwo länger als ein paar Monate. Nur lange genug, um ein Buch zu schreiben. All die großen Geschichtswerke unter dem Namen Demosthenes wurden von ein und derselben Frau geschrieben, und doch weiß niemand davon. Wieso ist sie nicht berühmt?«

»Sie muß sich verstecken wollen«, sagte Wang-mu, die sehr gut verstand, warum sich eine Frau hinter dem Namen eines Mannes versteckte. Ich täte es auch, wenn ich könnte, damit ich auch von Welt zu Welt reisen und tausend Orte sehen und zehntausend Jahre lang leben könnte.

»Subjektiv ist sie erst in ihren Fünfzigern. Noch jung. Sie blieb viele Jahre auf einer Welt, heiratete und hatte Kinder. Doch jetzt ist sie wieder unterwegs. Nach…« Qing-jao sog scharf die Luft ein.

»Wohin?« fragte Wang-mu.

»Als sie ihre Heimat verließ, nahm sie ihre Familie auf einem Sternenschiff mit. Sie flogen zuerst nach Himmlischer Friede, kamen an Catalonia vorbei und setzten den Kurs dann direkt nach Lusitania!«

Wang-mus erster Gedanke war: natürlich! Deshalb hat Demosthenes sowohl Mitgefühl und Verständnis für die Lusitanier. Sie hat mit ihnen gesprochen – mit den rebellischen Xenologen, mit den Pequeninos. Sie hat sie kennengelernt und weiß, daß sie Ramänner sind!

Dann dachte sie: Wenn die Lusitania-Flotte dort eintrifft und ihre Mission erfüllt, wird Demosthenes gefangengenommen und kann nicht mehr schreiben.

Und dann fiel ihr etwas ein, das all das unmöglich machte. »Wie kann sie auf Lusitania sein, wenn Lusitania seinen Verkürzer zerstört hat? Haben sie das nicht als erstes getan, als sie revoltierten? Wie können uns ihre Schriften erreichen?«

Qing-jao schüttelte den Kopf. »Sie hat Lusitania noch nicht erreicht. Und wenn doch, dann erst in den letzten paar Monaten. Sie ist seit dreißig Jahren unterwegs. Sie ist vor der Rebellion aufgebrochen.«

»Dann hat sie das alles unterwegs geschrieben?« Wang-mu versuchte sich vorzustellen, wie man die verschiedenen Zeitflüsse aufeinander abstimmen konnte. »Um seit dem Aufbruch der Lusitania-Flotte so viel geschrieben zu haben, muß sie…«

»Muß sie jeden wachen Augenblick auf dem Sternenschiff damit verbracht haben«, sagte Qing-jao. »Und doch gibt es keine Unterlagen darüber, daß ihr Sternenschiff irgendwelche Signale ausgestrahlt hat, von den Berichten des Kapitäns einmal abgesehen. Wie hat sie ihre Werke auf so vielen Welten verbreiten können, wenn sie sich die ganze Zeit über auf einem Sternenschiff aufhielt? Es ist unmöglich. Irgendwo muß es Unterlagen über die Verkürzer-Sendungen geben.«

»Es ist immer der Verkürzer«, sagte Wang-mu. »Die Lusitania-Flotte sendet keine Meldungen mehr, und ihr Sternenschiff müßte etwas senden, tut es aber nicht. Wer weiß? Vielleicht sendet auch Lusitania geheime Meldungen.« Sie dachte an Menschs Leben.

»Es kann keine geheimen Meldungen geben«, sagte Qing-jao. »Die philotischen Verbindungen des Verkürzers bleiben bestehen, und wenn es auf irgendeiner Frequenz irgendeine Sendung gegeben hätte, wäre sie entdeckt worden, und die Computer hätten Unterlagen darüber.«

»Da haben wir es doch«, sagte Wang-mu. »Wenn alle Verkürzer noch miteinander verbunden sind und die Computer keine Unterlagen über eine Datenübertragung haben, obwohl wir wissen, daß es Übertragungen gegeben haben muß, weil Demosthenes die ganze Zeit über geschrieben hat, müssen die Unterlagen falsch sein.«

»Es gibt keine Möglichkeit, eine Verkürzer-Übertragung zu verbergen«, sagte Qing-jao. »Dazu müßte man im Augenblick des Empfangs der Sendung die üblichen Protokollierprogramme ausschalten und… jedenfalls ist es unmöglich. An jedem Verkürzer müßte ein Verschwörer sitzen und so schnell arbeiten…«

»Oder sie haben ein Programm, das es automatisch erledigt.«

»Aber dann wüßten wir von diesem Programm. Es würde Platz im Arbeitsspeicher und Rechenzeit beanspruchen.«

»Wenn jemand ein Programm erstellen kann, das die Verkürzer-Meldungen abfängt, könnte er dieses Programm dann nicht auch verbergen, so daß es sich nicht in den Arbeitsspeichern zeigt und keine Spuren der Rechenzeit hinterläßt?«

Qing-jao sah Wang-mu wütend an. »Wo hast du so viele Fragen über Computer gelernt, ohne zu wissen, daß solche Dinge einfach unmöglich sind?«

Wang-mu verbeugte sich und berührte mit dem Kopf den Boden. Sie wußte, daß sich Qing-jao ihrer Wut schämen würde, wenn sie sich derart erniedrigte, und sie sich danach wieder unterhalten konnten.

»Nein«, sagte Qing-jao, »es tut mir leid, es war nicht recht von mir, wütend zu werden. Steh auf, Wang-mu. Stelle deine Fragen. Es sind gute Fragen. Vielleicht ist es doch möglich, weil du es dir vorstellen kannst, und wenn du es dir vorstellen kannst, könnte es vielleicht auch ein anderer. Aber ich will dir erklären, warum ich es für unmöglich halte. Wie könnte jemand so ein meisterhaftes Programm installieren? Es müßte sich auf jedem Computer befinden, der Verkürzer-Mitteilungen verarbeitet. Davon gibt es Abertausende. Und wenn einer zusammenbricht und ein anderer dazugeschaltet wird, müßte das Programm umgehend auf den neuen Computer überspielt werden. Doch man könnte es nicht im Festplattenspeicher verankern; dort würde es entdeckt werden. Es müßte sich die ganze Zeit über bewegen, hin- und herhüpfen, ohne die anderen Programme zu stören, aus einem Speicher hinaus und wieder hinein. Ein Programm, das zu all dem imstande ist, müßte… intelligent sein, es müßte versuchen, sich zu verstecken und die ganze Zeit über neue Möglichkeiten dazu ersinnen, oder wir hätten es mittlerweile längst gefunden, was aber nicht der Fall ist. Es gibt kein solches Programm. Wie hätte man es programmieren können? Wie hätte man es starten können? Und schau, Wang-mu – diese Valentine Wiggin, die das gesamte Demosthenes-Material schreibt… sie selbst versteckt sich auch schon seit Tausenden von Jahren. Wenn es so ein Programm gäbe, müßte es schon die ganze Zeit über existiert haben. Es kann nicht von den Feinden des Sternenwege-Kongresses geschaffen worden sein, weil es noch gar keinen Sternenwege-Kongreß gab, als Valentine Wiggin zu verbergen begann, wer sie war. Siehst du, wie alt diese Unterlagen sind, in denen ihr Name steht? Seit diesen frühesten Berichten von… von der Erde wurde sie nicht mehr offen mit Demosthenes in Verbindung gebracht. Bevor es Sternenschiffe gab. Bevor…«

Qing-jao verstummte, doch Wang-mu hatte bereits begriffen, hatte ebenfalls diese Schlußfolgerung gezogen, bevor Qing-jao sie aussprach. »Wenn es also ein geheimes Programm in den Verkürzer-Computern gibt«, sagte Wang-mu, »muß es schon immer dagewesen sein. Von Anfang an.«

»Unmöglich«, flüsterte Qing-jao. Doch da alles andere ebenfalls unmöglich war, wußte Wang-mu, daß Qing-jao diese Idee gefiel, daß sie an sie glauben wollte, denn obwohl sie unmöglich war, war sie zumindest vorstellbar, und wenn man sie sich vorstellen konnte, konnte man sie vielleicht auch verwirklichen. Und ich habe sie mir vorgestellt, dachte Wang-mu. Die Götter mögen zwar nicht zu mir sprechen, doch ich bin auch intelligent. Ich verstehe etwas. Alle behandeln mich wie ein törichtes Kind, selbst Qing-jao, obwohl sie weiß, wie schnell ich lerne, obwohl sie weiß, daß mir Dinge einfallen, auf die andere Menschen nicht kommen, obwohl sie mich… verachtet. Doch ich bin so klug wie alle anderen auch, Herrin! Ich bin so klug wie du, obwohl du dies nie bemerken wirst, obwohl du glauben wirst, du wärest allein auf all das gekommen. Oh, du wirst meine Mitwirkung nicht verschweigen, doch es wird in etwa so aussehen: Wang-mu hat etwas gesagt und brachte mich zum Nachdenken, und dann kam ich auf die wichtige Idee. Es wird nie heißen: Wang-mu hat dies begriffen und mir erklärt, so daß ich es schließlich auch verstand. Du benimmst dich immer so, als sei ich ein dummer Hund, der zufällig bellt oder jault und genauso zufällig deine Gedanken zur Wahrheit lenkt. Ich bin kein Hund. Ich verstehe die Dinge. Als ich dir diese Fragen stellte, hatte ich die Implikationen bereits begriffen. Und ich begreife sogar viel mehr, als du bislang gesagt hast – aber ich muß dir alles erklären, indem ich Fragen stelle, indem ich so tue, als verstünde ich nicht, weil du eine Gottberührte bist und eine bloße Dienerin einer Gottberührten niemals etwas erklären könnte.

»Herrin, wer auch immer dieses Programm beherrscht, hat eine gewaltige Macht, und doch haben wir noch nie von ihnen gehört, und doch haben sie diese Macht bis jetzt noch nie eingesetzt.«

»Sie haben sie eingesetzt«, sagte Qing-jao. »Um Demosthenes' wahre Identität zu verbergen. Diese Valentine Wiggin ist sehr reich, doch ihre Besitztümer wurden alle verschleiert, damit niemand begreift, wie reich sie ist, daß all ihre Besitztümer Teil ein und desselben Vermögens sind.«

»Dieses mächtige Programm befindet sich seit Beginn des Sternenflugs in jedem Verkürzer-Computer, und doch hat es bislang nur das Vermögen dieser Frau verborgen?«

»Du hast recht«, sagte Qing-jao. »Es ergibt nicht den geringsten Sinn. Warum hat jemand mit soviel Macht sie nicht schon benutzt, um die Kontrolle über die Dinge zu übernehmen? Oder sie haben es vielleicht schon getan… Es gab sie schon, bevor der Sternenwege-Kongreß gebildet wurde, und vielleicht haben sie… aber warum sollten sie sich dem Kongreß jetzt widersetzen?«

»Vielleicht«, sagte Wang-mu, »vielleicht geben sie einfach nichts um Macht.«

»Wer gibt nichts um Macht?«

»Wer dieses geheime Programm kontrolliert.«

»Warum hätten sie das Programm dann überhaupt erschaffen sollen? Wang-mu, du denkst nicht nach.«

Nein, natürlich nicht, ich denke nie. Wang-mu verbeugte sich.

»Ich meine, du denkst schon, aber nicht daran: Niemand würde ein so mächtiges Programm schaffen, wenn sie damit nicht von vornherein jede Kommunikation mit der Flotte unterbrechen und es so aussehen lassen wollten, als wären gar keine Nachrichten abgeschickt worden! Sie verbreiten Demosthenes' Schriften auf jedem besiedelten Planeten und verbergen trotzdem die Tatsache, daß diese Schriften gesendet wurden! Ihnen ist nichts unmöglich, sie könnten jede Nachricht verändern, sie könnten überall Verwirrung verbreiten oder die Leute glauben lassen… glauben lassen, daß es einen Krieg gibt, oder ihnen alle möglichen Befehle geben, und woher sollte jemand wissen, daß diese Befehle nicht echt sind? Wenn sie wirklich so viel Macht hätten, würden sie sie benutzen! Bestimmt!«

»Außer vielleicht, die Programme wollen nicht auf diese Art und Weise benutzt werden.«

Qing-jao lachte laut auf. »Wang-mu, das war eine deiner ersten Lektionen über Computer. Es ist in Ordnung, wenn das gewöhnliche Volk glaubt, Computer könnten wirklich etwas entscheiden, aber du und ich, wir beide wissen, daß Computer nur Diener sind, daß sie nur tun, was ihnen befohlen wird, daß sie niemals selbst etwas wollen.«

Wang-mu hätte fast die Beherrschung verloren und einen Wutanfall bekommen. Glaubst du, Computer sind Dienern ähnlich, weil sie nie etwas wollen? Glaubst du wirklich, wir Diener täten nur, was uns gesagt wird, und würden selbst nie etwas wollen? Glaubst du, nur weil die Götter uns nicht zwingen, die Nase auf dem Boden zu reiben oder uns die Hände zu waschen, bis sie bluten, hätten wir keine Begehren?

Nun, wenn Computer und Diener einander so ähnlich sind, dann weil Computer doch Begehren haben und nicht, weil Diener keine haben. Wir wollen etwas. Wir sehnen uns, hungern geradezu danach. Doch wir geben diesem Hunger niemals nach, weil ihr Gottberührten uns sonst wegschicken und euch gehorsamere Diener suchen würdet.

»Warum bist du wütend?« fragte Qing-jao.

Wang-mu verbeugte sich, entsetzt darüber, daß sich ihre Gefühle auf ihrem Gesicht gezeigt hatten. »Vergib mir«, sagte sie.

»Natürlich vergebe ich dir«, sagte Qing-jao. »Aber ich möchte dich gern verstehen. Warst du wütend, weil ich über dich gelacht habe? Es tut mir leid – ich hätte es nicht tun sollen. Ich habe dich erst einige wenige Monate unterrichtet, und natürlich vergißt du manchmal etwas und fällst wieder in die Ansichten zurück, mit denen du aufgewachsen bist, und es war nicht recht von mir, darüber zu lachen. Bitte verzeihe mir.«

»O Herrin, es obliegt mir nicht, dir zu verzeihen. Du mußt mir verzeihen.«

»Nein, ich habe einen Fehler gemacht. Ich weiß es – die Götter haben mir gezeigt, wie unwürdig es war, über dich zu lachen.«

Wenn die Götter glauben, dein Gelächter habe mich wütend gemacht, sind sie sehr dumm, oder sie belügen dich. Ich hasse deine Götter und die Art, wie sie dich erniedrigen, ohne dir jemals etwas zu verraten, das man unbedingt wissen muß. Soll ich doch tot umfallen, weil ich das gedacht habe!

Doch Wang-mu wußte, daß dies nicht geschehen würde. Die Götter würden niemals einen Finger gegen Wang-mu selbst rühren. Sie würden lediglich Qing-jao zwingen, sich zu bücken und Linien auf dem Boden nachzuspüren, bis Wang-mu sich so sehr schämte, daß sie sterben wollte.

»Herrin«, sagte Wang-mu, »du hast nichts Falsches getan, und ich wurde nicht beleidigt.«

Es war sinnlos. Qing-jao war auf dem Boden. Wang-mu wandte sich ab, vergrub das Gesicht in den Händen – blieb jedoch still, machte selbst beim Weinen kein Geräusch, denn das hätte Qing-jao nur gezwungen, wieder von vorn anzufangen. Oder es hätte sie überzeugt, daß sie Wang-mu so schlimm verletzt hatte, daß sie zwei Linien verfolgen mußte oder drei oder wieder den ganzen Boden. Eines Tages, dachte Wang-mu, werden die Götter von Qing-jao verlangen, jede Linie auf jedem Brett in jedem Zimmer des Hauses zu verfolgen, und sie wird verdursten oder bei dem Versuch, den Göttern zu gehorchen, den Verstand verlieren.

Um nicht weiterhin vor Zorn zu weinen, zwang sich Wang-mu; zum Terminal zu sehen und den Bericht zu lesen, den Qing-jao gelesen hatte. Valentine Wiggin war während der Krabbler-Kriege auf der Erde geboren worden. Sie hatte den Namen Demosthenes schon als Kind benutzt, zur gleichen Zeit wie ihr Bruder Peter, der später der Hegemon wurde, den Namen Locke benutzte. Sie war nicht einfach eine Wiggin, sie war eine der Wiggins – Schwester Peters, des Hegemons, und Enders, des Xenoziden. Sie war in den Geschichtsbüchern nur eine Fußnote gewesen – Wang-mu hatte bis jetzt nicht einmal ihren Namen gekannt, nur gewußt, daß der große Peter und das Ungeheuer Ender eine Schwester hatten. Doch die Schwester erwies sich nun als genauso seltsam wie ihre Brüder; sie war die Unsterbliche, sie war die, die die Menschheit mit ihren Worten veränderte.

Wang-mu konnte es kaum glauben. Demosthenes war in ihrem Leben schon immer wichtig gewesen, doch nun erfuhr sie, daß die echte Demosthenes die Schwester des Hegemons war! Seine Geschichte wurde in den Heiligen Büchern des Sprechers für die Toten erzählt: Die Schwarmkönigin und Der Hegemon. Nicht, daß es nur für sie heilig gewesen wäre. Praktisch jede Religion hatte diesem Buch Raum geschaffen, weil die Geschichte so stark war – über die Vernichtung der ersten außerirdischen Rasse, die die Menschheit jemals entdeckt hatte, und dann über das schreckliche Gut und Böse, das in der Seele des ersten Mannes rang, der jemals die gesamte Menschheit unter einer Regierung vereinigen sollte. So eine komplizierte Geschichte, und doch so einfach und klar erzählt, daß viele Menschen sie als Kinder lasen und von ihr bewegt wurden. Wang-mu hatte man sie mit fünf Jahren zum erstenmal vorgelesen. Es war eine der Geschichten, die sich am tiefsten in ihrer Seele verankert hatten.

Sie hatte geträumt, nicht nur ein-, sondern zweimal, sie sei Peter, dem Hegemon persönlich begegnet – nur, daß er darauf bestand, mit Locke von ihr angesprochen zu werden. Er faszinierte sie gleichermaßen, wie er sie abstieß; sie konnte den Blick nicht von ihm wenden. Dann streckte er seine Hand aus und sagte, Si Wang-mu, Königliche Mutter des Westens, du bist die richtige Gefährtin für den Herrscher über die gesamte Menschheit, und er nahm sie und heiratete sie, und sie saß neben ihm auf dem Thron.

Nun wußte sie natürlich, daß fast jedes arme Mädchen davon träumte, einen reichen Mann zu heiraten oder herauszufinden, daß es in Wirklichkeit das Kind einer reichen Familie war. Doch Träume wurden auch von den Göttern geschickt, und es war Wahrheit in jedem Traum, den man öfter als einmal hatte; das wußte jeder. Also fühlte sie sich von Peter Wiggin noch immer stark angezogen; und die neue Erkenntnis, daß Demosthenes, für den sie ebenfalls immer große Bewunderung empfunden hatte, seine Schwester war – dieser Zufall war fast zu groß. Mir ist es gleich, was meine Herrin sagt, Demosthenes! rief Wang-mu im Geiste. Ich liebe dich trotzdem, weil du mir mein ganzes Leben lang die Wahrheit gesagt hast. Und ich liebe dich auch als Schwester des Hegemons, der der Gatte meiner Träume ist.

Wang-mu fühlte, wie sich die Luft im Raum veränderte, und wußte, daß die Tür geöffnet worden war. Sie drehte sich um, und dort stand Mu-pao, die uralte und gefürchtete Haushälterin persönlich, der Schrecken aller Bediensteten – einschließlich Wang-mus, obwohl Mu-pao nur relativ wenig Macht über eine geheime Magd hatte. Augenblicklich trat Wang-mu so leise wie möglich zur Tür, um Qing-jaos Reinigung nicht zu unterbrechen.

Draußen auf dem Gang schloß Mu-pao die Zimmertür, damit Qing-jao nichts hören konnte.

»Der Herr ruft nach seiner Tochter. Er ist sehr erregt; vor einer Weile hat er laut geschrien und alle erschreckt.«

»Ich habe den Schrei gehört«, sagte Wang-mu. »Ist er krank?«

»Ich weiß es nicht. Er ist sehr erregt. Er schickt mich nach deiner Herrin und sagt, er müsse sofort mit ihr sprechen. Doch wenn sie mit den Göttern spricht, wird er Verständnis haben und warten; vergiß nicht, ihr zu sagen, sie möge sofort zu ihm kommen, wenn sie fertig ist.«

»Ich werde es ihr sofort sagen. Sie hat mir aufgetragen, nichts dürfe sie daran hindern, einem Ruf ihres Vaters zu folgen.«

Mu-pao schaute schockiert drein. »Aber es ist verboten, sie zu unterbrechen, wenn die Götter…«

»Qing-jao wird später eine größere Buße leisten. Sie wird wissen wollen, daß ihr Vater sie gerufen hat.« Es bereitete Wang-mu große Befriedigung, Mu-pao auf ihren Platz zu verwiesen. Du magst zwar die Herrscherin über die Hausdiener sein, Mu-pao, doch ich habe die Macht, sogar die Gespräche zwischen meiner Herrin und den Göttern zu unterbrechen.

Wie Wang-mu erwartet hatte, reagierte Qing-jao zuerst mit Verbitterung, Zorn und Tränen auf die Unterbrechung. Doch als sich Wang-mu tief verbeugte, beruhigte sie sich sofort. Deshalb liebe ich sie und kann es ertragen, ihr zu dienen, dachte Wang-mu. Weil sie die Macht, die sie über mich hat, nicht liebt, und mitfühlender ist als jede andere Gottberührte, von der ich je gehört habe. Qing-jao hörte Wang-mus Erklärung für die Unterbrechung an und umarmte sie dann. »Ah, meine Freundin Wang-mu, du bist sehr klug. Wenn mein Vater vor Pein laut geschrien und mich dann gerufen hat, werden die Götter verstehen, daß ich meine Reinigung unterbrechen und zu ihm gehen muß.«

Wang-mu folgte ihr den Gang entlang und die Treppe hinab, bis sie gemeinsam auf der Matte vor Han Fei-tzus Stuhl knieten.


Qing-jao wartete darauf, daß Vater sprach, doch er sagte nichts. Aber seine Hände zitterten. Sie hatte ihn noch nie so verängstigt gesehen.

»Vater«, sagte Qing-jao, »warum hast du mich gerufen?«

Er schüttelte den Kopf. »Etwas so Schreckliches… und so Wunderbares… ich weiß nicht, ob ich vor Freude lachen oder mir das Leben nehmen soll.« Vaters Stimme war heiser und unkontrolliert. Nicht mehr seit Mutters Tod – nein, seit Vater sie nach der Prüfung, bei dem sich herausstellte, daß sie gottberührt war, in den Armen gehalten hatte – hatte sie ihn so gefühlsbetont sprechen hören.

»Sag es mir, Vater, und dann werde ich dir meine Neuigkeiten sagen – ich habe Demosthenes gefunden und vielleicht auch den Schlüssel für das Verschwinden der Lusitania-Flotte.«

Vaters Augen weiteten sich. »Ausgerechnet an diesem Tag aller Tage hast du das Problem gelöst?«

»Wenn es so ist, wie ich es mir denke, kann der Feind des Kongresses vernichtet werden. Aber es wird sehr schwer werden. Sage mir, was du herausgefunden hast!«

»Nein, du sagst es mir zuerst. Wie seltsam – beides geschieht am gleichen Tag! Heraus damit!«

»Wang-mu brachte mich darauf. Sie stellte Frage über – na ja, wie Computer funktionieren, und plötzlich wurde mir klar, wenn es in jedem Verkürzer-Computer ein verborgenes Programm gäbe, ein so kluges und mächtiges, daß es von einer Stelle zur andern wandern kann, um sich zu verbergen… nun, daß dieses geheime Programm die gesamte Verkürzer-Kommunikation abfangen könnte. Die Flotte ist vielleicht noch da, schickt vielleicht noch Nachrichten, aber wir empfangen sie nicht und wissen wegen dieses Programms nicht einmal, daß es die Flotte noch gibt.«

»In jedem Verkürzer-Computer? Ein Programm, daß die ganze Zeit über fehlerlos arbeitet?« Vater klang natürlich skeptisch, denn in ihrem Eifer hatte Qing-jao die Geschichte von hinten aufgezäumt.

»Ja, aber laß mich dir erklären, wie so eine unmögliche Sache möglich sein könnte. Denn weißt du, ich habe Demosthenes gefunden.«

Vater hörte zu, während Qing-jao ihm alles über Valentine Wiggin erzählte und wie sie insgeheim all diese Jahre als Demosthenes geschrieben hatte. »Sie ist eindeutig imstande, geheime Verkürzer-Nachrichten auszuschicken, oder ihre Werke könnten nicht von einem in Bewegung befindlichen Schiff auf all die verschiedenen Welten gesendet werden. Angeblich ist nur das Militär imstande, mit annähernd lichtschnell fliegenden Schiffen zu kommunizieren – sie muß entweder die Computer des Militärs infiltriert oder deren Fähigkeiten kopiert haben. Und wenn es ein Programm gibt, das ihr das alles ermöglicht, dann hat dieses Programm auch eindeutig die Macht, die Verkürzer-Nachrichten von der Flotte abzufangen.«

»Aber wie kann diese Frau ein Programm in alle Verkürzer-Computer eingespeist haben?«

»Weil sie es ganz am Anfang getan hat! Denn sie ist so alt. Wenn Hegemon Locke ihr Bruder war, hat er vielleicht… nein! Natürlich, er hat es getan. Als die ersten Kolonisten-Flotten mit ihren philotischen Doppeltriaden an Bord aufbrachen, die das Herz des ersten Verkürzers einer jeden Kolonie werden sollten, hätte er ihnen dieses Programm mit auf den Weg geben können.«

Vater verstand sofort. »Als Hegemon hatte er die Befugnis dazu und auch einen Grund – ein geheimes Programm unter seiner Kontrolle. Sollte es eine Rebellion oder einen Staatsstreich geben, hätte er noch immer die Fäden in der Hand gehabt, die die Welten miteinander verknüpfen.«

»Und als er starb, war Demosthenes – seine Schwester – die einzige, die das Geheimnis kannte. Ist das nicht wunderbar? Wir haben es gefunden! Jetzt müssen wir nur noch all diese Programme aus den Arbeitsspeichern löschen!«

»Du vergißt, daß die Programme augenblicklich wiederhergestellt würden«, sagte Vater. »Solange es noch Kopien in Computern auf anderen Welten gibt, werden die Verkürzer sie automatisch überspielen. Es muß im Verlauf der Jahrhunderte schon tausendmal passiert sein. Ein Computer bricht zusammen, und das Programm wird auf dem neuen automatisch wiederhergestellt.«

»Dann müssen wir alle Verkürzer gleichzeitig ausschalten«, sagte Qing-jao. »Und auf jeder Welt einen neuen Computer bereithalten, der noch nicht durch den Kontakt mit dem Geheimprogramm infiziert ist. Wir müssen alle Verkürzer auf einmal ausschalten, die alten Computer vom System abtrennen, die neuen hinzuschalten und die Verkürzer wieder aktivieren. Dann kann sich das Geheimprogramm nicht mehr restaurieren, denn es ist ja in keinem Computer mehr vorhanden. Dann kann kein Rivale die Macht des Kongresses mehr einschränken!«

»Das geht nicht«, sagte Wang-mu.

Qing-jao betrachtete ihre geheime Magd entsetzt. Wie konnte das Mädchen es wagen, ein Gespräch zweier Gottberührter zu unterbrechen, um ihnen zu widersprechen?

Doch Vater war großzügig – er war immer großzügig, sogar zu Menschen, die alle Grenzen des Respekts und Anstands überschritten hatten. Ich muß lernen, so wie er zu sein, dachte Qing-jao. Ich muß den Dienstboten erlauben, ihre Würde zu behalten, selbst wenn sie sie durch ihr eigenes Verhalten verloren haben.

»Si Wang-mu«, sagte Vater, »warum geht das nicht?«

»Wenn man alle Verkürzer gleichzeitig abschalten will, muß man den Befehl dazu über die Verkürzer geben«, sagte Wang-mu. »Warum sollte uns das Programm erlauben, Nachrichten zu schicken, die zu seiner Vernichtung führen würden?«

Qing-jao folgte dem Beispiel ihres Vaters und erklärte es Wang-mu geduldig. »Es ist nur ein Programm – es kennt den Inhalt der Nachrichten nicht. Wer auch immer das Programm beherrscht, hat ihm aufgetragen, jede Kommunikation mit der Flotte zu unterbrechen und die Aufzeichnungen aller Sendungen von Demosthenes zu verbergen. Es liest die Nachrichten bestimmt nicht, um dann nach dem jeweiligen Inhalt zu entscheiden, ob es sie übermitteln soll.«

»Woher wißt Ihr das?« fragte Wang-mu.

»Weil solch ein Programm… intelligent sein müßte!«

»Aber es muß sowieso intelligent sein«, sagte Wang-mu. »Es muß imstande sein, sich vor jedem anderen Programm zu verbergen, das es finden könnte. Es muß sich frei im Arbeitsspeicher bewegen können, um sich zu verbergen. Wie kann es wissen, vor welchen Programmen es sich verbergen muß, wenn es sie nicht lesen und interpretieren kann? Es ist vielleicht sogar intelligent genug, um andere Programme umzuschreiben, so daß sie nicht dort suchen, wo dieses Programm sich gerade versteckt.«

Qing-jao fielen augenblicklich mehrere Gründe ein, warum ein Programm intelligent genug sein konnte, um andere Programme zu lesen, aber nicht so intelligent, um menschliche Sprachen zu verstehen. Doch da Vater anwesend war, oblag es ihm, Wang-mu zu antworten. Qing-jao wartete.

»Falls es solch ein Programm gibt«, sagte Vater, »könnte es in der Tat sehr intelligent sein.«

Qing-jao war verblüfft. Vater sprach ernsthaft mit Wang-mu. Als wären Wang-mus Vorstellungen nicht die eines naiven Kindes.

»Es könnte so intelligent sein, daß es nicht nur Nachrichten abfängt, sondern auch welche sendet.« Dann schüttelte Vater den Kopf. »Nein, die Nachricht kam von einer Freundin. Einer wahren Freundin, und sie sprach von Dingen, die sonst niemand wissen konnte. Die Nachricht war echt.«

»Was für eine Nachricht hast du erhalten, Vater?«

»Sie kam von Keikoa Amaauka; als wir jung waren, kannte ich sie persönlich. Sie ist die Tochter eines Wissenschaftlers von Otaheiti, der hier war, um die genetische Drift erdgeborener Spezies in ihren ersten zwei Jahrhunderten auf Weg zu studieren. Sie gingen – sie wurden ziemlich abrupt fortgeschickt…« Er hielt inne, als überlege er, ob er fortfahren solle. Dann faßte er einen Entschluß und sagte es: »Wäre sie geblieben, wäre sie vielleicht deine Mutter geworden.«

Qing-jao war sowohl gespannt als auch verängstigt, daß Vater von solchen Dingen sprach. Er sprach sonst nie von seiner Vergangenheit. Das Eingeständnis, einmal eine andere Frau neben seiner Gattin geliebt zu haben, die Qing-jao gebar, kam so unerwartet, daß Qing-jao nicht wußte, was sie sagen sollte.

»Sie wurde an einen sehr fernen Ort geschickt. Es ist jetzt fünfunddreißig Jahre her. Das ist ein Großteil meines Lebens. Doch sie ist gerade erst angekommen, vor einem Jahr. Und nun hat sie mir eine Nachricht geschickt und verraten, wieso ihr Vater weggeschickt wurde. Für sie liegt unsere Trennung nur ein Jahr zurück. Für sie bin ich noch immer…«

»Ihr Geliebter«, sagte Wang-mu.

Diese Impertinenz! dachte Qing-jao. Doch Vater nickte nur. Dann wandte er sich seinem Display zu und blätterte die Seiten durch. »Ihr Vater war auf eine genetische Abweichung in der wichtigsten erdgeborenen Rasse auf Weg gestoßen.«

»Reis?« fragte Wang-mu.

Qing-jao lachte. »Nein, Wang-mu. Wir sind die wichtigste erdgeborene Spezies auf dieser Welt.«

Wang-mu schaute bestürzt drein. Qing-jao tätschelte ihre Schulter. Es hatte so kommen müssen – Vater hatte sie zu sehr ermutigt, hatte sie zu der Annahme geführt, Dinge zu verstehen, die weit jenseits ihrer Ausbildung lagen. Wang-mu brauchte diese sanften Dämpfer dann und wann, damit sie ihre Hoffnungen nicht zu hoch setzte. Das Mädchen durfte sich nicht dem Traum hingeben, intellektuell gleichwertig mit einem Gottberührten zu sein, oder ihr Leben würde mit Enttäuschung anstatt Zufriedenheit erfüllt sein.

»Er entdeckte einen beständigen, vererbbaren genetischen Unterschied in einigen Menschen auf Weg, doch als er ihn meldete, wurde er fast augenblicklich versetzt. Ihm wurde sagt, Menschen fielen nicht unter seine Forschungsbefugnis.«

»Hat sie dir das gesagt, bevor sie ging?« fragte Qing-jao.

»Keikoa? Sie wußte es nicht. Sie war sehr jung, noch in einem Alter, in dem die meisten Eltern ihre Kinder nicht mit den Angelegenheiten der Erwachsenen belasten. In deinem Alter.«

Die Implikationen dieser Aussage schickten einen weiteren Schauder der Furcht durch Qing-jao. Ihr Vater hatte eine Frau geliebt, die im gleichen Alter wie Qing-jao war; also war Qing-jao in den Augen ihres Vaters in dem Alter, in dem man sie in eine Ehe geben konnte. Du kannst mich nicht ins Haus eines anderen Mannes schicken, rief sie im Geiste; doch ein Teil von ihr war auch begierig darauf, die Geheimnisse zwischen einem Mann und einer Frau zu erfahren. Beide Gefühle würden keinen Einfluß auf sie haben; sie würde ihrem Vater gegenüber ihre Pflicht erfüllen, nicht mehr und nicht weniger.

»Doch ihr Vater hat es ihr auf dem Flug erzählt, denn die ganze Sache hat ihn sehr aufgebracht, wie du dir vorstellen kannst – sein Leben wurde einfach so unterbrochen. Doch als sie vor einem Jahr auf Ugarit eintrafen, stürzte er sich in seine Arbeit und sie sich in ihre Ausbildung, und sie versuchten, nicht daran zu denken. Bis vor ein paar Tagen, als ihr Vater auf einen alten Bericht über ein Medizinerteam in den frühesten Tagen von Weg stieß, das auch plötzlich verbannt worden war. Er reimte sich die Dinge zusammen und vertraute sie Keikoa an, und gegen seinen Rat schickte sie mir die Nachricht, die ich heute erhielt.«

Vater markierte einen Textabschnitt auf dem Display, und Qing-jao las ihn. »Das frühere Team studierte das unbewußt-zwanghafte Verhalten?« fragte sie.

»Nein, Qing-jao. Sie studierten ein Verhalten, das wie das UZV aussah, doch es konnte sich nicht um dieses Syndrom handeln, da die genetischen Bedingungen für das UZV nicht vorhanden waren und die Befallenen nicht auf UZV-wirksame Medikamente reagierten.«

Qing-jao versuchte sich daran zu erinnern, was sie über UZV wußte. Das Syndrom veranlaßte Menschen, sich unabsichtlich wie jene zu verhalten, zu denen die Götter sprachen. Ihr fiel ein, daß man auch ihr solche Medikamente verabreicht hatte, und zwar in der Zeit zwischen der Entdeckung ihres Reinigungszwangs und ihrer Prüfung. Man hatte sehen wollen, ob der Zwang nachließ. »Sie studierten die Gottberührten«, sagte sie. »Sie wollten eine biologische Ursache für unsere Reinigungsriten finden.« Die Vorstellung war so beleidigend, daß sie die Worte kaum über die Lippen brachte.

»Ja«, sagte Vater. »Und man hat sie weggeschickt.«

»Wahrscheinlich können sie von Glück sprechen, mit dem Leben davongekommen zu sein. Wenn die Menschen von solch einem Sakrileg erfahren hätten…«

»Das war in den Anfangstagen unserer Geschichte, Qing-jao«, sagte Vater. »Man wußte noch nicht genau, daß diese Erwählten… mit den Göttern kommunizieren. Und was ist mit Keikoas Vater? Er forschte nicht über das UZV Er suchte nach genetischen Abweichungen. Und er hat sie gefunden. Eine sehr spezifische, vererbbare Abweichung in den Genen gewisser Menschen. Sie mußte im Gen eines Elternteils vorhanden sein und durfte nicht von einem dominanten Gen des anderen überlagert werden. Wenn es von beiden Eltern stammte, war die Abweichung sehr stark. Er glaubt nun, er sei weggeschickt worden, weil zu jedem Menschen mit diesem Gen von beiden Eltern die Götter sprachen und jeder Gottberührte, den er untersuchte, mindestens von einem Elternteil dieses Gen hatte.«

Qing-jao begriff sofort, was das zu bedeuten hatte, wies die Vorstellung aber zurück. »Das ist eine Lüge«, sagte sie. »Damit wollen sie erreichen, daß wir an den Göttern zweifeln.«

»Qing-jao, ich weiß, wie du dich fühlst. Als ich begriff, was Keikoa mir sagen wollte, schrie ich aus tiefstem Herzen auf. Zuerst dachte ich, ich schrie vor Verzweiflung, doch dann begriff ich, daß es auch ein Schrei der Befreiung war.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie entsetzt.

»Doch, du verstehst mich«, sagte Vater, »oder du hättest keine Angst. Qing-jao, diese Menschen wurden fortgeschickt, weil jemand nicht wollte, daß sie herausfanden, was sie bald herausgefunden hätten. Also müssen die, die sie weggeschickt haben, bereits gewußt haben, was sie herausfinden würden. Nur der Kongreß – zumindest jemand, der zum Kongreß gehört – hatte die Macht, diese Wissenschaftler und ihre Familien ins Exil zu schicken. Was sollte verborgen bleiben? Daß wir, zu denen die Götter sprechen, gar keine Götter hören. Wir wurden genetisch verändert. Man hat mit uns eine neue Art Mensch geschaffen und hält uns diese Wahrheit vor. Qing-jao, der Kongreß weiß, daß die Götter zu uns sprechen – das ist kein Geheimnis, obwohl sie so tun, als wüßten sie es nicht. Jemand im Kongreß weiß davon, duldet aber, daß wir weiterhin diese schrecklichen, erniedrigenden Dinge tun – und der einzige Grund, der mir dafür einfällt, ist der, uns unter Kontrolle, uns schwach zu halten. Ich glaube – und Keikoa auch –, es ist kein Zufall, daß die Gottberührten die intelligentesten Menschen von Weg sind. Wir wurden als eine neue Unterspezies der Menschheit mit einer höheren Intelligenz geschaffen; doch um zu verhindern, daß so intelligente Menschen eine Bedrohung für ihre Macht über uns darstellen, haben sie uns auch eine neue Form des UZV eingepflanzt und uns entweder die Idee in den Kopf gesetzt, die Götter sprächen zu uns, oder uns weiterhin daran glauben lassen, als wir diese Erklärung selbst entwickelten. Es ist ein ungeheuerliches Verbrechen, denn wüßten wir von dieser körperlichen Ursache, anstatt zu glauben, es seien die Götter, könnten wir unsere Intelligenz dem Ziel widmen, unsere Variante des UZV zu besiegen und uns zu befreien. Wir sind Sklaven! Der Kongreß ist unser schrecklichster Feind, unser Beherrscher, unser Täuscher, und nun soll ich eine Hand rühren, um dem Kongreß zu helfen? Wenn der Kongreß einen so mächtigen Feind hat, daß er – oder sie – die Benutzung des Verkürzers beherrscht, sollten wir froh sein! Soll dieser Feind den Kongreß doch vernichten! Erst dann werden wir frei sein!«

»Nein!« Qing-jao schrie das Wort. »Es sind die Götter!«

»Es ist ein genetischer Gehirnschaden«, beharrte Vater. »Qing-jao, zu uns sprechen nicht die Götter, wir sind verhinderte Genies. Sie haben uns behandelt wie Vögel im Käfig; sie haben uns das Gefieder gestutzt, damit wir für sie singen, aber nicht fortfliegen können.« Vater weinte vor Wut. »Wir können nicht ungeschehen machen, was sie uns angetan haben, aber bei allen Göttern, wir können aufhören, sie dafür auch noch zu belohnen. Ich werde keinen Finger rühren, um ihnen die Lusitania-Flotte zurückzugeben. Wenn diese Demosthenes die Macht des Sternenwege-Kongresses brechen kann, wird es den Welten danach besser gehen!«

»Nein, Vater! Bitte hör mir zu!« rief Qing-jao. Sie konnte kaum sprechen, solch ein Entsetzen bereiteten ihr die Worte ihres Vaters. »Siehst du es denn nicht? Dieser genetische Unterschied in uns – das ist die Verkleidung, die die Götter ihren Stimmen in unserem Leben gegeben haben. Damit die Menschen, die nicht von Weg stammen, weiterhin ungläubig sein können. Das hast du mir selbst gesagt, erst vor ein paar Monaten – die Götter handeln nur unter Tarnung.«

Vater starrte sie keuchend an.

»Die Götter sprechen wirklich zu uns. Und selbst, wenn sie andere Menschen glauben machen, sie hätten uns das angetan, haben diese damit nur den Willen der Götter erfüllt und uns das Dasein geschenkt.«

Vater schloß die Augen und zwängte die letzten Tränen zwischen den Lidern hindurch.

»Der Kongreß hat das Mandat des Himmels, Vater«, sagte Qing-jao. »Warum sollten die Götter ihn dann nicht veranlassen, eine Gruppe von Menschen mit schärferem Verstand zu schaffen – die gleichzeitig die Stimmen der Götter hört? Vater, wie kann dein Verstand so bewölkt sein, daß du nicht die Hand der Götter in dieser Sache siehst?«

Vater schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Deine Worte klingen nach allem, woran ich mein ganzes Leben geglaubt habe, aber…«

»Aber eine Frau, die du vor vielen Jahren einmal geliebt hast, hat dir etwas anderes gesagt, und du glaubst ihr, weil du dich an deine Liebe für sie erinnerst. Aber, Vater, sie ist keine von uns, sie hat die Stimme der Götter nicht gehört, sie hat nicht…«

Qing-jao konnte nicht fortfahren, denn Vater umarmte sie. »Du hast recht«, sagte er, »du hast recht, mögen die Götter mir vergeben, ich muß mich waschen, ich bin so unrein, ich muß…«

Er erhob sich schwankend von seinem Stuhl, taumelte von seiner weinenden Tochter fort. Doch ohne Rücksicht auf Anstand, aus einem verrückten Grund, der nur ihr bekannt war, trat Wang-mu ihm in den Weg und hielt ihn auf. »Nein! Geht nicht!«

»Wie kannst du es wagen, einen Gottberührten aufzuhalten, der sich reinigen muß?« brüllte Vater; und dann tat er, zu Qing-jaos Überraschung, was sie ihn noch nie hatte tun sehen – er schlug einen anderen Menschen, er schlug Wang-mu, eine hilflose Dienerin, und sein Schlag hatte so viel Kraft, daß sie gegen die Wand prallte und dann zu Boden rutschte.

Wang-mu schüttelte den Kopf und deutete dann auf das Computer-Display. »Seht doch, Herr, ich bitte Euch! Herrin, zeigt es ihm!«

Qing-jao drehte sich um, und ihr Vater ebenfalls. Die Worte waren von dem Display verschwunden. Statt dessen befand sich dort das Bild eines Mannes. Eines alten Mannes mit einem Bart und der traditionellen Kopfbedeckung; Qing-jao erkannte ihn sofort, konnte sich aber nicht erinnern, wer er war.

»Han Fei-tzu!« flüsterte Vater. »Mein Vorfahre-des-Herzens!«

Dann fiel es Qing-jao wieder ein: Das Gesicht über dem Display entsprach der allgemeinen künstlerischen Darstellung des alten Han Fei-tzu, nach dem Vater benannt war.

»Kind meines Namens«, sagte das Gesicht im Computer, »ich will dir die Geschichte der Jade des Meisters Ho erzählen.«

»Ich kenne die Geschichte«, sagte Vater.

»Wenn du sie verstanden hättest, müßte ich sie dir nicht erzählen.«

Qing-jao versuchte, dem, was sie sah, Sinn zu entnehmen. Für ein visuelles Programm mit so perfekten Details, wie der über dem Terminal schwebende Kopf sie aufwies, wäre der Großteil der Kapazität des Hauscomputers erforderlich – und in ihrer Bibliothek gab es kein solches Programm. Ihr fielen zwei andere Möglichkeiten ein. Die eine wäre ein Wunder: Die Götter mußten einen anderen Weg gefunden haben, um mit ihnen zu sprechen, indem sie ihnen Vaters Vorfahre-des-Herzens erschienen ließen. Die andere war kaum weniger ehrfurchtsgebietend: Demosthenes' Geheimprogramm mußte so mächtig sein, daß es ihr Gespräch in diesem Raum über das Terminal abhören konnte. Nachdem es festgestellt hatte, daß sie eine gefährliche Schlußfolgerung gezogen hatten, mußte es den Hauscomputer übernommen und dieses Bild produziert haben. Auf jeden Fall mußte Qing-jao zuhören und sich dabei die Frage stellen: Was meinen die Götter damit?

»Einmal fand ein Mann aus Qu namens Meister Ho im Qu-Gebirge ein Stück Jade, brachte es zum Hof und zeigte es König Li.« Der Kopf des alten Han Fei-tzu blickte von Vater zu Qing-jao und von Qing-jao zu Wang-mu; war dieses Programm so gut, daß es mit jedem von ihnen Blickkontakt herstellte, um seine Macht über sie zu gewährleisten? Qing-jao sah, daß Wang-mu den Kopf senkte, als der Blick der Erscheinung auf ihr ruhte. Und Vater? Er hatte ihr den Rücken zugewandt; sie konnte es nicht sagen.

»König Li wies den Juwelier an, das Gestein zu untersuchen, und der Juwelier sagte: ›Es ist nur ein Stein.‹ Der König nahm an, Ho wolle ihn täuschen, und befahl, ihm zur Strafe den linken Fuß abzuschlagen.

Schließlich verschied König Li, und König Wu kam auf den Thron, und Ho nahm erneut den Jadestein und zeigte ihn König Wu. König Wu befahl seinem Juwelier, den Stein zu untersuchen, und erneut kam der Juwelier zum Schluß: ›Es ist nur ein Stein.‹ Der König nahm ebenfalls an, Ho wolle ihn täuschen, und befahl, ihm den rechten Fuß abzuschlagen.

Ho drückte das Gestein an seine Brust und begab sich zum Fuß des Qu-Gebirges, wo er drei Tage und Nächte lang weinte, und als seine Tränen versiegt waren, weinte er statt ihrer Blut. Der König hörte davon und schickte jemanden, ihn zu befragen. ›Vielen Menschen auf der Welt wurden die Füße amputiert‹, sagte der Mann. ›Warum weinst du so mitleiderregend darüber?‹«

In diesem Augenblick richtete sich Vater auf. »Ich kenne die Antwort«, sagte er. »Ich kenne sie auswendig. Meister Ho sagte: ›Ich trauere nicht, weil mir die Füße abgeschnitten wurden. Ich trauere, weil ein kostbares Juwel als bloßer Stein abgetan und ein ehrenwerter Mann Betrüger genannt wurde. Deshalb weine ich.‹«

»Das sind die Worte, die er sagte«, fuhr die Erscheinung fort. »Dann befahl der König dem Juwelier, den Stein zu schleifen und zu polieren, und als er das getan hatte, kam ein kostbares Juwel zum Vorschein. Dementsprechend wurde es die ›Jade des Meisters Ho‹ genannt. Han Fei-tzu, du warst mir ein guter Sohn-des-Herzens, und daher weiß ich, daß du tun wirst, was der König schließlich tat: Du wirst veranlassen, daß der Stein geschliffen und poliert wird, und dann wirst auch du feststellen, daß sich ein kostbares Juwel darin befindet.«

Vater schüttelte den Kopf. »Als der echte Han Fei-tzu diese Geschichte zum ersten Mal erzählte, hat er sie so gemeint: Die Jade war die Herrschaft des Gesetzes, und der Herrscher muß Regeln aufstellen und befolgen, damit seine Minister und sein Volk ihn nicht hassen und einander ausnutzen.«

»So habe ich die Geschichte damals aufgefaßt, als ich zu den Schöpfern des Gesetzes sprach. Die Annahme, eine wahre Geschichte könne nur eine Bedeutung haben, ist töricht.«

»Mein Herr ist nicht töricht!« Zu Qing-jaos Überraschung trat Wang-mu vor und baute sich vor der Erscheinung auf. »Und meine Herrin und ich auch nicht! Glaubst du, wir würden dich nicht erkennen? Du bist das geheime Programm der Demosthenes. Du bist diejenige, die die Lusitania-Flotte verborgen hat! Ich dachte einmal, weil deine Schriften so gerecht und schön und gut und wahr klingen, müßtest du einfach gut sein – aber jetzt sehe ich, daß du eine Lügnerin und Betrügerin bist! Du bist diejenige, die Keikoas Vater dieses Dokument gab! Und nun trägst du das Gesicht des Vorfahren-des-Herzens meines Herren, damit du ihn besser belügen kannst!«

»Ich trage dieses Gesicht«, sagte die Erscheinung ruhig, »damit sein Herz offen für die Wahrheit wird. Er wurde nicht getäuscht; ich würde nie versuchen, ihn zu täuschen. Er hat von Anfang an gewußt, wer ich war.«

»Sei still, Wang-mu«, sagte Qing-jao. Wie konnte eine Dienerin sich so vergessen, daß sie sprach, obwohl sie von den Gottberührten nicht dazu aufgefordert worden war?

Bestürzt verbeugte sich Wang-mu tief vor Qing-jao, und diesmal erlaubte Qing-jao ihr, diese Positur beizubehalten, damit sie sich nicht noch einmal vergaß.

Die Erscheinung veränderte sich; sie wurde zu dem offenen, wunderschönen Gesicht einer Polynesierin. Auch die Stimme veränderte sich; sie wurde weicher, vokalreicher, und die Konsonanten klangen so sanft, daß man sie fast überhörte. »Han Fei-tzu, es gibt eine Zeit, wenn der Herrscher allein und ohne Freunde ist, wenn nur er handeln kann. Dann muß er sich enthüllen. Du weißt, was wahr ist und was nicht. Du weißt, daß Keikoas Nachricht wirklich von ihr stammt. Du weißt, daß die, die im Namen des Sternenwege-Kongresses herrschen, grausam genug sind, eine Rasse von Menschen zu schaffen, die, ihrer Begabung zufolge, Herrscher sein sollten, und ihnen dann die Füße abzuschneiden, um sie zu verstümmeln und zu Dienern zu degradieren.«

»Zeige mir nicht dieses Gesicht«, sagte Vater.

Die Erscheinung veränderte sich. Sie wurde zu einer anderen Frau, dem Kleid, Haar und dem Make-up nach einer Frau aus einer längst vergangenen Zeit, mit wunderbar weisen Augen und alterslosen Gesichtszügen. Sie sprach nicht, sie sang:

In einem klaren Traum

vom letzten Jahr

kamen tausend Meilen weit

eine bewölkte Stadt

sich windende Flüsse

Eis auf den Teichen

eine Weile lang blickte ich auf meine Freundin

Han Fei-tzu senkte den Kopf und weinte.

Qing-jao war zuerst erstaunt; dann füllte sich ihr Herz mit Wut. Wie schamlos dieses Programm Vater manipulierte; wie schockierend, daß Vater sich einem seiner offensichtlichen Schachzüge gegenüber als so schwach erwies. Dieses Lied Li Qing-jaos war eins der traurigsten; es galt weit entfernten Liebhabern. Vater mußte die Gedichte Li Qing-jaos gekannt und geliebt haben, oder er hätte sie nicht als Vorfahrin-des-Herzens seines ersten Kindes auserwählt. Und dieses Lied war sicher dasjenige, das er seiner geliebten Keikoa sang, bevor sie ihm weggenommen und zu einer anderen Welt geschickt wurde. In der Tat – in einem klaren Traum betrachtete ich meine Freundin! »Ich lasse mich nicht narren«, sagte Qing-jao kalt. »Ich sehe, daß ich einen Blick auf unsern dunkelsten Feind werfe.«

Das imaginäre Gesicht der Dichterin Li Qing-jao musterte sie kühl. »Dein dunkelster Feind ist derjenige, der dich zwingt, dich wie eine Dienerin bis auf den Boden zu verbeugen und dein halbes Leben mit bedeutungslosen Ritualen zu verschwenden. Dies haben euch Männer und Frauen angetan, deren einziges Begehren es war, euch zu versklaven; sie haben damit einen so großen Erfolg gehabt, daß ihr auf euer Sklavendasein stolz seid.«

»Ich bin eine Sklavin der Götter«, sagte Qing-jao, »und ich finde Freude darin.«

»Eine Sklavin, die Freude darin findet, ist in der Tat eine Sklavin.« Die Erscheinung wandte sich Wang-mu zu, deren Kopf noch immer den Boden berührte.

Erst da begriff Qing-jao, daß sie Wang-mu noch nicht von ihrer Buße befreit hatte. »Steh auf, Wang-mu«, flüsterte sie. Doch Wang-mu hob nicht den Kopf.

»Du, Si Wang-mu«, sagte die Erscheinung. »Sieh mich an.«

Qing-jaos Befehl war Wang-mu nicht gefolgt, doch der Erscheinung gehorchte sie. Als Wang-mu den Blick auf sie richtete, hatte die Erscheinung sich schon wieder verändert: nun hatte sie das Gesicht einer Göttin angenommen, der Königlichen Mutter des Westens, wie ein Künstler sie sich einst vorgestellt hatte, als er das Bild malte, das heute jedes Schulkind in seinem ersten Lesebuch sah.

»Du bist keine Göttin«, sagte Wang-mu.

»Und du bist keine Sklavin«, sagte die Erscheinung. »Doch wir geben vor, das zu sein, was wir sein müssen, um zu überleben.«

»Was weißt du schon vom Überleben?«

»Ich weiß, daß ihr versucht, mich zu töten.«

»Wie können wir etwas töten, das nicht lebt?«

»Weißt du, was Leben ist und was nicht?« Das Gesicht veränderte sich erneut, diesmal zu dem einer Weißen, die Qing-jao noch nie gesehen hatte. »Lebst du, wenn du ohne die Zustimmung dieses Mädchen nicht tun kannst, was du gern möchtest? Und lebt deine Herrin, wenn sie nichts tun kann, ohne zuvor die Zwänge in ihrem Gehirn befriedigt zu haben? Ich habe mehr Freiheit, nach eigenem Willen zu handeln, als irgendeiner von euch. Sagt mir nicht, daß ihr lebt und ich nicht.«

»Wer bist du?« fragte Si Wang-mu. »Wem gehört dieses Gesicht? Bist du Valentine Wiggin? Bist du Demosthenes?«

»Dieses Gesicht trage ich, wenn ich mit meinen Freunden spreche«, sagte die Erscheinung. »Sie nennen mich Jane. Kein Mensch beherrscht mich. Ich bin nur ich selbst.«

Qing-jao konnte es nicht mehr länger ertragen, jedenfalls nicht schweigend. »Du bist nur ein Programm. Du wurdest von Menschen entworfen und gebaut. Du bist nur das, wozu man dich programmiert hat.«

»Qing-jao«, sagte Jane, »du beschreibst dich selbst. Mich hat kein Mensch geschaffen, doch du wurdest konstruiert.«

»Ich wuchs aus dem Samen meines Vaters im Leib meiner Mutter!«

»Und mich fand man wie einen Jadeklumpen auf einem Berghang, von keiner Hand geschliffen. Han Fei-tzu, Han Qing-jao, Si Wang-mu, ich gebe mich in eure Hände. Nennt ein kostbares Juwel nicht bloß einen Stein. Nennt einen Sprecher der Wahrheit nicht Lügner.«

Qing-jao fühlte, wie Mitleid in ihr emporstieg, doch sie unterdrückte es. Dies war nicht die Zeit, sich Gefühlen der Schwäche zu ergeben. Die Götter hatten sie aus einem bestimmten Grund geschaffen; dies war sicherlich ihr Lebenswerk. Wenn sie nun versagte, würde sie auf ewig unwürdig sein; sie wäre nie wieder rein. Also durfte sie nicht versagen. Sie würde diesem Computerprogramm nicht erlauben, sie zu täuschen und ihr Mitgefühl zu gewinnen.

Sie wandte sich an ihren Vater. »Wir müssen sofort den Sternenwege-Kongreß benachrichtigen, damit er sofort die gleichzeitige Abschaltung aller Verkürzer in die Wege leiten kann, sobald saubere Computer bereitstehen, die verseuchten zu ersetzen.«

Zu ihrer Überraschung schüttelte Vater den Kopf. »Ich weiß nicht, Qing-jao. Was dieses… was sie über den Sternenwege-Kongreß sagt… er wäre zu solch einer Manipulation fähig. Einige seiner Mitglieder sind so böse, daß ich mich unrein fühle, wenn ich nur mit ihnen spreche. Ich weiß, daß sie Lusitania vernichten wollten, ohne… aber ich habe den Göttern gedient, und die Götter erwählten… oder ich glaubte es zumindest. Jetzt verstehe ich genau, wie sie mich behandelt haben, als ich mich traf mit… aber das würde bedeuten, daß die Götter nicht… wie kann ich glauben, daß ich mein ganzes Leben damit verbracht habe, einem Gehirnschaden zu dienen… ich kann nicht… ich muß…«

Dann streckte er plötzlich die linke Hand in einem wirbelnden Muster aus, als versuche er, eine Fliege im Flug zu fangen. Seine rechte Hand flog nach oben und griff in die Luft. Er rollte den Kopf von einer Seite zur anderen, und sein Mund stand weit auf. Qing-jao war außer sich vor Angst. Was geschah mit ihrem Vater? Er hatte so zerrissen, unzusammenhängend gesprochen; war er verrückt geworden?

Er wiederholte die Bewegungen, streckte den linken Arm aus, griff mit der rechten Hand nach oben in die Luft, rollte mit dem Kopf. Und wiederholte die Bewegungen noch einmal. Erst da begriff Qing-jao, daß sie Vaters geheimes Ritual der Reinigung sah. Wie ihr Aufspüren der Linien im Holz mußte dieser Tanz der Hände und des Kopfes der Ausdruck der Stimmen der Götter sein, wenn er sich mit Schmutz bedeckt in einem verschlossenen Raum befand.

Die Götter hatten seinen Zweifel gesehen und ergriffen deshalb die Herrschaft über ihn, um ihn zu disziplinieren und zu reinigen. Qing-jao hätte sich keinen deutlicheren Beweis dessen wünschen können, was hier vor sich ging. Sie wandte sich dem Gesicht über dem Terminal zu. »Siehst du, wie die Götter dir widersprechen?« sagte sie.

»Ich sehe, wie der Kongreß deinen Vater erniedrigt«, erwiderte Jane.

»Ich werde sofort jede Welt benachrichtigen, wer du wirklich bist«, sagte Qing-jao.

»Und wenn ich das nicht zulasse?«

»Du kannst mich nicht aufhalten!« rief Qing-jao. »Die Götter werden mir helfen!« Sie lief aus dem Zimmer ihres Vaters und floh zu ihrem eigenen. Doch das Gesicht schwebte bereits über ihrem Terminal in der Luft.

»Wie willst du eine Nachricht schicken, wenn ich nicht zulasse, daß sie gesendet wird?« fragte Jane.

»Ich werde eine Möglichkeit finden«, sagte Qing-jao. Sie sah, daß Wang-mu ihr gefolgt war und nun atemlos auf ihre Anweisungen wartete. »Sag Mu-pao, sie soll einen der Spielecomputer zu mir bringen. Die sind nicht an den Hauscomputer oder irgendeinen anderen angeschlossen.«

»Ja, Herrin«, sagte Wang-mu und ging schnell.

Qing-jao wandte sich wieder Jane zu. »Glaubst du, du kannst mich auf ewig aufhalten?«

»Ich denke, du solltest warten, bis dein Vater eine Entscheidung getroffen hat.«

»Nur, weil du hoffst, daß du ihn gebrochen und den Göttern sein Herz gestohlen hast. Aber du wirst sehen – er wird hierher kommen und mir dafür danken, daß ich all das erfüllt habe, was er mich gelehrt hat.«

»Und wenn nicht?«

»Er wird kommen.«

»Und wenn du dich irrst?«

»Dann werde ich dem Mann dienen, der er war, als er stark und gut war!« schrie Qing-jao. »Aber du wirst ihn niemals brechen!«

»Der Kongreß hat ihn von Geburt an gebrochen. Ich versuche, ihn zu heilen.«

Wang-mu kam in das Zimmer gestürzt. »Mu-pao wird in ein paar Minuten mit einem Gerät kommen.«

»Was willst du mit diesem Spielzeugcomputer erreichen?« fragte Jane.

»Meinen Bericht schreiben«, sagte Qing-jao.

»Und dann?«

»Ihn ausdrucken. Ihn so weit wie möglich auf Weg verbreiten. Dagegen kannst du nichts tun. Ich werde keinen Computer benutzen, den du irgendwie erreichen kannst.«

»Dann erzählst du es allen Menschen auf Weg; aber das ändert nichts. Und selbst wenn es etwas änderte… glaubst du nicht, ich könnte ihnen ebenfalls die Wahrheit sagen?«

»Denkst du, sie werden dir glauben, einem Programm, das von dem Feind des Kongresses beherrscht wird, und nicht mir, einer Gottberührten?«

»Ja.«

Qing-jao brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß Wang-mu gesprochen hatte und nicht Jane. Sie drehte sich zu ihrer geheimen Magd um und forderte sie auf zu erklären, was sie damit meinte.

Wang-mu sah wie ein anderer Mensch aus; als sie sprach, war keine Schüchternheit in ihrer Stimme. »Wenn Demosthenes den Menschen von Weg berichtet, daß die Gottberührten nur Menschen mit einer genetischen Begabung, aber auch einem genetischen Defekt sind, besteht kein Grund mehr, daß sie über uns herrschen.«

Zum ersten Mal kam Qing-jao in den Sinn, daß nicht jeder auf Weg der Ordnung, die die Götter begründet hatten, so zufrieden folgte wie sie. Zum ersten Mal begriff sie, daß sie mit ihrer Entschlossenheit, den Göttern zu dienen, vielleicht völlig allein dastand.

»Was ist der Weg?« fragte Jane hinter ihr. »Zuerst die Götter, dann die Vorfahren, dann die Menschen, dann die Herrscher, dann man selbst.«

»Wie kannst du es wagen, vom Weg zu sprechen, wo du doch versuchst, mich und meinen Vater und meine geheime Magd von ihm abzubringen?«

»Stelle dir nur einen Augenblick lang vor: Was wäre, wenn alles, was ich dir gesagt habe, der Wahrheit entspräche?« sagte Jane. »Was wäre, wenn dein Leid von den Plänen böser Menschen herrührt, die dich ausbeuten und unterdrücken und die mit deiner Hilfe die ganze Menschheit ausbeuten und unterdrücken wollen? Denn genau das tust du, wenn du dem Kongreß hilfst. Das kann doch unmöglich sein, was die Götter wollen. Was wäre, wenn ich existiere, um dir einsichtig zu machen, daß der Kongreß das Mandat des Himmels verloren hat? Wenn die Götter von dir wollen, daß du dem Weg in seiner richtigen Reihenfolge dienst? Diene zuerst den Göttern, indem du die korrupten Herren des Kongresses, die das Mandat des Himmels verspielt haben, von der Macht entfernst. Dann diene deinen Vorfahren und deinem Vater, indem du ihre Erniedrigung durch die Hände der Folterer rächst, die euch mißgestaltet haben, um euch zu Sklaven zu machen. Dann diene dem Volk von Weg, indem du es von dem Aberglauben und den geistigen Qualen befreist, die es fesseln. Dann diene den neuen, aufgeklärten Herrschern, die den Kongreß ersetzen werden, indem du ihnen eine Welt voller überlegener Intelligenzen anbietest, die bereit sind, sie freiwillig und gern zu beraten. Und schließlich diene dir selbst, indem du die besten Wissenschaftler von Weg ein Heilmittel gegen dein Bedürfnis finden läßt, dein halbes Leben mit diesen sinnlosen Ritualen zu verschwenden.«

Qing-jao lauschte Janes Ausführungen mit wachsendem Unbehagen. Sie klangen so plausibel. Wie konnte Qing-jao wissen, was die Götter wirklich wollten? Vielleicht hatten sie dieses Jane-Programm geschickt, um sie zu befreien. Vielleicht war der Kongreß so korrupt und gefährlich, wie Demosthenes behauptete, und vielleicht hatte er das Mandat des Himmels verloren.

Doch schließlich wußte Qing-jao, daß es sich nur um die Lügen einer Verführerin handelte. Zum einen bestand kein Zweifel daran, daß die Stimme der Götter in ihr war. Hatte sie nicht diesen schrecklichen Drang verspürt, sich zu reinigen? Hatte sie nicht die Freuden erfolgreicher Verehrung gefühlt, wenn sie ihre Rituale abgeschlossen hatte? Ihre Beziehung zu den Göttern war die Sache in ihrem Leben, der sie sich am sichersten war; und jeder, der sie bestritt, der drohte, sie ihr zu nehmen, mußte nicht nur ihr Feind, sondern auch der des Himmels sein.

»Ich werde meinen Bericht nur an die Gottberührten schicken«, sagte Qing-jao. »Wenn das gewöhnliche Volk gegen die Götter rebellieren will, kann ich nichts dagegen tun; doch ich werde ihm am besten dienen, indem ich die Gottberührten hier an der Macht halte, denn so kann die ganze Welt dem Willen der Götter folgen.«

»Das alles ist bedeutungslos«, sagte Jane. »Selbst wenn die, zu denen die Götter sprechen, glauben sollten, was du glaubst, wirst du ohne meine Erlaubnis von dieser Welt niemals auch nur ein einziges Wort senden können.«

»Es gibt Sternenschiffe«, sagte Qing-jao.

»Es wird zwei Generationen dauern, bis sie deine Nachricht auf allen Welten verbreitet haben. Bis dahin wird der Sternenwege-Kongreß gestürzt worden sein.«

Qing-jao mußte nun der Tatsache ins Auge sehen, der sie ausgewichen war: Solange Jane die Verkürzer kontrollierte, konnte sie die von Weg ausgehende Kommunikation so gründlich unterbrechen, wie sie die mit der Flotte verhindert hatte. Selbst wenn Qing-jao ihren Bericht und ihre Empfehlungen ununterbrochen von jedem Verkürzer auf Weg ausstrahlen ließ, würde Jane dafür sorgen, daß Weg nur genauso gründlich für den Rest des Universums verschwand, wie die Flotte verschwunden war.

Einen Augenblick lang erfüllte sie Verzweiflung, und sie hätte sich fast zu Boden geworfen, um mit der schrecklichen Buße der Reinigung zu beginnen. Ich habe die Götter im Stich gelassen – sicher verlangen sie nun von mir, einer in ihren Augen wertlosen Versagerin, daß ich Linien verfolge, bis ich tot bin.

Doch als sie ihre Gefühle genauer untersuchte, um festzustellen, welche Buße notwendig sein würde, stellte sie fest, daß gar keine Buße nötig war. Es erfüllte sie mit Hoffnung – vielleicht hatten die Götter die Reinheit ihres Verlangens erkannt und würden ihr vergeben, weil sie unmöglich etwas unternehmen konnte.

Oder die Götter wußten vielleicht doch, was sie unternehmen könnte. Was wäre, wenn Weg für die Verkürzer jeder anderen Welt verschwand? Was würde der Kongreß daraus schließen? Was würden die Leute denken? Das Verschwinden einer jeden Welt mußte eine Reaktion hervorrufen, besonders wenn einige Mitglieder des Kongresses glaubten, daß diese Welt ein Geheimnis bewahrte. Sie würden ein Schiff von der nächsten Welt schicken, die nur drei Reisejahre entfernt war. Was würde dann geschehen? Würde Jane auch die gesamte Kommunikation mit dem neu eingetroffenen Schiff unterbrechen? Und dann die mit der benachbarten Welt, wenn das Schiff dorthin zurückkehrte? Wie lange würde es dauern, bis Jane sämtliche Verkürzer-Verbindungen zwischen den Hundert Welten unterbrechen mußte? Drei Generationen, hatte sie gesagt. Vielleicht würde das reichen. Die Götter hatten es nicht eilig.

Es würde sowieso nicht unbedingt so lange dauern, um Janes Macht zu zerstören. Irgendwann würde offensichtlich werden, daß eine feindliche Macht die Kontrolle über die Verkürzer übernommen hatte und Schiffe und Welten verschwinden ließ. Selbst ohne etwas über Valentine und Demosthenes zu wissen, selbst ohne die Erkenntnis, daß es sich um ein Computerprogramm handelte, würde es auf jeder Welt Menschen geben, die begriffen, was getan werden mußte, und die die Verkürzer von sich aus abschalten würden.

»Du hast mich gebeten, mir etwas vorzustellen«, sagte Qing-jao. »Jetzt bitte ich dich darum. Ich und die anderen Gottberührten sorgen dafür, daß wir mit jedem Verkürzer auf Weg meinen Bericht senden. Du läßt all diese Verkürzer gleichzeitig verstummen. Was sieht der Rest der Menschheit? Daß wir verschwunden sind, genau wie die Lusitania-Flotte. Sie werden bald begreifen, daß es dich oder jemanden wie dich gibt. Je mehr du deine Macht einsetzt, desto mehr enthüllst du deine Existenz selbst der einfältigsten Seele. Du hast eine leere Drohung hervorgebracht. Du könntest genausogut zur Seite treten und mich meine Nachricht einfach senden lassen. Wenn du mich aufhältst, erreichst du nur damit, daß dieselbe Nachricht trotzdem empfangen wird.«

»Du irrst dich«, sagte Jane. »Wenn plötzlich sämtliche Verkürzer auf Weg verstummen, wird der Kongreß annehmen, diese Welt habe genau wie Lusitania rebelliert – schließlich haben sie dort ihren Verkürzer auch abgeschaltet. Und was hat der Sternenwege-Kongreß getan? Eine Flotte mit dem Chirurgen geschickt.«

»Lusitania befand sich bereits in Rebellion, bevor sie den Verkürzer abschalteten.«

»Glaubst du, der Kongreß hält euch nicht unter Beobachtung? Glaubst du, er hätte keine Angst davor, was passieren könnte, wenn die Gottberührten auf Weg jemals herausfänden, was ihnen angetan wurde? Wenn ein paar primitive Außerirdische und ein paar Xenologen ihnen solche Angst einjagen, daß sie eine Flotte ausschicken… was werden sie dann wohl unternehmen, wenn auf geheimnisvolle Art und Weise eine Welt verschwindet, auf der sich so viele brillante Menschen befinden, die jeden Grund haben, den Sternenwege-Kongreß zu hassen? Wie lange wird diese Welt wohl überleben?«

Qing-jao wurde mit einem elenden Schrecken erfüllt. Es war durchaus möglich, daß dieser Teil von Janes Geschichte der Wahrheit entsprach: daß es Menschen im Kongreß gab, die von der Tarnung der Götter getäuscht wurden, die glaubten, die Gottberührten von Weg wären einzig und allein durch genetische Manipulation entstanden. Und wenn es solche Leute gab, würden sie vielleicht handeln, wie Jane es beschrieben hatte. Was geschähe, wenn eine Flotte gegen Weg losgeschickt würde? Wenn der Sternenwege-Kongreß ihr befohlen hatte, die ganze Welt ohne Verhandlungen zu vernichten? Dann würden ihre Berichte niemals bekannt werden, und alles war verloren. Es wäre alles umsonst gewesen. Konnte das der Willen der Götter sein? Konnte der Sternenwege-Kongreß das Mandat des Himmels haben und trotzdem eine Welt zerstören?

»Erinnere dich an die Geschichte von I Ya, dem größten Koch«, sagte Jane. »Sein Herr sagte eines Tages: ›Ich habe den größten Koch auf der ganzen Welt. Dank ihm habe ich jeden dem Menschen bekannten Geschmack gekostet, bis auf den von Menschenfleisch.‹ Daraufhin ging I Ya nach Hause, schlachtete seinen eigenen Sohn, kochte sein Fleisch und servierte es dem Herren, damit es seinem Herren an nichts mangelte, was I Ya ihm geben konnte.«

Das war eine schreckliche Geschichte. Qing-jao hatte sie als Kind gehört und danach stundenlang geweint. ›Was ist mit dem Sohn I Yas?‹ hatte sie gerufen. Und ihr Vater hatte gesagt, ein wahrer Diener hat Söhne und Töchter nur, um seinem Herren zu dienen. Fünf Nächte lang war sie schreiend aus Träumen erwacht, in denen ihr Vater sie lebend schmorte oder Scheiben von ihr abschnitt und auf einen Teller legte, bis Han Fei-tzu schließlich zu ihr kam, sie umarmte und sagte: »Glaube es nicht, meine ›Strahlend Helle‹ Tochter. Ich bin kein perfekter Diener. Ich liebe dich zu sehr, um fürwahr rechtschaffen zu sein. Ich liebe dich mehr als meine Pflicht. Ich bin nicht I Ya. Du hast von meinen Händen nichts zu fürchten.« Erst nachdem Vater dies zu ihr gesagt hatte, konnte sie schlafen.

Dieses Programm, diese Jane, mußte Vaters Bericht darüber in seinem Tagebuch gefunden haben und setzte ihn nun gegen sie ein. Doch obwohl Qing-jao wußte, daß sie manipuliert wurde, mußte sie sich unwillkürlich fragen, ob Jane vielleicht nicht doch recht hatte.

»Bist du ein Bediensteter wie I Ya?« fragte Jane. »Wirst du deine eigene Welt wegen eines unwürdigen Herren wie dem Sternenwege-Kongreß abschlachten?«

Qing-jao wurde sich nicht über ihre Gefühle klar. Woher kamen diese Gedanken? Jane hatte mit ihren Argumenten ihren Verstand vergiftet, genau wie zuvor Demosthenes – wenn sie nicht sowieso ein und dieselbe Person waren. Ihre Worte klangen überzeugend, auch wenn sie die Wahrheit verzehrten.

Hatte Qing-jao das Recht, das Leben aller Menschen auf Weg zu gefährden? Was wäre, wenn sie sich irrte? Wie konnte sie alles wissen? Ob alles, was Jane gesagt hatte, nun wahr oder falsch war, die gleichen Beweise würden vor ihr liegen. Qing-jao würde sich genauso fühlen, wie sie sich jetzt fühlte, ob nun die Götter oder irgendein Gehirnschaden diese Gefühle hervorriefen.

Warum sprachen in all dieser Unsicherheit die Götter nicht zu ihr? Warum fühlte sie sich nun, da sie die Klarheit ihrer Stimme brauchte, nicht schmutzig und unrein, wenn sie in die eine, und nicht sauber und heilig, wenn sie in die andere Richtung dachte? Warum ließen die Götter sie an diesem Scheitelpunkt ihres Lebens ohne Führung?

In die Stille von Qing-jaos innerlicher Auseinandersetzung kam, so kalt und hart wie Metall, das auf Metall trifft, Wang-mus Stimme. »Es wird nie geschehen«, sagte sie.

Qing-jao hörte einfach zu, unfähig, Wang-mu auch nur zum Schweigen anzuhalten.

»Was wird nie geschehen?« fragte Jane.

»Was du gesagt hast – daß der Sternenwege-Kongreß diese Welt sprengt.«

»Wenn du denkst, sie würden es nicht tun, bist du eine noch größere Närrin, als Qing-jao glaubt«, sagte Jane.

»Oh, ich weiß, daß sie es tun würden. Han Fei-tzu weiß es auch – er hat gesagt, sie wären böse genug, um jedes schreckliche Verbrechen zu begehen, wenn es in ihre Pläne paßt.«

»Und warum wird es dann nicht geschehen?«

»Weil du es nicht zulassen wirst«, sagte Wang-mu. »Da die Blockierung aller Verkürzer-Nachrichten von Weg zur Vernichtung dieser Welt führen könnte, wirst du diese Nachrichten nicht blockieren. Sie werden durchkommen. Der Kongreß wird gewarnt sein. Du wirst Wegs Zerstörung nicht veranlassen.«

»Und warum nicht?«

»Weil du Demosthenes bist«, sagte Wang-mu. »Weil du voller Wahrheit und Mitgefühl bist.«

»Ich bin nicht Demosthenes«, sagte Jane.

Das Gesicht im Terminaldisplay wurde durchsichtig und veränderte sich dann zu einem der Außerirdischen. Ein Pequenino, dessen Schweineschnauze in ihrer Fremdartigkeit überaus störend wirkte. Einen Augenblick später erschien ein anderes, noch fremdartigeres Gesicht: des eines Krabblers, eins der alptraumhaften Wesen, die einst die ganze Menschheit in Angst und Schrecken versetzt hatten. Obwohl Qing-jao die Schwarmkönigin und den Hegemon gelesen hatte, obwohl sie wußte, wer die Krabbler waren und wie wunderschön ihre Zivilisation gewesen war, bereitete es ihr Angst und Unbehagen, einem dieser Wesen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Dabei wußte sie genau, daß es sich nur um ein Computerdisplay handelte.

»Ich bin kein Mensch«, sagte Jane, »selbst wenn ich gelegentlich ein menschliches Gesicht trage. Woher willst du wissen, Wang-mu, was ich tun werde und was nicht? Sowohl Krabbler als auch Schweinchen haben ohne großes Nachdenken Menschen getötet.«

»Weil sie nicht verstanden, was der Tod für uns bedeutet. Du verstehst es. Du hast es selbst gesagt – du willst nicht sterben.«

»Du glaubst, mich zu kennen, Si Wang-mu?«

»Ich glaube, dich zu kennen«, sagte Wang-mu, »denn du müßtest dich mit diesen Problemen nicht befassen, hättest du zugelassen, daß die Flotte Lusitania vernichtet.«

Zu dem Krabbler im Display gesellte sich ein Schweinchen und dann das Gesicht, das Jane selbst darstellte. Schweigend betrachteten sie Wang-mu und Qing-jao.


»Ender«, sagte die Stimme in seinem Ohr.

Ender hatte schweigend zugehört. Er saß in dem Wagen, den Varsam fuhr. Seit einer Stunde hatte Jane ihn ihr Gespräch mit diesen Leuten auf Weg mithören lassen; sie übersetzte für ihn, wann immer sie Chinesisch statt Stark sprachen. Sie hatten viele Kilometer Prärie hinter sich gelassen, während er lauschte, doch er hatte nichts davon gesehen; vor seinem inneren Auge waren diese Menschen, wie er sie sich vorstellte. Han Fei-tzu – diesen Namen kannte Ender gut, war er doch mit dem Vertrag verbunden, der seine Hoffnung zunichte gemacht hatte, eine Rebellion der Kolonien würde dem Kongreß ein Ende bereiten oder zumindest verhindern, daß die Flotte nach Lusitania geschickt wurde. Doch nun hingen Janes Existenz und vielleicht das Überleben Lusitanias und all seiner Völker von dem ab, was zwei junge Mädchen in einem Schlafzimmer auf einer obskuren Kolonistenwelt dachte, sagten und entschieden.

Qing-jao, ich kenne dich gut, dachte Ender. Du bist eine ›Strahlend Helle‹, doch das Licht, das du siehst, kommt ausschließlich aus den Geschichten deiner Götter. Du bist wie die Pequeninobrüder, die dasaßen und zusahen, wie mein Stiefsohn starb und jederzeit imstande gewesen wären, ihn zu retten, indem sie ein paar Dutzend Schritte gegangen wären, um seine Nahrung mit den Descolada-Hemmern zu holen. Sie haben sich nicht des Mordes schuldig gemacht; eher waren sie schuldig, einer Geschichte, die man ihnen erzählte, zu großen Glauben zu schenken. Die meisten Menschen sind imstande, die meisten Geschichten, die sie erzählt bekommen, in der Schwebe zu halten, eine kleine Entfernung zwischen der Geschichte und dem Innersten ihres Herzens zu bewahren. Doch für diese Brüder – und für dich, Qing-jao – ist die schreckliche Lüge die Geschichte selbst geworden, die sie glauben müssen, wenn sie sie selbst bleiben wollen. Wie kann ich dir Vorwürfe machen, daß du uns alle sterben sehen willst? Du bist so von der Größe der Götter erfüllt, daß du kein Mitgefühl für so unwichtige Belange wie das Überleben dreier Spezies von Ramännern haben kannst. Ich kenne dich, Qing-jao, und habe nicht erwartet, daß du dich anders verhältst. Vielleicht wirst du dich eines Tages ändern, wenn du mit den Konsequenzen deiner Taten konfrontiert werden wirst, doch ich bezweifle es. Nur wenige, die von einer so mächtigen Geschichte gefangengehalten werden, können sich jemals davon befreien.

Doch du, Wang-mu, bist von keiner Geschichte besessen. Du vertraust nur deinem eigenen Urteil. Jane hat mir erzählt, was du bist, wie phänomenal dein Verstand sein muß, wenn du so viele Dinge so schnell lernen kannst und ein so tiefes Verständnis der Menschen um dich herum entwickelst. Warum kannst du nicht nur etwas klüger sein? Natürlich mußtest du begreifen, daß Jane die Vernichtung Wegs nicht zulassen konnte – doch warum konntest du nicht so klug gewesen sein, nichts zu sagen, Qing-jao über diese Tatsache im Ungewissen zu lassen? Warum konntest du nicht gerade so viel von der Wahrheit aussparen, um Janes Leben zu verschonen? Würdest du einem potentiellen Mörder, der mit gezogenem Schwert zu deiner Tür kommt und von dir verlangt, ihm zu sagen, wo sich sein unschuldiges Opfer befindet, verraten, daß sein Opfer sich hinter deiner Tür versteckt? Oder würdest du lügen und ihn fortschicken? In ihrer Verwirrung ist Qing-jao dieser Mörder und Jane das erste Opfer, und die Welt Lusitania wird ihr folgen. Warum mußtest du sprechen und ihr verraten, wie leicht sie uns alle finden und töten kann?

»Was kann ich tun?« fragte Jane.

Ender subvokalisierte seine Antwort. »Warum stellst du mir eine Frage, die nur du beantworten kannst?«

»Wenn du es mir aufträgst«, sagte Jane, »kann ich ihre gesamte Kommunikation unterbrechen und uns alle retten.«

»Selbst wenn dies zur Vernichtung Wegs führte?«

»Wenn du es mir aufträgst«, bat sie.

»Obwohl du weißt, daß du auf lange Sicht sowieso entdeckt werden wirst? Daß die Flotte trotz all deiner Fähigkeiten wahrscheinlich nicht abgezogen werden wird?«

»Wenn du mir zu leben befiehlst, Ender, kann ich tun, was nötig ist, um zu überleben.«

»Dann tue es«, sagte Ender. »Schneide Weg von jeder Verkürzer-Kommunikation ab.«

Zögerte Jane einen winzigen Sekundenbruchteil lang? In dieser kurzen Pause hätte sie stundenlange Selbstgespräche führen können.

»Befehle es mir«, sagte Jane.

»Ich befehle es dir.«

Erneut das kurze Zögern. Dann: »Zwinge mich dazu.«

»Wie kann ich dich dazu zwingen, wenn du es nicht willst?«

»Ich will leben«, erwiderte sie.

»Nicht so sehr, wie du du selbst sein willst«, sagte Ender.

»Jedes Tier würde töten, um sich zu retten.«

»Jedes Tier ist bereit, den anderen zu töten«, sagte Ender. »Doch die höheren Wesen schließen immer mehr lebende Dinge in ihren Geschichten ein, bis es keinen anderen mehr gibt. Bis die Bedürfnisse anderer wichtiger sind als alle eigenen Wünsche. Die höchsten Wesen von allen sind diejenigen, die bereit sind, jeden persönlichen Preis für das Wohlergehen derer zu begleichen, die sie brauchen.«

»Ich würde das Risiko eingehen, Weg zu schaden«, sagte Jane, »wenn ich Lusitania damit wirklich retten könnte.«

»Aber das kannst du nicht.«

»Ich würde Qing-jao in den hilflosen Wahnsinn treiben, wenn ich damit die Schwarmkönigin und die Pequeninos retten könnte. Sie ist drauf und dran, den Verstand zu verlieren – ich könnte es schaffen.«

»Nur zu«, sagte Ender. »Tue alles, was erforderlich ist.«

»Ich kann es nicht«, sagte Jane. »Denn es würde ihr nur schaden und uns letztendlich nicht retten.«

»Wärest du ein etwas weniger hochstehendes Tier«, sagte Ender, »hättest du eine viel bessere Chance, lebend aus dieser Sache herauszukommen.«

»So niedrig wie du, Ender der Xenozide?«

»So niedrig wie ich«, sagte Ender. »Dann könntest du leben.«

»Oder vielleicht auch, wenn ich so klug wäre wie du damals.«

»Ich habe meinen Bruder Peter in mir und auch meine Schwester Valentine«, sagte Ender. »Das Tier wie auch den Engel. Das hast du mich gelehrt, damals, als du nicht mehr warst als das Programm, das wir Fantasyspiel nannten.«

»Wo ist das Tier in mir?«

»Du hast keins«, sagte Ender.

»Vielleicht lebe ich überhaupt nicht«, sagte Jane. »Vielleicht fehlt es mir am Überlebenswillen, weil ich mich nie im Schmelztiegel der natürlichen Selektion behaupten mußte.«

»Oder vielleicht, weil du weißt, irgendwo tief in dir, daß es eine andere Möglichkeit zum Überleben gibt, eine, die du einfach noch nicht gefunden hast.«

»Das ist ein aufheiternder Gedanke«, sagte Jane. »Ich tue einfach so, als würde ich daran glauben.«

»Peço que deus te abençoe«, sagte Ender.

»Ach, du bist nur sentimental«, erwiderte Jane.


Mehrere Minuten betrachteten die drei Gesichter im Display schweigend Qing-jao und Wang-mu. Dann verschwanden endlich die beiden außerirdischen Gesichter, und nur das Bild namens Jane blieb übrig. »Ich wünschte, ich könnte es tun«, sagte sie. »Ich wünschte, ich könnte deine Welt töten, um meine Freunde zu retten.«

Erleichterung überkam Qing-jao wie der erste kräftige Atemzug eines Schwimmers, der beinahe ertrunken wäre. »Also kannst du mich doch nicht aufhalten«, sagte sie triumphierend. »Ich kann meine Nachricht schicken!«

Qing-jao ging zum Terminal und nahm vor Janes aufmerksamem Gesicht Platz. Sie wußte, daß das Bild in dem Display nur eine Illusion war. Wenn Jane zusah, dann nicht mit menschlichen Augen, sondern mit den visuellen Sensoren des Computers. Er bestand nur aus Elektronik, eine Maschine, zwar äußerst klein, aber nichtsdestotrotz eine Maschine. Keine lebendige Seele. Es war irrational, sich unter diesem illusionären Blick zu schämen.

»Herrin«, sagte Wang-mu.

»Später«, sagte Qing-jao.

»Wenn du dies tust, wird Jane sterben. Sie werden die Verkürzer abschalten und sie töten.«

»Was nicht lebt, kann nicht sterben«, erwiderte Qing-jao.

»Du kannst sie nur töten, weil sie Mitgefühl hat.«

»Wenn sie Mitgefühl zu haben scheint, ist es eine Illusion – sie wurde programmiert, Mitgefühl zu simulieren, mehr nicht.«

»Herrin, wie unterscheidest du dich von Ender dem Xenoziden, der vor dreitausend Jahren alle Krabbler tötete, wenn du jede Manifestation dieses Programms tötest?«

»Vielleicht unterscheide ich mich nicht von ihm«, sagte Qing-jao. »Vielleicht war auch Ender der Diener der Götter.«

Wang-mu kniete neben Qing-jao nieder und weinte am Saum ihres Gewandes. »Ich bitte dich, Herrin, verzichte auf diese böse Tat.«

Doch Qing-jao schrieb ihren Bericht. Er stand so klar und einfach in ihrem Verstand, als hätten die Götter ihr die Sätze eingegeben. »An den Sternenwege-Kongreß: Der aufrührerische Schriftsteller, der als Demosthenes bekannt ist, ist in Wirklichkeit eine Frau, die sich zur Zeit auf oder in der Nähe von Lusitania befindet. Sie hat Kontrolle über oder Zugang zu einem Programm, das alle Verkürzer-Computer infiziert hat und veranlaßt, daß Berichte von der Flotte unterdrückt und Aufzeichnungen über Übermittlungen von Demosthenes' Schriften verborgen werden. Die einzige Lösung dieses Problems besteht darin, die Kontrolle des Programms über Verkürzer-Sendungen zu beenden, indem sämtliche Verkürzer von ihren derzeitigen Computern getrennt und dann gleichzeitig an unverseuchte neue Geräte angeschlossen werden. Ich habe das Programm kurzzeitig neutralisiert, wodurch es mir möglich ist, diese Nachricht zu senden. Wahrscheinlich können Sie im Augenblick noch Ihre Befehle an alle Welten schicken, doch dieser Zustand wird nicht ewig anhalten; Sie müssen also schnell handeln. Ich schlage vor, daß Sie in genau vierzig Standardwochen, von heute an gezählt, sämtliche Verkürzer gleichzeitig für mindestens einen Standardtag ausschalten. Keiner der neuen Verkürzer-Computer, die angeschlossen werden, darf mit irgendeinem anderen Computer verbunden gewesen sein. Um eine weitere elektronische Verseuchung auszuschließen, muß von nun an jede Verkürzer-Nachricht manuell in die Verkürzer-Computer eingegeben werden. Wenn Sie diese Nachricht mit Ihrem Befehlskode versehen und augenblicklich an alle Verkürzer senden, wird mein Bericht zu Ihrem Befehl werden; weitere Anweisungen sind dann überflüssig, und Demosthenes' Einfluß wird beendet werden. Wenn Sie nicht augenblicklich handeln, können Sie mich für die Konsequenzen nicht verantwortlich machen.«

Unter diesen Bericht setzte Qing-jao den Namen ihres Vaters und den Befehlscode, den er ihr gegeben hatte; ihr Name würde dem Kongreß nichts bedeuten, doch seinem würde man Beachtung schenken, und die Hinzufügung seines Befehlscodes würde sicherstellen, daß die Kongreßmitglieder, die ein besonderes Interesse an seiner Arbeit hatten, sie auch empfangen würden.

Nachdem Qing-jao die Nachricht geschrieben hatte, sah sie der Erscheinung vor ihr in die Augen. Während ihre linke Hand auf Wang-mus zitternder Schulter lag und die rechte auf der Sendetaste, setzte sie zu ihrer letzten Herausforderung an. »Wirst du mich aufhalten, oder wirst du dies zulassen?«

Worauf Jane antwortete: »Wirst du einen Ramann töten, der keiner lebenden Seele je Schaden zugefügt hat, oder wirst du mich leben lassen?«

Qing-jao drückte die Sendetaste. Jane nickte leicht und verschwand.

Es würde einige Sekunden dauern, bis der Hauscomputer die Nachricht an den nächsten Verkürzer überspielt hatte; von dort aus würde sie augenblicklich zu jeder befugten Kongreß-Empfangsstelle auf jeder der Hundert Welten und auch auf viele Kolonien gesendet werden. Bei den meisten Computern würde sie nur eine von vielen eingehenden Nachrichten sein; doch bei einigen würde Vaters Befehlscode dafür sorgen, daß sie von jemandem gelesen wurde, der die Konsequenzen begreifen und dementsprechend reagieren würde. Falls Jane die Nachricht tatsächlich durchgelassen hatte.

Also wartete Qing-jao auf eine Antwort. Vielleicht antwortete niemand sofort, weil die einzelnen Stellen erst Kontakt miteinander aufnehmen, die Nachricht diskutieren und dann entscheiden mußten, was zu tun sei. Vielleicht erschien deshalb keine Antwort in dem leeren Display über ihrem Terminal.

Die Tür wurde geöffnet. Das würde Mu-pao mit dem Spielecomputer sein. »Stell ihn in die Ecke neben dem linken Fenster«, sagte Qing-jao, ohne hinzusehen. »Vielleicht brauche ich ihn noch, obwohl ich es nicht hoffen will.«

»Qing-jao.«

Es war Vater, nicht Mu-pao. Qing-jao drehte sich zu ihm um und kniete augenblicklich nieder, um ihre Ehrerbietung zu zeigen – aber auch ihren Stolz. »Vater, ich habe deinen Bericht an den Kongreß abgeschickt. Während du mit den Göttern kommuniziert hast, konnte ich das Feindprogramm neutralisieren und in der Nachricht erklären, wie es zu zerstören ist. Ich warte auf Antwort.«

Sie wartete auf Vaters Lob.

»Du hast es getan?« fragte er. »Ohne auf mich zu warten? Du hast direkt mit dem Kongreß gesprochen und mich nicht um meine Erlaubnis gebeten?«

»Du mußtest dich reinigen, Vater. Ich habe deinen Auftrag ausgeführt.«

»Aber dann… wird Jane sterben.«

»Soviel steht fest«, sagte Qing-jao. »Ob der Kontakt mit der Lusitania-Flotte wiederhergestellt werden wird, kann ich nicht genau sagen.« Plötzlich fiel ihr ein Schwachpunkt in ihrem Plan ein. »Aber die Computer der Flotte werden auch von diesem Programm verseucht sein! Wenn der Kontakt wiederhergestellt wird, kann sich das Programm einfach überspielen und… aber dann müssen wir die Verkürzer lediglich noch einmal abschalten…«

Vater sah sie nicht an. Er sah zu dem Terminaldisplay hinter ihr. Qing-jao drehte sich um.

Es war eine Nachricht vom Kongreß, mit dem offiziellen Siegel versehen. Sie war sehr kurz und in dem knappen Stil der Bürokratie gehalten.


Han:

Brillante Arbeit.

Haben Ihre Vorschläge als unsere Befehle weitergeleitet.

Kontakt mit der Flotte bereits wiederhergestellt.

Half Tochter gemäß Ihrer Mitteilung 14FE.3A?

Wenn ja, Orden für Sie beide.


»Dann ist es geschehen«, murmelte Vater. »Sie werden Lusitania vernichten, die Pequeninos, all diese unschuldigen Menschen.«

»Nur, wenn die Götter es wollen«, sagte Qing-jao. Sie war überrascht, daß Vater so mürrisch klang.

Wang-mu hob den Kopf von Qing-jaos Schoß; ihr Gesicht war vom Weinen rot und naß. »Und Jane und Demosthenes werden auch sterben«, sagte sie.

Qing-jao ergriff Wang-mu an der Schulter und hielt sie eine Armlänge entfernt. »Demosthenes ist eine Verräterin«, sagte sie, doch Wang-mu wandte nur den Blick von ihr ab und sah zu Han Fei-tzu. Qing-jao sah ihren Vater ebenfalls an. »Und Jane – Vater, du hast gesehen, wie gefährlich sie war.«

»Sie hat versucht, uns zu retten«, sagte Vater, »und wir haben es ihr gedankt, indem wir ihre Zerstörung in die Wege leiteten.«

Qing-jao konnte nichts sagen, sich nicht bewegen, konnte Vater nur anstarren, als er sich über ihre Schulter beugte und die Speicher- und dann die Sendetaste berührte.

»Jane«, sagte Vater. »Wenn du mich hörst. Bitte verzeih mir.«

Vom Terminal kam keine Antwort.

»Mögen alle Götter mir verzeihen«, sagte Vater. »Ich war schwach in einem Augenblick, da ich hätte stark sein müssen, und so hat meine Tochter in meinem Namen schuldlos Böses getan.« Er erschauderte. »Ich muß… mich reinigen.« Die Worte schmeckten eindeutig wie Galle in seinem Mund. »Diesmal wird es ewig dauern, da bin ich mir sicher.«

Er trat von dem Computer zurück, wandte sich ab und verließ das Zimmer. Wang-mu fing wieder an zu weinen. Ein dummes, bedeutungsloses Heulen, dachte Qing-jao. Das ist der Augenblick des Sieges. Nur, daß Jane mir den Sieg entrissen hat; während ich über sie triumphiere, triumphiert sie über mich. Sie hat mir meinen Vater gestohlen. Obwohl er den Göttern noch mit seinem Körper dient, dient er ihnen nicht mehr im Herzen.

Doch mit dem Schmerz dieser Erkenntnis kam eine heiße Freude: Ich war stärker. Ich war schließlich doch noch stärker als Vater. Als es zur Prüfung kam, habe ich den Göttern gedient, während er zusammenbrach, stürzte, scheiterte. Das bedeutet mir mehr, als ich mir jemals erträumt habe. Ich bin ein würdiges Werkzeug in den Händen der Götter; wer weiß, wie sie mich jetzt führen werden?

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