Kapitel 3 Saubere Hände


›Das Unangenehmste an den Menschen ist, daß sie keine Metamorphose durchlaufen. Dein Volk und meins, wir werden als Raupen geboren, doch wir verwandeln uns in eine höhere Form, bevor wir uns reproduzieren. Die Menschen bleiben ihr Leben lang Raupen.‹

›Menschen vollziehen eine Metamorphose. Sie verändern ständig ihre Identität. Doch jede neue Identität beruht auf der Täuschung, sie habe sich schon immer im Besitz des Körpers befunden, den sie gerade erobert hat.‹

›Solche Veränderungen sind oberflächlich. Die Natur des Organismus bleibt gleich. Menschen sind sehr stolz auf ihre Veränderungen, doch jede eingebildete Verwandlung stellt sich als neue Entschuldigung dafür heraus, sich genauso zu benehmen, wie sich das Individuum schon immer benommen hat.‹

›Du bist zu verschieden von den Menschen, um sie jemals zu verstehen.‹

›Du bist den Menschen zu ähnlich, um sie jemals deutlich zu sehen.‹


Die Götter sprachen zum ersten Mal zu Han Qing-jao, als sie sieben Jahre alt war. Eine Weile begriff sie gar nicht, daß sie die Stimme eines Gottes hörte. Sie wußte nur, daß ihre Hände schmutzig waren, bedeckt von irgendeinem abscheulichen, unsichtbaren Schleim, und sie sich säubern mußte.

Die ersten paar Male genügte es, die Hände einfach zu waschen, und sie fühlte sich danach tagelang besser. Doch als die Zeit verstrich, stellte sich das Gefühl, schmutzig zu sein, jedesmal früher ein, und sie mußte die Hände immer länger abschrubben, um den Schmutz zu entfernen, bis sie sie mehrere Male am Tag wusch und dabei mit einer harten Bürste auf ihre Hände einstach, bis sie bluteten. Erst wenn der Schmerz unerträglich war, fühlte sie sich wieder sauber, und dann jedesmal auch nur für ein paar Stunden.

Sie erzählte niemandem davon; instinktiv wußte sie, daß sie den Schmutz an ihren Händen geheimhalten mußte. Jeder wußte, daß das Händewaschen eins der ersten Zeichen dafür war, daß die Götter zu einem Kind sprachen, und die meisten Eltern auf der ganzen Welt des Weges achteten bei ihren Kindern hoffnungsvoll auf Anzeichen übertriebener Besorgnis um Reinlichkeit. Doch diese Menschen verstanden nicht, welch schreckliche Selbsterkenntnis zu den Waschungen führte: Die erste Botschaft der Götter galt der unaussprechlichen Schmutzigkeit derjenigen, zu denen sie sprachen. Qing-jao verbarg, daß sie sich die Hände wusch, nicht, weil sie sich schämte, daß die Götter zu ihr sprachen, sondern weil sie überzeugt war, daß die anderen sie alle verachten würden, wüßten sie, wie schmutzig sie war.

Die Götter verschworen sich mit ihr in ihrer Verstohlenheit. Sie gestatteten ihr, das wilde Schrubben ihrer Handflächen zu verbergen. Das bedeutete, wenn ihre Hände arg verletzt waren, konnte sie sie zu Fäusten zusammenballen oder in die Falten ihre Kleides stecken, wenn sie ging, oder sie sehr verstohlen in den Schoß legen, wenn sie saß, und niemand bemerkte es. Die anderen sahen nur ein sehr gut erzogenes kleines Mädchen.

Hätte ihre Mutter noch gelebt, wäre Qing-jaos Geheimnis viel früher entdeckt worden. Doch so dauerte es Monate, bis es einer Dienerin auffiel. Die fette alte Mu-pao bemerkte zufällig einen Blutfleck auf dem kleinen Tischtuch von Qing-jaos Frühstückstisch. Mu-pao wußte sofort, was das zu bedeuten hatte – waren blutige Hände nicht ein frühes Zeichen für die Aufmerksamkeit der Götter? Deshalb zwangen viele ehrgeizige Eltern ein besonders vielversprechendes Kind, sich ständig zu waschen. Auf der ganzen Welt des Weges galt demonstratives Händewaschen als ›Einladung an die Götter‹.

Mu-pao ging sofort zu Qing-jaos Vater, dem edlen Han Fei-tzu, angeblich der größte all jener, zu denen die Götter sprachen, und einer der wenigen, die in den Augen der Götter so mächtig waren, daß sie sich mit Framlingen – Außenweltlern – treffen konnten, ohne auch nur eine Andeutung über die Stimme der Götter in ihnen fallen zu lassen und somit das göttliche Geheimnis der Welt Weg zu bewahren. Er würde dankbar sein, die Nachricht zu vernehmen, und Mu-pao würde beschenkt werden, weil sie die erste gewesen war, die die Götter in Qing-jao gesehen hatte.

Innerhalb von einer Stunde hatte Han Fei-tzu seine geliebte kleine Qing-jao herausgeputzt, und gemeinsam machten sie sich in einer Sänfte auf zum Tempel in Rockfall. Qing-jao mochte es nicht, in einer Sänfte zu sitzen – ihr taten die Männer leid, die ihr Gewicht tragen mußten. »Sie leiden nicht«, sagte Vater zu ihr, als sie diese Vorstellung zum ersten Mal erwähnte. »Sie fühlen sich überaus geehrt. Es ist eine der Möglichkeiten, wie das Volk den Göttern Ehre erweisen kann – wenn ein Gottberührter zu einem Tempel geht, tut er es auf den Schultern des Volkes von Weg.«

»Aber ich werde jeden Tag größer«, erwiderte Qing-jao.

»Wenn du zu groß bist, wirst du entweder zu Fuß gehen oder in deiner eigenen Sänfte«, sagte Vater. Er mußte ihr nicht erklären, daß sie nur einen eigenen Stuhl bekommen würde, falls sie zu einer Gottberührten heranwuchs. »Und wir versuchen, unsere Bescheidenheit zu zeigen, indem wir sehr dünn und leicht bleiben, damit wir den Leuten keine schwere Last sind.« Das war natürlich ein Scherz, da Vaters Bauch zwar nicht gewaltig, aber doch recht ansehnlich war. Doch die Lektion hinter dem Scherz entsprach der Wahrheit: Die Gottberührten durften dem gewöhnlichen Volk von Weg niemals zur Last fallen. Das Volk mußte immer dankbar sein und niemals wütend, daß die Götter von allen Welten ausgerechnet die ihre erwählt hatten, um ihre Stimmen hören zu lassen.

Doch nun war Qing-jao eher über die vor ihr liegende Prüfung besorgt. Sie wußte, daß sie zu einem Test geführt wurde. »Vielen Kindern wird beigebracht, so zu tun, als sprächen die Götter zu ihnen«, erklärte Vater. »Wir müssen herausfinden, ob dich die Götter wirklich auserwählt haben.«

»Ich will nicht, daß mich die Götter auserwählen«, sagte Qing-jao.

»Und während der Prüfung wirst du es noch viel weniger wollen«, sagte Vater. Seine Stimme war von Mitleid erfüllt. Das machte Qing-jao noch mehr Angst. »Das gewöhnliche Volk sieht nur unsere Macht und Privilegien und beneidet uns. Die Menschen wissen nicht, wie sehr die Gottberührten auch leiden. Wenn die Götter zu dir sprechen, meine Qing-jao, wirst du lernen, das Leiden zu ertragen, wie die Jade das Messer des Schnitzers erträgt, den groben Stoff des Polierers. Es wird dich leuchten lassen. Warum sonst habe ich dich wohl Qing-jao genannt?«

Qing-jao – ›Strahlend Hell‹, das bedeutete ihr Name. Es war auch der Name einer großen Dichterin aus antiken Zeiten im Alten China. Einer Dichterin aus einer Epoche, als nur den Männern Respekt entgegengebracht wurde, und doch wurde sie als eine der größten Dichterinnen ihrer Zeit verehrt. ›Dünner Nebel und dicke Wolken, Düsternis den ganzen Tag über.‹ Das war der Anfang von Li Qing-jaos Lied ›Die doppelte Neunte‹. Und so fühlte sich Qing-jao nun.

Und wie endete das Gedicht? ›Nun wird mein Vorhang nur vom Westwind gehoben. Ich bin dünner als diese goldene Blüte geworden.‹ Würde auch sie so enden? Erklärte ihre Vorfahrin-des-Herzens ihr in diesem Gedicht, daß sich die Dunkelheit, die sich nun über sie senkte, nur heben würde, wenn die Götter aus dem Westen kamen, um ihre dünne, leichte, goldene Seele aus ihrem Körper zu nehmen? Es war zu schrecklich, jetzt, da sie erst sieben Jahre alt war, an den Tod zu denken, und doch kam ihr der Gedanke: Wenn ich bald sterbe, werde ich bald Mutter sehen und auch die große Li Qing-jao selbst.

Doch die Prüfung hatte nichts mit dem Tod zu tun, oder sollte es zumindest nicht. Sie war eigentlich ziemlich einfach. Vater führte sie in einen großen Raum, in dem drei alte Männer knieten. Sie kamen ihr zumindest wie Männer vor – es hätten auch Frauen sein können. Sie waren so alt, daß alle Unterscheidungsmerkmale verschwunden waren. Sie hatten nur die winzigsten Strähnen weißen Haars und keine Bärte, und sie waren in formlose Säcke gekleidet. Später würde Qing-jao erfahren, daß es sich bei ihnen um Tempeleunuchen handelte, Überlebende der alten Zeiten, bevor sich der Sternenwege-Kongreß einmischte und sogar freiwillige Selbstverstümmelung im Dienst einer Religion verbot. Nun jedoch waren sie geheimnisvolle, geisterhafte alte Geschöpfe, deren Hände sie berührten und ihre Kleidung erforschten.

Wonach suchten sie? Sie fanden ihre Eßstäbchen aus Elfenbein und nahmen sie ihr weg. Sie nahmen ihr die Schärpe ab, die sie um die Taille geschlungen hatte. Sie nahmen ihr die Schuhe ab. Später würde sie erfahren, daß man ihr diese Dinge abnahm, weil andere Kinder während der Prüfung so verzweifelt geworden waren, daß sie sich das Leben genommen hatten. Eins hatte sich die Eßstäbchen in die Nasenlöcher gesteckt und sich dann zu Boden geworfen, daß sich die Stäbchen ins Gehirn rammten. Ein anderes hatte sich mit der Schärpe erhängt. Ein anderes hatte die Schuhe in den Mund gesteckt, in den Hals hinabgezwungen und sich erstickt. Selbstmordversuche waren selten, doch am häufigsten schienen sie bei den intelligentesten Kindern vorzukommen, und da hauptsächlich bei Mädchen.

Die Alten gingen. Vater kniete neben Qing-jao nieder und sah ihr ins Gesicht. »Du mußt verstehen, Qing-jao, daß wir eigentlich nicht dich auf die Probe stellen. Nichts von dem, was du aus freiem Willen tun kannst, wird bei dem, was hier geschieht, etwas ändern. Wir stellen eigentlich die Götter auf die Probe, um zu sehen, ob sie entschlossen sind, zu dir zu sprechen. Wenn sie es sind, werden sie eine Möglichkeit finden, und wir werden es sehen, und du wirst diesen Raum als eine Gottberührte verlassen. Wenn nicht, dann wirst du hier herauskommen und für alle Zeiten von ihren Stimmen befreit sein. Ich kann dir nicht sagen, für welches Ergebnis ich bete, da ich es selbst nicht weiß.«

»Vater«, sagte Qing-jao, »was geschieht, wenn du dich meiner schämen mußt?« Allein der Gedanke erzeugte ein Prickeln in ihren Händen, als sei wieder Schmutz auf ihnen.

»Ich werde mich deiner nicht schämen.«

Dann klatschte er in die Hände. Einer der Alten kam wieder herein und trug ein schweres Becken. Er setzte es vor Qing-jao ab.

»Stecke die Hände hinein«, sagte Vater.

Das Becken war mit dicker, schwarzer Schmiere gefüllt. Qing-jao erschauderte. »Ich kann die Hände da nicht hineinstecken.«

Vater griff nach ihr, faßte ihre Unterarme und zwang ihre Hände in den Schlamm. Qing-jao schrie auf – ihr Vater hatte noch nie zuvor bei ihr Gewalt angewendet. Und als er ihre Arme losließ, waren ihre Hände mit klebriger Schmiere bedeckt. Sie keuchte auf, als sie sah, wie schmutzig sie waren.

Der Alte hob das Becken auf und trug es hinaus.

»Wo kann ich mich waschen, Vater?« wimmerte Qing-jao.

»Du kannst dich nicht waschen«, sagte Vater. »Du kannst dich nie mehr waschen.«

Und weil Qing-jao ein Kind war, glaubte sie ihm, ohne zu argwöhnen, daß seine Worte Teil der Prüfung waren. Sie beobachtete, wie Vater den Raum verließ. Sie hörte, wie die Tür hinter ihm zuschlug. Sie war allein.

Zuerst streckte sie die Hände einfach weit aus und vergewisserte sich, daß sie keinen Teil ihrer Kleidung berührten. Sie suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, sich zu waschen, aber es gab kein Wasser, nicht einmal ein Tuch. Der Raum war nicht gerade spärlich eingerichtet – es gab Stühle, Tische, Statuen, große Steinkrüge –, aber alle Oberflächen waren hart und poliert und so sauber, daß sie den Gedanken nicht ertragen konnte, sie zu berühren. Doch der Schmutz an ihren Händen war unerträglich. Sie mußte sie säubern.

»Vater!« rief sie laut. »Komm und wasch meine Hände!« Bestimmt konnte er sie hören. Bestimmt war er irgendwo in der Nähe und wartete das Ergebnis der Prüfung ab. Er mußte sie hören – doch er kam nicht.

Der einzige Stoff in dem Raum war das Gewand, das sie trug. Sie konnte sich die Hände daran abwischen, doch dann würde sie die Schmiere mit sich herumtragen; vielleicht geriet sie an andere Teile ihres Körpers. Die Lösung bestand natürlich darin, sich auszuziehen – doch wie konnte sie das, ohne mit ihren schmutzigen Händen einen anderen Teil ihres Körpers zu berühren?

Sie versuchte es. Zuerst kratzte sie an den glatten Armen einer Statue soviel Schleim wie möglich ab. Verzeih mir, sagte sie zu der Statue, für den Fall, daß sie einem Gott gehörte. Ich werde danach zurückkommen und dich säubern; ich werde dich mit meinem eigenen Gewand säubern.

Dann griff sie über die Schultern zurück und umfaßte auf dem Rücken den Stoff, zerrte das Gewand nach oben, um es über den Kopf zu ziehen. Ihre schmutzigen Finger glitten von der Seide ab; sie fühlte die Schmiere kalt auf ihrem nackten Rücken, als er die Seide durchdrang. Ich werde sie danach waschen, dachte sie.

Endlich bekam sie den Stoff so fest in den Griff, daß sie das Gewand herunterbekam. Es glitt über ihren Kopf, doch noch bevor sie es vollständig ausgezogen hatte, wußte sie, daß die Dinge schlimmer denn je waren, denn ein Teil der Schmiere war nun in ihrem langen Haar, und dieses Haar war auf ihr Gesicht gefallen, und nun hatte sie den Schmutz nicht nur an den Händen, sondern auch auf dem Rücken, im Haar und auf dem Gesicht.

Doch sie versuchte es. Sie bekam das Gewand endgültig herunter und wischte die Hände dann sorgfältig an einem kleinen Teil des Stoffes ab. Dann wischte sie mit einem anderen Teil ihr Gesicht ab. Doch es half nichts. Ganz gleich, was sie tat, ein Teil der Schmiere blieb an ihr haften. Ihr Gesicht fühlte sich an, als habe die Seide ihres Gewandes den Dreck nur auf ihr verschmiert, anstatt ihn zu entfernen. Sie war nie im Leben so hoffnungslos schmutzig gewesen. Es war unerträglich, und dennoch konnte sie den Schmutz nicht loswerden.

»Vater! Komm und hol mich! Ich will keine Gottberührte sein!« Er kam nicht. Sie fing an zu weinen.

Doch je mehr sie weinte, desto schmutziger kam sie sich vor. Der verzweifelte Drang, sich zu säubern, war sogar stärker als ihr Weinen. Während die Tränen also ihr Gesicht hinabliefen, suchte sie verzweifelt nach einer Möglichkeit, die Schmiere von ihren Händen zu bekommen. Erneut versuchte sie es mit der Seide ihres Gewandes, doch schon nach kurzer Zeit glitt sie durch den Raum, wischte die Hände an den Wänden ab und verschmierte sie mit Schmutz. Sie rieb die Handflächen so schnell an der Wand, daß Hitze entstand und der Schmutz schmolz. Das machte sie immer wieder, bis ihre Hände rot waren, bis ein Teil der weichgewordenen Kruste auf ihren Handflächen abfiel.

Als ihre Handflächen und Finger so sehr schmerzten, daß sie die Schmiere nicht mehr darauf fühlte, wischte sie ihr Gesicht mit den Händen ab und scharrte mit den Nägeln über die Haut, um den Schmutz dort abzukratzen. Als ihre Hände dann wieder schmutzig waren, rieb sie sie erneut an den Wänden ab.

Schließlich sank sie erschöpft zu Boden und weinte. Ihre Augen schlossen sich vor Tränen. Tränen strömten ihre Wangen hinab. Sie rieb die Augen, die Wangen – und fühlte, wie die Tränen ihre Haut beschmutzten. Sie glaubte mit Sicherheit zu wissen, was das zu bedeuten hatte. Die Götter hatten ihr Urteil über sie gefällt und sie für unrein befunden. Sie war des Lebens nicht wert. Wenn sie sich nicht säubern konnte, mußte sie sich auslöschen. Das würde sie zufriedenstellen. Das würde die Qual von alledem erleichtern. Sie mußte nur eine Möglichkeit finden, wie sie sterben konnte. Zu atmen aufhören. Vater würde es leid tun, daß er nicht gekommen war, als sie ihn gerufen hatte, doch daran konnte sie nichts ändern. Sie stand nun unter der Macht der Götter, und die hatten sie für unwürdig befunden, unter den Lebenden zu weilen. Was für ein Recht hatte sie schließlich, noch zu atmen, nachdem die Tore von Mutters Lippen seit so vielen Jahren keine Luft mehr hindurchließen?

Sie wollte zuerst ihr Gewand benutzen, dachte daran, es sich in den Mund zu stopfen, bis sie nicht mehr atmen konnte, oder es um ihren Hals zu schlingen, um sich zu erwürgen – doch es war viel zu schmutzig, viel zu sehr mit Schmiere bedeckt. Sie mußte einen anderen Weg finden.

Qing-jao ging zur Wand und drückte sich dagegen. Massives Holz. Sie beugte sich zurück und schlug mit dem Kopf dagegen. Schmerz zuckte durch ihren Kopf; benommen sank sie auf den Boden. Ihr Kopf tat weh. Der Raum drehte sich langsam um sie. Einen Augenblick lang vergaß sie, wie schmutzig ihre Hände waren.

Doch die Erleichterung währte nicht lange. Sie konnte auf der Wand eine etwas dunklere Stelle sehen, an der die Schmiere von ihrer Stirn die glänzend polierte Oberfläche aufgebrochen hatte. Die Götter sprachen in ihr und beharrten, sie sei so schmutzig wie eh und je. Ein wenig Schmerz konnte ihre Unwürdigkeit nicht ausgleichen.

Erneut schlug sie mit dem Kopf gegen die Wand. Diesmal war der Schmerz jedoch nicht annähernd so stark. Und noch einmal, noch einmal – und nun begriff sie, daß ihr Körper gegen ihren Willen vor dem Schlag zurückzuckte, sich weigerte, sich selbst soviel Schmerz zuzufügen. Das half ihr zu verstehen, wieso die Götter sie für so unwürdig hielten – sie war zu schwach, um ihren Körper zu zwingen, ihr zu gehorchen. Aber sie war nicht hilflos. Sie konnte ihren Körper austricksen, sich ihr zu unterwerfen.

Sie wählte die größte der Statuen aus, eine von vielleicht drei Metern. Es war ein Bronzeguß eines schreitenden Mannes, der ein Schwert über den Kopf gehoben hatte. Es gab genug Winkel und Hervorstrebungen, die sie hinaufklettern konnte. Ihre Hände glitten immer wieder aus, doch sie hielt durch, bis sie auf den Schultern der Statue balancierte, und hielt sich mit der einen Hand an dem Helm, mit der anderen an dem Schwert fest.

Als sie das Schwert berührte, überlegte sie einen Augenblick lang, sich daran die Kehle aufzuschneiden – dann konnte sie doch nicht mehr atmen, oder? Aber die Klinge war nicht echt. Sie war nicht scharf, und Qing-jao konnte den Hals nicht im richtigen Winkel herunterbekommen. Also griff sie auf ihren ursprünglichen Plan zurück.

Sie atmete mehrmals tief ein, schlug dann die Hände hinter den Nacken und ließ sich nach vorn kippen. Sie würde mit dem Kopf aufschlagen; das würde ihre Beschmutzung beenden.

Als sie dem Boden entgegenstürzte, verlor sie jedoch die Herrschaft über sich. Sie schrie; sie fühlte, wie sich die Hände von ihrem Nacken lösten und nach vorn schlugen, um ihren Sturz zu dämpfen. Zu spät, dachte sie mit grimmiger Befriedigung, und dann prallte ihr Kopf auf den Boden, und alles wurde schwarz.


Qing-jao erwachte mit einem dumpfen Schmerz im Arm und einem scharfen Stechen im Kopf – aber sie lebte. Als sie es ertragen konnte, die Augen zu öffnen, sah sie, daß der Raum dunkler war. War draußen Nacht? Wie lange hatte sie geschlafen? Sie hielt es nicht aus, den linken Arm zu bewegen, den, der ihr weh tat; sie konnte eine häßliche rote Prellung am Ellbogen sehen und glaubte, sich den Arm beim Sturz gebrochen zu haben.

Sie sah auch, daß ihre Hände noch immer dreckverschmiert waren, und fühlte ihre unerträgliche Schmutzigkeit: das Urteil der Götter gegen sie. Sie hätte doch nicht versuchen sollen, sich das Leben zu nehmen. Die Götter würden ihr nicht so leicht erlauben, ihrem Urteil zu entkommen.

Was kann ich tun? dachte sie bittend. Wie kann ich vor euch rein sein, O Götter? Li Qing-jao, meine Vorfahrin-des-Herzens, zeige mir, wie ich mich würdig machen kann, das freundliche Urteil der Götter zu empfangen!

Ihr kam eins von Li Qing-jaos Liebesliedern in den Sinn: ›Trennung‹. Es war eins der ersten, das Vater ihr zum Auswendiglernen gegeben hatte, als sie erst drei Jahre alt war, kurz bevor er und Mutter ihr erklärten, daß Mutter sterben würde. Es war jetzt genau angemessen, denn war sie nicht vom guten Willen der Götter getrennt? Mußte sie nicht wieder mit ihnen ausgesöhnt werden, damit sie sie als eine in Empfang nahmen, die wirklich gottberührt war?

Jemand schickte

einen Liebesbrief

in Linien zurückkehrender Gänse

und als der Mond

mein Westzimmer füllt

als Blumenblätter tanzen

über dem fließenden Strom

denke ich wieder an dich

an uns beide

die wir in Trauer leben

getrennt

ein Schmerz der nicht genommen werden kann

doch wenn mein Blick sich senkt

bleibt mein Herz oben

Der Mond, der das Westzimmer erfüllte, verriet ihr, daß es wirklich ein Gott und nicht ein gewöhnlicher menschlicher Liebhaber war, nach dem in diesem Gedicht geschmachtet wurde – Verweise auf den Westen bedeuteten immer, daß die Götter im Spiel waren. Li Qing-jao hatte das Gebet der kleinen Han Qing-jao beantwortet und ihr dieses Gedicht geschickt, um ihr zu erklären, wie man den Schmerz heilt, den man nicht nehmen kann – die Schmutzigkeit ihres Fleisches.

Was ist der Liebesbrief? dachte Qing-jao. Linien zurückkehrender Gänse – doch in diesem Raum gab es keine Gänse. Blumenblätter, die über einem fließenden Strom tanzen – doch hier gab es keine Blumenblätter, hier gab es keinen Strom.

›Doch wenn mein Blick sich senkt, bleibt mein Herz oben.‹ Das war der Hinweis, das war die Antwort, sie wußte es. Langsam und vorsichtig rollte sich Qing-jao auf den Bauch. Als sie einmal versuchte, ihre linke Hand zu belasten, krümmte sich ihr Ellbogen, und ein stechender Schmerz ließ sie fast wieder das Bewußtsein verlieren. Schließlich kniete sie, den Kopf gesenkt, und blickte nach unten. Das Gedicht versprach ihr, daß dies ihr Herz oben bleiben lassen würde.

Sie fühlte sich nicht besser – noch immer schmutzig, noch immer voller Schmerzen. Als sie hinabschaute, sah sie nichts bis auf die polierten Bodenbretter; die Maserung des Holzes, deren gekräuselte Linien von der Stelle zwischen ihren Knien bis zum Rand des Raumes verliefen.

Linien. Linien der Holzmaserung, Linien aus Gänsen. Und konnte man die Holzmaserung nicht auch als fließende Ströme sehen? Sie mußte diesen Linien folgen wie den Gänsen; sie mußte wie ein Blumenblatt über diese fließenden Ströme tanzen. Das war die Bedeutung des Versprechens: Wenn ihr Blick sich senkte, würde ihr Herz oben bleiben.

Sie fand eine ganz besondere Linie in der Holzmaserung, eine dunkle Linie, wie ein Fluß, der sich durch einen helleren Wald schlängelt, und wußte sofort, daß dies der Strom war, dem sie folgen sollte. Sie wagte es nicht, ihn mit ihrem Finger zu berühren – mit ihrem schmutzigen, unwürdigen Finger. Nur ihre Blicke konnten der Linie folgen.

Also schickte sie sich an, der Linie nachzuspüren, sie sorgfältig bis zur Wand zu verfolgen. Ein paar Mal bewegte sie sich so schnell, daß sie die Linie verlor, vergaß, welche es war; doch sie fand sie schnell wieder oder glaubte dies zumindest, und folgte ihr zur Wand. Reichte das aus? Waren die Götter zufrieden?

Fast, aber nicht ganz – sie konnte nicht sicher sein, daß ihr Blick zu der richtigen Linie zurückgekehrt war, als sie sie verloren hatte. Blumenblätter wechseln nicht von einem Strom zum anderen. Sie mußte der richtigen Linie folgen, über die gesamte Länge. Diesmal fing sie bei der Wand an und bückte sich sehr tief, so daß ihre Augen nicht einmal von den Bewegungen ihrer eigenen rechten Hand abgelenkt wurden. Zentimeter um Zentimeter folgte sie der Linie, blinzelte dabei nicht einmal, gleichgültig, wie stark ihre Augen brannten. Sie wußte, wenn sie die Maserung verlor, der sie folgte, mußte sie wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren und von vorn anfangen. Es mußte perfekt gemacht werden, oder es würde alle Macht verlieren, sie zu reinigen.

Es dauerte ewig. Sie blinzelte doch. Als ihre Augen zu sehr brannten, senkte sie den Kopf, bis sich das linke Auge direkt über der Maserung befand. Dann schloß sie das andere Augen einen Moment lang. Nachdem sich das rechte Auge erholt hatte, öffnete sie es, hielt nun dieses Auge direkt über die Linie im Holz und schloß das linke. Auf diese Art gelang es ihr, es halbwegs durch den Raum zu schaffen, bis das Brett endete und an ein anderes stieß.

Sie war sich nicht sicher, ob es reichte, dieses Brett zu Ende zu verfolgen oder ob sie eine neue Linie in der Maserung suchen und weiterverfolgen mußte. Sie tat so, als wolle sie aufstehen, stellte die Götter auf die Probe, um zu sehen, ob sie zufrieden waren. Sie erhob sich halbwegs, spürte nichts; sie stand, und noch immer ging es ihr gut.

Ah! Sie waren zufrieden mit ihr. Nun fühlte sich die Schmiere auf ihrer Haut kaum anders als Öl an. Es bestand kein Grund, sich zu waschen, denn sie hatte eine andere Möglichkeit gefunden, sich zu reinigen, eine andere Möglichkeit für die Götter, sie zu disziplinieren. Langsam legte sie sich wieder auf den Boden, lächelte, weinte leise vor Freude. Li Qing-jao, meine Vorfahrin-des-Herzens, danke, daß du mir den Weg gezeigt hast. Nun habe ich mich zu den Göttern gesellt; die Trennung ist vorüber. Mutter, ich bin erneut mit dir verbunden, sauber und würdig. Weißer Tiger des Westens, nun bin ich rein genug, um dein Fell zu berühren und keinen Abdruck des Schmutzes zu hinterlassen.

Dann berührten Hände sie – Vaters Hände, die sie hochhoben. Wassertropfen fielen auf ihr Gesicht, die nackte Haut ihres Körpers – Vaters Tränen. »Du lebst«, sagte er. »Meine Tochter, zu der die Götter sprechen, mein Schatz, mein Leben, ›Strahlend Hell‹, du leuchtest weiter.«

Später würde sie erfahren, daß Vater während ihrer Prüfung gefesselt und geknebelt werden mußte, daß er sich, als sie auf die Statue kletterte und Anstalten machte, ihre Kehle auf das Schwert zu drücken, mit solcher Kraft nach vorn warf, daß der Stuhl umkippte und er mit dem Kopf auf den Boden schlug. Das wurde als große Gnade betrachtet, da es ihm ersparte, ihren schrecklichen Sturz von der Statue beobachten zu müssen. Die ganze Zeit, die sie bewußtlos dalag, weinte er um sie. Und als sie sich dann auf die Knie erhob und die Holzmaserungen im Boden aufzuspüren begann, war er derjenige, der begriff, was es zu bedeuten hatte. »Seht«, flüsterte er. »Die Götter haben ihr eine Aufgabe gegeben. Die Götter sprechen zu ihr.«

Die anderen verstanden es nur langsam, denn sie hatten noch nie gesehen, daß jemand die Linien von Holzmaserungen verfolgte. Es stand nicht im Verzeichnis der Stimmen der Götter: Tür-Warten, Gegenstände-Zählen, Zufällige-Morde-Überprüfen, Fingernägel-Ausreißen, Haut-Zerkratzen, Haare-Ausreißen, An-Steinen-Nagen – all das war als die Buße bekannt, die die Götter verlangten, als Rituale des Gehorsams, die die Seele des Gottberührten reinigten, so daß die Götter seinen Verstand mit Weisheit füllen konnten. Niemand hatte je gesehen, daß jemand Holzmaserungslinien verfolgte. Doch Vater sah, was sie tat, gab dem Ritual einen Namen und fügte es dem Verzeichnis der Stimmen hinzu. Es würde für immer ihren Namen tragen, Han Qing-jao, als die erste, die von den Göttern den Befehl erhalten hatte, diesen Ritus zu vollziehen. Es machte sie zu etwas ganz Besonderem.

Das galt auch für ihren ungewöhnlichen Einfallsreichtum, Möglichkeiten zu finden, ihre Hände zu säubern und, später, sich zu töten. Viele hatten natürlich versucht, die Hände an den Wänden abzuwischen, und die meisten, sie an ihrer Kleidung zu säubern. Aber die Hände zu reiben, um Reibungswärme zu erzeugen, das galt als selten und klug. Und während das Schlagen des Kopfes gegen die Wand üblich war, geschah es sehr selten, daß jemand auf eine Statue kletterte, heruntersprang und auf dem Kopf landete. Überall im Tempel sprach man darüber, und die Nachricht verbreitete sich bald in allen Tempeln auf Weg.

Es war natürlich auch eine große Ehre für Han Fei-tzu, daß seine Tochter so sehr von den Göttern besessen war. Und die Geschichte, wie er beinahe dem Wahnsinn verfallen wäre, als sie versuchte, sich zu töten, verbreitete sich genauso schnell und berührte viele Herzen. »Er mag der größte der Gottberührten sein«, sagte man über ihn, »doch er liebt seine Tochter mehr als das Leben.« Und deshalb liebten sie ihn so sehr, wie sie ihn schon immer verehrt hatten.

Danach begannen die Leute darüber zu flüstern, daß Han Fei-tzu selbst vielleicht göttlich sein könnte. »Er ist so groß und stark, daß die Götter auf ihn hören werden«, sagte die Leute, die ihm ihre Gunst geschenkt hatten. »Und doch ist er so hingebungsvoll, daß er die Menschen des Planeten Weg immer lieben und versuchen wird, Gutes für uns zu tun. Sollte der Gott einer Welt nicht genauso sein?« Natürlich war es unmöglich, schon jetzt zu einer Entscheidung zu gelangen – ein Mensch konnte erst nach seinem Tod zum Gott eines Dorfes, geschweige denn einer ganzen Welt erwählt werden. Wie sollte man wissen, was für ein Gott er sein würde, bis man sein gesamtes Leben kannte, vom Anfang bis zum Ende?

Als Qing-jao älter wurde, kam ihr dieses Geflüster oft zu Ohren, und das Wissen, daß ihr Vater vielleicht als Gott von Weg erwählt werden würde, wurde zu einem der Leuchtfeuer ihres Lebens. Doch die ganze Zeit über erinnerte sie sich daran, daß es seine Hände gewesen waren, die ihren geprellten und verdrehten Leib zum Bett der Heilung getragen hatten, daß es seine Augen gewesen waren, die warme Tränen auf ihre kalte Haut hatten fallen lassen, daß es seine Stimme gewesen war, die im wunderbar leidenschaftlichen Tonfall der alten Sprache geflüstert hatte: »Mein Schatz, meine ›Strahlend Helle‹, nimm niemals dein Licht von meinem Leben. Was auch geschieht, tue dir nie etwas an, oder ich werde bestimmt sterben.«

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