Kapitel 8 Wunder


›Ender hat sich in letzter Zeit oft an uns gewandt. Er besteht darauf, daß wir uns eine Möglichkeit ausdenken, schneller als das Licht zu reisen.‹

›Du hast gesagt, das sei unmöglich.‹

›Davon gehen wir aus. Davon gehen die menschlichen Wissenschaftler aus. Doch Ender besteht darauf, daß, wenn Verkürzer Informationen senden, es möglich sein sollte, Materie mit derselben Schnelligkeit zu übertragen. Das ist natürlich Unsinn – Information und physische Realität lassen sich nicht vergleichen.‹

›Warum will er unbedingt schneller als das Licht fliegen?‹

›Es ist eine lächerliche Idee, nicht wahr – vor seinem eigenen Bild irgendwo anzukommen. Als träte man durch einen Spiegel, um sich selbst auf der anderen Seite zu treffen.‹

›Ender und Wühler haben oft darüber gesprochen – ich habe sie gehört. Ender glaubt, daß Materie und Energie vielleicht nur aus Information bestehen. Daß die physische Wirklichkeit nichts anderes ist als die Nachricht, die die Philoten untereinander übertragen.‹

›Was sagt Wühler?‹

›Er sagt, Ender habe zur Hälfte recht. Wühler sagt, daß die psychische Wirklichkeit eine Nachricht ist – und diese Nachricht sei eine Frage, die die Philoten ständig Gott stellen.‹

›Wie lautet die Frage?‹

›Ein Wort: Warum?‹

›Und wie beantwortet Gott die Frage?‹

›Mit Leben. Wühler sagt, durch Leben gäbe Gott dem Universum Sinn.‹


Miros ganze Familie fand sich zu seiner Begrüßung ein, als er nach Lusitania zurückkehrte. Schließlich liebten sie ihn. Und er liebte sie, und nach einem Monat im Weltraum freute er sich auf ihre Gesellschaft. Er wußte, daß sein Monat im All für sie ein Vierteljahrhundert gewesen war. Er hatte sich auf die Falten in Mutters Gesicht vorbereitet und sogar darauf, daß Grego und Quara Erwachsene von über dreißig Jahren sein würden. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, daß sie Fremde sein würden. Nein, schlimmer als Fremde. Sie waren Fremde, die Mitleid mit ihm hatten und ihn zu kennen glaubten und wie zu einem Kind auf ihn hinabsahen. Sie alle waren älter als er. Und gleichzeitig jünger, denn der Schmerz und Verlust hatten sie nicht so stark berührt wie ihn.

Ela war, wie üblich, die beste von ihnen. Sie umarmte ihn, küßte ihn und sagte: »Du läßt mich so sterblich fühlen. Doch ich bin froh, dich so jung zu sehen.« Wenigstens hatte sie den Mut für das Eingeständnis, daß es eine Barriere zwischen ihnen gab, wenngleich sie auch so tat, diese Barriere sei seine Jugend. Fürwahr, Miro war genauso, wie sie sich an ihn erinnerten – zumindest sein Gesicht. Der lange verlorene Bruder kehrte von den Toten zurück; der Geist, der kommt, um als ewig Junger die Familie zu verfolgen. Doch die wirkliche Barriere war die Art und Weise, wie er sich bewegte. Wie er sprach.

Sie hatten offensichtlich vergessen, wie stark behindert er war, wie schlecht sein Körper dem beschädigten Gehirn gehorchte. Der schlurfende Gang, die verzerrte, schwer zu verstehende Sprache – ihre Gedächtnisse hatten all diese unangenehmen Dinge ausgelöscht, und sie erinnerten sich so an ihn, wie er vor dem Unfall gewesen war. Schließlich war er nur ein paar Monate behindert gewesen, bevor er auf seine Zeitdilations-Reise gegangen war. Es war nicht schwer, diese Zeit zu vergessen und sich statt dessen an den Miro zu erinnern, den sie so viele Jahre vor dem Unfall gekannt hatten. Stark, gesund, der einzige, der dem Mann die Stirn bieten konnte, den sie Vater genannt hatten. Sie konnten ihre Betroffenheit nicht verbergen. Er erkannte sie an ihrem Zögern, den ausweichenden Blicken, dem Versuch, einfach zu ignorieren, daß seine Worte so schwer zu verstehen waren, daß er so langsam ging.

Er spürte ihre Ungeduld. Nach ein paar Minuten konnte er feststellen, daß zumindest einige versuchten, von ihm wegzukommen. Noch so viel zu tun bis heute nachmittag. Wir sehen uns beim Abendessen. Diese ganze Sache war ihnen so unangenehm, daß sie fliehen mußten, Zeit benötigten, um sich an diesen Miro zu gewöhnen, der gerade zu ihnen zurückgekehrt war. Grego und Quara waren am meisten darauf bedacht, von ihm fortzukommen, und das traf ihn – sie hatten ihn einmal geradezu angebetet. Natürlich verstand er, daß es genau aus diesem Grund für sie so schwer war, sich mit dem gebrochenen Miro zu befassen, der vor ihnen stand.

»Wir haben uns überlegt, ob wir ein großes Familienessen abhalten«, sagte Ela. »Mutter wollte es, aber ich dachte, wir sollten noch damit warten und dir etwas Zeit lassen.«

»Hoffentlich habt ihr nicht die ganze Zeit mit dem Essen auf mich gewartet«, sagte Miro.

Nur Ela und Valentine schienen zu begreifen, daß er scherzte; sie waren die einzigen, die mit einem leisen Kichern darauf reagierten, mit einem leisen Kichern. Die anderen hatten seine Worte nicht einmal akustisch verstanden.

Sie standen im hohen Gras neben dem Landefeld, seine gesamte Familie: Mutter, nun über sechzig Jahre alt, das Haar stahlgrau, das Gesicht grimmig vor Konzentration, wie es immer gewesen war. Doch jetzt hatte sich dieser Ausdruck tief in die Linien auf ihrer Stirn und die Falten neben ihrem Mund gegraben. Er begriff plötzlich, daß sie eines Tages sterben würde. Wahrscheinlich nicht in den nächsten dreißig oder vierzig Jahren, aber eines Tages. Hatte er jemals erkannt, wie schön sie vorher gewesen war? Irgendwie hatte er geglaubt, die Ehe mit dem Sprecher für die Toten würde sie irgendwie weicher machen, wieder jung. Und vielleicht hatte sie das auch, vielleicht hatte Andrew Wiggin sie in ihrem Herzen jung gemacht. Aber der Körper war noch das, wozu die Zeit ihn gemacht hatte. Sie war alt.

Ela war in den Vierzigern. Sie hatte offenbar keinen Mann, doch vielleicht war sie verheiratet, und er war einfach nicht mitgekommen. Aber wahrscheinlich nicht. War sie mit ihrer Arbeit verheiratet? Sie schien ehrlich erfreut zu sein, ihn zu sehen, doch selbst sie konnte den Ausdruck von Mitleid und Besorgnis nicht verbergen. Hatte sie erwartet, daß ein Monat lichtschnellen Fluges ihn irgendwie heilen würde? Hatte sie geglaubt, er würde so stark und kühn wie ein raumfahrender Gott aus irgendeinem Liebesroman aus dem Shuttle treten?

Quim, nun im Priestergewand. Jane hatte Miro erzählt, daß sein nächstjüngerer Bruder ein großer Missionar war. Er hatte über ein Dutzend Pequeninowälder bekehrt, hatte sie getauft und mit Befugnis von Bischof Peregrino Priester unter ihnen geweiht, damit sie ihrem eigenen Volk die Sakramente geben konnten. Sie tauften alle Pequeninos, die aus den Mütterbäumen hervorgingen, alle Mütter, bevor sie starben, alle sterilen Gattinnen, die sich um die kleinen Mütter und ihren Nachwuchs kümmerten, alle Brüder, die einen ruhmreichen Tod suchten, und alle Bäume. Doch nur die Gattinnen und Brüder konnten die Kommunion empfangen, und was die Ehe betraf, war noch niemand auf eine sinnvolle Möglichkeit gekommen, wie man solch einen Ritus zwischen einem Vaterbaum und den blinden, geistlosen Larven, die sich mit ihnen paarten, vollziehen konnte. Doch Miro sah in Quims Augen eine gewisse Begeisterung. Er setzte seine Macht zum Guten ein; als einziger von der Familie Ribeira hatte Quim sein ganzes Leben lang gewußt, was er einmal werden wollte. Nun war er es geworden. Was interessierten ihn die theologischen Schwierigkeiten – er war der Paulus der Schweinchen, und es erfüllte ihn mit immerwährender Freude. Du hast Gott gedient, kleiner Bruder, und Gott hat dich zu seinem Jünger gemacht.

Auch Olhado stand da, die silbernen Augen strahlend, den Arm um eine wunderschöne Frau gelegt, umgeben von sechs Kindern. Obwohl alle Kinder ganz natürlich dreinblickten, hatten sie alle den losgelösten Ausdruck ihres Vaters angenommen. Sie beobachteten nicht, sie schauten einfach. Bei Olhado war das ganz natürlich gewesen; Miro kam der störende Gedanke, daß Olhado vielleicht eine Familie von Gaffern gezeugt hatte, wandelnden Aufnahmegeräten, die alles Geschehen aufzeichneten, um es später wieder abzuspielen, sich aber niemals in etwas verwickeln ließen. Aber nein, das mußte eine Täuschung sein. Miro war nie mit Olhado ausgekommen, und so bewirkte die Ähnlichkeit seiner Kinder mit ihm, daß Miro sich auch in deren Nähe unbehaglich fühlte. Die Mutter war dafür um so hübscher. Noch keine vierzig Jahre alt. Wie alt war sie gewesen, als Olhado sie geheiratet hatte? Was für eine Frau war sie, daß sie einen Mann mit künstlichen Augen akzeptierte? Zeichnete Olhado ihre Liebesspiele auf und spielte sie später wieder ab, damit sie wußte, wie sie in seinen Augen aussah?

Augenblicklich schämte sich Miro dieses Gedankens. Ist das alles, was mir einfällt, wenn ich Olhado sehe – seine Behinderung? Nach all den Jahren, die ich ihn kenne? Wie kann ich dann erwarten, daß sie bei mir etwas anderes sehen als meine Behinderungen, wenn sie mich betrachten?

Es war eine gute Idee gewesen, diesen Ort zu verlassen. Ich bin froh, daß Andrew Wiggin es vorgeschlagen hat. Der einzige Teil, der keinen Sinn ergibt, ist meine Rückkehr. Warum bin ich hier?

Fast gegen seinen Willen drehte sich Miro zu Valentine um. Sie lächelte ihm zu, legte den Arm und ihn und drückte ihn. »Es ist gar nicht so schlecht«, sagte sie.

Nicht so schlecht wie was?

»Ich habe nur noch den einen Bruder, der mich begrüßen kann«, sagte sie. »Zu deiner Begrüßung ist deine ganze Familie gekommen.«

»Genau«, sagte Miro.

Erst dann meldete sich Jane; er vernahm ihre Stimme im Ohr. »Nicht die ganze.«

Halt die Klappe, sagte Miro stumm.

»Nur einen Bruder?« sagte Andrew Wiggin. »Nur mich?« Der Sprecher für die Toten trat vor und umarmte seine Schwester. Doch entdeckte Miro in dieser Geste etwa Unbeholfenheit? War es möglich, daß Valentine und Andrew Wiggin verklemmt miteinander umgingen? Lachhaft. Die kühne, ungestüme Valentine und Wiggin, der Mann, der in ihr Leben eingedrungen war und ohne die geringste dá licença ihre Familie neu gebildet hatte. Konnten sie furchtsam sein? Konnten sie sich entfremdet haben?

»Du bist elend gealtert«, sagte Andrew. »Dünn wie ein Lattenzaun. Sorgt Jakt nicht anständig für dich?«

»Kocht Novinha nicht?« fragte Valentine. »Und du siehst dümmer denn je aus. Ich bin gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um Zeuge deiner kompletten geistigen Umwandlung in eine Pflanze zu werden.«

»Und ich dachte, du seiest gekommen, um die Welt zu retten.«

»Das Universum. Aber dich zuerst.«

Sie legte erneut einen Arm um Miro und den anderen um Andrew. »So viele von euch«, sagte sie dann zu den anderen, »doch ich habe das Gefühl, euch alle zu kennen. Ich hoffe, daß ihr bei mir und meiner Familie bald ebenso empfinden werdet.«

So freundlich. Und ihre Fähigkeit, irgendwie zu bewirken, daß sich andere Menschen in ihrer Gegenwart wohl fühlen. Sogar ich, dachte Miro. Sie hat die Menschen einfach im Griff. Genau wie Andrew Wiggin. Hat sie es von ihm gelernt, oder er von ihr? Oder war diese Eigenschaft ihrer Familie angeboren? Schließlich war Peter der höchste Manipulator aller Zeiten gewesen, der ursprüngliche Hegemon. Was für eine Familie. So ungewöhnlich wie meine. Nur, daß die ihre wegen ihres Genies ungewöhnlich ist und die meine wegen der Schmerzen, die wir so viele Jahre miteinander geteilt haben, wegen der Entstellung unserer Seelen. Und ich bin der seltsamste, der, dem der größte Schaden zugefügt wurde. Andrew Wiggin kam, um die Wunden zwischen uns zu heilen, und hat seine Sache gut gemacht. Doch die inneren Entstellungen – können die jemals geheilt werden?

»Wie wäre es mit einem Picknick?« fragte Miro.

Diesmal lachten alle. Wie war das, Andrew, Valentine? Kann ich auch mit ihnen umgehen? Trage ich dazu bei, daß alles glatt verläuft? Habe ich allen geholfen, so zu tun, als wären sie froh, mich zu sehen, als hätten sie irgendeine Ahnung, wer ich wirklich bin?

»Sie wollte kommen«, sagte Jane in Miros Ohr.

Halt die Klappe, sagte Miro erneut. Ich hätte sowieso nicht gewollt, daß sie kommt.

»Aber sie wird dich später sehen.«

Nein.

»Sie ist verheiratet. Sie hat vier Kinder.«

Das bedeutet mir jetzt nichts mehr.

»Sie hat seit Jahren nicht mehr deinen Namen im Schlaf gerufen.«

Ich dachte, du wärest meine Freundin.

»Das bin ich auch. Ich kann deine Gedanken lesen.«

Du bist eine alte Hexe, die sich in alles einmischt, und du kannst gar nichts lesen.

»Sie wird dich morgen früh besuchen. Im Haus deiner Mutter.«

Ich werde nicht dort sein.

»Du glaubst, du kannst vor ihr davonlaufen?«

Während seines Gesprächs mit Jane hatte Miro nichts von dem gehört, was die anderen um ihn herum sagten, doch das spielte keine Rolle. Valentines Mann und Kinder waren aus dem Schiff gekommen, und sie stellte sie allen vor. Besonders ihrem Onkel natürlich. Es überraschte Miro, wie ehrfürchtig sie mit ihm sprachen. Aber andererseits wußten sie natürlich, wer er wirklich war. Ender der Xenozide, ja, aber auch der Sprecher für die Toten, der Autor der Schwärmkönigin und des Hegemon. Miro wußte das jetzt natürlich auch, doch als er Wiggin kennenlernte, hatte Feindseligkeit zwischen ihnen geherrscht – er war nur ein umherziehender Sprecher für die Toten, der Priester einer humanistischen Religion, der es darauf abgesehen zu haben schien, Miros Familie von innen nach außen zu kehren. Was er auch getan hatte. Ich glaube, ich hatte mehr Glück als sie, dachte Miro. Ich lernte ihn als Mensch kennen, bevor ich erfuhr, daß er eine große Gestalt der Menschheitsgeschichte ist. Sie werden ihn wahrscheinlich niemals so kennen wie ich.

Und ich kenne ihn eigentlich überhaupt nicht. Ich kenne niemanden, und niemand kennt mich. Wir verbringen unser Leben damit, unentwegt zu vermuten, was in einem anderen vorgeht, und wenn wir Glück haben und richtig geraten haben, glauben wir, jemanden zu ›verstehen‹. So ein Unsinn. Selbst ein Affe an einem Computer wird dann und wann ein richtiges Wort eingeben.

Ihr kennt mich nicht, keiner von euch, sagte er stumm. Am wenigsten die alte Hexe, die sich in alles einmischt und in meinem Ohr wohnt. Hast du das gehört?

»Wie könnte ich dieses jämmerliche Wimmern überhören?«

Andrew legte das Gepäck auf den Wagen. Es war nur Platz für ein paar Passagiere. »Miro – willst du mit mir und Novinha fahren?«

Bevor er antworten konnte, hatte Valentine seinen Arm ergriffen. »Oh, tu das nicht«, sagte sie. »Gehe mit mir und Jakt. Wir haben so lange beengt auf dem Schiff gelebt.«

»Richtig so«, sagte Andrew. »Seine Mutter hat ihn fünfundzwanzig Jahre lang nicht gesehen, aber ihr wollt ihn auf einem Spaziergang mitnehmen. Ihr seid mir ja von der rücksichtsvollen Sorte.«

Andrew und Valentine behielten den hänselnden Tonfall bei, den sie von Anfang an zwischen sich begründet hatten, so daß sie seine Entscheidung, ganz gleich, wie sie ausfiel, lachend als eine Wahl zwischen den beiden Wiggins darstellen würden. Er mußte nicht sagen: Ich möchte fahren, weil ich ein Krüppel bin. Und er hatte keine Entschuldigung dafür, beleidigt zu sein, weil ihm jemand eine besondere Behandlung zukommen lassen wollte. Es geschah so feinfühlig, daß sich Miro fragte, ob Valentine und Andrew vorab darüber gesprochen hatten. Vielleicht mußten sie aber auch gar nicht über solche Dinge sprechen. Vielleicht hatten sie so viele Jahre gemeinsam verbracht, daß sie wußten, wie sie zusammenwirken mußten, um die Dinge für andere Menschen zu glätten, ohne großartig darüber nachdenken zu müssen. Wie Schauspieler, die schon so oft gemeinsam die gleichen Rollen gespielt hatten, daß sie ohne die geringste Verwirrung improvisieren konnten.

»Ich gehe zu Fuß«, sagte Miro. »Ich nehme den langen Weg. Geht ihr anderen schon vor.«

Novinha und Ela wollten protestieren, doch Miro sah, daß Andrew die Hand auf Novinhas Arm legte. Was Ela betraf, so ließ Quims Arm um ihre Schulter sie verstummen.

»Komm direkt nach Hause«, sagte Ela. »Wie lange du auch brauchst, du kommst nach Hause.«

»Wohin sonst?« fragte Miro.


Valentine wußte nicht, was sie von Ender halten sollte. Es war erst ihr zweiter Tag auf Lusitania, doch sie hatte schon ohne jeden Zweifel mitbekommen, daß etwas nicht in Ordnung war. Nicht, daß Ender keinen Grund zur Besorgnis gehabt hätte. Er hatte ihr erklärt, welche Probleme die Xenobiologen mit der Descolada hatten, welche Spannungen es zwischen Grego und Quara gab, und natürlich war da immer die Flotte des Kongresses, der Tod, der über ihnen im Himmel schwebte. Doch Ender hatte sich oft mit Problemen und Spannungen auseinandersetzen müssen, viele Male in seinen Jahren als Sprecher für die Toten. Er hatte sich in die Probleme von Nationen und Familien gestürzt, von Gemeinden und einzelnen Menschen, hatte darum gekämpft, sie zu verstehen und die Krankheiten des Herzens dann zu heilen und zu läutern. Nie hatte er sich so benommen, wie er sich jetzt benahm.

Oder vielleicht doch, einmal.

Als sie Kinder waren und Ender darauf vorbereitet wurde, die Flotten zu kommandieren, die gegen alle Krabbler-Welten ausgeschickt wurden, hatten sie Ender für eine gewisse Zeit zur Erde zurückgebracht – die Ruhe vor dem Sturm, wie sich herausstellen sollte. Ender und Valentine waren seit seinem fünften Lebensjahr voneinander getrennt, und es durfte nicht einmal ein unzensierter Briefwechsel zwischen ihnen stattfinden. Dann änderten sie ihre Politik plötzlich und brachten Valentine zu ihm. Er wurde auf einem großen Privatsitz in der Nähe ihrer Heimatstadt gefangengehalten und verbrachte seine Tage damit, zu schwimmen und sich völlig untätig auf einem kleinen See treiben zu lassen.

Zuerst hatte Valentine gedacht, es sei alles in Ordnung, und sie war lediglich froh, ihn endlich wiederzusehen. Doch bald begriff sie, daß etwas ganz und gar nicht stimmte. Doch in jenen Tagen hatte sie Ender nicht so gut gekannt – sie war schließlich über sein halbes Leben lang von ihm getrennt gewesen. Doch sie wußte, daß es ihm gar nicht ähnlich sah, so bedrückt zu wirken. Nein, das war es eigentlich gar nicht. Er war nicht bedrückt, er war untätig. Er hatte sich von der Welt gelöst. Und ihre Aufgabe war es, ihn wieder mit ihr zu verbinden. Ihn zurückzuholen und ihm seinen Platz im Netzwerk der Menschheit zu zeigen.

Weil sie Erfolg hatte, konnte er schließlich wieder ins All gehen und die Flotten kommandieren, die die Krabbler völlig vernichteten. Seit dieser Zeit schien seine Verbindung mit der Menschheit ungefährdet.

Doch nun war sie wieder fast ein halbes Leben von ihm getrennt gewesen. Fünfundzwanzig Jahre für sie, dreißig für ihn. Und wieder wirkte er losgelöst. Sie musterte ihn, während er sie und Miro und Plikt mit dem Wagen ausführte, hinweg über die endlosen Capimebenen.

»Wir sind wie ein kleines Boot auf dem Ozean«, sagte Ender.

»Eigentlich nicht«, sagte sie und erinnerte sich an die Zeit, da Jakt sie auf einem der kleinen Boote mitgenommen hatte, mit denen die Netze ausgelegt wurden. Die drei Meter hohen Wellen hatten sie hochgehoben und dann wieder in den Graben stürzen lassen – auf dem großen Fischerboot hatten diese Wellen sie kaum geschaukelt, während sie bequem auf dem Meer lagen, doch in dem winzigen Beiboot waren sie überwältigend. Buchstäblich atemberaubend – sie hatte von ihrem Sitz auf Deck hinabgleiten und sich mit beiden Armen an der Bretterbank festhalten müssen, bevor sie wieder zu Atem kam. Es gab keinen Vergleich zwischen dem schweren, rollenden Ozean und dieser üppigen Grasebene.

Andererseits… für Ender vielleicht doch. Wenn er die Capimebene sah, sah er in ihr vielleicht den Descolada-Virus, der sich unentwegt anpaßte, um die Menschheit und alle anderen Spezies ihrer Welt zu vernichten. Vielleicht rollte und wogte diese Ebene für ihn genauso brutal wie der Ozean.

Die Seemänner hatten sie ausgelacht, nicht spöttisch, sondern zärtlich, wie Eltern, die über die Ängste eines Kindes lachen. »Dieser Seegang ist noch gar nichts«, sagten sie. »Sie müßten das mal in zwölf Meter hohen Wellen machen.«

Ender war nach außen hin so ruhig wie damals die Seemänner. Ruhig, losgelöst. Er unterhielt sich mit ihr und Miro und der stillen Plikt, hielt aber noch immer etwas zurück. Stimmt etwas nicht zwischen Ender und Novinha? Valentine hatte sie nicht lange genug zusammen gesehen, um zu wissen, was natürlich zwischen ihnen war – auch wenn es keine offensichtlichen Streitigkeiten gab. Also war Enders Problem vielleicht eine wachsende Barriere zwischen ihm und der Gemeinde von Lusitania. Das war eine Möglichkeit. Valentine erinnerte sich genau, wie schwer es für sie gewesen war, von den Trondheimern akzeptiert zu werden, und sie war mit einem Mann von gewaltigem Ansehen unter ihnen verheiratet gewesen. Wie war es für Ender, der mit einer Frau verheiratet war, deren gesamte Familie sich schon vom Rest Lusitanias entfremdet hatte? Konnte es sein, daß er diesen Ort nicht so grundlegend geheilt hatte, wie alle annahmen?

Unmöglich. Als sich Valentine heute morgen mit Kovano Zeljezo, dem Bürgermeister, und dem alten Bischof Peregrino getroffen hatte, hatten sie echte Zuneigung für Ender gezeigt. Valentine hatte an zu vielen Konferenzen teilgenommen, um nicht den Unterschied zwischen formeller Höflichkeit, politischer Scheinheiligkeit und echter Freundschaft zu kennen. Wenn sich Ender diesen Leuten fremd fühlte, lag es nicht an ihnen.

Ich deute zuviel in die Sache hinein, dachte Valentine. Wenn Ender mir so seltsam und fremd vorkommt, liegt es daran, daß wir so lange getrennt waren. Oder vielleicht daran, daß er sich neben Miro, diesem zornigen jungen Mann, gehemmt vorkommt; oder vielleicht ist es Plikt mit ihrer stummen, berechnenden Hingabe an Ender Wiggin, die dafür sorgt, daß er sich von uns fernhält. Oder es ist vielleicht nur mein Beharren, daß ich heute die Schwarmkönigin sehen will, noch bevor wir uns mit einem Führer der Schweinchen treffen. Es besteht kein Grund, außerhalb unserer gegenwärtigen Begleiter nach Ursachen für seine Losgelöstheit zu suchen.

Sie machten die Stadt der Schwarmkönigin zuerst aufgrund der Rauchsäule ausfindig. »Fossile Treibstoffe«, sagte Ender. »Sie verbrennt sie mit abscheulicher Geschwindigkeit. Normalerweise würde sie das niemals tun – die Schwarmköniginnen behandeln ihre Welten immer mit großer Sorgfalt und würden normalerweise niemals solch eine Verschwendung und solch einen Gestank erzeugen. Aber sie ist in großer Eile, und Mensch sagt, sie hätten ihr aus Notwendigkeit die Erlaubnis gegeben, solch eine Umweltverschmutzung hervorzurufen.«

»Aus welcher Notwendigkeit?« fragte Valentine.

»Mensch will es nicht sagen, und die Schwarmkönigin auch nicht, doch ich habe meine Vermutungen, und ihr werdet euch wohl auch euern Teil denken.«

»Hoffen die Schweinchen etwa, in einer einzigen Generation auf den Zug einer voll technisierten Gesellschaft zu springen, und verlassen sich dabei auf die Arbeit der Schwarmkönigin?«

»Wohl kaum«, sagte Ender. »Dafür sind sie viel zu konservativ. Sie wollen alles wissen, was es zu wissen gibt – aber sie sind nicht schrecklich bedacht darauf, sich mit Maschinen zu umgeben. Vergiß nicht, die Bäume der Wälder geben ihnen kostenlos und sanftmütig jedes nützliche Werkzeug. Was wir Industrie nennen, ist für sie immer noch die reinste Brutalität.«

»Was dann? Warum all dieser Rauch?«

»Frag sie doch«, sagte Ender. »Vielleicht ist sie zu dir ehrlich.«

»Werden wir sie wirklich sehen?« fragte Miro.

»O ja«, sagte Ender. »Oder besser gesagt – wir werden zumindest in ihrer Anwesenheit sein. Vielleicht berührt sie uns sogar. Aber vielleicht ist es um so besser, je weniger wir sehen. Sie lebt normalerweise in der Dunkelheit, wenn sie nicht kurz vor der Ablage eines Eies steht. Dann muß sie sehen können, und die Arbeiter öffnen Tunnel, damit das Tageslicht hineinfallen kann.«

»Sie haben kein künstliches Licht?« fragte Miro.

»Sie haben nie welches benutzt«, sagte Ender, »nicht einmal auf den Sternenschiffen, die damals während der Krabblerkriege ins Sonnensystem kamen. Sie hassen die Art, wie wir Licht sehen. Für sie ist jede Wärmequelle deutlich sichtbar. Ich glaube, sie arrangieren ihre Wärmequellen sogar in Mustern, die man nur als ästhetisch bezeichnen kann. Thermalmalerei.«

»Warum benutzt sie dann Licht zur Ablage eines Eies?« fragte Valentine.

»Ich würde es nicht unbedingt ein Ritual nennen – die Schwarmkönigin blickt fürchterlich verächtlich auf die menschliche Religion herab. Sagen wir einfach, es ist Teil ihrer genetischen Abstammung. Ohne Sonnenlicht legt sie kein Ei ab.«

Dann waren sie in der Krabblerstadt.

Valentine war nicht überrascht über das, was sie vorfanden – schließlich waren sie und Ender in ihrer Jugend in der ersten Kolonie auf einer ehemaligen Krabblerwelt gewesen. Doch sie wußte, daß das Erlebnis für Miro und Plikt überraschend und fremdartig sein würde, und in der Tat überkam auch sie ein Teil der alten Orientierungslosigkeit. Nicht, daß die Stadt offenkundig seltsam wirkte. Sie bestand aus Gebäuden, die meisten davon niedrig, aber nach denselben Prinzipien wie jedes menschliche Haus errichtet. Seltsam war die Art und Weise, wie sie angelegt waren. Es gab keine Wege und Straßen, keinen Versuch, die Gebäude in eine Richtung anzuordnen. Auch erhoben sie sich nicht gleich hoch aus dem Boden. Einige bestanden nur aus auf der Erde ruhenden Dächern, andere waren sehr hoch. Farbe schien nur zur Konservierung zu dienen – es gab keine Verzierungen. Ender hatte angedeutet, die Schwarmkönigin würde Wärme ästhetisch einsetzen – eine andere Ästhetik gab es ganz bestimmt nicht.

»Es ergibt keinen Sinn«, sagte Miro.

»Nicht von der Oberfläche aus«, sagte Valentine. »Doch wenn du die Tunnels begehen könntest, würdest du feststellen, daß unterirdisch alles Sinn ergibt. Sie folgen den natürlichen Gesteinsschichten und -strukturen. Die Geologie hat einen gewissen Rhythmus, und die Krabbler können ihn wahrnehmen.«

»Was ist mit den hohen Gebäuden?« fragte Miro.

»Der Grundwasserspiegel ist ihre Grenze nach unten. Wenn sie größere Höhe brauchen, müssen sie nach oben gehen.«

»Was bauen sie denn, das so hoch sein muß?« fragte Miro.

»Keine Ahnung«, sagte Valentine. Sie gingen um ein Gebäude, das wenigstens dreihundert Meter hoch war; in unmittelbarer Nähe konnten sie über ein Dutzend weitere ausmachen.

Zum ersten Mal auf diesem Ausflug ergriff Plikt das Wort. »Raketen«, sagte sie.

Valentine bemerkte, daß Ender lächelte und leicht nickte. Also hatte Plikt seinen eigenen Verdacht bestätigt.

»Wofür?« fragte Miro.

Natürlich, um in den Weltraum zu gehen! hätte Valentine fast gesagt. Doch das war nicht fair – Miro hatte nie auf einer Welt gelebt, die um den ersten Schritt ins All kämpfte. Für ihn war das Verlassen des Planeten gleichbedeutend damit, den Shuttle zu einer Orbitstation zu nehmen. Doch der einzige Shuttle, der den Menschen Lusitanias zur Verfügung stand, würde kaum ausreichen, das erforderliche Material für den Bau eines größeren raumtauglichen Fahrzeugs in die Umlaufbahn zu bringen. Und selbst, wenn der Shuttle dazu imstande gewesen wäre, hätte die Schwarmkönigin wohl kaum die Menschen um Hilfe gebeten.

»Baut sie eine Raumstation?« fragte Valentine.

»Ich glaube schon«, sagte Ender. »Aber so viele Raketen, und so große – ich glaube, sie will sie in einem Rutsch bauen. Sie will wahrscheinlich die Raketen selbst ausschlachten. Was glaubt ihr, was sie vorhat?«

Valentine hätte fast mit einem überraschten Ausruf geantwortet – woher soll ich das wissen? Dann begriff sie, daß er sie gar nicht gefragt hatte. Denn fast sofort gab er selbst die Antwort. Was bedeutete, daß er den Computer in seinem Ohr gefragt haben mußte. Nein, nicht den ›Computer‹. Jane. Er fragte Jane. Valentine konnte sich noch immer kaum an die Vorstellung gewöhnen, daß sich zwar nur vier Personen in dem Wagen befanden, aber eine fünfte anwesend war, die durch die Juwele, die sowohl Ender als auch Miro trugen, sah und mithörte.

»Sie könnte es alles auf einmal schaffen«, sagte Ender. »Nach dem zu urteilen, was wir über die chemischen Emissionen hier wissen, hat die Schwarmkönigin genug Metall geschmolzen, um nicht nur eine Raumstation zu bauen, sondern auch zwei kleine Sternenschiffe mit großer Reichweite, wie die erste Krabblerexpedition sie benutzte. Ihre Version eines Kolonistenschiffs.«

»Bevor die Flotte eintrifft«, sagte Valentine. Plötzlich begriff sie. Die Schwarmkönigin bereitete sich auf die Auswanderung vor. Sie wollte nicht dulden, daß ihre Spezies auf einem einzigen Planeten gefangen war, wenn der Chirurg wieder kam.

»Du verstehst das Problem«, sagte Ender. »Sie wird uns nicht sagen, was sie tut. Also müssen wir uns auf das verlassen, was Jane beobachtet und was wir vermuten können. Und was ich vermute, ergibt kein sehr hübsches Bild.«

»Wieso sollten die Krabbler nicht den Planeten verlassen?« fragte Valentine.

»Nicht nur die Krabbler«, sagte Miro.

Valentine stellte die zweite Verbindung her. Deshalb hatten die Pequeninos der Schwarmkönigin die Erlaubnis gegeben, ihre Welt so schlimm zu verseuchen. Deshalb waren zwei Schiffe geplant, direkt von Anfang an. »Ein Schiff für die Schwarmkönigin und eins für die Pequeninos.«

»Das haben sie vor«, sagte Ender. »Aber wie ich es sehe – zwei Schiffe für die Descolada.«

»Nossa Senhora«, flüsterte Miro.

Valentine fühlte, wie ein Schaudern sie durchlief. Es war eine Sache, wenn die Schwarmkönigin die Rettung ihrer Spezies plante. Aber es war eine ganz andere, daß sie den tödlichen, anpassungsfähigen Virus mit auf andere Welten nahm.

»Du verstehst mein Dilemma«, sagte Ender. »Du verstehst, warum sie mir nicht sagt, was sie vorhat.«

»Aber du könntest sie sowieso nicht aufhalten, oder?« fragte Valentine.

»Er könnte die Kongreßflotte warnen«, sagte Miro.

Richtig. Dutzende schwerbewaffneter Sternenschiffe, die sich um Lusitania zusammenzogen – wenn sie von zwei Sternenschiffen erfuhren, die Lusitania verlassen wollten, wenn sie ihre ursprünglichen Flugbahnen kannten, konnten sie sie abfangen. Vernichten.

»Das darfst du nicht«, sagte Valentine.

»Ich kann sie nicht aufhalten, und ich kann sie nicht ziehen lassen«, sagte Ender. »Hielte ich sie auf, ginge ich das Risiko ein, die Krabbler wie auch die Schweinchen zu vernichten. Ließe ich sie ziehen, ginge ich das Risiko ein, die gesamte Menschheit zu vernichten.«

»Du mußt mit ihnen sprechen. Du mußt irgendeine Übereinkunft erzielen.«

»Was wäre eine Übereinkunft mit uns wert?« fragte Ender. »Wir sprechen nicht für die Menschheit im allgemeinen. Und wenn wir auf Drohungen zurückgreifen, wird die Schwarmkönigin einfach all unsere Satelliten und wahrscheinlich auch unsere Verkürzer zerstören. Vielleicht tut sie das ohnehin nur um ganz sicherzugehen.«

»Dann wären wir wirklich abgeschnitten«, sagte Miro.

»Von allem«, sagte Ender.

Valentine brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, daß sie an Jane dachten. Ohne einen Verkürzer konnten sie nicht mehr mit ihr sprechen. Und ohne die Satelliten im Orbit um Lusitania wären Janes Augen im All blind.

»Ender, ich verstehe das nicht«, sagte Valentine. »Ist die Schwarmkönigin unser Feind?«

»Das ist die Frage, nicht wahr?« erwiderte Ender. »Das ist das Problem, das sich bei der Wiederherstellung ihrer Spezies ergab. Nun, da sie wieder frei ist, da sie nicht mehr in einem Kokon eingezwängt ist, versteckt in einer Tasche unter meinem Bett, wird die Schwarmkönigin das Interesse ihrer Spezies wahrnehmen – oder das, was sie dafür hält.«

»Aber Ender, es darf keinen weiteren Krieg zwischen Menschen und Krabblern geben.«

»Näherte sich keine menschliche Flotte Lusitania, käme die Frage gar nicht auf.«

»Aber Jane hat die Kommunikation der Flotte unterbrochen«, sagte Valentine. »Sie kann keinen Befehl empfangen, den Chirurgen einzusetzen.«

»Im Augenblick nicht«, sagte Ender. »Aber Valentine, was glaubst du, weshalb Jane ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hat, um die Kommunikation zu unterbrechen?«

»Weil der Befehl geschickt wurde.«

»Der Sternenwege-Kongreß hat den Befehl gegeben, diesen Planeten zu vernichten. Und nun, da Jane ihre Macht enthüllt hat, werden sie alle um so entschlossener darangehen, uns zu vernichten. Sobald sie eine Möglichkeit gefunden haben, Jane aus dem Weg zu räumen, werden sie gegen diese Welt vorgehen.«

»Hast du das der Schwarmkönigin gesagt?«

»Noch nicht. Aber ich bin mir nicht sicher, wieviel sie aus meinem Verstand erfahren kann, ohne daß ich es will. Es ist nicht gerade eine Kommunikationsweise, die ich kontrollieren kann.«

Valentine legte die Hand auf Enders Schulter. »Wolltest du mich deshalb überreden, die Schwarmkönigin nicht zu sehen? Weil du nicht willst, daß sie das wahre Ausmaß der Gefahr erfährt?«

»Ich will sie einfach nicht mehr wiedersehen«, sagte Ender. »Weil ich sie liebe und fürchte. Weil ich nicht weiß, ob ich ihr helfen oder sie vernichten soll. Und weil es vielleicht nicht mehr in unserer Macht steht, sie aufzuhalten, sobald sie diese Raketen ins All gebracht hat, was jetzt jeden Tag geschehen könnte. Weil sie dann unseren Kontakt mit dem Rest der Menschheit unterbricht.«

Und erneut das, was er nicht sagte: Sie könnte Ender und Miro von Jane abschneiden.

»Ich glaube, wir müssen unbedingt mit ihr sprechen«, sagte Valentine.

»Oder sie töten«, sagte Miro.

»Jetzt versteht ihr mein Problem«, sagte Ender.

Sie fuhren schweigend weiter.

Der Eingang zur Höhle der Schwarmkönigin war ein Gebäude, das wie jedes andere auch aussah. Es gab keine besonderen Wachtposten – auf ihrer ganzen Fahrt hatten sie noch keinen einzigen Krabbler gesehen. Valentine erinnerte sich, daß sie in ihrer Jugend, auf ihrer ersten Koloniewelt, sich vorzustellen versucht hatte, wie die Krabblerstädte ausgesehen hatten, als sie vollständig bewohnt waren. Nun wußte sie es – sie sahen genauso aus, wie es der Fall war, wenn sie tot waren. Keine herumeilenden Krabbler, die wie Amerisen über die Hügel schwärmten. Sie wußte, daß irgendwo unter der offenen Sonne Felder und Obstgärten bewirtet wurden, doch von hier aus war nichts davon zu sehen.

Warum fühlte sie sich deshalb so erleichtert?

Sie kannte die Antwort auf die Frage, noch bevor sie sie gestellt hatte. Sie hatte ihre Kindheit während der Krabblerkriege auf der Erde verbracht; die insektoiden Außerirdischen hatten sie in ihren Alpträumen verfolgt, wie jedes andere Kind auf der Erde auch. Doch nur eine Handvoll Menschen hatten jemals einen Krabbler von Angesicht zu Angesicht gesehen, und von denen lebten selbst zu der Zeit, als sie ein Kind war, nur noch wenige. Selbst in ihrer ersten Kolonie, wo sie von den Ruinen der Krabblerzivilisation umgeben war, hatte man nicht eine einzige ausgetrocknete Leiche gefunden. Ihre gesamten visuellen Vorstellungen von den Krabblern entstammten den Schreckensbildern der Videos.

Doch war sie nicht der erste Mensch, der Enders Buch Die Schwarmkönigin gelesen hatte? War sie nicht die erste, die sich, von Ender einmal abgesehen, die Schwarmkönigin als Wesen von fremdartiger Anmut und Schönheit vorgestellt hatte?

Sie war die erste, ja, aber das bedeutete wenig. Alle anderen Menschen, die heute lebten, waren in einem Universum aufgewachsen, das zum Teil von Die Schwarmkönigin und Der Hegemon geprägt worden war, wohingegen sie und Ender die beiden einzigen noch lebenden Menschen waren, die mit einer ständigen Kampagne des Abscheus gegen die Krabbler großgeworden waren. Natürlich empfand sie eine irrationale Erleichterung darüber, die Krabbler nicht sehen zu müssen. Bei Miro und Plikt würde der erste Anblick der Schwarmkönigin und ihrer Arbeiter nicht die gleiche emotionale Spannung auslösen wie bei ihr.

Ich bin Demosthenes, rief sie sich in Erinnerung. Ich bin die Theoretikerin, die darauf bestanden hat, daß die Krabbler Ramänner sind, Außerirdische, die man verstehen und akzeptieren kann. Ich muß einfach mein Bestes geben, um die Vorurteile meiner Kindheit zu überwinden. Zu gegebener Zeit wird die gesamte Menschheit von der Wiederauferstehung der Schwarmkönigin erfahren; es wäre schändlich, wenn Demosthenes die einzige wäre, die die Schwarmkönigin nicht als Ramann begrüßen könnte.

Ender führte den Wagen in einem Kreis um ein kleineres Gebäude. »Das ist die richtige Stelle«, sagte er. Er hielt den Wagen an, ließ den Ventilator langsamer laufen und richtete ihn auf das Capim neben der einzigen Tür des Hauses. Die Tür war sehr niedrig – ein Erwachsener konnte sie nur auf Händen und Knien passieren.

»Woher weißt du das?« fragte Miro.

»Weil sie es sagt«, erwiderte Ender.

»Jane?« Er schaute verblüfft drein, denn zu ihm hatte Jane natürlich noch nie etwas in dieser Art gesagt.

»Die Schwarmkönigin«, erklärte Valentine. »Sie spricht direkt in Enders Verstand.«

»Schöner Trick«, sagte Miro. »Kann ich den auch lernen?«

»Wir werden sehen«, sagte Ender. »Wenn du sie kennenlernst.«

Als sie aus dem Wagen stiegen und sich in das hohe Gras fallen ließen, wurde Valentine bewußt, daß Miro und Ender Plikt unentwegt musterten. Natürlich störte es sie, daß Plikt so still war. Oder besser, so still wirkte. Valentine hielt Plikt für eine redselige, eloquente Frau. Doch sie hatte sich auch daran gewöhnt, daß Plikt zu bestimmten Zeiten einfach die Taubstumme spielte. Ender und Miro sahen sich natürlich zum ersten Mal mit ihrem sonderbaren Schweigen konfrontiert, und es störte sie. Was einer der wichtigsten Gründe war, weshalb Plikt schwieg. Sie war der Ansicht, daß die Menschen sich am ehesten offenbarten, wenn sie eine gewisse Angst oder Besorgnis verspürten, und nur wenige Dinge sind so gut imstande, eine nicht spezifische Besorgnis auszulösen wie die Gegenwart einer Person, die niemals spricht.

Valentine hielt nicht viel von dieser Technik, wenn es darum ging, sich mit Fremden zu befassen, doch sie hatte beobachtet, wie Plikts Schweigen als Lehrerin ihre Schüler – Valentines Kinder – zwang, sich mit ihren eigenen Ideen zu befassen. Wenn Valentine und Ender unterrichteten, forderten sie ihre Schüler mit Dialogen, Fragen, Streitpunkten heraus. Doch Plikt zwang ihre Schüler, beide Seiten eines Streitpunkts durchzuspielen, eigenen Ideen hervorzubringen und sie dann anzugreifen, um ihre eigenen Einwände zu widerlegen. Diese Methode würde bei den meisten Menschen wahrscheinlich nicht funktionieren. Valentine war zum Schluß gekommen, daß sie bei Plikt so gut funktionierte, weil es sich bei ihrer Wortlosigkeit nicht um vollständige Nonkommunikation handelte. Ihr ruhiger, durchdringender Blick war in sich selbst ein beredsamer Ausdruck der Skepsis. Wenn ein Schüler mit diesem steten, starren Blick konfrontiert wurde, ergab er sich bald seiner eigenen Unsicherheit. Jeder Zweifel, den der Schüler erfolgreich zur Seite geschoben und ignoriert hatte, drängte sich nun an die Oberfläche, und der Schüler mußte daraufhin in sich selbst die Gründe für Plikts anscheinenden Zweifel entdecken.

Valentines Älteste, Syfte, hatte diese einseitigen Konfrontationen ›in die Sonne starren‹ genannt. Und nun waren Ender und Miro an der Reihe, sich im Wettstreit mit diesem alles sehenden Auge und dem nichts sagenden Mund zu blenden. Valentine wollte über ihr Unbehagen lachen, sie beruhigen. Und sie wollte Plikt einen sanften Klaps geben und ihr sagen, nicht zu schwierig zu sein.

Doch statt dessen ging Valentine zur Tür des Gebäudes und zog sie auf. Es gab keinen Riegel, nur einen Griff, und die Tür ließ sich problemlos öffnen. Sie hielt sie auf, während Ender auf die Knie fiel und hindurchkroch. Plikt folgte ihm augenblicklich. Dann seufzte Miro und sank langsam auf die Knie. Sein Kriechen wirkte unbeholfener als sein Gehen – er vollzog jede Arm- oder Beinbewegung einzeln, als müsse er jeweils eine Sekunde darüber nachdenken, was er zu tun habe. Endlich war er hindurch, und Valentine bückte sich und watschelte im Entengang durch die Tür. Sie war die kleinste und mußte nicht kriechen.

Innen kam das einzige Licht von der Türöffnung. Der Raum war unmöbliert, der Boden schmutzig. Erst als sich Valentines Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie ausmachen, daß der dunkelste Schatten ein Tunnel war, der tiefer in die Erde führte.

»Die Tunnel sind nicht beleuchtet«, sagte Ender. »Sie wird mich führen. Ihr müßt einander an den Händen festhalten. Valentine, du gehst als letzte, einverstanden?«

»Können wir aufrecht hinabgehen?« fragte Miro. Die Frage war eindeutig wichtig für ihn.

»Ja«, sagte Ender. »Deshalb hat sie diesen Eingang gewählt.«

Sie gaben sich die Hände; Plikt nahm Enders Hand, Miro ging zwischen den beiden Frauen. Ender führte sie ein paar Schritte den Tunnel hinab. Er war steil, und die tiefe Dunkelheit war entmutigend. Doch Ender blieb stehen, bevor die Dunkelheit absolut wurde.

»Worauf warten wir?« fragte Valentine.

»Auf unseren Führer«, entgegnete Ender.

In diesem Augenblick traf der Führer ein. In der Dunkelheit konnte Valentine kaum den schwarzen Arm mit nur einem Finger und Daumen ausmachen, der an Enders Hand zerrte. Ender schloß augenblicklich die linke Hand um den Finger; der schwarze Daumen schloß sich wie eine Zange über seiner Hand. Valentine versuchte, den Krabbler zu sehen, zu dem der Arm gehörte, doch sie konnte nur einen kindgroßen Schatten ausmachen und vielleicht den leichten Schimmer von Licht, das von einem Rückenschild reflektiert wurde.

Ihre Vorstellungskraft lieferte alles, was fehlte, und gegen ihren Willen erschauderte sie.

Miro murmelte etwas auf Portugiesisch. Also zeigte auch bei ihm die Anwesenheit des Krabblers Wirkung. Plikt jedoch blieb stumm, und Valentine konnte nicht sagen, ob sie zitterte oder völlig unbeeindruckt war. Dann machte Miro einen schlurfenden Schritt nach vorn, zerrte an Valentines Hand und führte sie in die Dunkelheit.


Ender wußte, wie schwer den anderen dieser Weg fallen würde. Bislang hatten nur er, Novinha und Ela jemals die Schwarmkönigin besucht, und Novinha war nie zu ihr zurückgekehrt. Die Dunkelheit war zu entnervend; sie mußten sich endlos ohne die Hilfe der Augen hinabbewegen und wußten nur aufgrund leiser Geräusche, daß Leben und Bewegung um sie herum war.

»Dürfen wir sprechen?« fragte Valentine. Ihre Stimme klang sehr schrill.

»Das ist eine gute Idee«, sagte Ender. »Sie werdet ihr nicht stören. Sie bemerken Geräusche kaum.«

Miro sagte etwas. Ender stellte fest, daß man ihn noch schwerer verstehen konnte, wenn man nicht von seinen Lippen ablesen konnte.

»Was?« fragte Ender.

»Wir beide wollen wissen, wie weit es noch ist«, sagte Valentine.

»Keine Ahnung«, sagte Ender. »Von hier aus jedenfalls nicht. Und sie könnte fast überall dort unten sein. Es gibt Dutzende von Kinderstuben. Aber keine Angst. Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich den Rückweg finden werde.«

»Ich auch«, sagte Valentine. »Mit einer Taschenlampe jedenfalls.«

»Kein Licht«, sagte Ender. »Für die Ablage des Eies ist Sonnenlicht nötig, doch danach verzögert Licht die Entwicklung der Eier nur. Und in einem bestimmten Stadium kann es die Larven töten.«

»Aber du könntest in der Dunkelheit den Weg aus diesem Alptraum finden?« fragte Valentine.

»Wahrscheinlich«, sagte Ender. »Es gibt Muster. Wie Spinnennetze – wenn man die allgemeine Struktur begriffen hat, ergibt jeder Tunnelabschnitt mehr Sinn.«

»Diese Tunnel sind nicht zufällig angelegt worden?« Valentines Stimme klang skeptisch.

»Es ist wie bei den Tunnel auf Eros«, sagte Ender. Er hatte eigentlich kaum Gelegenheit gehabt, sie zu erkunden, als er als Kindsoldat auf Eros lebte. Der Asteroid war von den Krabblern ausgehöhlt worden, bevor sie ihn zu ihrer vordersten Basis im Sonnensystem gemacht hatten; nachdem er im ersten Krabblerkrieg erobert worden war, wurde er zum Flottenhauptquartier der menschlichen Verbündeten bestimmt. Während seiner Monate dort hatte Ender den Großteil seiner Zeit und Aufmerksamkeit der Aufgabe gewidmet, zu lernen, wie man die Sternenschiffe im All kontrolliert. Doch er mußte viel mehr über die Tunnel gelernt haben, als er damals begriffen hatte, denn als die Schwarmkönigin ihn zum ersten Mal in ihre Höhlen auf Lusitania geholt hatte, stellte Ender fest, daß er niemals überraschende Tunnelbiegungen und -abzweigungen vorzufinden schien. Sie fühlten sich richtig an; nein, sie fühlten sich unvermeidlich an.

»Was ist Eros?« fragte Miro.

»Ein Asteroid in der Nähe der Erde«, sagte Valentine. »Der Ort, wo Ender den Verstand verloren hat.«

Ender versuchte, ihnen zu erklären, wie das Tunnelsystem organisiert war, doch es war zu kompliziert. Wie bei Fraktalen gab es zu viele mögliche Ausnahmen, um das System in allen Einzelheiten zu begreifen – je mehr man sich darum bemühte, desto mehr entzog es sich dem Verständnis. Doch für Ender wirkte es immer gleich, ein Muster, das sich immer und immer wiederholte. Vielleicht lag es nur daran, daß sich Ender irgendwie in den Schwarmverstand versetzt hatte, als er die Krabbler studierte, um sie zu besiegen. Vielleicht hatte er einfach gelernt, wie ein Krabbler zu denken. In diesem Fall hatte Valentine recht – er hatte einen Teil seines Menschenverstandes verloren, oder zumindest etwas vom Schwarmverstand hinzugefügt.

»Wir sind fast da«, sagte Ender. »Und da sie Eier ablegt, wird sie gut gelaunt sein.«

»Wäre sie dabei nicht lieber ungestört?« fragte Miro.

»Es läßt sich mit einem kleineren sexuellen Höhepunkt vergleichen, der mehrere Stunden anhält«, sagte Ender. »Es macht sie ziemlich fröhlich. Schwarmköniginnen sind normalerweise nur von Arbeitern und Drohnen umgeben, die als Teil des Ganzen funktionieren. Sie haben nie Schüchternheit gelernt.«

In seinem Verstand spürte er jedoch die Intensität ihrer Gegenwart. Sie konnte natürlich jederzeit mit ihm kommunizieren. Doch wenn er sich in ihrer Nähe befand, war es, als atmete sie in seine Schädeldecke; das Gefühl wurde schwer und bedrückend. Fühlten die anderen es auch? Würde sie zu ihnen sprechen können? Bei Ela war nichts passiert – Ela hatte nicht einmal einen Schimmer des stillen Gesprächs erfassen können. Was Novinha betraf, so weigerte sie sich, darüber zu sprechen, und stritt ab, etwas gehört zu haben, doch Ender vermutete, daß sie die fremde Gegenwart einfach abgelehnt hatte. Die Schwarmkönigin behauptete, deutlich im Verstand der beiden lesen zu können, solange sie sich in der Nähe befanden, sich aber kein ›Gehör‹ verschaffen zu können. Würde es heute mit den anderen genauso sein?

Es wäre so schön, könnte die Schwarmkönigin zu einem anderen Menschen sprechen. Sie behauptete, dazu imstande zu sein, doch Ender hatte im Verlauf der letzten dreißig Jahre gelernt, daß die Schwarmkönigin nicht zwischen ihren zuversichtlichen Einschätzungen für die Zukunft und ihren sicheren Erinnerungen an die Vergangenheit unterscheiden konnte. Sie schien ihren Vermutungen genauso zu vertrauen wie ihren Erinnerungen; und wenn sich eine Vermutung einmal als falsch erwies, schien sie sich nicht zu erinnern, daß sie jemals eine andere Zukunft von derjenigen erwartet hatte, die nun Vergangenheit war.

Diese Eigenart ihres fremdartigen Verstands störte Ender am meisten. Ender war in einer Kultur aufgewachsen, die die Reife und die soziale Anpassung der Menschen nach ihrer Fähigkeit bewertete, die Ergebnisse ihrer Entscheidungen abzuschätzen. In gewisser Hinsicht war die Schwarmkönigin auf diesem Gebiet eindeutig unfähig; sie schien zu kühn und ungerechtfertigt zuversichtlich wie ein kleines Kind.

Das war eins der Dinge, die Ender Angst vor ihr einjagten. Konnte sie ein Versprechen halten? Und würde sie überhaupt begreifen, was sie getan hatte, wenn sie es nicht hielt?


Valentine versuchte sich darauf zu konzentrieren, was die anderen sagten, doch sie konnte den Blick nicht von der Silhouette des Krabblers nehmen, der sie führte. Er war kleiner, als sie es sich vorgestellt hatte – nicht einmal anderthalb Meter groß, wahrscheinlich noch weniger. Da sie an den anderen vorbeischauen mußte, konnte sie immer nur kurze Blicke auf Teile des Krabblers erhaschen, doch das war fast schlimmer, als ihn ganz zu sehen. Sie konnte sich nicht von dem Gedanken abhalten, daß dieser leuchtendschwarze Feind Enders Hand im Todesgriff hielt.

Kein Todesgriff. Kein Feind. Nicht einmal in sich ein Geschöpf. Es hatte soviel individuelle Identität wie ein Ohr oder Zeh – jeder Krabbler war nur ein ausführendes und wahrnehmendes Organ der Schwarmkönigin. In gewisser Hinsicht war die Schwarmkönigin bereits anwesend – war überall anwesend, wo einer ihrer Arbeiter oder Drohnen sein mochte, sogar hundert Lichtjahre entfernt. Das ist kein Ungeheuer. Das ist die Schwarmkönigin aus Enders Buch. Das ist diejenige, die er in all unseren gemeinsamen Jahren bei sich hatte und die er versorgte, auch wenn ich nichts davon wußte. Ich habe nichts zu fürchten.

Valentine hatte versucht, ihre Furcht zu unterdrücken, doch es funktionierte nicht. Sie schwitzte; sie fühlte, wie ihre Hand schlüpfrig in Miros gebrechlichem Griff lag. Als sie sich der Höhle der Schwarmkönigin näherten – nein, ihrem Heim, ihrer Kinderstube –, fühlte sie, wie ihre Angst ständig wuchs. Doch wenn sie nicht allein damit fertig wurde, mußte sie wohl oder übel um Hilfe bitten. Wo war Jakt? Jemand anders mußte genügen.

»Es tut mir leid, Miro«, flüsterte sie. »Ich glaube, ich habe Schweißausbrüche.«

»Du?« sagte er. »Ich dachte, es wäre mein Schweiß.«

Das war gut. Er lachte. Sie lachte mit ihm – oder kicherte zumindest nervös.

Der Tunnel wurde plötzlich breiter, und dann standen sie blinzelnd in einer großen Kammer, die von einem hellen Strahl Sonnenlicht erhellt wurde, das durch ein Loch in der Decke fiel. Die Schwarmkönigin saß mitten im Licht. Ihre Umgebung wimmelte vor Arbeitern, doch nun, im Licht, in der Gegenwart der Königin, wirkten sie alle so klein und zerbrechlich. Die meisten waren eher einen als anderthalb Meter groß, während die Königin selbst mindestens drei Meter lang war. Ihre Schwingen wirkten riesig, schwer, fast metallisch und reflektierten das Sonnenlicht mit einem Regenbogen aus Farben. Ihr Leib war lang und dick genug, um die Leiche eines erwachsenen Menschen enthalten zu können. Doch er verengte sich trichterähnlich zu einem Ovipositor an der zitternden Spitze, der vor einer gelblichdurchsichtigen, klebrigen, zähen Flüssigkeit schimmerte; sie hatte den Ovipositor in ein Loch im Boden des Raums gesteckt, so tief es nur ging, und zog ihn dann wieder heraus, und die Flüssigkeit rann wie Speichel das Loch hinab.

So grotesk und angsteinflößend, wie dieses Geschöpf sein mochte, das sich wie ein Insekt verhielt, bereitete es Valentine doch nicht auf das vor, was danach geschah. Anstatt den Ovipositor einfach in das nächste Loch zu stecken, drehte sich die Schwarmkönigin um und packte einen in der in der Nähe befindlichen Arbeiter. Den zitternden Krabbler zwischen den großen Vorderbeinen haltend, zog sie ihn heran und biß ihm seine Beine ab, eins nach dem anderen. Während ihm ein jedes Bein abgebissen wurde, gestikulierten die übriggebliebenen noch heftiger, wie in einem stummen Schrei. Valentine empfand eine überwältigende Erleichterung, als das letzte Bein abgebissen war, so daß sie endlich den Schrei nicht mehr beobachten mußte.

Dann stieß die Schwarmkönigin den Arbeiter mit dem Kopf zuerst in das nächste Loch. Erst dann richtete sie ihren Ovipositor auf das Loch. Während Valentine zusah, schien sich die Flüssigkeit an der Spitze des Ovipositors zu einem Ball zu verdicken. Aber es war keine Flüssigkeit mehr; in dem großen Tropfen befand sich ein weiches, geleeartiges Ei. Die Schwarmkönigin richtete ihren Körper so aus, daß sich das Gesicht direkt im Sonnenlicht befand; ihre Facettenaugen leuchteten wie Hunderte von smaragdgrünen Sternen. Dann sackte der Ovipositor hinab. Als er sich wieder hob, klebte das Ei noch an seinem Ende, doch im nächsten Augenblick war es verschwunden. Mehrere Male senkte sich ihr Leib nach unten, und jedesmal hob er sich mit neuen, klebrigen Flüssigkeitssträngen, die von oben nach unten flossen.

»Nossa Senhora«, sagte Miro. Valentine erkannte den Begriff aufgrund seiner spanischen Entsprechung – Nuestra Señora, Unsere Dame. Es war normalerweise ein fast bedeutungsloser Ausdruck, doch nun nahm er eine widerwärtige Ironie an. Nicht die heilige Jungfrau, hier in dieser tiefen Höhle. Die Schwarmkönigin war ›Unsere Dame der Dunkelheit‹. Sie legte Eier auf die Leichen toter Arbeiter, damit die Larven zu fressen hatten, wenn sie geschlüpft waren.

»So kann es nicht immer sein«, sagte Plikt.

Einen Augenblick lang war Valentine einfach überrascht, Plikts Stimme zu hören. Dann begriff sie, was Plikt sagte, und sie hatte recht. Wenn für jeden schlüpfenden Krabbler eine lebende Arbeiterin geopfert werden mußte, konnte die Population unmöglich zunehmen. In der Tat wäre es sogar unmöglich gewesen, daß dieser Schwarm überhaupt existierte, denn die Schwarmkönigin hatte die ersten Eier legen müssen, ohne daß sie sich an beinlosen Arbeiterinnen nähren konnten.

›Nur bei einer neuen Königin.‹

Es kam Valentine in den Sinn, als sei es ihre eigene Idee gewesen. Nur wenn das Ei zu einer neuen Schwarmkönigin heranwachsen sollte, mußte die alte den lebenden Körper eines Arbeiters hinzufügen. Doch das war nicht Valentines Idee; dafür war sie sich dieser Tatsache einfach zu sicher. Sie konnte das unmöglich wissen, und doch war ihr die Idee ganz plötzlich klar und ohne Raum für den geringsten Zweifel gekommen. Valentine hatte sich immer vorgestellt, daß es so ähnlich gewesen sein mußte, als die Propheten und Mystiker alter Zeiten die Stimme Gottes gehört hatten.

»Habt ihr sie gehört?« fragte Ender. »Irgendwer von euch?«

»Ja«, sagte Plikt.

»Ich glaube schon«, sagte Valentine.

»Was gehört?« fragte Miro.

»Die Schwarmkönigin«, sagte Ender. »Sie hat erklärt, daß sie nur einen Arbeiter zum Ei legen muß, wenn eine neue Schwarmkönigin entstehen soll. Sie legt insgesamt fünf neue – zwei sind schon an Ort und Stelle. Sie hat uns eingeladen, damit wir es beobachten können. Das ist ihre Art, uns zu sagen, daß sie ein Kolonieschiff ausschickt. Sie legt fünf Königin-Eier und wartet ab, welches das stärkste ist. Das schickt sie dann los.«

»Was ist mit den anderen?« fragte Valentine.

»Wenn eins davon etwas taugt, umgibt sie die Larve mit einem Kokon. So ist es auch ihr geschehen. Die anderen tötet und ißt sie. Sie muß es – wenn der Körper einer rivalisierenden Königin eine Drohne berühren sollte, die sich noch nicht mit dieser Schwarmkönigin gepaart hat, würde sie verrückt werden und versuchen, die Königin zu töten. Drohnen sind sehr loyale Gefährten.«

»Hat das sonst noch jemand gehört?« fragte Miro. Er klang enttäuscht. Die Schwarmkönigin konnte nicht zu ihm sprechen.

»Ja«, sagte Plikt.

»Nur ein bißchen davon«, sagte Valentine.

»Leert euern Geist, so gut ihr könnt«, sagte Ender. »Versucht, euch im Kopf darauf einzustimmen. Das hilft.«

Mittlerweile hatte die Schwarmkönigin schon die nächste Arbeiterin amputiert. Valentine stellte sich vor, auf den wachsenden Haufen von Beinen um die Schwarmkönigin zu treten; in ihrer Phantasie brachen sie wie Äste, mit schrecklichen, knackenden Geräuschen.

›Sehr weich. Beine brechen nicht. Verbiegen.‹

Die Königin beantwortete ihre Gedanken.

›Ihr seid Teil von Ender. Ihr könnt mich hören.‹

Die Gedanken in ihrem Geist wurden klarer, waren nicht mehr so aufdringlich, kontrollierter. Valentine konnte den Unterschied zwischen den Kommunikationsübermittlungen der Schwarmkönigin und ihren eigenen Gedanken spüren.

»Ouvi«, flüsterte Miro. Er hatte endlich etwas gehört. »Fala mais, escuto. Sage mehr, ich höre zu.«

›Philotische Verbindungen. Ihr seid an Ender gebunden. Wenn ich über philotische Verbindung mit ihm spreche, hört ihr mit. Echos. Reflektionen.‹

Valentine versuchte zu ergründen, wieso die Schwarmkönigin in ihrem Geist auf Stark sprach. Dann begriff sie, daß die Schwarmkönigin nichts dergleichen tat – Miro hörte sie in seiner Muttersprache, Portugiesisch, und Valentine hörte in Wirklichkeit gar kein Stark, sie hörte das Englisch, auf dem die Sprache basierte, das amerikanische Englisch, mit dem sie aufgewachsen war. Die Schwarmkönigin schickte keine Sprache zu ihnen aus, sondern Gedanken, und ihre Gehirne entnahmen ihnen in jeweils der Sprache Sinn, die am tiefsten in ihnen verankert war. Als Valentine das Wort Echos gehört hatte, gefolgt von Reflektionen, hatte nicht die Schwarmkönigin um das richtige Wort gerungen, sondern Valentines Verstand hatte nach Worten gesucht, die der Bedeutung entsprachen.

›Gebunden an ihn. Wie mein Volk. Nur daß ihr freien Willen habt. Unabhängige Philoten. Einzelgänger, ihr alle.‹

»Sie macht einen Scherz«, flüsterte Ender. »Das war keine Beurteilung.«

Valentine war für seine Interpretation dankbar. Das Bild, das mit der Phrase Einzelgänger kam, war das eines Elefanten, der einen Mann zu Tode trampelte. Es war ein Bild aus ihrer Kindheit, aus der Geschichte, in der sie das Wort Einzelgänger zum ersten Mal gehört hatte. Es erschreckte sie, dieses Bild, genau, wie es sie als Kind schon erschreckt hatte. Und schon haßte sie die Anwesenheit der Schwarmkönigin in ihrem Verstand. Sie haßte die Art und Weise, wie sie vergessene Alpträume heraufbeschwören konnte. Alles an der Schwarmkönigin war ein Alptraum. Wie konnte sich Valentine jemals vorgestellt haben, dieses Wesen sei ramännisch? Ja, es gab Kommunikation, aber zuviel davon. Kommunikation wie eine Geisteskrankheit.

Und was sie da sagte – daß sie sie so gut verstanden, weil sie philotisch mit Ender verbunden seien. Valentine erinnerte sich daran, was Miro und Jane während des Fluges gesagt hatten – war es möglich, daß ihr philotischer Strang mit dem Enders verknüpft war und durch ihn mit dem der Schwarmkönigin? Aber wie konnte so etwas geschehen sein? Wie konnte Ender überhaupt philotisch mit der Schwarmkönigin verbunden sein?

›Wir haben nach ihm gegriffen. Er war unser Feind. Versuchte, uns zu vernichten. Wir wollten ihn zähmen. Wie einen Einzelgänger.‹

Das Verständnis kam ganz plötzlich, wie eine Tür, die sich öffnete. Die Krabbler waren nicht alle lenksam geboren. Sie konnten eine eigene Identität haben. Oder zumindest einen Kontrollverlust erleben. Und so hatte die Schwarmkönigin eine Möglichkeit entwickelt, sie im Griff zu halten; sie hatte sie philotisch an sich gebunden, um sie unter ihre Kontrolle zu bekommen.

›Ihn gefunden. Konnte ihn nicht binden. Zu stark.‹

Und niemand hatte geahnt, in welcher Gefahr sich Ender befunden hatte. Daß die Schwarmkönigin erwartete, ihn an sich binden, ihn zu einem genauso geistlosen Werkzeug wie einen jeden Krabbler machen zu können.

›Ein Netz für ihn errichtet. Fand das, wonach er sich sehnte. Dachten wir. Kamen hinein. Gaben ihm einen philotischen Kern. Verbanden uns mit ihm. Aber es war nicht genug. Jetzt ihr. Du.‹

Valentine fühlte das Wort wie einen Hammer in ihrem Geist. Sie meint mich. Sie meint mich, mich, mich – sie kämpfte um die Erinnerung, wer ich war. Valentine. Ich bin Valentine. Sie meint Valentine.

›Du warst diejenige. Du. Hätte dich finden müssen. Wonach er sich am meisten sehnte. Nicht die andere Sache.‹

Ihr wurde innerlich übel. War es möglich, daß das Militär die ganze Zeit über recht gehabt hatte? War es möglich, daß nur die grausame Trennung von Valentine und Ender ihn gerettet hatte? Daß, wäre sie bei Ender gewesen, die Krabbler sie hätten benutzen können, um ihn unter Kontrolle zu bekommen?

›Nein. Konnten es nicht. Du bist auch zu stark. Wir waren verloren. Wir waren tot. Er konnte nicht zu uns gehören. Aber auch nicht zu dir. Nicht mehr. Konnten ihn nicht zähmen, aber wir verbanden uns mit ihm.‹

Valentine dachte an das Bild, das ihr auf dem Schiff in den Sinn gekommen war. Von den miteinander verbundenen Menschen, Familien, die durch unsichtbare Bande zusammengehalten wurden, Kinder mit Eltern, Eltern untereinander oder mit ihren Eltern. Ein sich stets veränderndes Netzwerk aus Fäden, die die Menschen zusammenfügten, wo auch immer ihre Treue hingehörte. Nur war es diesmal ein Bild von ihr selbst, verbunden mit Ender. Und dann von Ender, verbunden… mit der Schwarmkönigin… die Schwarmkönigin schüttelte den Ovipositor, die Stränge erzitterten, und am Ende des Stranges hüpfte Enders Kopf auf und ab…

Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich von dem Bild zu befreien.

›Wir kontrollieren ihn nicht. Er ist frei. Er kann mich töten, wenn er will. Ich werde ihn nicht aufhalten. Wirst du mich töten?‹

Diesmal war mit dem du nicht Valentine gemeint; sie fühlte, wie die Frage vor ihr zurückwich. Und als die Schwarmkönigin nun auf eine Antwort wartete, spürte sie einen anderen Gedanken in ihrem Geist. So nahe neben ihrem eigenen Denken, daß sie, wäre sie nicht so empfindsam, weil sie darauf wartete, daß Ender antwortete, ihn für ihren eigenen gehalten hätte.

Niemals, sagte der Gedanke in ihrem Geist. Ich werde dich niemals töten. Ich habe dich gern.

Und mit diesem Gedanken kam ein Schimmer echter Gefühle von der Schwarmkönigin. Plötzlich enthielt ihr geistiges Bild keine Spur von Abscheu mehr. Statt dessen wirkte sie majestätisch, königlich, großartig. Die Regenbogen ihrer Schwingen wirkten nicht mehr wie ein Ölfilm auf Wasser; das Licht, das ihre Augen reflektierten, war ein Halo; die funkelnde Flüssigkeit an der Spitze ihres Leibs bestand aus Fäden des Lebens, waren wie Milch an der Warze einer Frauenbrust, beschmiert mit Speichel vom saugenden Mund ihres Kleinkindes. Valentine hatte bis jetzt gegen die Übelkeit angekämpft, doch plötzlich betete sie die Schwarmkönigin fast an.

Sie wußte, daß es Enders Gedanken in ihrem Geist waren; deshalb fühlten sie sich fast wie ihre eigenen an. Und als sie dieses Bild von der Schwarmkönigin sah, wußte sie plötzlich, daß sie die ganze Zeit über recht gehabt hatte, daß das, was sie vor so vielen Jahren als Demosthenes geschrieben hatte, zutraf. Die Schwarmkönigin war Ramann, seltsam, aber trotzdem konnte sie verstehen, und man konnte sie verstehen.

Als das Bild verblich, hörte Valentine, daß jemand weinte. Plikt. In all ihren gemeinsamen Jahren hatte Plikt noch nie eine solche Gefühlsregung gezeigt.

»Bonita«, sagte Miro. Hübsch.

War das alles, was er gesehen hatte? Die Schwarmkönigin war hübsch? Die Kommunikation zwischen Miro und Ender mußte in der Tat schwach sein – aber wieso auch nicht? Er kannte Ender noch nicht so lange oder so gut, während Valentine Ender schon ihr ganzes Leben kannte.

Doch wenn sich dadurch erklären ließ, wieso Valentine Enders Gedanken um so vieles stärker als Miro empfing, blieb die Frage offen, warum Plikt eindeutig so vieles mehr als Valentine empfangen hatte. War es möglich, daß sich Plikt in all den Jahren, die sie Ender beobachtet und bewundert hatte, ohne ihn wirklich zu kennen, enger an Ender gebunden hatte, als sogar Valentine mit ihm verbunden war?

Natürlich hatte sie das. Natürlich. Valentine war verheiratet. Valentine hatte einen Mann. Sie hatte Kinder. Ihre philotische Verbindung zu ihrem Bruder mußte zwangsläufig schwächer geworden sein. Wohingegen Plikt keine vergleichbar starke Bindung eingegangen war. Sie hatte sich völlig Ender verschrieben. Nachdem die Schwarmkönigin also ermöglicht hatte, daß die philotischen Verschlingungen Gedanken übertrugen, mußte Plikt Ender einfach am deutlichsten empfangen. Nichts lenkte sie ab; sie hielt keinen Teil von sich zurück.

Konnte denn überhaupt Novinha, die schließlich mit ihren Kindern verbunden war, solch eine komplette Hingabe für Ender empfinden? Es war unmöglich. Und wenn Ender eine Ahnung von alledem gehabt hätte, hätte es ihn bestimmt gestört. Oder angezogen? Valentine wußte genug von Frauen und Männern, um zu erkennen, daß vollständige Hingabe die verführerischste aller Eigenschaften war. Habe ich etwa eine Rivalin mitgebracht, die Enders Ehe in Gefahr bringt?

Und können Ender und Plikt auch meine Gedanken lesen, selbst in diesem Augenblick?

Valentine fühlte sich zutiefst bloßgestellt und verängstigt. Wie als Antwort, wie um sie zu beruhigen, kehrte die geistige Stimme der Schwarmkönigin zurück und verdrängte alle Gedanken, die Ender vielleicht ausstrahlte.

›Ich weiß, wovor ihr Angst habt. Doch meine Kolonie wird niemanden töten. Wenn wir Lusitania verlassen, können wir alle Descolada-Viren auf unserem Sternenschiff töten.‹

Vielleicht, dachte Ender.

›Wir werden eine Möglichkeit finden. Wir werden den Virus nicht weitertragen. Wir müssen nicht sterben, um die Menschen zu retten. Töte uns nicht, tötet uns nicht.‹

Ich werde dich niemals töten. Enders Gedanke kam wie ein Flüstern, das in den Bitten der Schwarmkönigin fast unterging.

Wir könnten dich sowieso nicht töten, dachte Valentine. Aber du könntest uns mit Leichtigkeit töten. Sobald du deine Sternenschiffe baust. Deine Waffen. Du könntest der menschlichen Flotte gewachsen sein. Diesmal wird sie nicht von Ender kommandiert.

›Niemals. Nie jemanden töten. Nie wir versprochen.‹

Friede, kam Enders Flüstern. Friede. Sei ruhig, still, gelassen. Fürchte nichts. Fürchte keinen Menschen.

Baue kein Sternenschiff für die Schweinchen, dachte Valentine. Baue ein Sternenschiff für dich selbst, weil du die Descolada töten kannst, die du in dir trägst. Aber nicht für sie.

Die Gedanken der Schwarmkönigin wechselten abrupt vom Bitten zu barscher Ablehnung. ›Haben sie kein Recht auf Leben? Ich habe ihnen ein Schiff versprochen. Ich habe euch versprochen, niemals zu töten. Wollt ihr, daß ich Versprechen breche?‹

Nein, dachte Valentine. Sie schämte sich bereits, solch einen Verrat vorgeschlagen zu haben. Oder waren das die Gefühle der Schwarmkönigin? Oder Enders? War sie wirklich sicher, welche Gedanken und Gefühle ihre eigenen waren und welche die eines anderen?

Die Furcht, die sie empfand – es war ihre eigene, da war sie sich fast sicher.

»Bitte«, sagte sie. »Ich will gehen.«

»Eu também«, sagte Miro.

Ender machte einen Schritt auf die Schwarmkönigin zu und streckte eine Hand nach ihr aus. Sie breitete die Arme nicht aus – sie benutzte sie, um das letzte ihrer Opfer in die Eikammer zu rammen. Statt dessen hob die Königin eine Schwinge, drehte sie und schob sie zu Ender hinüber, bis seine Hand schließlich auf der schwarzen Regenbogenoberfläche ruhte.

Berühre sie nicht! rief Valentine stumm. Sie wird dich gefangennehmen! Sie will dich zähmen!

»Still«, sagte Ender laut.

Valentine war nicht sicher, ob er als Antwort auf ihre stummen Schreie sprach oder versuchte, die Schwarmkönigin zum Schweigen zu bringen, die nur etwas zu ihm sagte. Es spielte keine Rolle. Nach einem Augenblick ergriff Ender den Finger eines Krabblers und führte sie in den dunklen Tunnel zurück. Diesmal ging Valentine als zweite, Miro als dritter, und Plikt bildete die Nachhut. So war es Plikt, die den letzten Blick zurück auf die Schwarmkönigin warf; es war Plikt, die die Hand zum Abschied hob.

Den gesamten Rückweg zur Oberfläche versuchte Valentine, dem Geschehen einen Sinn zu entnehmen. Sie hatte immer angenommen, wenn die Menschen von Geist zu Geist kommunizieren und die Vieldeutigkeit der Sprache eliminieren könnten, wäre das Verständnis perfekt, und es gäbe keine unnötigen Konflikte mehr. Statt dessen hatte sie herausgefunden, daß die Sprache die Differenzen zwischen Menschen nicht vergrößerte, sondern sie verkleinerte, die Dinge glättete, so daß die Menschen miteinander zurechtkommen konnten, obwohl sie einander gar nicht wirklich verstanden. Die Illusion des Verstehens ermöglichte den Menschen die Annahme, sie seien einander ähnlicher, als es in Wirklichkeit der Fall war. Vielleicht war die Sprache doch die bessere Möglichkeit.

Sie krochen aus dem Gebäude ins Sonnenlicht, blinzelten und lachten erleichtert. »Kein Spaß«, sagte Ender. »Aber du hast darauf bestanden, Val. Du mußtest sie sofort sehen.«

»Also bin ich töricht«, sagte Valentine. »Ist das neu für dich?«

»Es war wunderschön«, sagte Plikt.

Miro legte sich lediglich im Capim auf den Rücken und bedeckte die Augen mit dem Arm.

Valentine betrachtete ihn, wie er dort lag, und erhaschte einen Blick auf den Mann, der er einmal war, den Körper, den er einmal gehabt hatte. Wie er dort lag, schwankte er nicht; da er schwieg, kamen seine Silben nicht verzögert. Kein Wunder, daß seine Xenologiekollegin sich in ihn verliebt hatte. Ouanda. So tragisch die Entdeckung, daß ihr Vater auch sein Vater war. Das war das schlimmste, was enthüllt wurde, als Ender vor dreißig Jahren auf Lusitania für die Toten sprach. Das war der Mann, den Ouanda verloren hatte; und auch Miro hatte diesen Mann verloren, der er einmal war. Kein Wunder, daß er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Nachdem er seine Geliebte verloren hatte, hielt er es für wertlos. Er bedauerte lediglich, daß er schließlich doch nicht gestorben war. Er hatte weitergelebt, äußerlich genauso gebrochen wie innerlich.

Warum dachte sie an diese Dinge, wenn sie ihn betrachtete? Warum kam es ihr plötzlich so wirklich vor?

Etwa, weil er im Augenblick selbst daran dachte? Erfaßte sie das Bild, das er sich von sich selbst machte? Gab es irgendeine schlummernde Verbindung zwischen ihren Gehirnen?

»Ender«, sagte sie, »was ist dort unten geschehen?«

»Besser, als ich es erhoffte«, sagte Ender.

»Wie bitte?«

»Die Verbindung zwischen uns.«

»Du hast damit gerechnet?«

»Ich habe sie gewollt.« Ender setzte sich auf die Seite des Wagens; seine Füße baumelten in das hohe Gras hinab. »Sie war heiß heute, nicht wahr?«

»Ach ja? Ich habe keine Vergleichsmöglichkeit.«

»Manchmal ist sie so intellektuell – wenn ich nur mit ihr spreche, habe ich den Eindruck, ich würde höhere Mathematik betreiben. Diesmal – wie ein Kind. Natürlich war ich noch nie bei ihr, als sie Königin-Eier legte. Ich glaube, sie hat uns mehr gesagt, als sie eigentlich wollte.«

»Du meinst, sie hat ihr Versprechen nicht ernst gemeint?«

»Nein, Val, sie meint ihre Versprechen immer ernst. Sie weiß nicht, was Lügen sind.«

»Was hast du dann gemeint?«

»Ich sprach von der Verbindung zwischen ihr und mir. Wie sie versuchte, mich zu zähmen. Das war doch wirklich etwas, oder? Sie war einen Augenblick lang richtig wütend, als sie dachte, du wärest vielleicht das Bindeglied gewesen, das sie brauchte. Du weißt, was das für sie bedeutet hätte – sie wären nicht vernichtet worden. Sie hätte mich vielleicht sogar benutzt, um mit der Regierung der Menschen zu kommunizieren. Die Galaxis mit uns zu teilen. Was für eine verlorene Gelegenheit.«

»Du wärest wie… wie ein Krabbler gewesen. Ihr Sklave.«

»Klar. Mir hätte es nicht gefallen. Aber all die Leben, die gerettet worden wären… ich war Soldat, nicht wahr? Wenn ein Soldat durch seinen Tod das Leben von Milliarden retten kann…«

»Aber es hätte nicht funktioniert«, sagte Valentine. »Du hast einen unabhängigen Willen.«

»Sicher«, sagte Ender. »Oder zumindest einen unabhängigeren, als die Schwarmkönigin bewältigen kann. Du übrigens auch. Tröstlich, nicht wahr?«

»Ich fühle mich im Augenblick nicht sehr getröstet«, sagte Valentine. »Du warst da unten in meinem Kopf. Und die Schwarmkönigin… ich komme mir vor, als hätte man mir Gewalt angetan.«

Ender schaute überrascht drein. »Bei mir fühlt es sich nie so an.«

»Nun, es ist nicht nur das«, sagte Valentine. »Es war auch anregend. Und erschreckend. Sie ist so… groß in meinem Kopf. Als versuchte ich, jemanden aufzunehmen, der größer ist als ich.«

»Das ist wohl auch der Fall«, sagte Ender. Er wandte sich an Plikt. »War es für dich auch so?«

Zum ersten Mal bemerkte Valentine, wie Plikt Ender ansah, mit zitterndem Blick. Doch Plikt sagte nichts.

»So stark, was?« sagte Ender. Er kicherte und drehte sich zu Miro um.

Erkannte er es nicht? Plikt war von Ender schon besessen gewesen. Nachdem sie ihn nun in ihrem Verstand gehabt hatte, war es vielleicht zuviel für sie. Die Schwarmkönigin hatte davon gesprochen, Einzelgänger zu zähmen. War Plikt vielleicht von Ender ›gezähmt‹ worden? War es möglich, daß sie ihre Seele in der seinen verloren hatte?

Absurd. Unmöglich. Ich hoffe bei Gott, daß dem nicht so ist.

»Komm hoch, Miro«, sagte Ender.

Miro gestattete Ender, ihm auf die Füße zu helfen. Dann stiegen sie in den Wagen und fuhren nach Hause.


Miro hatte ihnen gesagt, daß er nicht zur Messe gehen wollte. Ender und Novinha gingen ohne ihn. Doch kaum waren sie fort, kam es ihm unmöglich vor, im Haus zu bleiben. Er hatte noch immer das Gefühl, daß sich jemand irgendwie im Schatten aufhielt; eine kleine Gestalt, die ihn beobachtete. Umschlossen von einer glatten, harten Rüstung, mit nur zwei klauenähnlichen Fingern an den schlanken Armen, Arme, die abgebissen und fallen gelassen werden konnten wie trockenes Brennholz. Der gestrige Besuch bei der Schwarmkönigin hatte ihn mehr mitgenommen, als er es für möglich gehalten hatte.

Ich bin Xenologe, rief er sich in Erinnerung zurück. Ich habe mein Leben der Aufgabe gewidmet, mich mit Außerirdischen zu befassen. Ich stand dabei und sah zu, wie Ender Menschs Säugetierkörper die Haut abzog, und habe nicht einmal gezuckt, weil ich ein leidenschaftsloser Wissenschaftler bin. Manchmal identifiziere ich mich vielleicht zu sehr mit meinen Studienobjekten. Aber sie bescheren mir keine Alpträume, und ich fange nicht an, sie in den Schatten zu sehen.

Und doch stand er hier vor der Tür des Hauses seiner Mutter, weil es in den Grasfeldern im hellen Sonnenschein eines Sonntag morgens keine Schatten gab, aus denen ein Krabbler ihn anspringen konnte.

Bin ich der einzige, der so empfindet?

Die Schwarmkönigin ist kein Insekt. Sie und ihr Volk sind Warmblütler, genau wie die Pequeninos. Sie atmen und schwitzen wie Säugetiere. Sie tragen vielleicht noch die Widerklänge ihrer evolutionsmäßigen Verbindung mit Insekten in sich, genau wie wir unsere Ähnlichkeit mit Lemuren und Spitzmäusen und Ratten haben, doch sie haben eine helle und wunderschöne Zivilisation geschaffen. Oder zumindest eine dunkle und wunderschöne. Ich sollte sie sehen, wie Ender sie sieht, mit Respekt, Ehrfurcht und Zuneigung.

Und es gelang mir gerade eben, sie zu ertragen.

Es besteht kein Zweifel, daß die Schwarmkönigin ramännisch ist, imstande, uns zu verstehen und zu tolerieren. Die Frage ist, ob ich imstande bin, sie zu verstehen und zu tolerieren. Und ich kann nicht der einzige sein. Ender hat recht damit getan, den meisten Menschen auf Lusitania die Existenz der Schwarmkönigin zu verschweigen. Wenn sie gesehen hätten, was ich gesehen habe, oder auch nur einen Blick auf einen einzigen Krabbler erhaschten, würde sich die Furcht ausbreiten, und das Entsetzen eines jeden würde den Schrecken eines jeden nähren, bis… bis irgend etwas geschieht. Etwas Schlimmes.

Vielleicht sind wir die Varelse. Vielleicht ist der Xenozid in die menschliche Psyche eingebaut wie in die keiner anderen Spezies. Vielleicht wäre es zum Besten des Universums, wenn die Descolada entfesselt werden, sich im ganzen menschlichen Universum ausbreiten und uns einfach auslöschen würde. Vielleicht ist die Descolada Gottes Antwort auf unsere Unwürdigkeit.

Miro fand sich an der Tür der Kirche wieder. In der kühlen Morgenluft stand sie auf. In der Kathedrale hatten sie noch nicht mit dem Sakrament des Abendmahls begonnen. Er schlurfte hinein und suchte sich irgendwo hinten einen Platz. Er hatte nicht den Wunsch, heute mit Christus zu sprechen. Er brauchte einfach den Anblick anderer Menschen. Er mußte von Menschen umgeben sein. Er kniete nieder, bekreuzigte sich und blieb dann mit gesenktem Kopf hocken. Er hätte gebetet, aber im Pai Nosso war nichts, was seine Furcht eindämmen könnte. Gib uns unser täglich Brot? Vergib uns unsere Sünden? Dein Reich komme, wie im Himmel, so auf Erden? Das wäre gut. Gottes Reich, in dem der Löwe neben dem Lamm liegen könnte.

Dann kam ihm ein Bild des heiligen Stephan in den Sinn: Christus, der zur rechten Hand Gottes sitzt. Aber zu seiner linken war die Königin des Himmels. Nicht die heilige Jungfrau, sondern die Schwarmkönigin. An der Spitze ihres Leibes bebte weißer Schleim. Miro krallte die Hände in das Holz der Bank vor ihm. Gott nehme mir diese Vision. Weiche zurück, Feind.

Jemand kam und kniete neben ihm nieder. Er wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Er lauschte auf ein Geräusch, aus dem hervorging, daß es sich bei seiner Gesellschaft um einen Menschen handelte. Doch das Rascheln von Stoff konnten genausogut Schwingenhüllen sein, die über einen gehärteten Thorax glitten.

Er mußte dieses Bild verdrängen. Er öffnete die Augen. Aus den Winkeln sah er, daß der Neuankömmling kniete. Dem schlanken Arm und der Farbe des Ärmels nach zu urteilen handelte es sich um eine Frau.

»Du kannst dich nicht auf ewig vor mir verstecken«, flüsterte sie.

Mit der Stimme stimmte etwas nicht. Zu heiser. Eine Stimme, die hunderttausendmal gesprochen hatte, seit er sie zuletzt gehört hatte. Eine Stimme, die Babys Schlaflieder sang, Liebesschreie ausstieß, Kinder anschrie, sie sollten nach Hause kommen. Eine Stimme, die ihm einmal, als sie jung war, von einer Liebe erzählt hatte, die ewig währen würde.

»Miro, wenn ich dein Kreuz hätte auf mich nehmen können, ich hätte es getan.«

Mein Kreuz? Ist es das, was ich mit mir herumgetragen habe, schwer und unförmig, was mich niederdrückte? Und ich dachte, es sei mein Körper.

»Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Miro. Ich habe getrauert – eine lange Zeit. Manchmal trauere ich wohl noch' immer. Dich zu verlieren – unsere Hoffnung für die Zukunft, meine ich – es war ohnehin besser… das habe ich begriffen. Ich habe eine gute Familie gehabt, ein gutes Leben, und dir wird es genauso gehen. Doch dich als meinen Freund zu verlieren, als meinen Bruder, das war am schwersten. Ich war so einsam, ich weiß nicht, ob ich jemals darüber hinweggekommen bin.«

Dich als meine Schwester zu verlieren, war am einfachsten. Ich brauchte nicht noch eine Schwester.

»Du brichst mir das Herz, Miro. Du bist so jung. Du hast dich nicht verändert, das ist am schwersten, du hast dich in dreißig Jahren nicht verändert.«

Es war mehr, als Miro schweigend ertragen konnte. Er hob nicht den Kopf, aber die Stimme. Viel zu laut, als es mitten während der Messe angemessen war, antwortete er: »Ach nein?«

Er erhob sich, wurde sich undeutlich bewußt, daß die Leute sich umdrehten, um ihn anzusehen.

»Ach nein?« Seine Stimme war schwer zu verstehen, und er versuchte nicht, sie deutlicher klingen zu lassen. Er machte einen zögernden Schritt in den Gang und drehte sich dann endlich zu ihr um. »So hast du mich in Erinnerung?«

Sie sah zu ihm auf, entsetzt – worüber? Über Miros Sprache, seine unbeholfenen Bewegungen? Oder einfach, weil es ihr peinlich war, weil sich nicht die tragische, romantische Szene ergab, die sie sich seit dreißig Jahren vorgestellt hatte?

Ihr Gesicht war nicht alt, aber es war auch nicht Ouandas Gesicht. Im mittleren Alter, dicker, mit Falten um den Augen. Wie alt war sie? Fünfzig? Fast. Was hatte diese fünfzigjährige Frau mit ihm zu schaffen?

»Ich kenne dich nicht einmal«, sagte Miro. Dann schwankte er zur Tür hinaus und schritt in den Morgen.

Irgendwann später fand er sich im Schatten eines Baumes wieder. Welcher war es, Wühler oder Mensch? Miro versuchte sich zu erinnern – es war schließlich erst ein paar Wochen her, daß er aufgebrochen war –, doch damals war Mensch' Baum nur ein Schößling gewesen, und nun schienen beide Bäume gleich groß zu sein, und er wußte nicht mehr genau, ob Mensch hügelauf- oder abwärts von Wühler getötet worden war. Es spielte auch keine Rolle – Miro hatte nichts zu einem Baum zu sagen, und sie hatten nichts zu ihm zu sagen.

Außerdem hatte Miro die Baumsprache nie gelernt; sie hatten nicht einmal gewußt, daß dieses Schlagen mit Stöcken wirklich eine Sprache war, bis es für Miro zu spät war. Ender beherrschte es, und Ouanda und wahrscheinlich noch ein halbes Dutzend andere, aber Miro würde es niemals lernen, weil Miros Hände die Stöcke ganz einfach nicht halten und den Rhythmus schlagen konnten. Noch eine Sprache, die nutzlos für ihn war.

»Que dia chato, meu filho.«

Das war eine Stimme, die sich nie ändern würde. Und die Einstellung hatte sich auch nicht geändert: Was für ein blöder Tag, mein Sohn. Fromm und verschlagen zugleich – und voller Spott über beide Gesichtspunkte.

»Hallo, Quim.«

»Jetzt heißt es Vater Estevão, fürchte ich.« Quim hatte bereits die vollen Regalien eines Priesters erhalten, mit Robe und allem; nun raffte er sie hoch und setzte sich vor Miro in das niedergetretene Gras.

»Du siehst auch dementsprechend aus«, sagte Miro. Quim war ebenfalls älter geworden. Als Kind hatte er hager und fromm ausgesehen. Die Auseinandersetzung mit der wirklichen Welt anstelle von theologischen Theorien hatte ihm Falten und Runzeln eingebracht, doch das Gesicht, das aus dieser Veränderung resultierte, zeigte Leidenschaft. Und Stärke. »Tut mir leid, daß ich bei der Messe eine Szene gemacht habe.«

»Hast du das?« fragte Miro. »Ich war nicht da. Oder besser, ich war bei der Messe – ich war nur nicht in der Kathedrale.«

»Kommunion für die Ramänner.«

»Für die Kinder Gottes. Die Kirche hat schon ein Vokabular, um sich mit Fremden zu befassen. Wir mußten nicht auf Demosthenes warten.«

»Du mußt deshalb nicht so zynisch sein, Quim. Du hast die Begriffe nicht erfunden.«

»Streiten wir uns nicht.«

»Dann lassen wir uns auch nicht in die Meditationen anderer Leute einmischen.«

»Eine edle Einstellung. Bis auf die Tatsache, daß du dich ausgerechnet im Schatten eines meiner Freunde ausruhst, mit dem ich mich unterhalten muß. Ich dachte, es sei höflicher, zuerst mit dir zu sprechen, bevor ich mit Stöcken auf Wühler schlage.«

»Das ist Wühler?«

»Sag hallo. Ich weiß, daß er sich auf deine Rückkehr gefreut hat.«

»Ich habe ihn nie gekannt.«

»Aber er weiß alles über dich. Ich glaube, du begreifst gar nicht, Miro, was für ein Held du unter den Pequeninos bist. Sie wissen, was du für sie getan hast und was es dich gekostet hat.«

»Und wissen sie auch, was es uns alle am Ende wahrscheinlich kosten wird?«

»Am Ende werden wir alle vor Gottes Gericht stehen. Wenn ein ganzer Planet voller Seelen auf einmal genommen wird, ist es lediglich von Belang, dafür zu sorgen, daß niemand ungetauft geht, dessen Seele unter den Heiligen vielleicht willkommen gewesen wäre.«

»Also ist es dir völlig egal?«

»Mir ist es natürlich nicht egal«, entgegnete Quim. »Doch sagen wir einfach, daß es eine längere Sicht gibt, bei der Leben und Tod nicht so wichtig sind wie die Entscheidung, welches Leben wir führen und was für einen Tod wir haben.«

»Du glaubst wirklich daran, nicht wahr?« sagte Miro.

»Es kommt darauf an, was du mit ›daran‹ meinst. Ja, ich glaube daran.«

»Ich meine das alles. Ein lebender Gott, ein auferstandener Christus, Wunder, Visionen, die Taufe, die Transsubstantion…«

»Ja.«

»Wunder. Heilung.«

»Ja.«

»Wie bei dem Schrein von Großvater und Großmutter.«

»Dort wurden viele Heilungen gemeldet.«

»Du glaubst daran?«

»Miro, ich weiß es nicht – einige davon waren vielleicht hysterisch. Bei einigen handelte es sich um einen Placebo-Effekt. Einige kolportierte Heilungen waren vielleicht spontane Remissionen oder natürliche Besserungen.«

»Aber einige waren echt.«

»Vielleicht.«

»Du glaubst, daß Wunder möglich sind.«

»Ja.«

»Aber du glaubst nicht, daß eins wirklich passiert ist.«

»Miro, ich glaube, daß Wunder geschehen. Ich weiß nur nicht, wie genau die Menschen beobachten, welche Ereignisse Wunder sind und welche nicht. Viele angebliche Wunder waren zweifellos gar keine. Wahrscheinlich wurden aber auch viele Wunder gar nicht erkannt, als sie geschahen.«

»Was ist mit mir, Quim?«

»Mit dir?«

»Warum gibt es kein Wunder für mich?«

Quim zog den Kopf ein und rupfte an dem kurzen Gras vor ihm. Diese Gewohnheit hatte er schon als Kind gehabt, wenn er einer schwierigen Frage ausweichen wollte; es war die Art, wie er reagierte, wenn ihr vermeintlicher Vater, Marcao, wieder auf einer Sauftour war.

»Nun, Quim? Gibt es Wunder nur für andere Menschen?«

»Es gehört zum Wunder, daß niemand weiß, warum es geschieht.«

»Was für ein Betrüger bist du doch, Quim.«

Quim errötete. »Du willst wissen, warum du keine Wunderheilung bekommst? Weil du nicht glaubst, Miro.«

»Was ist mit dem Mann, der sagte: ›Ja, Herr, ich glaube – vergib mir meinen Unglauben.‹?«

»Bist du dieser Mann? Hast du jemals um eine Heilung gebeten?«

»Ich bitte jetzt darum«, sagte Miro. Und dann traten ungewollt Tränen in seine Augen. »O Gott«, flüsterte er. »Ich schäme mich so.«

»Weshalb?« fragte Quim. »Weil du Gott um Hilfe gebeten hast? Oder weil du vor deinem Bruder weinst? Wegen deiner Sünden? Wegen deiner Zweifel?«

Miro schüttelte den Kopf. Er wußte es nicht. Diese Fragen waren zu schwer. Dann begriff er, daß er die Antwort kannte. Er streckte die Arme aus. »Ich schäme mich dieses Körpers«, sagte er.

Quim streckte die Hände aus, ergriff Miros Arme an den Schultern und zog ihn zu sich. Seine Hände glitten Miros Arme hinab, bis sie die Gelenke umklammerten. »Das ist mein Körper, den ich euch gegeben habe, sagte er uns. So, wie du deinen Körper für die Pequeninos gegeben hast. Für die Kleinen.«

»Ja, Quim, aber er hat seinen Körper zurückbekommen, nicht wahr?«

»Er ist aber auch gestorben.«

»Kann ich so geheilt werden? Indem ich eine Möglichkeit finde, mich zu töten?«

»Sei kein Idiot«, sagte Quim. »Christus hat keinen Selbstmord begangen. Das was Judas' Verrat.«

Miros machte seinem Ärger Luft. »All diese Menschen, deren Erkältungen kuriert werden, deren Migräne auf wundersame Weise verschwindet – willst du mir sagen, daß sie vor Gott mehr verdient haben als ich?«

»Vielleicht kommt es nicht darauf an, was du verdient hast. Vielleicht kommt es darauf an, was du brauchst.«

Miro machte einen Satz und packte mit seinen halbspastischen Fingern Quims Robe. »Ich brauche meinen Körper zurück!«

»Vielleicht«, sagte Quim.

»Was meinst du mit vielleicht, du scheinheiliges, zynisches Arschloch?«

»Ich meine«, sagte Quim nachsichtig, »daß du deinen Körper bestimmt zurückhaben willst, aber Gott in seiner großen Weisheit weiß vielleicht, daß du, willst du der beste Mensch werden, der du sein kannst, eine gewisse Zeit als Krüppel verbringen mußt.«

»Wieviel Zeit?« fragte Miro.

»Bestimmt nicht länger als den Rest deines Lebens.«

Miro grunzte voller Abscheu und ließ Quims Robe los.

»Vielleicht weniger«, sagte Quim. »Ich hoffe es.«

»Hoffnung«, sagte Miro verächtlich.

»Gemeinsam mit Vertrauen und reiner Liebe eine der großen Tugenden. Du solltest es einmal damit versuchen.«

»Ich habe Ouanda gesehen.«

»Seit deiner Ankunft hat sie versucht, mit dir zu sprechen.«

»Sie ist alt und fett. Sie hat einen Haufen Babies gehabt und dreißig Jahre gelebt, und irgendein Bursche, den sie geheiratet hat, hat sie sich die ganze Zeit über von vorn und hinten vorgenommen. Ich hätte lieber ihr Grab besucht!«

»Wie großzügig von dir.«

»Du weißt, was ich meine! Es war eine gute Idee, Lusitania zu verlassen, aber dreißig Jahre waren nicht lang genug.«

»Du wärest lieber auf eine Welt zurückgekommen, auf der dich niemand kennt.«

»Hier kennt mich auch keiner.«

»Vielleicht nicht. Aber wir lieben dich, Miro.«

»Ihr liebt, was ich früher einmal war.«

»Du bist derselbe Mensch, Miro. Du hast nur einen anderen Körper.«

Miro kämpfte sich auf die Füße und stützte sich dabei auf Wühler ab. »Sprich mit deinem Baumfreund, Quim. Du hast mir nichts zu sagen, was ich hören will.«

»Das glaubst du«, sagte Quim.

»Weißt du, was schlimmer als ein Arschloch ist, Quim?«

»Klar«, sagte Quim. »Ein feindseliges, verbittertes, beleidigendes, elendes, nutzloses Arschloch voller Selbstmitleid, das eine viel zu hohe Meinung von der Bedeutung seines Leidens hat.«

Es war mehr, als Miro ertragen konnte. Er schrie vor Wut und warf sich auf Quim, schlug ihn zu Boden. Natürlich verlor Miro dabei auch das Gleichgewicht, er stürzte auf seinen Bruder und verhedderte sich dann in Quims Robe. Doch das war in Ordnung; Miro wollte nicht aufstehen, er wollte Quim prügeln, Schmerzen zufügen, als könne er dadurch einige von sich selbst nehmen.

Nach ein paar Schlägen hörte Miro allerdings auf und brach in Tränen aus, weinte an der Brust seines Bruders. Nach einem Augenblick spürte er Quims Arme um seinen Körper. Hörte Quims leise Stimme, die ein Gebet sprach.

»Pai Nosso, que estás no céu.« Dort hörte das Gebet, das Miro kannte, jedoch auf, und die Worte verwandelten sich in etwas Neues und daher Reales. »O teu filho está com dor, o meu irmao precisa a resurreiçao da alma, ele merece o refresco dá esperança.«

Miro schämte sich erneut, als er hörte, wie Quim seinem Schmerz Ausdruck verlieh, seinen ungeheuerlichen Forderungen. Wie kam er nur darauf, daß er neue Hoffnung verdient hatte? Wie konnte er es wagen, Quim aufzufordern, um ein Wunder für ihn zu beten, das seinen Körper wiederherstellte? Miro wußte, daß es nicht fair war, Quims Vertrauen wegen eines selbstmitleidigen Ungläubigen wie ihn aufs Spiel zu setzen.

Doch das Gebet ging weiter. »Ele deu tudo para os pequeninos, é tu nos disseste, Salvador, que qualquer coisa que fazemos para estes pequeninos, fazemos a ti.«

Miro wollte ihn unterbrechen. Wenn ich alles für die Schweinchen gegeben habe, tat ich es für sie und nicht für mich. Doch Quims Worte hielten ihn stumm: Du hast uns gesagt, Erlöser, daß wir alles, was wir diesen Kleinen antun, auch dir antun. Es war, als verlange Quim, daß Gott seinen Teil des Handels erfülle. Quim mußte eine seltsame Beziehung zu Gott haben, wenn er das Recht hatte, Gott zur Rechenschaft zu rufen.

»Ele náo é como Jó, perfeito na coração.«

Nein, ich bin nicht so perfekt wie Hiob. Aber ich habe alles verloren, genau wie Hiob. Ein anderer Mann hat mit der Frau, die meine Frau sein sollte, Kinder gezeugt. Andere haben meine Verpflichtungen erfüllt. Und wo Hiob Mut hatte, habe ich diese schleichende Halblähmung – würde Hiob mit mir tauschen?

»Restabeleçe a ele como restabeleçeste a Jó. Em nome do Pai, é do Filho, é do Espírito Santo. Amem.« Lasse ihn auferstehen, wie du Hiob auferstehen ließest.

Miro fühlte, wie die Arme seines Bruders ihn freigaben, und als wären es jene Arme, nicht die Schwerkraft, die ihn auf der Brust seiner Bruders hielten, erhob sich Miro sofort und sah zu seinem Bruder hinab. Ein blauer Fleck wuchs auf Quims Wange. Seine Lippe blutete.

»Ich habe dich verletzt«, sagte Miro. »Es tut mir leid.«

»Ja«, sagte Quim. »Du hast mich verletzt. Und ich habe dich verletzt. Das ist hier ein beliebter Zeitvertreib. Hilf mir auf.«

Einen Augenblick lang vergaß Miro, daß er ein Krüppel war und kaum sein Gleichgewicht halten konnte. Diesen Augenblick lang hielt er seinem Bruder die Hand hin. Doch dann gab sein Gleichgewicht nach, und er schwankte und erinnerte sich wieder daran. »Ich kann es nicht«, sagte er.

»Ach, hör doch auf, mir zu sagen, daß du ein Krüppel bist, und gib mir deine Hand.«

Also spreizte Miro die Beine und bückte sich zu seinem Bruder hinab. Zu seinem jüngeren Bruder, der nun fast dreißig Jahre älter war als er. Miro streckte die Hand aus. Quim ergriff sie, und mit Miros Hilfe stand er auf. Die Anstrengung war erschöpfend für Miro; er hatte nicht die Kraft dazu, und Quim täuschte nichts vor; er verließ sich darauf, daß Miro ihm aufstehen half. Schließlich standen sie sich gegenüber, Schulter an Schulter, die Hände noch verschränkt.

»Du bist ein guter Priester«, sagte Miro.

»Ja«, sagte Quim. »Und wenn ich jemals einen Sparringspartner brauche, rufe ich dich an.«

»Wird Gott dein Gebet beantworten?«

»Natürlich. Gott beantwortet alle Gebete.«

Miro brauchte nur einen Augenblick, um zu begreifen, was Quim meinte. »Ich meine, wird er ja sagen?«

»Da bin ich mir niemals sicher. Erzähle es mir, wenn er zugestimmt hat.«

Quim ging humpelnd zu dem Baum. Er bückte sich und hob ein paar Sprechstöcke vom Boden auf.

»Worüber sprichst du mit Wühler?«

»Er hat mich benachrichtigt, ich müsse mit ihm sprechen. Es hat in einem weit entfernten Wald eine Art Ketzerei gegeben.«

»Du hast sie bekehrt, und dann drehen sie durch, was?« sagte Miro.

»Eigentlich nicht«, entgegnete Quim. »Das ist eine Gruppe, zu der ich nie gepredigt habe. Die Vaterbäume sprechen alle miteinander, so daß sich die Ideen des Christentums schon über die ganze Welt verbreitet haben. Wie üblich scheint sich die Ketzerei schneller als die Wahrheit zu verbreiten. Und Wühler fühlt sich schuldig, weil sie aufgrund einer seiner Spekulationen entstanden ist.«

»Das ist sicher eine ernste Sache für dich«, sagte Miro.

Quim zuckte zusammen. »Nicht nur für mich.«

»Es tut mir leid. Ich meinte, für die Kirche. Für Gläubige.«

»Es ist keineswegs so provinziell, Miro. Diese Pequeninos haben sich da eine wirklich interessante Ketzerei ausgedacht. Wühler spekulierte vor einiger Zeit, es ist noch gar nicht lange her, daß, wie Christus zu den Menschen kam, der Heilige Geist eines Tages zu den Pequeninos kommen könne. Es ist eine grobe Fehlinterpretation der Heiligen Dreieinigkeit, doch dieser eine Wald hat sie ziemlich ernst genommen.«

»Klingt für mich ziemlich provinziell.«

»Für mich auch, bis Wühler mir die Einzelheiten verriet. Verstehst du, sie sind überzeugt, daß der Descolada-Virus die Inkarnation des Heiligen Geistes ist. Es ergibt in einer sonderbaren Art und Weise Sinn – da sich der Heilige Geist immer anderswo befunden hat, in der gesamten Schöpfung Gottes, ist es nur angemessen, daß seine Inkarnation der Descolada-Virus ist, der auch in jeden Teil eines jeden Lebewesens eindringt.«

»Sie beten den Virus an?«

»Allerdings. Schließlich habt ihr Wissenschaftler doch herausgefunden, daß die Pequeninos als bewußte Rasse von dem Descolada-Virus geschaffen wurden. Also ist der Virus mit der Schöpfungskraft ausgestattet, und das bedeutet, daß er göttlicher Herkunft ist.«

»Ich glaube, es gibt genauso viele wortwörtliche Beweise dafür wie für die Inkarnation Gottes in Christus.«

»Nein, wesentlich mehr. Doch wenn das alles wäre, Miro, würde ich es als Kirchenangelegenheit betrachten. Kompliziert, schwierig, aber, wie du sagtest, eigentlich unbedeutend.«

»Es ist nicht alles?«

»Die Descolada ist die zweite Taufe. Die Feuertaufe. Nur die Pequeninos können diese Taufe überstehen, und sie trägt sie ins dritte Leben. Sie stehen Gott damit eindeutig näher als die Menschen, denen das dritte Leben verweigert wurde.«

»Die Mythologie der Überlegenheit. Damit mußten wir wohl rechnen«, sagte Miro. »Die meisten Gemeinschaften versuchen, unter dem unwiderstehlichen Druck einer dominanten Kultur zu überleben, indem sie einen Mythos entwickeln, der es ihnen erlaubt, sich als ein irgendwie besonderes Volk zu sehen. Auserwählt. Von den Göttern begünstigt. Zigeuner, Juden – jede Menge historische Beispiele.«

»Versuche es mal damit, Senhor Zenador. Da die Pequeninos vom Heiligen Geist erwählt wurden, ist es ihre Aufgabe, diese zweite Taufe unter jeder Sprache und jedem Volk zu verbreiten.«

»Die Descolada verbreiten?«

»Auf jede Welt. Sie treffen ein, die Descolada breitet sich aus, paßt sich an, tötet sie – und alle treten vor ihren Schöpfer.«

»Gott stehe uns bei.«

»Das hoffen wir.«

Dann stellte Miro eine Verbindung zu etwas her, das er erst am Vortag erfahren hatte. »Quim, die Krabbler bauen ein Schiff für die Pequeninos.«

»Ender hat es mir gesagt. Und als ich Vater Tagmacher darauf ansprach…«

»Er ist ein Pequenino?«

»Eins von Menschs Kindern. ›Natürlich‹, sagte er, als wisse das jeder. Vielleicht dachte er das auch – wenn die Pequeninos es wissen, ist es bekannt. Er hat mir auch erzählt, daß diese ketzerische Gruppe versucht, das Kommando über das Schiff zu bekommen.«

»Warum?«

»Natürlich, damit sie eine bewohnte Welt anfliegen können. Anstatt sich einen unbewohnten Planeten zu suchen, ihn zu terraformen und zu kolonisieren.«

»Der richtige Begriff wäre wohl eher Lusiforming.«

»Wie komisch.« Quim lachte jedoch nicht. »Vielleicht bekommen sie ihren Willen. Diese Vorstellung, die Pequeninos seien eine überlegene Rasse, ist populär, besonders bei den nicht christlichen Pequeninos. Die meisten von ihnen sind nicht sehr gebildet. Sie verstehen nicht, daß sie von Xenozid sprechen. Davon, die menschliche Rasse auszulöschen.«

»Wie können sie so einen kleinen Tatbestand einfach übersehen?«

»Weil die Ketzer die Tatsache betonen, Gott liebe die Menschen so sehr, daß er ihnen seinen einzigen geliebten Sohn geschickt habe. Du erinnerst dich an die Inschrift.«

»Wer an ihn glaubt, wird nicht untergehen.«

»Genau. Den Gläubigen wird das ewige Leben gewährt. Wie sie es sehen, das dritte Leben.«

»Also müssen die, die sterben, ungläubig sein.«

»Nicht alle Pequeninos drängen sich danach, sich als herumziehende Racheengel zu verdingen. Aber genug von ihnen, daß man sie aufhalten muß. Nicht nur um der Mutter Kirche willen.«

»Mutter Erde.«

»Du verstehst, Miro, daß ein Missionar wie ich manchmal eine große Bedeutung in der Welt erlangt. Irgendwie muß ich diese armen Ketzer davon überzeugen, daß sie sich auf dem falschen Weg befinden und die Lehren Christus annehmen müssen.«

»Und warum sprichst du jetzt mit Wühler?«

»Um die eine Information zu bekommen, die die Pequeninos niemals herausrücken.«

»Und das wäre?«

»Es gibt Tausende von Pequeninowäldern auf Lusitania. Welcher ist der ketzerische? Ihr Sternenschiff wird schon lange gestartet sein, bevor ich ihn gefunden habe, wenn ich aufs Geratewohl durch die Wälder ziehe.«

»Du gehst allein?«

»Wie immer. Ich kann keine kleinen Brüder mitnehmen, Miro. Bis ein Wald bekehrt wurde, neigt er dazu, fremde Pequeninos zu töten. In diesem Fall ist es besser, ein Ramann als ein Utlänning zu sein.«

»Weiß Mutter, daß du gehst?«

»Sei doch nicht weltfremd, Miro. Den Teufel fürchte ich nicht, aber Mutter…«

»Weiß Andrew es?«

»Natürlich. Er besteht darauf, mich zu begleiten. Der Sprecher für die Toten genießt ein großes Ansehen, und er glaubt, er könne mir helfen.«

»Also wirst du nicht allein sein.«

»Natürlich werde ich das. Wann hat ein Mensch, der in den Panzer Gottes gekleidet ist, jemals die Hilfe eines Humanisten benötigt?«

»Andrew ist katholisch.«

»Er geht zur Messe, er nimmt das Abendmahl, er beichtet regelmäßig, aber er ist noch immer ein Sprecher für die Toten, und ich glaube nicht, daß er wirklich an Gott glaubt. Ich gehe allein.«

Miro betrachtete Quim mit neuer Bewunderung. »Du bist ein harter Hund, nicht wahr?«

»Schweißer und Schmiede sind hart. Ich bin nur ein Diener Gottes und der Kirche und habe eine Aufgabe zu erfüllen. Ich glaube, es gibt ganz neue Beweise dafür, daß mir von meinem Bruder größere Gefahr droht als von dem ketzerischsten Pequenino. Seit Menschs Tod haben sich die Pequeninos an den weltweiten Eid gehalten – niemand hat je eine Hand gegen einen Menschen gehoben. Sie mögen Ketzer sein, aber sie sind noch immer Pequeninos. Sie werden den Eid halten.«

»Es tut mir leid, daß ich dich geschlagen habe.«

»Ich habe es wie eine Umarmung hingenommen, mein Sohn.«

»Ich wünschte, es wäre eine gewesen, Vater Estevão.«

»Dann war es eine.«

Quim kehrte zu dem Baum zurück und begann, einen Rhythmus zu schlagen. Fast augenblicklich veränderte sich das Geräusch in Tonhöhe und Tonfall, als die Hohlräume im Baum ihre Form veränderten. Miro wartete einen Augenblick und lauschte, obwohl er die Sprache der Vaterbäume nicht verstand. Wühler sprach mit der einzig hörbaren Stimme, über die die Vaterbäume verfügten. Früher einmal hatte er mit einer richtigen Stimme gesprochen, die Worte mit Lippen, Zunge und Zähnen artikuliert. Es gab mehr als eine Möglichkeit, seinen Körper zu verlieren. Miro hatte etwas überstanden, wobei er eigentlich hätte sterben müssen. Er war verkrüppelt daraus hervorgegangen. Doch er konnte sich noch bewegen, wenn auch schwerfällig, und er konnte noch sprechen, wenn auch langsam. Er glaubte, wie Hiob zu leiden. Wühler und Mensch, die viel verkrüppelter waren als er, glaubten, das ewige Leben erhalten zu haben.

»Eine ziemlich häßliche Situation«, sagte Jane.

Ja, sagte Miro stumm.

»Vater Estevão sollte nicht allein gehen«, sagte sie. »Die Pequeninos waren früher furchtbare Krieger. Sie haben nicht vergessen, wie es geht.«

Dann sag es doch Ender, sagte Miro. Ich habe hier keine Macht.

»Kühn gesprochen, mein Held«, sagte Jane. »Ich werde mit Ender sprechen, während du hier auf dein Wunder wartest.«

Miro seufzte und ging zurück, den Hügel hinab und durch das Tor.

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