Kapitel 15 Leben und Tod


›Ender kommt, um mit uns zu sprechen.‹

›Zu mir kommt er ständig, um mit mir zu sprechen.‹

›Und wir können direkt in seinen Geist sprechen. Aber er besteht darauf, zu uns zu kommen. Wenn er uns nicht sieht, hat er nicht das Gefühl, mit uns zu sprechen. Es fällt ihm schwerer, zwischen seinen Gedanken und denen, die wir seinem Geist eingeben, zu unterscheiden, wenn wir uns aus der Ferne unterhalten. Deshalb kommt er.‹

›Und dir gefällt das nicht?‹

›Er will, daß wir ihm Antworten geben, und wir kennen keine.‹

›Du weißt alles, was die Menschen wissen. Du bist ins All vorgestoßen, nicht wahr? Du brauchst nicht einmal ihre Verkürzer, um von einer Welt zur anderen zu sprechen.‹

›Diese Menschen sind so hungrig auf Antworten. Sie haben so viele Fragen.‹

›Du weißt, daß auch wir Fragen haben.‹

›Sie wollen ständig wissen, warum, warum, warum. Oder wie. Wollen alles zu einem hübschen kleinen Bündel verschnüren, wie einen Kokon. Wir tun das nur, wenn wir eine Metamorphose zu einer Königin durchleben.‹

›Sie wollen alles verstehen. Aber du weißt, daß das auch bei uns der Fall ist.‹

›Ja, ihr würdet gern glauben, ihr wäret genau wie die Menschen, nicht wahr? Aber du bist nicht wie Ender. Nicht wie die Menschen. Er muß den Grund von allem wissen, muß aus allem eine Geschichte machen, und wir kennen keine Geschichten. Wir kennen Erinnerungen. Wir kennen Dinge, die gerade geschehen. Aber wir wissen nicht, warum sie geschehen, nicht so, wie er es gern hätte.‹

›Natürlich weißt du das.‹

›Uns ist es sogar gleichgültig, warum etwas geschieht, jedenfalls so, wie die Menschen es verstehen. Wir finden soviel heraus, wie wir wissen müssen, um etwas bewerkstelligen zu können, aber sie wollen immer mehr wissen, als sie wissen müssen. Nachdem sie etwas zum Funktionieren gebracht haben, wollen sie immer noch herausfinden, warum es funktioniert, und was der Grund dafür ist, daß es funktioniert.‹

›Sind wir nicht genauso?‹

›Vielleicht werdet ihr so sein, wenn sich die Descolada nicht mehr bei euch einmischt.‹

›Oder wir werden vielleicht wie deine Arbeiter sein.‹

›Wenn es so kommen sollte, wird es euch gleichgültig sein. Ihr werdet alle sehr glücklich sein. Die Intelligenz macht euch unglücklich. Die Arbeiter sind entweder hungrig oder nicht hungrig. Haben Schmerzen oder keine Schmerzen. Sie sind niemals neugierig oder enttäuscht oder erzürnt oder beschämt. Und wenn es um solche Dinge geht, lassen diese Menschen euch und mich wie Arbeiter aussehen.‹

›Ich glaube, du kennst uns einfach nicht gut genug, um einen Vergleich ziehen zu können.‹

›Wir waren in deinem Kopf, und wir waren in Enders Kopf, und wir sind seit tausend Generationen in unseren eigenen Köpfen, und im Vergleich mit diesen Menschen scheinen wir zu schlafen. Selbst wenn sie schlafen, schlafen sie nicht. Erdgeborene Tiere machen das in ihren Gehirnen – eine Art verrücktes Abfeuern von Synapsen, kontrollierter Wahnsinn. Der Teil ihres Gehirns, der Anblicke oder Geräusche speichert, feuert alle zwei oder drei Stunden los, während sie schlafen; selbst wenn alle Anblicke oder Geräusche völliger, zufälliger Unsinn sind, versucht ihr Gehirn trotzdem noch, es zu etwas Sinnvollem zu verarbeiten. Sie versuchen, Geschichten daraus zu machen. Es ist ein völlig zufälliger Unsinn mit keiner möglichen Beziehung zur echten Welt, und doch verwandeln sie es in diese verrückten Geschichten. Und dann vergessen sie sie. Aber wenn sie sich erinnern, versuchen sie, Geschichten aus diesen verrückten Geschichten zu machen und sie in ihr echtes Leben einzufügen.‹

›Wir wissen von ihren Träumen.‹

›Vielleicht werdet ihr ohne die Descolada auch träumen.‹

›Warum sollten wir träumen wollen? Träume sind bedeutungslos. Zufällige Aktivitäten der Neuronensynapsen ihrer Gehirne.‹

›Sie praktizieren es. Sie machen es ständig. Stoßen dabei auf Geschichten. Ziehen Verbindungen. Machen Sinn aus dem Unsinn.‹

›Was für einen Nutzen haben Träume, wenn sie nichts bedeuten?‹

›Das ist es ja gerade. Sie haben einen Hunger, von dem wir nichts wissen. Den Hunger nach Antworten. Den Hunger, Sinn zu finden. Den Hunger nach Geschichten.‹

›Wir haben Geschichten.‹

›Ihr erinnert euch an Taten. Sie erfinden Taten. Sie verändern die Bedeutung ihrer Geschichten. Sie wandeln Dinge um, so daß dieselbe Erinnerung tausend verschiedene Dinge bedeuten kann. Selbst in der Zufälligkeit ihrer Träume finden sie manchmal etwas, das alles erhellt. Kein einziger Mensch hat einen Verstand, der dem deinen auch nur nahe kommt. Oder unserem. Nicht annähernd so mächtig. Und ihr Leben ist so kurz, sie sterben so schnell. Doch in dem Jahrhundert, das sie vielleicht haben, finden sie zehntausend Bedeutungen für jede eine, die wir gefunden haben.‹

›Die meisten davon sind falsch.‹

›Selbst wenn die überwältigende Mehrzahl davon falsch ist, selbst wenn neunundneunzig von hundert dumm und falsch sind, bleiben ihnen von zehntausend Ideen immer noch hundert gute. So gleichen sie aus, daß sie so dumm sind und ein so kurzes Leben und kleines Gedächtnis haben.‹

›Träume und Wahnsinn.‹

›Magie und Mysterien und Philosophie.‹

›Du willst doch nicht behaupten, daß du nie Geschichten ersonnen hast. Was du mir gerade erzählt hast, ist eine Geschichte.‹

›Ich weiß.‹

›Siehst du? Die Menschen können nichts, was du nicht auch kannst.‹

›Verstehst du denn nicht? Selbst diese Geschichte habe ich aus Enders Geist. Es ist seine Geschichte. Und er hat ihren Kern von einem anderen Menschen, aus einem Buch, das er gelesen hat. Er hat es mit Dingen kombiniert, die ihm einfielen, bis alles Sinn für ihn ergab. Es ist alles in seinem Kopf. Wir hingegen sind wie du. Wir haben eine klare Sicht der Welt. Ich habe keine Probleme, meinen Weg durch deinen Geist zu finden. Alles ist ordentlich, vernünftig und klar. Du würdest dich in meinem Geist genauso zu Hause fühlen. In deinem Kopf ist die Wirklichkeit, so gut du sie verstehst. Doch in Enders Geist ist Wahnsinn. Tausende miteinander im Wettstreit liegender, gegensätzlicher, unmöglicher Visionen, die überhaupt keinen Sinn ergeben, weil sie nicht alle zusammenpassen können. Doch irgendwie passen sie zusammen; er sorgt dafür, daß sie zusammenpassen, heute so, morgen so, wie es gerade nötig ist. Als ob er für jedes neue Problem, dem er gerade gegenübersteht, eine neue Ideen-Maschinerie in seinem Kopf erzeugen könnte. Als ob er ein neues Universum entwirft, in dem er leben kann, jede Stunde ein neues, oftmals hoffnungslos falsches. Und er macht Fehler und trifft Fehlurteile, doch irgendwann findet er ein so perfekt richtiges, daß es die Dinge öffnet wie ein Wunder, und dann schaue ich durch seine Augen und sehe die Welt auf seine neue Art und Weise, und das verändert alles. Wahnsinn und dann Erleuchtung. Wir wissen alles, was es zu wissen gab, bevor wir auf diese Menschen stießen, bevor wir unsere Verbindung mit Enders Verstand errichteten. Jetzt stellen wir fest, daß es so viele Möglichkeiten gibt, ein und dieselbe Sache zu wissen, daß wir nie wieder alle Möglichkeiten finden können.‹

›Außer, die Menschen bringen es euch bei.‹

›Siehst du? Auch wir sind Aasfresser.‹

›Du bist ein Aasfresser. Wir sind Bittsteller.‹

›Wenn sie nur ihrer geistigen Fähigkeiten würdig wären.‹

›Sind sie es nicht?‹

›Vergiß nicht, sie haben vor, dich in die Luft zu jagen. Es gibt so viele Möglichkeiten in ihren Köpfen, doch letztendlich sind sie dumm, halb blind und halb verrückt. Es gibt immer noch die neunundneunzig Prozent ihrer Geschichten, die schrecklich falsch sind und sie zu schrecklichen Fehlern führen. Manchmal wünschen wir, wir könnten sie zähmen, wie die Arbeiter. Du weißt ja, bei Ender haben wir es versucht. Aber es gelang uns nicht. Wir konnten keinen Arbeiter aus ihm machen.‹

›Warum nicht?‹

›Zu dumm? Konnte uns nicht lange genug seine Aufmerksamkeit widmen. Dem menschlichen Verstand mangelt es an Konzentrationsfähigkeit. Sie langweilen sich und lassen ihre Gedanken schweigen. Wir mußten eine Brücke von ihm zu uns bauen und haben dazu den Computer benutzt, mit dem er am engsten verbunden war. Ja, Computer können sich konzentrieren. Und ihre Speicher, ihre Erinnerungen, sind sauber und ordentlich. Alles ist organisiert und läßt sich finden.‹

›Aber sie träumen nicht.‹

›Kein Wahnsinn. Zu schade.‹


Valentine erschien ungebeten an Olhados Tür. Es war früher Morgen. Er würde erst am Nachmittag zur Arbeit gehen – er war Schichtleiter und Geschäftsführer in der kleinen Ziegelei. Aber er war schon wach und auf, wahrscheinlich weil seine Familie auch schon aufgestanden war. Die Kinder kamen eins nach dem anderen zur Tür hinaus. Ich habe das damals, in den uralten Zeiten, im Fernsehen gesehen, dachte Valentine. Die Familie verläßt morgens das Haus, Vater mit seiner Aktentasche ist der letzte. Auf ihre eigene Art führten meine Eltern solch ein Leben. Sie kümmerten sich nicht darum, wie überaus seltsam ihre Kinder waren. Sie kümmerten sich nicht darum, daß Peter und ich, nachdem wir morgens zur Schule gegangen waren, die Netzwerke durchstöberten und versuchten, mit Hilfe von Pseudonymen die Welt zu übernehmen. Ihnen war es gleichgültig, daß Ender als kleiner Junge von seiner Familie fortgerissen wurde und keinen von ihnen je wiedergesehen hat, auch auf seinem einzigen Besuch auf der Erde nicht – abgesehen von mir. Ich glaube, meine Eltern stellten sich vor, richtig zu handeln, weil sie ein Ritual vollzogen, das sie im Fernsehen gesehen hatten.

Und hier haben wir es wieder. Die Kinder stürmen durch die Tür. Dieser Junge da muß Nimbo sein, der bei der Konfrontation mit dem Mob bei Grego war. Aber jetzt ist er wieder ein ganz typisches Kind – niemand würde vermuten, daß er an jenem schrecklichen Abend eine wichtige Rolle gespielt hat.

Mutter gab jedem Kind einen Kuß. Sie war noch immer eine schöne junge Frau, selbst mit so vielen Kindern. So gewöhnlich und doch eine bemerkenswerte Frau, denn sie hatte ja Vater geheiratet. Sie hatte an seiner Mißbildung vorbeigeschaut.

Und Vater, der noch nicht zur Arbeit gegangen war. Deshalb konnte er dort stehen, sie beobachten, ihnen einen Klaps geben, sie küssen, ein paar Worte sagen. Gut gelaunt, klug, liebevoll – ganz der Vater. Was stimmt also nicht mit diesem Bild? Der Vater ist Olhado. Er hat keine Augen. Nur die silbernen Metallkreise mit den beiden Linsenöffnungen in dem einen Auge, und der Computer-Input/Output-Stecker im anderen. Die Kinder schienen nicht darauf zu achten. Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt.

»Valentine«, sagte er, als er sie sah.

»Wir müssen reden«, sagte sie.

Er bat sie hinein und stellte sie seiner Frau Jaqueline vor. Die Haut so schwarz, daß sie fast blau war, lachende Augen, ein schönes, breites Lächeln, in das man eintauchen wollte, so freundlich war es. Sie brachte eiskalte Limonade auf und zog sich dann diskret zurück. »Sie können bleiben«, sagte Valentine. »So privat ist es nun auch wieder nicht.« Doch sie wollte nicht bleiben. Sie mußte arbeiten, sagte sie. Und war verschwunden.

»Ich wollte Sie schon seit langem kennenlernen«, sagte Olhado.

»Sie wußten doch, wo ich war«, erwiderte sie.

»Sie hatten zu tun.«

»Hatte ich nicht«, sagte Valentine.

»Sie müssen sich um Andrews Belange kümmern.«

»Dann lernen wir uns eben jetzt kennen. Ich war neugierig auf Sie, Olhado. Oder ziehen Sie Ihren Taufnamen Lauro vor?«

»In Milagre heißt man, wie die Leute einen nennen. Früher war ich Sule, nach meinem Mittelnamen Suleimao.«

»Salomon der Weise.«

»Doch nachdem ich meine Augen verloren hatte, war ich Olhado, und werde es auf ewig sein.«

»›Der Beobachtete‹?«

»Ja, das könnte Olhado bedeuten, das Partizip der Vergangenheit von olhar, doch in diesem Fall bedeutet es ›Der Bursche mit den Augen‹.«

»Und das ist Ihr Name.«

»Meine Frau nennt mich Lauro«, sagte er. »Und meine Kinder nennen mich Vater.«

»Und ich?«

»Wie immer Sie wollen.«

»Dann Sule.«

»Lauro, wenn es sein muß. Bei Sule komme ich mir vor, als wäre ich sechs Jahre alt.«

»Und der Name erinnert Sie an die Zeit, als Sie noch sehen konnten.«

Er lachte. »Oh, ich kann jetzt auch sehen, vielen Dank. Ich sehe sehr gut.«

»Das hat Andrew auch gesagt. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Um herauszufinden, was Sie sehen.«

»Soll ich Ihnen etwas vorspielen? Eine Szene aus der Vergangenheit? Ich habe meine Lieblingserinnerungen im Computer gespeichert. Ich kann mich jederzeit einstöpseln und abspielen, was Sie gern sehen möchten. Ich habe zum Beispiel Andrews ersten Besuch im Haus meiner Familie aufgezeichnet. Und auch ein paar erstklassige Familienstreitigkeiten. Oder ziehen Sie öffentliche Ereignisse vor? Die Amtseinführung eines jeden Bürgermeisters, seit ich diese Augen habe? Die Leute wenden sich wegen solcher Dinge an mich – was für Kleidung haben sie damals getragen, was wurde gesagt. Ich habe oft Schwierigkeiten, ihnen zu erklären, daß meine Augen Bilder aufzeichnen und keinen Ton – genau wie ihre Augen. Sie glauben, ich sei ein Holofilmer und würde alles zu ihrer Unterhaltung aufzeichnen.«

»Ich will nicht sehen, was Sie sehen. Ich will wissen, was Sie denken.«

»Ach ja?«

»Ja.«

»Ich habe keine Meinung. Nichts, was Sie interessieren würde. Ich halte mich aus Familienstreitigkeiten heraus. Habe ich immer schon getan.«

»Und aus Familienangelegenheiten. Das einzige von Novinhas Kindern, das sich nicht der Wissenschaft zugewandt hat.«

»Die Wissenschaft hat allen anderen so viel Glück gebracht, daß ich mir nicht vorstellen konnte, mich auch damit zu befassen.«

»Nicht vorstellen konnte«, wiederholte Valentine. Und dann fügte sie hinzu, weil sie herausgefunden hatte, daß leicht spröde klingende Menschen offener sprachen, wenn man sie provozierte: »Ich könnte mir vorstellen, daß Sie einfach nicht genug Grips dafür hatten.«

»Absolut richtig«, sagte Olhado. »Ich habe nur Grips genug, um Ziegel zu machen.«

»Wirklich?« fragte Valentine. »Aber Sie machen doch gar keine Ziegel.«

»Ganz im Gegenteil. Ich mache jeden Tag Hunderte von Ziegeln. Und da nun alle Löcher in ihre Häuser schlagen, um die neue Kapelle zu bauen, sehe ich für die nächste Zukunft ein stark ansteigendes Geschäft voraus.«

»Lauro«, sagte Valentine, »Sie machen keine Ziegel. Die Arbeiter in Ihrer Fabrik machen Ziegel.«

»Und ich als Geschäftsführer gehöre nicht dazu?«

»Ziegelmacher machen Ziegel. Sie machen Ziegelmacher.«

»Wahrscheinlich. Hauptsächlich jedoch mache ich Ziegelmacher müde.«

»Sie machen andere Dinge«, sagte Valentine. »Kinder.«

»Ja«, sagte Olhado, und zum ersten Mal während des Gesprächs entspannte er sich. »Das auch. Ich habe eine Partnerin.«

»Eine anmutige und wunderschöne Frau.«

»Ich habe nach Perfektion gesucht und etwas besseres gefunden.« Es war nicht nur einfach so dahingesagt. Er meinte es wirklich. Und nun war seine spröde Zurückhaltung und Vorsicht verschwunden. »Sie haben auch Kinder. Einen Mann.«

»Eine gute Familie. Vielleicht fast so gut wie Ihre. Der unseren mangelt es nur an einer perfekten Mutter, doch die Kinder werden sich davon erholen.«

»Wenn man Andrew von Ihnen sprechen hört, müssen Sie der beste Mensch sein, der jemals gelebt hat.«

»Andrew ist sehr nett. Und er kam damit durch, solche Dinge zu behaupten, weil ich nicht hier war.«

»Jetzt sind Sie hier«, sagte Olhado. »Warum?«

»Zufällig müssen einige Welten und Ramänner-Spezies überaus wichtige Entscheidungen treffen, und wie es sich herausgestellt hat, hängt ihre Zukunft zu einem großen Teil von Ihrer Familie ab. Ich habe nicht die Zeit, gemächlich herauszufinden, was ich wissen muß – zum Beispiel herauszufinden, wie die Familiendynamik funktioniert, warum Grego in einer einzigen Nacht vom Ungeheuer zum Helden werden kann, wie Miro gleichzeitig selbstmörderisch veranlagt und ehrgeizig sein kann, warum Quara bereit ist, die Pequeninos um der Descolada willen sterben zu lassen…«

»Fragen Sie Andrew. Er versteht das alles. Ich könnte das nie.«

»Andrew weilt im Augenblick in seiner eigenen kleinen Hölle. Er fühlt sich für alles verantwortlich. Er hat sein Bestes getan, aber Quim ist tot, und das einzige, worin Ihre Mutter und Andrew übereinstimmen, ist, daß es irgendwie Andrews Schuld war. Daß Ihre Mutter ihn verlassen hat, hat ihn innerlich zerrissen.«

»Ich weiß.«

»Ich weiß nicht einmal, wie ich ihn trösten kann. Oder auch nur, worauf ich als seine ihn liebende Schwester hoffen soll – daß sie wieder in sein Leben tritt oder ihn endgültig verläßt.«

Olhado zuckte mit den Achseln. Sein sprödes Benehmen war zurückgekehrt.

»Ist es Ihnen wirklich gleichgültig?« fragte Valentine. »Oder haben Sie den Vorsatz gefaßt, daß es Ihnen gleichgültig sein soll?«

»Vielleicht habe ich solch einen Vorsatz vor langer Zeit gefaßt, und jetzt ist es mir wirklich gleichgültig.«

Ein guter Gesprächspartner wußte, wann er schweigen mußte. Valentine wartete.

Doch Olhado konnte warten. Valentine hätte fast aufgegeben und etwas gesagt. Sie spielte sogar mit der Idee, ihre Niederlage einzugestehen und zu gehen.

Dann sprach er. »Als sie meine Augen ersetzt haben, nahmen sie auch die Tränendrüsen heraus. Natürliche Tränen hätten die industriellen Schmiermittel in meinen Augenhöhlen beeinflußt.«

»Industrielle Schmiermittel?«

»Ein kleiner Scherz«, sagte Olhado. »Weil sich meine Augen niemals mit Tränen füllen, scheine ich ein sehr gefühlskalter Mensch zu sein. Und die Leute können meinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Eigentlich ist das sehrkomisch. Die Augäpfel können ihre Form nicht ändern und damit einen Ausdruck zeigen. Das glaubt man nur. Ja, die Augen bewegen sich ständig – entweder, Sie halten einen Blickkontakt, oder Sie sehen nach unten oder oben –, doch meine Augen tun das auch. Sie bewegen sich noch immer mit perfekter Symmetrie. Sie deuten noch an, in welche Richtung ich schaue. Doch die Leute können es nicht ertragen, sie anzusehen. Also wenden sie den Blick ab. Sie lesen nicht den Ausdruck auf meinem Gesicht und glauben daher, daß ich gar keinen habe. Manchmal brennen meine Augen, röten sich und schwellen etwas an, als hätte ich geweint.«

»Mit anderen Worten«, sagte Valentine, »Ihnen ist es doch nicht gleichgültig.«

»Mir war es nie gleichgültig«, sagte er. »Manchmal dachte ich, ich sei der einzige, der es verstand, wenngleich ich die halbe Zeit über nicht wußte, was ich nun eigentlich verstand. Ich zog mich zurück und beobachtete, und weil ich bei den Familienzwistigkeiten mein Ego nicht durchsetzen mußte, blickte ich deutlicher durch als alle anderen. Ich sah das Machtgefüge – Mutters absolute Dominanz, obschon Marcao sie schlug, wenn er wütend oder betrunken war. Miro, der dachte, er rebelliere gegen Marcao, obwohl es in Wirklichkeit Mutter war. Gregos Gemeinheit – seine Art, mit der Furcht fertig zu werden. Quara, die immer genau das tat, was die Menschen, die ihr wichtig waren, nicht wollten. Ela, die edle Märtyrerin – was konnte sie schon sein, wenn sie nicht leiden konnte? Der heilige, aufrechte Quim, der Gott als seinen Vater gefunden hatte, unter der Voraussetzung, daß der beste aller Väter unsichtbar ist und nie die Stimme hebt.«

»Das alles haben Sie als Kind gesehen?«

»Ich bin gut darin, etwas zu durchschauen. Wir Beobachter, die zu niemandem gehören, sehen immer besser. Meinen Sie nicht auch?«

Valentine lachte. »Ja, das stimmt. Sie glauben also, wir beide spielen die gleiche Rolle? Sie und ich, wir sind Historiker?«

»Bis Ihr Bruder kam. Von dem Augenblick an, da er durch die Tür schritt, war es offensichtlich, daß er alles sah und verstand, genau wie ich es sah. Es war amüsant. Weil ich natürlich nie an meine Schlußfolgerungen über meine Familie geglaubt hatte. Ich habe nie meinem eigenen Urteil vertraut. Ich dachte sogar, ich sähe die Dinge wegen meiner Augen so eigentümlich. Daß ich, wenn ich echte Augen hätte, sie wie Miro sehen würde. Oder wie Mutter.«

»Also hat Andrew Ihre Einschätzungen bestätigt.«

»Mehr als das. Er hat gehandelt. Er hat etwas unternommen.«

»Ach?«

»Er war als Sprecher für die Toten hier. Doch in dem Augenblick, da er zur Tür hereinkam, übernahm er… übernahm er…«

»Verantwortung?«

»Ja. Er veränderte etwas. Er sah all die Krankheiten, die ich auch sah, doch er begann, sie so gut wie möglich zu heilen. Ich sah, wie er mit Grego umging, mit fester Hand, aber freundlich. Bei Quara reagierte er auf das, was sie wirklich wollte, und nicht darauf, was sie zu wollen vorgab. Bei Quim respektierte er den Abstand, den er aufrechterhalten wollte. Bei Miro, bei Ela, bei Mutter, bei allen.«

»Und bei Ihnen?«

»Er machte mich zum Teil seines Lebens. Tat sich mit mir zusammen. Sah zu, wie ich meinen Stecker herausholte, und unterhielt sich trotzdem mit mir wie mit einem Menschen. Wissen Sie, was das für mich bedeutet hat?«

»Ich kann es mir vorstellen.«

»Nein, so meine ich das nicht. Ich gestehe ein, ich war ein hungriges kleines Kind; die erste Person, die nett zu mir war, hätte mich in den Sack stecken und wieder herausholen können. Es geht darum, was er mit uns allen machte. Wie er uns alle anders behandelte und trotzdem er selbst blieb. Überlegen Sie mal, welche Männer es in meinem Leben gab. Marcao, den wir für unseren Vater hielten – ich hatte keine Ahnung, wer er war. Ich sah nur den Schnaps in ihm, wenn er betrunken, und den Durst, wenn er nüchtern war. Den Durst auf Alkohol wie auch den auf Respekt, den er niemals bekommen konnte. Und dann kippte er tot um. Die Dinge wurden augenblicklich besser. Nicht gut, aber besser. Ich dachte, der beste Vater ist der, der nicht da ist. Aber das stimmt auch nicht, oder? Denn mein echter Vater, Libo, der große Wissenschaftler, der Märtyrer, der Held der Forschung, die große Liebe meiner Mutter – er hatte all diese wunderbaren Kinder meiner Mutter gezeugt, er sah, welche Qualen die Familie erlitt, und er unternahm trotzdem nichts.«

»Andrew hat gesagt, Ihre Mutter habe es nicht zugelassen.«

»Das stimmt – und man muß seiner Mutter immer gehorchen, nicht wahr?«

»Novinha ist eine sehr imposante Frau.«

»Sie glaubt, sie sei die einzige auf der Welt, die jemals hat leiden müssen«, sagte Olhado. »Das sage ich ohne Verbitterung. Ich habe einfach beobachtet, sie ist so voller Schmerzen, daß sie über die Schmerzen eines anderen Menschen nicht sprechen kann.«

»Sagen Sie beim nächsten Mal etwas Verbittertes. Das ist vielleicht freundlicher.«

Olhado schaute überrascht drein. »Oh, Sie fällen ein Urteil über mich? Ist das die Solidarität zwischen Müttern oder so? Kinder, die schlecht von ihrer Mutter sprechen, müssen eine Abreibung bekommen? Aber ich versichere Ihnen, Valentine, ich habe es wirklich so gemeint. Keine Verbitterung. Nur Groll. Ich kenne meine Mutter, das ist alles. Sie haben mich gebeten, Ihnen zu sagen, was ich gesehen habe – und das habe ich gesehen. Das hat auch Andrew gesehen. All diese Schmerzen. Er wird von ihnen angezogen. Schmerz zieht ihn an wie ein Magnet. Und Mutter hatte so viel Schmerz, daß sie ihn fast leergesogen hat. Bis auf die Tatsache, daß man Andrew nicht aussaugen kann. Vielleicht ist der Quell des Mitgefühls in ihm unerschöpflich.«

Seine leidenschaftliche Rede über Andrew überrascht sie. Und gefiel ihr auch. »Sie haben gesagt, Quim habe sich an Gott gewandt, den perfekten unsichtbaren Vater. An wen haben Sie sich gewandt? An keinen Unsichtbaren, glaube ich.«

»Nein, an keinen Unsichtbaren.«

Valentine betrachtete schweigend sein Gesicht.

»Ich sehe alles im Flachrelief«, sagte Olhado. »Meine Tiefenwahrnehmung ist sehr schlecht. Wenn sie in beide Augen Linsen gesteckt hätten, anstatt nur in eins, wäre die Binokularität viel besser. Aber ich wollte den Stecker haben. Wegen der Computerverbindung. Ich wollte die Bilder aufzeichnen, sie mit anderen teilen können. Also sehe ich alles im Flachrelief. Alle Personen kommen mir wie leicht gerundete zweidimensionale Pappgestalten vor, die über einen flachen, gemalten Hintergrund gleiten. In gewisser Hinsicht scheinen alle Menschen etwas zusammenzurücken. Sie gleiten wie Papierblätter übereinander und reiben sich beim Vorbeigehen leicht.«

Sie hörte zu, aber er schwieg eine Weile.

»Keinen Unsichtbaren«, wiederholte er dann. »Das stimmt. Ich sah, was Andrew mit unserer Familie angestellt hatte. Ich sah, daß er hereinkam, zuhörte, beobachtete und verstand, wer wir waren, jeder einzelne von uns. Er versuchte, unsere Bedürfnisse herauszufinden und sie zu befriedigen. Er übernahm die Verantwortung für andere Menschen, und es schien ihm nichts auszumachen, welchen Preis er dafür begleichen mußte. Und obwohl er die Familie Ribeira nie normal machen konnte, gab er uns Frieden, Stolz und eine Identität. Stabilität. Er heiratete Mutter und war nett zu ihr. Er liebte uns alle. Er war immer da, wenn wir ihn brauchten, und schien nicht verletzt zu sein, wenn wir ihn nicht brauchten. Er hatte eine feste Hand, wenn er zivilisiertes Benehmen von uns erwartete, setzte aber niemals auf unsere Kosten irgendwelche Marotten durch. Und ich dachte: Das ist so viel wichtiger als die Wissenschaft. Oder die Politik. Oder irgendein Beruf oder eine Leistung, die man erbringen kann. Ich dachte: Wenn ich nur eine gute Familie gründen, nur lernen könnte, anderen Kindern ihr ganzes Leben lang das zu sein, was Andrew, der so spät in mein Leben getreten war, für mich war, dann würde es auf lange Sicht eine bessere Leistung sein als alles, was ich mit dem Verstand oder der Hände Arbeit erreichten könnte.«

»Also sind Sie ein Karrierevater«, sagte Valentine.

»Der in einer Ziegelei arbeitet, um die Familie zu ernähren und zu kleiden. Kein Ziegelmacher, der zufällig Kinder hat. Lini empfindet genauso.«

»Lini?«

»Jaqueline. Meine Frau. Sie ist ihrem eigenen Weg zum selben Ort gefolgt. Wir tun, was wir tun müssen, um uns unseren Platz in der Gesellschaft zu verdienen, doch wir leben für uns, für unser Heim. Füreinander, für unsere Kinder. Das wird mir niemals einen Eintrag in einem Geschichtsbuch einbringen.«

»Wenn Sie sich da nicht mal täuschen«, sagte Valentine.

»Über solch ein Leben zu lesen, wäre langweilig«, sagte Olhado. »Aber es ist alles andere als langweilig, es zu leben.«

»Also ist das Geheimnis, das Sie vor Ihren gepeinigten Geschwistern schützen – Glück.«

»Friede. Schönheit. Liebe. All die großen Abstraktionen. Vielleicht sehe ich sie im Flachrelief, aber dafür in der Großaufnahme.«

»Und Sie haben es von Andrew gelernt. Weiß er es?«

»Ich glaube schon«, sagte Olhado. »Wollen Sie wissen, was mein am meisten gehütetes Geheimnis ist? Wenn wir allein zusammen sind, nur er und ich oder ich und Lini und er – wenn wir allein sind, nenne ich ihn Papa, und er nennt mich Sohn.«

Valentine unternahm keine Anstrengungen, ihre Tränen zurückzuhalten. »Also hat Ender doch Kinder«, sagte sie.

»Ich habe von ihm gelernt, wie man ein Vater ist, und ich bin ein verdammt guter.«

Valentine beugte sich vor. Es war an der Zeit, zur Sache zu kommen. »Das bedeutet, daß Sie mehr als alle anderen in Gefahr sind, etwas wahrhaft Schönes und Gutes zu verlieren, wenn wir mit unseren Unternehmungen keinen Erfolg haben.«

»Ich weiß«, sagte Olhado. »Meine Wahl war auf lange Sicht selbstsüchtig. Ich bin glücklich, aber ich kann nichts tun, um zur Rettung Lusitanias beizutragen.«

»Falsch«, sagte Valentine. »Sie können etwas tun, wissen es aber nicht.«

»Was kann ich tun?«

»Unterhalten wir uns noch eine Weile und stellen wir fest, ob wir es herausfinden können. Und wenn Sie einverstanden sind, Laura, sollte Ihre Jaqueline jetzt damit aufhören, uns aus der Küche zu belauschen, und sich zu uns gesellen.«

Jaqueline kam beschämt herein und setzte sich neben ihren Mann. Valentine gefiel es, wie sie Händchen hielten. Nach so vielen Kindern – es erinnerte sie daran, wie sie mit Jakt Händchen hielt und wie glücklich es sie machte.

»Lauro«, sagte sie. »Andrew hat mir erzählt, als Sie jünger waren, waren Sie das klügste der Ribeira-Kinder. Daß Sie sich mit ihm über die wildesten philosophischen Spekulationen unterhalten haben. Und jetzt, Lauro, mein Adoptivneffe, brauchen wir wilde Philosophien. Hat Ihr Gehirn aufgehört zu arbeiten, seit Sie ein Kind waren? Oder haben Sie noch tiefgründige Gedanken?«

»Ich habe meine Gedanken«, sagte Olhado, »aber ich glaube nicht mehr daran.«

»Wir arbeiten am Überlichtflug, Lauro. Wir arbeiten daran, die Seele einer Computerwesenheit zu finden. Wir versuchen, einen künstlichen Virus umzubauen, in den man die Fähigkeit der Selbstverteidigung eingebaut hat. Wir arbeiten an Magie und Wundern: Also wäre ich dankbar für alle Einblicke, die Sie mir über die Natur des Lebens und der Wirklichkeit geben können.«

»Ich weiß nicht einmal, über welche Ideen Andrew gesprochen hat«, erwiderte Olhado. »Ich habe nicht Physik studiert, ich…«

»Wollte ich studieren, würde ich Bücher lesen. Also will ich Ihnen sagen, was wir einem sehr klugen chinesischen Dienstmädchen auf der Welt Weg gesagt haben. Lassen Sie mich Ihre Gedanken wissen, und ich werde selbst entscheiden, welche nützlich sind und welche nicht.«

»Wie? Sie sind auch keine Physikerin.«

Valentine ging zu dem Computer, der stumm in der Ecke wartete. »Darf ich ihn einschalten?«

»Pois nao«, sagte er. Natürlich.

»Sobald ich ihn eingeschaltet habe, wird Jane bei uns sein.«

»Enders persönliches Programm.«

»Die Computerwesenheit, deren Seele wir zu finden versuchen.«

»Ah«, sagte er. »Vielleicht sollten Sie mir etwas erklären.«

»Ich weiß schon, was ich weiß. Also fangen wir an. Sprechen wir über die Ideen, die Sie als Kind hatten, und was aus ihnen geworden ist.«


Von dem Augenblick an, da Miro das Zimmer betrat, war Quara abweisend. »Gib dir keine Mühe«, sagte sie.

»Womit?«

»Mich an meine Pflicht der Menschheit oder der Familie gegenüber zu erinnern – bei denen es sich übrigens um zwei verschiedene, sich nicht überlappende Gruppen handelt.«

»Bin ich deshalb gekommen?« fragte Miro.

»Ela hat dich geschickt, um mich zu überreden, ihr zu verraten, wie man die Descolada kastrieren kann.«

Miro versuchte es mit Humor. »Ich bin kein Biologe. Ist das überhaupt möglich?«

»Stell dich nicht dumm«, sagte Quara. »Wenn du ihnen die Fähigkeit nimmst, Informationen von einem Virus zum anderen weiterzuleiten, ist es so, als würdest du ihnen die Zungen abschneiden und ihnen ihr Gedächtnis nehmen und alles, was sie intelligent macht. Wenn sie wissen will, was ich darüber weiß, kann sie studieren, was ich studiert habe. Ich habe nur fünf Jahre Arbeit gebraucht, um soweit zu kommen.«

»Eine Flotte ist im Anmarsch.«

»Also bist du ein Unterhändler.«

»Und die Descolada könnte vielleicht herausbekommen, wie…«

Sie unterbrach ihn und beendete den Satz. »… sie all unsere Strategien umgehen kann, sie zu bändigen. Ich weiß.«

Miro war verärgert, doch er war es gewöhnt, mit Leuten umzugehen, die ungeduldig mit seiner langsamen Sprache wurden und ihn unterbrachen. Und zumindest hatte sie ganz richtig vermutet, worauf er hinauswollte. »Jeden Tag«, sagte er. »Ela spürt den Zeitdruck.«

»Dann sollte sie mir helfen zu lernen, mit dem Virus zu sprechen. Ihn zu überreden, uns in Ruhe zu lassen. Einen Vertrag schließen, wie Andrew es mit den Pequeninos getan hat. Statt dessen hat sie mich aus dem Labor verbannt. Aber dieses Spiel können auch zwei spielen. Sie schneidet mich von allen Informationen ab, und ich schneide sie ab.«

»Du hast Geheimnisse an die Pequeninos verraten.«

»O ja, Mutter und Ela, die Hüterinnen der Wahrheit! Sie entscheiden, wer was wissen darf. Nun, Miro, jetzt will ich dir ein Geheimnis verraten. Du kannst die Wahrheit nicht schützen, indem du verhinderst, daß andere sie erfahren.«

»Das weiß ich«, sagte Miro.

»Wegen ihrer verdammten Geheimnisse hat Mutter unsere ganze Familie zerstört. Sie wollte nicht einmal Libo heiraten, weil sie entschlossen war, ein dummes Geheimnis zu bewahren, das ihm vielleicht das Leben gerettet hätte, wenn er es gekannt hätte.«

»Ich weiß«, sagte Miro.

Diesmal sprach er mit solchen Nachdruck, daß Quara zurückprallte. »Na schön, ich glaube, dieses Geheimnis war dir wichtiger als mir. Aber bei dieser Sache solltest du auf meiner Seite stehen, Miro. Dein Leben wäre wesentlich besser, unser aller Leben wäre wesentlich besser, wenn Mutter Libo geheiratet und ihm all ihre Geheimnisse verraten hätte. Dann würde er wahrscheinlich noch leben.«

Eine sehr saubere Lösung. Hübsche kleine Was-wäre-wenns. Und so falsch wie irgend etwas. Hätte Libo Novinha geheiratet, hätte er Bruxinha, Quandas Mutter, nicht geheiratet, und dann hätte sich Miro niemals ahnungslos in seine eigene Halbschwester verlieben können, weil es sie gar nicht gegeben hätte. Doch es war viel zu kompliziert, ihr das mit seiner schleppenden Aussprache begreiflich zu machen, und so beschränkte er sich nur darauf, »Quanda wäre nicht geboren worden!« zu sagen und zu hoffen, daß sie die richtigen Schlußfolgerungen ziehen würde.

Sie überlegte einen Augenblick lang, und dann zog sie die Schlußfolgerung. »Da hast du recht«, sagte sie. »Es tut mit leid. Ich war damals nur ein Kind.«

»Das ist alles Vergangenheit«, sagte Miro.

»Nichts ist Vergangenheit«, sagte Quara. »Wir spielen es noch immer durch, immer und immer wieder. Immer wieder dieselben Fehler. Mutter glaubt noch immer, daß man Menschen vor Schaden bewahren kann, indem man ihnen Geheimnisse vorenthält.«

»Und du glaubst es auch«, sagte Miro.

Quara dachte kurz darüber nach. »Ela hat versucht, den Pequeninos zu verheimlichen, daß sie daran arbeitet, die Descolada zu vernichten. Dieses Geheimnis hätte die gesamte Pequenino-Gesellschaft zerstören können, und sie wurden nicht einmal um Rat gefragt. Sie hat verhindert, daß die Pequeninos sich selbst schützen konnten. Doch ich bewahre ein Geheimnis, das vielleicht eine Möglichkeit darstellt, die Descolada intellektuell zu kastrieren, ihr die Hälfte ihres Lebens zu nehmen.«

»Um die Menschheit zu retten, ohne die Pequeninos zu vernichten.«

»Menschen und Pequeninos, die drauf und dran sind, einen Kompromiß zu schließen, wie sie eine hilflose dritte Spezies ausmerzen können!«

»Nicht gerade hilflos.«

Sie ignorierte ihn. »Genauso, wie Spanien und Portugal in den alten Zeiten direkt nach Kolumbus den Papst dazu brachten, die Welt zwischen Ihren katholischen Majestäten aufzuteilen. Eine Linie auf der Landkarte, und da ist Brasilien, in dem Portugiesisch und kein Spanisch gesprochen wird. Was interessiert es schon, daß neun von zehn Indianern sterben mußten und die anderen jahrhundertlang ihre Rechte und Macht verloren, sogar ihre Sprachen…«

Nun war es an Miro, ungeduldig zu werden. »Die Descolada ist nicht die Indianer.«

»Sie ist eine vernunftbegabte Spezies.«

»Das ist sie nicht«, sagte Miro.

»Ach? Wie kannst du dir da so sicher sein? Ich dachte, du hättest Xenologie studiert. Allerdings vor dreißig Jahren, so daß dein Wissensstand hinterherhinkt.«

Miro antwortete nicht. Er wußte genau, daß sie genau wußte, wie hart er nach seiner Rückkehr gearbeitet hatte, um sich auf den neuesten Stand zu bringen. Es war ein dummer Versuch gewesen, ihre Autorität auszuspielen. Er wartete darauf, daß sie sich wieder zu einer vernünftigen Diskussion bereit zeigte.

»Na schön«, sagte sie. »Das war ein Tiefschlag. Aber es ist auch nicht fair, dich zu schicken, um Zugang zu meinen Unterlagen zu bekommen. Sie versuchen, an mein Mitleid zu appellieren.«

»Mitleid?« fragte Miro.

»Weil du ein… ein…«

»Krüppel bist«, sagte Miro. Er hatte nicht daran gedacht, daß Mitleid alles komplizieren konnte. Aber was konnte er daran ändern? Was immer er tat, er war und blieb ein Krüppel.

»Nun ja…«

»Ela hat mich nicht geschickt«, sagte Miro.

»Dann Mutter.«

»Mutter auch nicht.«

»Oh, hast du dich freiwillig hierher begeben? Oder willst du mir sagen, daß die ganze Menschheit dich geschickt hat? Oder bist du der Gesandte eines abstrakten Wertes? ›Der Anstand hat mich geschickt.‹«

»Wenn dem so wäre, hätte er mich zur falschen Person geschickt.«

Sie prallte zurück, als habe er ihr eine Ohrfeige gegeben. »Ach, bin ich etwa die Unanständige?«

»Andrew hat mich geschickt«, sagte Miro.

»Noch ein Manipulator.«

»Er wäre selbst gekommen.«

»Aber er ist so beschäftigt, weil er sich überall einmischen muß. Nossa Senhora, er ist ein Prediger, der sich in wissenschaftliche Dinge einmischt, die so hoch über ihm stehen…«

»Halt die Klappe«, sagte Miro.

Er sprach so nachdrücklich, daß sie tatsächlich verstummte – wenngleich sie nicht glücklich darüber war.

»Du weißt genau, was Andrew ist. Er hat die Schwarmkönigin geschrieben…«

»… und den Hegemon und Menschs Leben.«

»Sag mir nicht, er habe keine Ahnung.«

»Nein. Ich weiß, daß das nicht stimmt«, sagte Quara. »Ich bin nur so wütend. Ich habe den Eindruck, daß alle gegen mich sind.«

»Gegen das, was du tust, ja«, sagte Miro.

»Warum sieht niemand die Dinge so, wie ich sie sehe?«

»Ich sehe sie so.«

»Wie kannst du dann…«

»Aber ich sehe sie auch so, wie sie sie sehen.«

»Ach ja. Der Unparteiische. Du tust so, als würdest du mich verstehen. Die einfühlsame Tour.«

»Pflanzer stirbt, damit wir Informationen bekommen, die du wahrscheinlich schon hast.«

»Stimmt nicht. Ich weiß nicht, ob die Intelligenz der Pequeninos vom Virus stammt oder nicht.«

»Einen gestutzten Virus könnten wir untersuchen, ohne daß er sterben muß.«

»Gestutzt – ist das jetzt das neue Wort? Es klingt besser als kastriert. Alle Gliedmaßen abschneiden. Und auch den Kopf. Nur der Körper bleibt noch übrig. Machtlos. Geistlos. Ein sinnlos schlagendes Herz.«

»Pflanzer ist…«

»Pflanzer ist in die Vorstellung verliebt, ein Märtyrer zu sein. Er will sterben.«

»Pflanzer bittet dich, ihn aufzusuchen und mit ihm zu sprechen.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Komm schon, Miro. Sie haben einen Krüppel zu mir geschickt. Sie wollen, daß ich mit einem sterbenden Pequenino spreche. Als würde ich eine ganze Spezies verraten, weil ein sterbender Freund – überdies ein Freiwilliger – mich mit dem letzten Atemzug darum bittet.«

»Quara.«

»Ja, ich höre dir zu.«

»Wirklich?«

»Disse que sim!« schnappte sie. Ich habe es doch gesagt.

»Du könntest vielleicht recht haben.«

»Wie freundlich von dir.«

»Aber sie vielleicht auch.«

»Wie unparteiisch du wieder bist.«

»Du sagst, sie hätten einen Fehler begangen, indem sie eine Entscheidung trafen, die die Pequeninos töten könnte, ohne sich mit ihnen zu beratschlagen. Machst du…«

»… nicht dasselbe? Was sollte ich deiner Meinung nach denn tun? Meinen Standpunkt veröffentlichen und eine Umfrage durchführen? Ein paar tausend Menschen, Millionen von Pequeninos auf deiner Seite – aber es gibt Billiarden Descolada-Viren. Mehrheitsbeschluß. Fall abgeschlossen.«

»Die Descolada ist nicht vernunftbegabt.«

»Zu deiner Information«, sagte Quara. »Ich weiß alles über diesen neuesten Schachzug. Ela hat mir die Abschriften geschickt. Irgendein chinesisches Mädchen auf einem Kolonialplaneten, das von Xenobiologie nicht die geringste Ahnung hat, kommt mit einer wilden Hypothese hervor, und ihr benehmt euch so, als sei alles schon bewiesen.«

»Dann beweise das Gegenteil.«

»Das kann ich nicht. Ich habe keinen Zutritt zum Labor mehr. Ihr müßt beweisen, daß es stimmt.«

»Occams Skalpell beweist, daß es stimmt. Die einfachste Erklärung, die zu allen Tatsachen paßt.«

»Occam war ein Scheißer aus dem Mittelalter. Die einfachste Erklärung, die zu allen Tatsachen paßt, lautet immer: Gott hat es getan. Oder auch – die alte Frau am Ende der Straße ist eine Hexe. Sie hat es getan. Mehr ist diese Hypothese auch nicht – nur, daß ihr noch nicht einmal wißt, wo die Hexe ist.«

»Die Descolada trat zu plötzlich auf.«

»Ich weiß, sie hat sich nicht entwickelt. Sie ist nicht aus der Evolution hervorgegangen, muß von irgendwo her kommen. Na schön. Selbst wenn sie künstlich ist, heißt das nicht, daß sie jetzt nicht vernunftbegabt ist.«

»Sie versucht, uns zu töten. Sie ist varelse, nicht ramännisch.«

»Ach ja, Valentines Hierarchie. Aber woher soll ich wissen, daß die Descolada die Varelse ist und wir die Ramänner sind? Soweit ich es sagen kann, ist Intelligenz einfach nur Intelligenz. Varelse ist nur ein Begriff, den Valentine erfunden hat. Er soll bedeuten: Intelligenz, die wir töten wollen. Und Ramann heißt: Intelligenz, bei der wir uns noch nicht entschlossen haben, sie zu töten.«

»Die Descolada ist gefühlloser Feind, der keiner Vernunft zugänglich ist.«

»Gibt es einen anderen?«

»Die Descolada hat keinen Respekt für irgendwelches Leben. Sie will uns töten. Sie beherrscht bereits die Pequeninos. Alles nur, damit sie diesen Planeten regulieren und sich auf andere Welten ausbreiten kann.«

Endlich einmal hatte sie ihn eine lange Erklärung beenden lassen. Bedeutete das, daß sie ihm tatsächlich zuhörte?

»Ich gestehe ein, daß ein Teil von Wang-mus Hypothese richtig ist«, sagte Quara. »Es ergibt Sinn, daß die Descolada die Gaialogie Lusitanias reguliert. Nun, wo ich darüber nachdenke, ist es sogar offensichtlich. Es erklärt die meisten Gespräche, die ich beobachtet habe – die Informationsweitergabe von einem Virus zum anderen. Es dürfte wohl nur ein paar Monate dauern, bis jeder Virus auf dem Planeten die Nachricht bekommen hat – es würde funktionieren. Aber daß die Descolada die Gaialogie beherrscht, heißt noch lange nicht, daß sie nicht vernunftbegabt ist. Es könnte sogar genau andersherum sein – indem die Descolada die Verantwortung zur Regulierung der Gaialogie einer ganzen Welt auf sich nimmt, zeigt sie Selbstlosigkeit. Und sie hat eine Beschützerrolle inne. Wenn wir sehen, wie eine Löwin einen Eindringling angreift, um ihre Jungen zu schützen, bewundern wir sie. Und genau das macht auch die Descolada – sie greift die Menschen an, um ihrer Verantwortung nachzukommen. Ein lebender Planet.«

»Eine Löwin, die ihre Jungen schützt.«

»Davon gehe ich aus.«

»Oder ein tollwütiger Hund, der unsere Kinder anfällt.«

Quara schwieg, dachte einen Augenblick lang nach. »Oder beides. Warum kann nicht beides möglich sein? Die Descolada versucht, einen Planeten zu regulieren. Aber die Menschen werden immer gefährlicher. Für sie sind wir der tollwütige Hund. Wir entwurzeln die Pflanzen, die Teil ihres Kontrollprogramms sind, und pflanzen unsere eigenen, auf die sie keinen Einfluß nehmen kann. Wir bringen einige Pequeninos dazu, sich seltsam zu benehmen und ihr nicht mehr zu gehorchen. Zu einer Zeit, da sie versucht, mehr Wälder aufzubauen, brennen wir einen nieder. Natürlich will sie uns loswerden!«

»Also hat sie vor, uns zu vernichten.«

»Wir können ihr den Versuch nicht übelnehmen! Wann wirst du einsehen, daß die Descolada gewisse Rechte hat?«

»Und wir haben keine? Und die Pequeninos?«

Erneut hielt sie inne. Kein sofortiges Gegenargument. Es gab ihm die Hoffnung, daß sie ihm tatsächlich zuhörte.

»Weißt du was, Miro?«

»Was?«

»Sie haben recht daran getan, dich zu schicken.«

»Ach ja?«

»Weil du keiner von ihnen bist.«

Das stimmt allerdings, dachte Miro. Ich werde nie wieder ›einer von‹ irgend etwas sein.

»Vielleicht können wir nicht mit der Descolada sprechen. Und vielleicht ist sie wirklich nur ein Artefakt. Ein biologischer Roboter, der sein Programm ausführt. Aber vielleicht auch nicht. Und sie verhindern, daß ich es herausfinde.«

»Und wenn sie dir wieder Zutritt zum Labor gestatten?«

»Das werden sie nicht«, sagte Quara. »Wenn du das glaubst, kennst du Ela und Mutter nicht. Sie sind zum Schluß gekommen, daß sie mir nicht vertrauen können, und damit ist die Sache erledigt. Nun ja, andererseits bin ich auch zum Schluß gekommen, ihnen nicht vertrauen zu können.«

»Also stirbt eine ganze Spezies wegen dieses dummen Familienstolzes.«

»Meinst du, das wäre alles, Miro? Stolz? Meinst du, ich würde nur wegen einer lächerlichen Familienzwistigkeit durchhalten?«

»Unsere Familie hat sehr viel Stolz.«

»Gleichgültig, was du glaubst, ich halte durch, weil mein Gewissen es mir vorschreibt, ganz egal, ob du es Stolz oder Sturheit oder sonstwie nennst.«

»Ich glaube dir«, sagte Miro.

»Aber glaube ich dir, wenn du sagst, daß du mir glaubst? Wir stecken in einer furchtbaren Klemme.« Sie wandte sich wieder ihrem Terminal zu. »Geh jetzt, Miro. Ich habe dir gesagt, daß ich darüber nachdenken werde.«

»Sprich mit Pflanzer.«

»Auch darüber werde ich nachdenken.« Ihre Finger schwebten über der Tastatur. »Du weißt, daß er mein Freund ist. Ich bin nicht unmenschlich. Ich werde ihn aufsuchen. Du kannst dich darauf verlassen.«

»Gut.« Er ging zur Tür.

»Miro«, sagte sie.

Er drehte sich um und wartete.

»Danke dafür, daß du mir nicht angedroht hast, euer Computerprogramm würde meine Speicher öffnen, wenn ich es nicht selbst tue.«

»Das war doch klar«, sagte er.

»Weißt du, Andrew hätte damit gedroht. Alle halten ihn für einen Heiligen, aber er bedrängt ständig Leute, die nicht nach seiner Pfeife tanzen wollen.«

»Er droht nicht.«

»Ich habe es schon selbst gesehen.«

»Er warnt.«

»Oh. Entschuldigung. Ist das etwas anderes?«

»Ja«, sagte Miro.

»Der einzige Unterschied zwischen einer Warnung und einer Drohung ist, ob man die Person ist, die sie gibt, oder die, die sie bekommt«, sagte Quara.

»Nein«, sagte Quara. »Der Unterschied besteht darin, wie die Person es meint.«

»Geh«, sagte sie. »Während ich darüber nachdenke, muß ich arbeiten. Also geh.«

Er öffnete die Tür.

»Trotzdem vielen Dank«, sagte sie.

Er schloß die Tür hinter sich.

Er hatte Quaras Wohnung kaum verlassen, als sich Jane auch schon in seinem Ohr meldete. »Wie ich sehe, hast du ihr nicht gesagt, daß ich schon längst in ihre Speicher eingebrochen bin.«

»Nun ja«, sagte Miro. »Ich kam mir wie ein scheinheiliger Heuchler vor, als sie mir dankte, ihr nicht etwas anzudrohen, was ich schon längst getan hatte.«

»Was ich getan habe.«

»Was wir getan haben. Du und ich und Ender. Eine verstohlene Gruppe.«

»Wird sie wirklich darüber nachdenken?«

»Vielleicht«, sagte Miro. »Oder sie hat schon darüber nachgedacht, ist zum Schluß gelangt, mit uns zusammenarbeiten zu wollen, und hat nur noch nach einer Entschuldigung gesucht. Oder sie hat den Schluß gefaßt, niemals mit uns zusammenarbeiten, und hat diese netten Worte beim Abschied nur gesagt, weil ich ihr leid tue.«

»Was wird sie deiner Meinung nach tun?«

»Ich weiß nicht, was sie tun wird«, sagte Miro. »Ich weiß nur, was ich tun werde. Ich werde mich jedesmal schämen, wenn ich daran denke, daß ich sie glauben machte, ich würde ihre Privatsphäre respektieren, wo wir doch schon ihre Computerspeicher ausgeplündert haben. Manchmal halte ich mich nicht für einen sehr guten Menschen.«

»Wie dir sicher aufgefallen ist, hat sie dir nicht gesagt, daß sie alle wichtigen Ergebnisse außerhalb des Computers versteckt hat, so daß die einzigen Speicher, die ich erreichen kann, nur wertlosen Schrott enthalten. Sie war auch nicht gerade offen zu dir.«

»Ja, aber sie ist eine Fanatikerin ohne Gefühl für Verhältnismäßigkeit.«

»Das erklärt alles.«

»Einige Wesenszüge treten eben bei allen Familienmitgliedern auf«, sagte Miro.


Diesmal war die Schwarmkönigin allein. Sie wirkte erschöpft – von der Paarung? Der Produktion der Eier? Doch anscheinend verbrachte sie ihre gesamte Zeit damit. Sie schien keine Wahl zu haben. Nun, da Arbeiter die Grenzen der menschlichen Kolonie bewachen mußten, schien sie mehr produzieren zu müssen, als sie geplant hatte. Ihre Nachkommen bedurften keiner Ausbildung – sie traten schnell ins Erwachsenenalter und hatten alle Kenntnisse, die auch alle anderen Erwachsenen hatten. Doch das Eierlegen, Ausschlüpfen und Einspinnen in Kokons beanspruchte Zeit. Wochen für jeden Erwachsenen. Verglichen mit einem Menschen produzierte sie eine schier unerschöpfliche Anzahl von Jungen. Doch verglichen mit der Stadt Milagre, in der es über tausend Frauen im gebärfähigen Alter gab, verfügte die Krabblerkolonie nur über eine gebärfähige Frau.

Es hatte Ender immer gestört, ihn unbehaglich gemacht, daß es nur eine Königin gab. Was, wenn ihr etwas zustieß? Andererseits jedoch fühlte sich die Schwarmkönigin bei dem Gedanken unbehaglich, daß Menschen kaum eine Handvoll Kinder bekamen. Aber wenn ihnen etwas zustieß? Beide Spezies praktizierten eine Kombination aus Pflege und Überfluß, um ihre genetische Herkunft zu schützen. Die Menschen hatten einen Überfluß an Eltern und pflegten dann den wenigen Nachwuchs. Die Schwarmkönigin hatte einen Überfluß an Nachwuchs, der dann die Eltern pflegte. Jede Spezies hatte ihre eigene, ausgeglichene Strategie gefunden.

›Warum belästigst du uns damit?‹

»Weil wir in einer Sackgasse stecken. Weil alle anderen es auch versuchen und für dich genausoviel auf dem Spiel steht wie für uns.«

›Ja?‹

»Die Descolada bedroht dich genau wie uns. Eines Tages wirst du sie wahrscheinlich nicht mehr kontrollieren können, und dann bist du verloren.«

›Aber du willst mir keine Fragen über die Descolada stellen?‹

»Nein.« Es ging um das Problem der überlichtschnellen Reise. Grego hatte sich das Gehirn zermartert. Im Gefängnis konnte er sowieso an nichts anderes denken. Als Ender das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, hatte er geweint – vor Erschöpfung wie auch vor Enttäuschung. Er hatte Papierbahnen auf dem gesamten Boden des Sicherheitsraums, der als Gefängniszelle benutzt wurde, ausgebreitet und mit Gleichungen vollgeschrieben. »Möchtest du den Überlichtflug nicht haben?«

›Es wäre sehr nett.‹

Die Zurückhaltung ihrer Antwort tat fast weh, so sehr enttäuschte sie ihn. So sieht also Verzweiflung aus, dachte er. Quara mauert, wenn es um die Natur der Descolada-Intelligenz geht. Pflanzer stirbt am Descolada-Entzug. Han Fei-tzu und Wang-mu bemühen sich, Jahre des höheren Studiums mehrerer Fachgebiete auf einmal nachzuholen. Grego ist ausgebrannt. Und es liegen keine Ergebnisse vor.

Sie mußte seinen Schmerz so deutlich gehört haben, als hätte er ihn hinausgeschrien.

›Nicht.‹

›Nicht.‹

»Du hast es getan«, sagte er. »Es muß also möglich sein.«

›Wir sind nie schneller als das Licht gereist.‹

»Du hast etwas über Lichtjahre hinweg getan. Du hast mich gefunden.«

›Du hast uns gefunden, Ender.‹

»Nein«, sagte er. »Ich wußte nicht einmal, daß wir geistigen Kontakt miteinander hatten, bis ich die Nachricht fand, die du für mich hinterlassen hast.« Es war der befremdlichste Augenblick in seinem Leben gewesen, als er auf einer fremden Welt gestanden und ein Modell, eine Replikation der Landschaft gesehen hatte, die es nur an einem einzigen anderen Ort gab – in dem Computer, auf dem er seine persönliche Version des Fantasyspiels gespielt hatte. Es war, als käme ein völlig Fremder auf einen zu und erzählte einem den Traum, den man letzte Nacht gehabt hatte. Sie waren in seinem Kopf gewesen. Es machte ihm Angst, erregte ihn aber auch. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er den Eindruck, gekannt zu werden. Nicht, daß man von ihm wußte – er war bei der gesamten Menschheit bekannt, und in jenen Tagen war sein Ruhm groß gewesen, er galt als größter Held aller Zeiten. Andere Menschen hatten von ihm gehört. Doch bei diesem Krabbler-Artefakt fand er zum ersten Mal heraus, daß man ihn kannte.

›Denke nach, Ender. Ja, wir haben nach unserem Feind gegriffen, doch wir suchten nicht nach dir. Wir suchten nach jemandem, der so war wie wir. Nach einem Netzwerk verbundener Geistesinhalte, mit einem Zentralverstand, der es kontrolliert. Wir finden uns einander, ohne uns anstrengen zu müssen, weil wir das Muster erkennen. Eine Schwester zu finden ist genauso, als würde man sich selbst finden.‹

»Wie hast du mich dann gefunden?«

›Über das Wie dachten wir nie nach. Wir haben es einfach getan. Fanden eine helle, heiße Quelle. Ein Netzwerk, aber ein sehr seltsames, mit sich verändernden Mitgliedern. Und im Mittelpunkt davon nicht etwas wie uns, sondern einfach ein weiterer… Gewöhnlicher. Dich. Aber mit solch einer Intensität. Innerlich auf dein Computerspiel konzentriert. Und äußerlich in erster Linie auf uns. Du hast nach uns gesucht.‹

»Ich habe nicht nach dir gesucht, ich habe dich studiert.« Er hatte sich jedes Video angesehen, das die Kampfschule zur Verfügung stellen konnte, hatte zu verstehen versucht, wie der Verstand der Krabbler funktioniert. »Ich habe mir dich vorgestellt.«

›Das sagen wir ja. Nach uns gesucht. Uns vorgestellt. So suchen wir einander. So hast du uns gerufen.‹

»Und das war alles?«

›Nein, nein. Du warst so seltsam. Wir wußten nicht, was du warst. Wir konnten nichts in dir lesen. Unsere Sicht war so begrenzt. Deine Vorstellungen wechselten so rapide, und du dachtest immer nur an eine Sache gleichzeitig. Und das Netzwerk um dich herum veränderte sich so stark. Die Verbindung eines jeden seiner Mitglieder mit dir veränderte sich, ließ mit der Zeit nach, manchmal sogar sehr schnell…‹

Er hatte Schwierigkeiten, ihren Worten Sinn zu entnehmen. Mit was für einem Netzwerk war er verbunden?

›Die anderen Soldaten. Dein Computer.‹

»Ich war nicht mit ihnen verbunden. Es waren meine Soldaten, mehr nicht.«

›Was glaubst du, wie wir miteinander verbunden sind? Siehst du irgendwelche Kabel?‹

»Aber Menschen sind im Gegensatz zu deinen Arbeitern Individuen.«

›Viele Königinnen, viele Arbeiter, die sich immer wieder verwandeln. Sehr verwirrend. Schreckliche Zeiten des Kampfes. Was wäre, wenn diese Ungeheuer unser Kolonieschiff ausgemerzt hätten? Was für ein Geschöpf? Du warst so seltsam, daß wir dich uns nicht vorstellen konnten. Wir konnten nur fühlen, wenn du nach uns suchtest.‹

Ganz und gar nicht hilfreich. Es hatte nichts mit dem Überlichtflug zu tun, klang wie Hokuspokus, gar nicht nach Wissenschaft. Grego würde es nicht mathematisch ausdrücken können.

›Ja, das stimmt. Wir gehen dieses Problem nicht wissenschaftlich an. Nicht technologisch. Keine Zahlen oder gar Gedanken. Wir stellten fest, daß du gern eine neue Königin hervorbringen würdest. Einen neuen Schwarm beginnen würdest.‹

Ender verstand nicht, wie die Errichtung einer Verkürzerverbindung mit seinem Hirn eine neue Königin schlüpfen lassen konnte. »Erzähle es mir.«

›Wir denken nicht darüber nach. Wir tun es einfach.‹

»Aber was tut ihr, wenn ihr es tut?«

›Was wir immer tun.‹

»Und was tut ihr immer?«

›Wie füllst du deinen Penis mit Blut, um dich zu paaren, Ender? Wie bringst du deine Bauchspeicheldrüse dazu, Enzyme auszuschütten? Wie gleitest du in die Pubertät? Wie konzentrierst du deinen Blick?‹

»Dann erinnere dich daran, was du tust, und zeige es mir.«

›Du vergißt, daß es dir nicht gefällt, wenn wir dir etwas durch unsere Augen zeigen.‹

Das stimmte. Sie hatte es nur ein paar Mal versucht, als er sehr jung war und gerade ihren Kokon entdeckt hatte. Er kam einfach nicht damit zurecht, konnte der Sache keinen Sinn entnehmen. Blitze, ein paar Blicke waren klar, aber es war so verwirrend, daß er in Panik geraten und wahrscheinlich ohnmächtig werden würde, obwohl er allein war und, klinisch gesehen, nicht sicher sein konnte, was geschehen war.

»Wenn du es mir nicht sagen kannst, müssen wir etwas tun.«

›Bist du wie Pflanzer? Willst du sterben?‹

»Nein. Ich sage dir, wann du aufhören sollst. Es hat mich zuvor auch nicht umgebracht.«

›Wir werden es versuchen – etwas abgemildert. Wir werden uns erinnern und dir sagen, was geschieht. Dir Teile zeigen. Dich schützen. Sicherheit.‹

»Ja, versuche es.«

Sie ließ ihm nicht die Zeit, es sich anders zu überlegen oder vorzubereiten. Plötzlich hatte er den Eindruck, mit zusammengesetzten Augen zu sehen, nicht viele Linsen mit demselben Bild, sondern jede mit ihrem eigenen. Es erzeugte dasselbe Gefühl von Schwindel in ihm wie vor so vielen Jahren zuvor. Doch diesmal verstand er es etwas besser – zum Teil, weil sie die Eindrücke nicht ganz so intensiv wie zuvor machte, und zum Teil, weil er nun etwas über die Schwarmkönigin wußte und darüber, was sie mit ihm machte.

Die vielen verschiedenen Bilder zeigten, was immer ein Arbeiter sah, als sei jedes einzelne Auge mit demselben Gehirn verbunden. Es bestand nicht die geringste Hoffnung, daß Ender so vielen Bildern gleichzeitig Sinn entnehmen konnte.

›Wir werden dir das zeigen, worauf es ankommt.‹

Die meisten Bilder fielen augenblicklich weg. Dann wurden die übriggebliebenen eins nach dem anderen aussortiert. Er vermutete, daß sie für die Arbeiter irgendein Organisationsprinzip hatte. Sie konnte die vernachlässigen, die nicht damit beschäftigt waren, neue Königinnen hervorzubringen. Danach mußte sie, um Enders willen, auch die aussortieren, die damit beschäftigt waren, und das fiel ihr schwerer, da sie normalerweise die Ansichten aufgrund der jeweiligen Aufgabe und nicht nach den einzelnen Arbeitern sortierte. Endlich war sie jedoch imstande, ihm ein einziges Bild zu zeigen, und er konnte sich darauf konzentrieren, indem er das Flackern und Aufblitzen am Rand des Sichtfeldes einfach ignorierte.

Eine Königin schlüpfte aus. Sie hatte ihm das schon einmal gezeigt, in einer sorgfältig geplanten Vision, als er ihr das erste Mal begegnet war und sie versuchte, ihm etwas zu erklären. Nun jedoch handelte es sich nicht um eine geordnete, sorgfältig orchestrierte Präsentation. Die Klarheit war verschwunden. Das Bild wirkte verschwommen, verzerrt, echt. Es war eine Erinnerung, keine Kunst.

›Du siehst, daß wir den Königinkörper haben. Wir wissen, daß sie eine Königin ist, weil sie schon als Larve nach den Arbeitern greift.‹

»Also kannst du mit ihr sprechen?«

›Sie ist sehr dumm. Wie ein Arbeiter.‹

»Sie entwickelt ihre Intelligenz erst, wenn sie sich im Kokon befindet?«

›Nein. Sie hat ihre Intelligenz – wie dein Gehirn. Das Erinnerungsdenken. Es ist nur leer.‹

»Also mußt du sie lehren.«

›Was hätte es für einen Zweck, sie zu unterweisen? Der Denker ist nicht da. Das Wesentliche. Der Verknüpfer.‹

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

›Dann schaue und versuche zu sehen und zu denken. Das wird nicht mit den Augen gemacht.‹

»Dann höre auf, mir etwas zu zeigen, wenn es von anderen Sinnen abhängt. Die Augen sind für die Menschen zu wichtig; was ich sehe, überlagert alles bis auf klare Sprachen, und bei der Schaffung einer Königin wird wohl nicht gesprochen.«

›Wie ist es damit?

»Ich sehe noch immer etwas.«

›Dein Gehirn verwandelt es in Bilder.‹

»Dann erkläre es. Hilf mir, es zu verstehen.«

›So fühlen wir einander. Wir finden den ausgreifenden Ort im Königinkörper. Alle Arbeiter haben es auch, doch es greift nur nach der Königin, und wenn es sie findet, ist das Greifen vorbei. Die Königin hört niemals auf zu greifen. Zu rufen.‹

»Und dann findest du sie?«

›Wir wissen, wo sie ist. Der Königinkörper. Der Arbeiterrufer. Der Erinnerungshalter.‹

»Wonach sucht ihr dann?«

›Nach dem Uns-Ding. Dem Verbinder. Dem Bedeutungs-Macher.‹

»Du meinst, da ist noch etwas? Außer dem Körper der Königin?«

›Ja, natürlich. Die Königin ist nicht nur ein Körper wie die Arbeiter. Hast du das nicht gewußt?‹

»Nein, ich habe es nie gesehen.«

›Du kannst es nicht sehen. Nicht mit Augen.‹

»Ich habe nicht gewußt, daß ich nach etwas anderem suchen muß. Ich sah, wie eine Königin entsteht, als du es mir vor vielen Jahren gezeigt hast. Ich dachte, ich hätte es verstanden.«

›Auch wir dachten, du hättest verstanden.‹

»Wenn die Königin also nur ein Körper ist, wer bist du dann?«

›Wir sind die Schwarmkönigin. Und alle Arbeiter. Wir kommen und machen eine Person aus allem. Der Königinkörper gehorcht uns wie die Arbeiterkörper. Wir halten sie alle zusammen, schützen sie, lassen sie perfekt arbeiten, wie jeder gebraucht wird. Wir sind der Mittelpunkt. Jeder von uns.‹

»Aber du hast immer gesprochen, als wärest du die Schwarmkönigin.«

›Wir sind es auch. Auch alle Arbeiter. Wir sind alle zusammen.‹

»Aber dieses Ding im Mittelpunkt, das alles verbindet…«

›Wir rufen es, damit es kommt und den Königinkörper übernimmt, damit sie klug sein kann, unsere Schwester.‹

»Du rußt es. Was ist es?«

›Das Ding, das wir rufen.‹

»Ja, aber was ist es?«

›Was fragst du? Es ist das Ding, das gerufen wird. Wir rufen es.‹

Ein Großteil von dem, was die Schwarmkönigin tat, geschah rein instinktiv. Sie hatte keine Sprache und daher nie klare Erklärungen für etwas entwickeln müssen, das bis heute nie erklärt zu werden brauchte. Also mußte er ihr helfen, eine Möglichkeit zu finden, klar zu beschreiben, was er nicht direkt wahrnehmen konnte.

»Wo findet ihr es?«

›Es hört unsere Rufe und kommt.‹

»Doch wie rufst du?«

›Wie du uns gerufen hast. Wir stellen uns vor, was es werden muß. Die Muster des Schwarms. Die Königin und die Arbeiter und das Zusammenbinden. Dann kommt jemand, der das Muster versteht und halten kann. Wir geben ihm den Königinkörper.‹

»Also ruft ihr, damit ein anderes Geschöpft kommt und Besitz von der Königin ergreift.«

›Damit es Königin und Schwarm und alles wird. Damit es das Muster zusammenhält, das wir uns vorgestellt haben.‹

»Und woher kommt es?«

›Von dem Ort, an dem es war, als es uns rufen hörte.‹

»Aber wo ist das?«

›Nicht hier.‹

»Schön, ich glaube dir. Aber woher kommt es?«

›Ich kann mir den Ort nicht denken.‹

»Du hast es vergessen?«

›Wir meinen, daß wir uns den Ort, wo es ist, nicht denken können. Wenn wir uns den Ort denken könnten, hätten sie schon selbst daran gedacht, und keiner von ihnen müßte das Muster nehmen, das wir zeigen.‹

»Was hat es mit diesem Verbinden auf sich?«

›Können es nicht sehen. Können es nicht kennen, bis es das Muster findet, und dann, wenn es da ist, ist es wie wir.‹

Ender erschauderte unwillkürlich. Die ganze Zeit über hatte er geglaubt, daß er mit der Schwarmkönigin selbst sprach. Nun begriff er, daß das Ding, das mit seinem Geist sprach, nur diesen Körper benutzte, wie es die Krabbler benutzte. Symbiose. Ein beherrschender Parasit, der Besitz vom gesamten System der Schwarmkönigin ergriffen hatte und es benutzte.

›Nein. Was du denkst, ist schrecklich und häßlich. Wir sind kein anderes Ding. Wir sind dieses Ding. Wir sind die Schwarmkönigin, genau wie du der Körper bist. Du sagst mein Körper, und doch bist du der Körper, aber du bist auch der Besitzer des Körpers. Die Schwarmkönigin ist wir selbst, dieser Körper bin ich, nicht etwas anderes darin. Ich war nichts, bis ich die Vorstellung fand.‹

»Das verstehe ich nicht. Wie war es?«

›Wie kann ich mich daran erinnern? Ich hatte kein Gedächtnis, bis ich der Vorstellung folgte und an diesen Ort kam und die Schwarmkönigin wurde.‹

»Woher weißt du dann, daß du nicht einfach die Schwarmkönigin bist?«

›Weil sie mir die Erinnerungen gegeben haben, nachdem ich kam. Ich sah den Königinkörper, bevor ich kam, und dann sah ich den Königinkörper, nachdem ich darin war. Ich war stark genug, um das Muster in meinem Geist zu halten, und so konnte ich den Körper in Besitz nehmen. Ihn werden. Es dauerte viele Tage, doch dann waren wir ein Ganzes, und sie konnten uns die Erinnerungen geben, weil ich das ganze Gedächtnis hatte.‹

Das Bild, das die Schwarmkönigin ihm zeigte, verblich. Es half ihm sowieso nicht, zumindest nicht auf eine Art und Weise, die er erfassen konnte. Trotzdem bekam Ender jetzt eine geistige Vorstellung, die aus seinem eigenen Geist wuchs, um alles zu erklären, was sie gesagt hatte. Die anderen Schwarmköniginnen waren zumeist nicht körperlich gegenwärtig, sondern philotisch mit der einen Königin verbunden, die existieren mußte. Sie hielten das Muster der Beziehung zwischen Schwarmkönigin und Arbeitern in ihrem Geist, bis eins dieser geheimnisvollen, gedächtnislosen Geschöpfe das Muster in seinen Geist aufnehmen und damit Besitz davon ergreifen konnte.

›Ja.‹

»Aber woher kommen diese Geschöpfe? Wohin müßt ihr gehen, um sie zu holen?«

›Wir gehen nirgendwo hin. Wir rufen, und sie sind da.‹

»Also sind sie überall?«

›Sie sind überhaupt nicht hier. Nirgendwo. Sie sind anderswo.‹

»Aber du hast gesagt, du müßtest nirgendwo hingehen, um sie zu holen.«

›Türschwellen. Wir wissen nicht, wo sie sind, aber überall ist eine Tür.‹

»Wie sehen diese Schwellen aus?«

›Dein Gehirn hat das Wort gemacht, das du gesagt hast. Türschwelle. Türschwelle.‹

Nun begriff er, das Schwelle das Wort war, das sein Gehirn hervorgebracht hatte, um das Konzept zu bezeichnen, das sie ihm eingegeben hatte. Und plötzlich fand er eine Erklärung, die Sinn ergab.

»Sie sind nicht in demselben Raum-Zeit-Kontinuum wie wir. Aber sie können das unsrige an jeder Stelle betreten.«

›Für sie sind alle Stellen dieselbe Stelle. Jeder Ort ist derselbe Ort. Sie finden immer nur einen Ort im Muster.‹

»Aber das ist unglaublich. Ihr ruft irgendein Wesen von einem anderen Ort her, und…«

›Das Herrufen ist nichts. Alle Dinge tun es. Alle neuen Schöpfungen. Du tust es. Jedes Menschenkind hat diese Fähigkeit. Die Pequeninos auch. Gras und Sonnenlicht. Die Schöpfung ruft sie, und sie kommen zum Muster. Wenn sie schon jemand sind, der das Muster versteht, dann kommen sie und nehmen Besitz davon. Kleine Muster sind sehr einfach. Unser Muster ist sehr schwer. Nur ein paar Kluge können es besitzen.‹

»Philoten«, sagte Ender. »Die Dinge, aus denen alle anderen Dinge bestehen.«

›Das Wort, das du sagst, hat nicht die Bedeutung dessen, was wir meinen.‹

»Weil ich gerade erst den Zusammenhang hergestellt habe. Wir haben nie gemeint, was du beschrieben hast, doch das Ding, das wir meinen, könnte dasjenige sein, was du beschrieben hast.«

›Sehr unklar.‹

»Willkommen im Klub.«

›Sehr willkommen Gelächter glücklich.‹

»Wenn du also eine Schwarmkönigin machst, hast du bereits den biologischen Körper, und dieses neue Ding –. dieses Philot, das du aus dem Nicht-Ort rufst, an dem sich die Philoten befinden –, es muß eins sein, das imstande ist, das komplexe Muster zu begreifen, das du dir im Geist von einer Schwarmkönigin gemacht hast. Und wenn ein Philot kommt, das das kann, übernimmt es diese Identität und den Körper und wird das Selbst dieses Körpers…«

›Aller Körper.‹

»Aber es gibt noch keine Arbeiter, wenn die Schwarmkönigin zuerst geschaffen wird.«

›Es wird das Selbst der zukünftigen Arbeiter.‹

»Wir sprechen von einem Übergang aus einer anderen Art von Raum. Einem Ort, an dem sich bereits Philoten befinden.«

›Alles in demselben Nicht-Raum. Keine Räumlichkeit in diesem Raum. Keine Orte. Alle hungrig nach Orten. Alle durstig nach Mustern. Alle einsam nach Selbstsein.‹

»Und du sagst, wir bestehen aus denselben Dingen?«

›Wie hätten wir dich finden können, wenn das nicht der Fall wäre?‹

»Aber du hast gesagt, mich zu finden sei wie die Schaffung einer Schwarmkönigin gewesen?«

›Wir konnten das Muster in dir nicht finden. Wir haben versucht, ein Muster zwischen dir und den anderen Menschen herzustellen, doch du hast dich immer wieder verändert und verwandelt, und wir konnten dem keinen Sinn entnehmen. Und du konntest uns keinen Sinn entnehmen, so daß dieses Ausgreifen deinerseits auch kein Muster ergab. Also nahmen wir das dritte Muster. Dein Greifen in die Maschine. Du sehntest dich so sehr danach. Wie dieses Lebenssehnen des neuen Königinkörpers. Du bandest dich an das Programm im Computer. Es zeigte dir Bilder. Wir fanden die Bilder im Computer, und wir fanden sie in deinem Geist. Wir konnten sie aufeinander abstimmen, während du zugesehen hast. Der Computer war sehr kompliziert, und du warst noch komplizierter, doch das Muster hielt stand. Ihr bewegtet euch zusammen, und während ihr zusammen wart, habt ihr einander besessen, sahet ihr dasselbe Bild. Und als du dir etwas vorstelltest und es dann tatest, machte der Computer etwas aus deiner Vorstellung und stellte sich ebenfalls etwas vor. Sehr primitive Vorstellungen des Computers. Es war kein Selbst. Aber du machtest es zum Selbst durch die Lebenssehnsucht. Durch dein Ausgreifen.‹

»Das Fantasyspiel«, sagte Ender. »Du hast aus dem Fantasyspiel ein Muster gemacht.«

›Wir haben uns dasselbe vorgestellt, das du dir vorgestellt hast. Wir alle gemeinsam. Wir haben gerufen. Es war sehr kompliziert und seltsam, doch viel einfacher als alles andere, was wir in dir gefunden haben. Seit dieser Zeit wissen wir – sehr wenige Menschen sind imstande, sich so zu konzentrieren, wie du dich auf dieses Spiel konzentriert hast. Und wir haben kein anderes Computerprogramm gesehen, das so auf einen Menschen reagierte, wie das Spiel auf dich reagierte. Es war auch eine Sehnsucht. Es kreiste ständig und versuchte etwas zu finden, das es für dich machen konnte.‹

›Und als du gerufen hast…‹

›Kam es. Die Brücke, die wir brauchen. Der Verbinder für dich und das Computerprogramm. Es hielt das Muster, so daß es lebte, selbst wenn du ihm keine Beachtung schenktest. Es war mit dir verbunden, du warst ein Teil davon, und doch konnten auch wir es verstehen. Es war die Brücke.‹

»Doch wenn ein Philot Besitz von einer neuen Schwarmkönigin ergreift, beherrscht es sie, den Königinkörper und die Arbeiterkörper. Warum hat diese Brücke, die du geschaffen hast, nicht von mir Beherrschung ergriffen?«

›Glaubst du, wir hätten es nicht versucht?‹

»Warum hat es nicht geklappt?«

›Du warst nicht imstande, dich von so einem Muster beherrschen zu lassen. Du konntest freiwillig Teil eines Musters werden, das echt war und lebte, aber du konntest nicht davon beherrscht werden. Du konntest nicht einmal damit vernichtet werden. Und es war so viel von dir in dem Muster, daß nicht einmal wir es beherrschen konnten. Es war zu fremd für uns.‹

»Aber du konntest es benutzen, um meine Gedanken zu lesen?«

›Trotz aller Fremdartigkeit konnten wir es benutzen, um mit dir verbunden zu bleiben. Wir haben dich studiert, besonders, wenn du das Spiel gespielt hast. Und als wir dich allmählich verstanden, begriffen wir auch, was es mit deiner gesamten Spezies auf sich hat. Daß jedes Einzelwesen von euch lebte, daß ihr keine Schwarmkönigin hattet.‹

»Es war komplizierter, als du erwartet hattest?«

›Und weniger kompliziert. Euer jeweiliger Verstandesinhalt war bei Aspekten einfach, bei denen wir erwartet hatten, er sei kompliziert, und kompliziert bei Aspekten, bei denen wir erwartet hatten, er sei einfach. Wir begriffen, daß ihr auf eure sonderbare und tragisch einsame Art und Weise wirklich lebtet und wunderschön wart, und wir entschlossen uns, kein weiteres Kolonieschiff zu euren Welten zu schicken.‹

»Aber das haben wir nicht gewußt. Wie hätten wir es wissen können?«

›Wir begriffen auch, daß ihr gefährlich und schrecklich wart. Du warst besonders gefährlich, da du all unsere Muster fandest und uns keins einfiel, das kompliziert genug war, um dich zu verwirren. Also hast du alle von uns bis auf mich vernichtet. Jetzt verstehe ich dich besser. Ich hatte all diese Jahre gehabt, um dich zu studieren. Du bist nicht so schrecklich brillant, wie wir dachten.‹

»Wie schade. Eine schreckliche Brillanz wäre jetzt ganz nützlich.«

›Wir ziehen einen behaglichen Schimmer von Intelligenz vor.‹

»Wir Menschen werden mit dem Alter langsamer. Gib mir noch ein paar Jahre, und ich werde richtig angenehm sein.«

›Wir wissen, daß du eines Tages sterben wirst. Obwohl du den Gedanken so lange zurückgeschoben hast.‹

Ender wollte nicht, daß sich dieses Gespräch wieder der Sterblichkeit oder einem der anderen Aspekte des menschlichen Lebens widmete, die die Schwarmkönigin so stark faszinierten. Während die Königin versucht hatte, ihm die Zusammenhänge zu erklären, war ihm noch eine Frage in den Sinn gekommen. Eine faszinierende Möglichkeit.

»Die Brücke, die du geschaffen hast. Wo war sie? In dem Computer?«

›In dir. So wie ich im Körper der Schwarmkönigin bin.‹

»Aber nicht Teil von mir.«

›Teil von dir, aber auch nicht Teil. Draußen, aber drinnen. An dich gebunden, aber frei. Sie konnte dich nicht beherrschen, und du konntest sie nicht beherrschen.‹

»Könnte sie den Computer beherrschen?«

›Darüber haben wir nicht nachgedacht. Es war uns gleichgültig. Vielleicht.‹

»Wie lange hast du diese Brücke benutzt? Wie lange hatte sie Bestand?«

›Wir haben aufgehört, darüber nachzudenken. Wir haben über dich nachgedacht.‹

»Aber sie war die ganze Zeit über da, während ihr mich studiert habt.«

›Wohin könnte sie schon gehen?‹

»Wie lange wird sie Bestand haben?«

›Wir haben noch nie so eine wie diese geschaffen. Woher sollen wir das wissen? Die Schwarmkönigin stirbt, wenn der Königinkörper stirbt.‹

»Aber in welchem Körper war die Brücke?«

›In deinem. Im Mittelpunkt des Musters.‹

»Dieses Ding war in mir?«

›Natürlich. Aber es war trotzdem nicht du. Es hat uns enttäuscht, da es nicht ermöglichte, daß wir dich damit kontrollieren konnten, und wir haben aufgehört, darüber nachzudenken. Aber jetzt sehen wir ein, daß es sehr wichtig war. Wir hätten danach suchen sollen. Wir hätten uns daran erinnern sollen.‹

»Nein. Für dich war es wie… eine Körperfunktion. Als würdest du die Hand zur Faust ballen, um jemanden zu schlagen. Du hast es getan, und als du es nicht mehr brauchtest, hast du nicht darauf geachtet, ob deine Faust noch da war oder nicht.«

›Wir verstanden den Zusammenhang nicht, aber in dir schien sie Sinn zu ergeben.‹

»Dann lebt sie noch, nicht wahr?«

›Es wäre möglich. Wir versuchen, sie zu fühlen. Zu finden. Wo können wir suchen? Das alte Muster ist nicht mehr da. Du spielst das Fantasyspiel nicht mehr.‹

»Aber sie müßte doch noch immer mit dem Computer verbunden sein, nicht wahr? Eine Verbindung zwischen mir und dem Computer. Nur das Muster könnte gewachsen sein, nicht wahr? Es könnte jetzt auch andere Menschen einschließen. Stelle dir vor, es wäre mit Miro verbunden – dem jungen Mann, den ich einmal mitgebracht habe…«

›Der Gebrochene.‹

»Und anstatt mit diesem einen Computer ist es jetzt vielleicht mit Tausenden und Abertausenden verbunden, durch die Verkürzerverbindungen zwischen den Welten.«

›Das könnte sein. Es war lebendig. Es könnte wachsen. Wie wir wachsen, wenn wir mehr Arbeiter machen. Die ganze Zeit über. Jetzt, wo du es erwähnst, sind wir sicher, daß es noch da sein muß, denn wir sind noch mit dir verbunden, und nur durch dieses Muster war uns das möglich. Die Verbindung ist jetzt sehr stark – das gehört zu dem, was es ist, die Verbindung zwischen uns und dir. Wir dachten, sie sei stärker geworden, weil wir dich besser kennengelernt haben. Aber vielleicht ist sie auch stärker geworden, weil die Brücke gewachsen ist.‹

»Und ich habe immer geglaubt… Jane und ich haben immer geglaubt, sie sei… sie sei irgendwie in den Verkürzerverbindungen zwischen den Welten entstanden. Sie glaubt wahrscheinlich, dort zu existieren… dieser Ort fühlt sich wahrscheinlich wie der Mittelpunkt ihres… Körpers an, wollte ich sagen.«

›Wir versuchen zu fühlen, ob die Brücke zwischen uns noch vorhanden ist. Schwer zu fühlen.‹

»Als wolltest du einen ganz bestimmten Muskel finden, den du dein Leben lang benutzt hast, aber nie allein für sich.«

›Ein interessanter Vergleich. Wir sehen die Verbindung nicht, doch jetzt sehen wir sie.‹

»Die Verbindung?«

›Die Brücke. Sehr groß. Ihr Muster ist zu groß. Wir können es nicht mehr erfassen. Sehr groß. Erinnerungen – sehr verwirrend. Viel schwerer, als dich das erste Mal zu finden – sehr verwirrend. Verirre mich. Wir können es mit unserem Verstand nicht mehr erfassen.‹

»Jane«, flüsterte Ender. »Du bist jetzt ein großes Mädchen.«

»Du betrügst, Ender«, erklang Janes Stimme zur Antwort. »Ich kann nicht hören, was sie zu dir sagt. Ich kann nur fühlen, wie dein Herz hämmert und dein Atem schneller geht.«

›Jane. Wir haben diesen Namen oft in deinem Verstand gesehen. Aber die Brücke war keine Person mit einem Gesicht…‹

»Das ist Jane auch nicht.«

›Wir sehen ein Gesicht in deinem Verstand, wenn du an diesen Namen denkst. Wir sehen es noch immer. Wir dachten immer, es sei eine Person. Aber jetzt…‹

»Sie ist die Brücke. Ihr habt sie geschaffen.«

›Gerufen. Du hast das Muster geschaffen. Sie hat davon Besitz ergriffen. Was auch immer sie ist, diese Jane, diese Brücke, sie begann mit dem Muster, das wir in dir entdeckt haben, und dem Fantasyspiel, aber sie hat sich zu etwas viel Größerem vorgestellt. Sie muß ein sehr starkes und mächtiges Philot gewesen sein, um ihr eigenes Muster verändern und sich gleichzeitig erinnern zu können, so daß sie sie selbst bleibt.‹

»Du hast über Lichtjahre hinweg ausgeholt und mich gefunden, weil ich nach dir gesucht habe. Und dann hast du ein Muster gefunden und ein Geschöpf aus einem anderen Kontinuum gerufen, welches das Muster begriff, Besitz davon nahm und Jane wurde. All das in einem einzigen Augenblick. Überlichtschnell.«

›Aber das ist keine überlichtschnelle Reise. Es ist überlicht-schnelles Vorstellen und Rufen. Es nimmt dich noch immer nicht von diesem Ort weg und bringt dich an jenen.‹

»Ich weiß. Es beantwortet vielleicht nicht die Frage, mit der ich hierher gekommen bin. Aber ich hatte eine andere Frage, die für mich genauso wichtig ist. Ich hätte nie geglaubt, daß du mit ihr etwas zu tun hast, doch auf diese Frage hattest du die ganze Zeit über die Antwort. Jane ist echt, hat die ganze Zeit über gelebt, und ihr Selbst ist nicht dort draußen im Weltraum, es ist in mir. Mit mir verbunden. Man kann sie nicht töten, indem man sie einfach abschaltet. Das ist doch schon etwas.«

›Wenn man das Muster tötet, kann sie sterben.‹

»Aber sie können nicht das ganze Muster töten. Verstehst du denn nicht? Es ist gar nicht von den Verkürzern abhängig. Es hängt alles von mir und der Verbindung zwischen mir und den Computern ab. Sie können die Verbindung zwischen mir und den Computern hier und in den Satelliten im Orbit um Lusitania nicht unterbrechen. Und vielleicht braucht sie die Verkürzer gar nicht. Schließlich hast du sie auch nicht gebraucht, um mich durch sie zu erreichen.«

›Viele seltsame Dinge sind möglich. Wir können uns sie nicht vorstellen. Sie fühlen sich sehr dumm und seltsam an, die Dinge, die dir durch den Geist gehen. Du ermüdest uns sehr mit all deinen Gedanken an dumme, imaginäre, unmögliche Dinge.‹

»Dann werde ich dich jetzt verlassen. Aber das wird helfen. Das muß helfen. Es wäre ein echter Sieg, wenn Jane eine Möglichkeit findet, wegen dieser Informationen zu überleben. Der erste Sieg, als ich allmählich schon glaubte, in dieser Sache gebe es keinen Sieg.«

In dem Augenblick, in dem er die Schwarmkönigin verließ, begann er, mit Jane zu sprechen und ihr alles zu erklären, was die Schwarmkönigin ihm verraten hatte. Wer Jane war, wie sie geschaffen worden war.

Während er sprach, analysierte sie sich im Licht der neuen Erkenntnisse, entdeckte Dinge über sich, die sie niemals vermutet hätte. Als Ender wieder in der menschlichen Kolonie angelangt war, hatte sie einen Großteil seiner Geschichte bestätigt. »Ich habe das selbst nie herausgefunden, weil ich immer von einer falschen Voraussetzung ausging«, sagte sie. »Ich glaubte, mein Mittelpunkt sei irgendwo im All. Ich hätte darauf kommen müssen, daß ich mich in dir befinde, allein aufgrund der Tatsache, daß ich, als ich wütend auf dich war, zu dir zurückkommen mußte, um meinen Frieden zu finden.«

»Und nun behauptet die Schwarmkönigin, du seiest so groß und komplex geworden, daß sie dein Muster nicht mehr mit ihren Geist erfassen kann.«

»Ich muß während der Jahre der Pubertät noch einen gewaltigen Wachstumsschub gehabt haben.«

»Genau.«

»Was kann ich dafür, daß die Menschen immer mehr Computer hinzufügten und miteinander verbanden?«

»Aber es liegt nicht an der Hardware, Jane, sondern an den Programmen. Dem Geisteszustand.«

»Ich muß den körperlichen Speicherplatz haben, um das alles zu enthalten.«

»Du hast den Speicherplatz. Die Frage ist nur, ob du ohne die Verkürzer auch Zugriff darauf hast.«

»Ich kann es versuchen. Wie du zu ihr gesagt hast, muß ich lernen, einen Muskel zu beugen, von dem ich gar nicht wußte, daß ich ihn habe.«

»Oder lernen, ohne ihn zu leben.«

»Ich werde sehen, was möglich ist.«

Was möglich ist. Auf dem Rückweg, während der Wagen über das Capim flog, war Ender begeistert darüber, daß überhaupt etwas möglich war, wo er doch bislang nur Verzweiflung empfunden hatte. Doch als er nach Hause kam und den abgebrannten Wald sah, die beiden einsamen Vaterbäume, die Experimentalfarm und die neue Hütte mit dem Isolationsraum, in dem der sterbende Pflanzer lag, begriff er, wieviel es noch zu verlieren gab, wie viele noch sterben würden, auch wenn sie nun eine Möglichkeit gefunden hatten, daß Jane überlebte.


Der Tag neigte sich dem Ende zu. Han Fei-tzu war erschöpft, seine Augen brannten, weil er soviel gelesen hatte. Er hatte die Farben des Computerdisplays ein Dutzend Mal angepaßt, versucht, eine Einstellung zu finden, die seine Augen schonte, doch es hatte nicht geholfen. Als er das letzte Mal so intensiv gearbeitet hatte, war er noch Student gewesen. Und damals war er immer zu Ergebnissen gelangt. Damals war ich schneller und klüger. Es war mir Lohn genug, etwas erreicht zu haben. Jetzt bin ich alt und langsam, ich arbeite auf Gebieten, die Neuland für mich sind, und vielleicht haben diese Probleme gar keine Lösungen. Also habe ich keinen Lohn zu erwarten.

Er sah zu Wang-mu hinüber, die zusammengerollt auf dem Boden neben ihm lag. Sie bemühte sich so sehr, doch ihre Ausbildung hatte erst vor so kurzer Zeit begonnen, daß sie die Dokumente noch nicht verstehen konnte, die über das Computerdisplay glitten, während er nach Rahmenbedingungen suchte, unter denen ein Überlichtflug möglich sein konnte. Schließlich hatte ihre Müdigkeit über ihre Willenskraft gesiegt; sie hielt sich für nutzlos, da sie nicht einmal genug verstand, um Fragen stellen zu können. Also gab sie auf und schlief.

Aber du bist nicht nutzlos, Si Wang-mu. Selbst mit deiner Verwirrung hast du mir geholfen. Ein kluger Geist, für den alles neu ist. Als kauere meine verlorene Jugend an meinem Ellbogen.

Qing-jao war genauso, als sie klein war, bevor die Frömmigkeit und der Stolz sie ergriffen.

Es war nicht richtig, so über seine eigene Tochter zu urteilen. War er bis vor ein paar Wochen nicht völlig zufrieden mit ihr gewesen? Stolz auf sie, über alle Vernunft hinaus? Die beste und klügste der Gottberührten, alles, wofür ihr Vater gearbeitet, alles, was sich ihre Mutter erhofft hatte.

Das bereitete ihm die meisten Schmerzen. Bis vor ein paar Wochen war er so stolz darauf gewesen, daß er sein Versprechen Jiang-qing gegenüber gehalten hatte. Es war nicht leicht gewesen, seine Tochter so fromm zu erziehen, daß sie niemals eine Periode des Zweifels oder der Rebellion gegen die Götter durchlief. Es gab zwar andere, genauso fromme Kinder – doch ihre Frömmigkeit wurde normalerweise auf Kosten ihrer Ausbildung erreicht. Han Fei-tzu hatte Qing-jao alles lernen lassen und sie dann geschickt zu der Erkenntnis geführt, daß all ihre Kenntnisse mit ihrem Glauben an die Götter übereinstimmten.

Doch damit hatte er sich ins eigene Fleisch geschnitten. Er hatte ihr eine Weltsicht gegeben, die nun, da er herausgefunden hatte, daß die »Stimmen der Götter« nichts anderes waren als genetische Ketten, an die der Kongreß sie gelegt hatte, so grundlegend ihren Glauben stützte, daß nichts sie überzeugen konnte. Würde Jiang-qing noch leben, hätte sich Fei-tzu zweifellos mit ihr im Konflikt wegen seines Glaubensverlust befunden. In ihrer Abwesenheit hatte er ihre Tochter so gut in Jiang-qings Sinn erzogen, daß Qing-jao nun die Weltsicht ihrer Mutter ohne jeden Makel übernommen hatte.

Jiang-qing hätte mich auch verlassen, dachte Han Fei-tzu. Auch wenn ich kein Witwer wäre, wäre ich an diesem Tag ohne Frau.

Die einzige Gefährtin, die mir geblieben ist, ist dieses Dienstmädchen, das sich gerade rechtzeitig in meinen Haushalt gedrängt hat, um nun zum einzigen Aufflackern von Hoffnung in meinem dunklen Herzen zu werden.

Nicht meine Tochter-des-Körpers, doch vielleicht wird die Zeit und Gelegenheit kommen, wenn diese Krise vorbei ist, um Wang-mu zu meiner Tochter-des-Geistes zu machen. Meine Arbeit für den Kongreß ist beendet. Sollte ich dann nicht ein Lehrer mit einer einzigen Schülerin sein? Sollte ich sie nicht darauf vorbereiten, die Revolutionärin zu sein, die das gewöhnliche Volk zur Freiheit von der Tyrannei der Gottberührten und dann Weg zur Freiheit vom Kongreß führen kann? Sollte sie so eine werden, kann ich in Frieden sterben, im Bewußtsein, daß ich am Ende meines Lebens all meine frühere Arbeit aufgehoben habe, die den Kongreß gestärkt und dazu beigetragen hat, daß er jede Opposition seiner Macht überwinden konnte.

Das leise Atmen des Mädchens war wie sein eigener Atem, wie das Geräusch einer Brise im hohen Gras. Sie ist ganz Bewegung, Hoffnung, Frische.

»Han Fei-tzu, ich glaube, du schläfst nicht.«

Nein; aber er hatte vor sich hingedöst, und der Klang von Janes Stimme, der aus dem Computer kam, erschreckte ihn, als habe er ihn aufgeweckt.

»Nein, aber Wang-mu schläft«, sagte er.

»Dann wecke sie.«

»Warum? Sie hat ihren Schlaf verdient.«

»Sie hat es auch verdient, dies zu hören.«

Elas Gesicht erschien im Display neben Jane. Han Fei-tzu erkannte sie sofort als die Xenobiologin, der man die Untersuchung der genetischen Proben anvertraut hatte, die er und Wang-mu gesammelt hatten. Es mußte einen Durchbruch gegeben haben.

Er verbeugte sich, griff nach dem schlafenden Mädchen und schüttelte es. Wang-mu bewegte und streckte sich, erinnerte sich dann zweifellos an ihre Pflichten und setzte sich kerzengerade auf. »Habe ich verschlafen? Was ist los? Vergebt mir, daß ich eingeschlafen bin, Meister Han.«

Sie hätte sich in ihrer Verwirrung vielleicht sogar verbeugt, doch das ließ Fei-tzu nicht zu. »Jane und Ela haben mich gebeten, dich aufzuwecken. Sie möchten, daß du etwas hörst.«

»Ich möchte Ihnen zuerst sagen«, ergriff Ela das Wort, »daß das, worauf wir gehofft haben, möglich ist. Die genetischen Veränderungen waren grobschlächtig und leicht festzustellen – ich verstehe nun, warum der Kongreß alles getan hat, um zu verhindern, daß gute Genetiker mit der menschlichen Bevölkerung von Weg arbeiten. Das UZV-Gen war nicht an der normalen Stelle, was der Grund dafür ist, daß es nicht augenblicklich von Natologen identifiziert wurde, doch es arbeitet fast genauso wie die in der Natur vorkommenden UZV-Gene. Es kann problemlos separat von den Genen behandelt werden, die den Gottberührten ihre verstärkten intellektuellen und kreativen Fähigkeiten geben. Ich habe bereits ein Spleißerbakterium entwickelt, das ins Blut einer Person injiziert werden kann. Es wird eine Samen- oder Eizelle der Person suchen, in sie eindringen, das UZV-Gen entfernen und mit einem normalen ersetzen, wobei es den Rest des genetischen Codes unberührt läßt. Dann wird es schnell absterben. Es basiert auf einem häufig vorkommenden Bakterium, das es bereits in zahlreichen Laboratorien auf Weg geben wird, die sich mit normaler Immunologie und der Verhinderung von Geburtsdefekten befassen. In Zukunft kann also jeder Gottberührte, der das möchte, Kinder bekommen, bei denen das UZV-Gen nicht mehr vorhanden ist.«

Han Fei-tzu lachte. »Ich bin der einzige auf diesem Planeten, der sich solch ein Bakterium wünscht. Die Gottberührten haben kein Mitleid mit sich selbst. Ihr Leid erfüllt sie mit Stolz. Es gibt ihnen Ehre und Macht.«

»Dann will ich Ihnen sagen, was wir noch gefunden haben. Einer meiner Assistenten, ein Pequenino namens Glas, hat es herausgefunden – ich gestehe ein, daß ich diesem Projekt keine große Aufmerksamkeit widmete, da es mir im Vergleich mit dem Descolada-Problem, an dem wir arbeiten, relativ einfach vorkam.«

»Entschuldigen Sie sich nicht«, sagte Fei-tzu. »Wir sind für jede Freundlichkeit dankbar. Und sie ist unverdient.«

»Ja.« Sie schien durch seine Höflichkeit verwirrt. »Jedenfalls hat Glas herausgefunden, daß sich alle bis auf eine der genetischen Proben, die Sie uns geschickt haben, sauber in die Kategorien gottberührt und nicht-gottberührt aufteilen lassen. Wir führten den Test blind durch und verglichen die Ergebnisse erst später mit der Namensliste, die Sie uns gegeben haben. Die Übereinstimmung war perfekt. Jeder Gottberührte hat das veränderte Gen. Keiner, bei dem das Gen nicht auftrat, steht auf Ihrer Liste der Gottberührten.«

»Bis auf eine Ausnahme, haben Sie gesagt.«

»Das hat uns verblüfft. Glas geht sehr methodisch vor – er hat die Geduld eines Baums. Er war überzeugt, daß es sich bei dieser Ausnahme um einen Schreibfehler oder einen Fehler bei der Auswertung der Daten handelte. Er überprüfte die Sache mehrmals und ließ sie auch von anderen Assistenten überprüfen. Es besteht kein Zweifel. Bei dieser einen Ausnahme handelt es sich eindeutig um eine Mutation des Gottberührten-Gens. Dort fehlt das UZV auf natürliche Art und Weise, während alle anderen Eigenschaften, die die Genetiker des Kongresses so sorgfältig eingegeben haben, erhalten geblieben sind.«

»Also ist diese Person schon das, was Ihr Spleißbakterium schaffen soll.«

»Es gibt noch ein paar weitere mutierte Regionen, bei denen wir uns im Augenblick noch nicht ganz sicher sind, aber sie haben nichts mit dem UZV oder den Verbesserungen zu tun. Und sie berühren auch keinerlei lebenswichtige Prozesse, so daß diese Person gesunden Nachwuchs bekommen wird, der diese Verbesserungen weitervererben kann. Falls diese Person sich mit einer paart, die mit dem Spleißerbakterium behandelt wurde, werden sämtliche Kinder mit fast hundertprozentiger Sicherheit über die Verbesserungen verfügen, und es besteht keine Gefahr, daß eins davon am UZV leidet.«

»Dann kann er sich glücklich schätzen«, sagte Han Fei-tzu.

»Wer ist es?« fragte Wang-mu.

»Du«, erwiderte Ela. »Si Wang-mu.«

»Ich?« Sie schien fassungslos.

Aber Han Fei-tzu war nicht verblüfft. »Ha!« rief er. »Ich hätte es wissen müssen! Ich hätte darauf kommen müssen! Kein Wunder, daß du so schnell gelernt hast wie früher meine Tochter. Kein Wunder, daß du Einsichten hattest, die uns weitergeholfen haben, obwohl du kaum verstanden hast, um welches Thema es ging. Du bist auch eine Gottberührte, Wang-mu – aber du allein bist frei von den Ketten des Säuberungsrituals.«

Si Wang-mu kämpfte um eine Antwort, doch statt Worten kamen Tränen. Sie weinte stumm.

»Nie wieder werde ich dir erlauben, mich wie einen Höherstehenden zu behandeln«, sagte Han Fei-tzu. »Von nun an bist du keine Dienerin in meinem Haus, sondern meine Schülerin, meine junge Kollegin. Sollen die anderen von dir denken, was sie wollen. Wir wissen, daß du so fähig wie alle anderen bist.«

»Wie Herrin Qing-jao?« flüsterte Wang-mu.

»Wie jeder andere auch«, sagte Fei-tzu. »Die Höflichkeit wird von dir verlangen, dich vor vielen zu verbeugen. Doch im Herzen mußt du dich vor niemandem verbeugen.«

»Ich bin unwürdig«, sagte Wang-mu.

»Jeder ist seiner eigenen Gene würdig. Bei so einer Mutation bestand eine hohe Chance, daß sie dich geschädigt zurückläßt. Doch statt dessen hat sie dich zum gesündesten Menschen auf der ganzen Welt gemacht.«

Aber sie hörte nicht auf, still vor sich hinzuweinen.

Jane mußte es Ela gezeigt haben, denn sie schwieg eine Weile. Schließlich ergriff sie jedoch das Wort. »Verzeihung, aber ich habe viel zu tun«, sagte sie.

»Ja«, sagte Han Fei-tzu. »Sie dürfen gehen.«

»Sie verstehen mich falsch«, sagte Ela. »Ich brauche nicht Ihre Erlaubnis, um zu gehen. Ich habe noch einiges zu sagen, bevor ich gehe.«

Han Fei-tzu verbeugte sich. »Bitte. Wir hören.«

»Ja«, flüsterte Wang-mu. »Ich höre auch.«

»Es gibt eine entfernte Möglichkeit, daß wir, falls wir den Descolada-Virus dekodieren und zähmen können, auch eine Variante herstellen können, die auf Weg nützlich sein könnte.«

»Warum sollten wir diesen schrecklichen künstlichen Virus hier auf Weg haben wollen?« fragte Han Fei-tzu.

»Die Descolada dringt in die Zellen eines Wirtkörpers ein, liest den genetischen Kode und reorganisiert ihn entsprechend ihrer eigenen Programmierung. Wenn wir die Descolada verändern – falls wir das können –, werden wir diese Programmierung entfernen. Wir werden auch die meisten Selbstverteidigungsmechanismen entfernen, falls wir sie finden. Dann könnte es möglich sein, sie als Super-Spleißer zu benutzen, die nicht nur die Fortpflanzungszellen, sondern alle Zellen eines Lebewesens beeinflussen.«

»Verzeihung«, sagte Han Fei-tzu, »aber ich habe kürzlich über dieses Thema nachgelesen, und die Vorstellung eines Super-Spleißers wurde zurückgewiesen, da der Körper seine eigenen Zellen abstößt, nachdem sie genetisch verändert wurden.«

»Ja«, sagte Ela. »So tötet die Descolada. Der Körper selbst stößt sich bis zum Tode ab. Aber dazu kann es nur kommen, da die Descolada nicht auf den Umgang mit Menschen programmiert wurde. Sie traf zufällig auf den menschlichen Körper, studierte ihn, nahm willkürliche Veränderungen vor und wartete ab, was passierte. Sie hatte keine Programmierung für uns, und so endete ein jedes Opfer mit vielen verschiedenen genetischen Codes in seinen Zellen. Aber was passiert, wenn wir einen Super-Spleißer schaffen, der nach einer Programmierung vorgeht und jede Körperzelle entsprechend einem einzigen neuen Muster verwandelt? Unsere Studien der Descolada lassen schließen, daß in so einem Fall die Veränderung in jedem Individuum in etwa sechs Stunden herbeigeführt werden kann – höchstens in einem halben Tag.«

»So schnell, daß der Körper sich nicht mehr selbst abstoßen kann…«

»Er wird eine so perfekte Einheit darstellen, daß er das neue Muster als sich selbst erkennt.«

Wang-mu hatte aufgehört zu weinen. Sie schien jetzt genauso aufgeregt wie Fei-tzu auch, und trotz all ihrer Selbstdisziplin konnte sie es nicht verbergen. »Ihr könnt alle Gottberührten verändern? Sogar die befreien, die jetzt schon leben?«

»Falls wir imstande sind, die Descolada zu dekodieren, könnten wir nicht nur bei den Gottberührten das UZV entfernen, wir könnten auch bei den normalen Menschen alle Verbesserungen installieren. Es wäre bei den Kindern natürlich am wirksamsten – ältere Menschen haben die Wachstumsstadien schon hinter sich, in denen die neuen Gene die größten Auswirkungen hätten. Doch von dieser Zeit an würde jedes Kind, das auf Weg geboren wird, über diese Verbesserungen verfügen.«

»Und was dann? Würde die Descolada wieder verschwinden?«

»Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, wir müßten in das neue Gen eine Methode einbauen, die bewirkt, daß es sich selbst vernichtet, sobald die Arbeit getan ist. Doch wir müßten Wang-mus Gene als Modell benutzen. Kurz gesagt, Wang-mu, du würdest gewissermaßen ein genetisches Elternteil der gesamten Bevölkerung deiner Welt werden.«

Sie lachte. »Was würden wir ihnen damit für einen schönen Streich spielen! Sie sind so stolz darauf, Auserwählte zu sein, und doch wird ihre Heilung von einer wie mir kommen!« Doch augenblicklich klaffte ihr Mund auf, und sie schlug die Hände vors Gesicht. »Wie konnte ich so etwas nur sagen. Ich bin so hochmütig und arrogant wie die Schlimmsten von ihnen geworden.«

Fei-tzu legte die Hand auf ihre Schulter. »Sei nicht so hart zu dir. Solche Gefühle sind ganz natürlich. Sie kommen und gehen schnell. Nur diejenigen, die eine Lebensart aus ihnen machen, sind dafür zu verdammen.« Er wandte sich wieder an Ela. »Es gibt gewisse ethische Probleme.«

»Ich weiß. Und ich meine, wir sollten jetzt auf diese Probleme zu sprechen kommen, obwohl es uns vielleicht niemals möglich sein wird, diese Manipulation durchzuführen. Wir sprechen von der genetischen Veränderung einer ganzen Planetenbevölkerung. Es war eine Ungeheuerlichkeit, als der Kongreß es ohne Wissen oder Zustimmung der Bevölkerung tat. Können wir diese Ungeheuerlichkeit aufheben, indem wir uns derselben Methode bedienen?«

»Mehr als das«, sagte Han Fei-tzu. »Unser gesamtes soziales System hier beruht auf den Gottberührten. Die meisten Menschen werden solch eine Verwandlung als Plage der Götter interpretieren, die uns bestrafen wollen. Wenn bekannt würde, daß wir dafür verantwortlich sind, würde man uns töten. Doch wäre auch noch etwas anderes möglich. Wenn bekannt wird, daß die Gottberührten die Stimme der Götter verloren haben, könnte sich das Volk gegen sie wenden und sie töten. Wenn sie tot sind, haben wir ihnen nicht damit geholfen, indem wir sie vom UZV befreit haben.«

»Wir haben darüber gesprochen«, sagte Ela. »Und wir haben nicht die geringste Ahnung, wie das richtige Vorgehen aussieht. Im Augenblick ist die Frage noch nicht von Belang, denn wir haben die Descolada noch nicht dekodiert, und vielleicht wird es uns nie gelingen. Doch sollten wir einmal dazu imstande sein, möchten wir euch die Wahl überlassen, ob und wie ihr die Methode einsetzen wollt.«

»Dem Volk von Weg?«

»Nein«, sagte Ela. »Die erste Wahl obliegt euch, Han Fei-tzu, Si Wang-mu und Han Qing-jao. Nur ihr wißt, was euch angetan wurde, und selbst wenn Ihre Tochter es nicht glauben will, repräsentiert sie die Auffassung der Gläubigen und der Gottberührten von Weg. Sollten wir einmal dazu imstande sein, müßt ihr diese Frage stellen. Und euch selbst. Gibt es eine Möglichkeit, diese Verwandlung nach Weg zu bringen, die nicht destruktiv wäre? Und falls es möglich ist, sollte man es auch tun? Nein – sagt jetzt nichts, entscheidet nichts. Denkt darüber nach. Wir gehören nicht dazu. Wir werden euch nur informieren, ob es möglich ist, sobald – und falls – wir es herausgefunden haben. Von da an hängt es von euch ab.«

Elas Gesicht verschwand.

Jane blieb noch einen Augenblick länger. »War es das wert, euch geweckt zu haben?« fragte sie.

»Ja!« rief Wang-mu.

»Schön, wenn man herausfindet, daß man in Wirklichkeit viel mehr ist, als man jemals für möglich gehalten hat, nicht wahr?«

»O ja«, sagte Wang-mu.

»Dann leg dich wieder schlafen, Wang-mu. Und du, Meister Han – deine Erschöpfung zeigt sich sehr deutlich. Du bist nutzlos für uns, wenn du deine Gesundheit verlierst. Wie Andrew es mir immer und immer wieder gesagt hat – wir müssen alles tun, was in unseren Kräften steht, ohne unsere Fähigkeit zu zerstören, es auch weiterhin zu tun.«

Dann war auch sie fort.

Wang-mu begann augenblicklich wieder zu weinen. Han Fei-tzu glitt zu ihr hinüber, setzte sich neben ihr zu Boden, drückte ihren Kopf gegen seine Schulter und schaukelte sie sanft hin und her. »Still, meine Tochter, meine Süße, in deinem Herzen wußtest du schon immer, wer du bist, und ich auch. Man hat dir deinen Namen fürwahr mit Weisheit gegeben. Wenn sie auf Lusitania ihre Wunder vollbringen, wirst du die Königliche Mutter der ganzen Welt sein.«

»Meister Han«, flüsterte sie. »Ich weine auch um Qing-jao. Ich habe mehr bekommen, als ich je erhofft habe. Aber wer wird sie sein, wenn man ihr die Stimme der Götter nimmt?«

»Ich hoffe«, sagte Fei-tzu, »daß sie dann wieder meine wahre Tochter sein wird. Dann wird sie so frei sein wie du, die Tochter, die zu mir gekommen ist wie ein Blumenblatt auf dem Winterfluß, aus dem Land des ewigen Frühlings zu mir getragen.«

Er hielt sie noch viele Minuten lang, bis sie an seiner Schulter einschlief. Dann legte er sie wieder auf ihre Matte und zog sich in seine eigene Ecke zurück, zum ersten Mal seit vielen Tagen mit Hoffnung im Herzen.


Als Valentine zum Gefängnis ging, um Grego zu besuchen, sagte Bürgermeister Kovano ihr, daß Olhado bei ihm war. »Hat Olhado denn keine Schicht?«

»Das meinen Sie doch nicht ernst«, sagte Kovano. »Er ist ein guter Schichtleiter in der Ziegelei, doch die Rettung der Welt dürfte schon wert sein, daß ein anderer ihn einen Nachmittag lang vertritt.«

»Schrauben Sie Ihre Erwartungen nicht zu hoch«, sagte Valentine. »Ich wollte, daß er sich beteiligt. Ich hoffe, daß er uns helfen kann. Aber er ist kein Physiker.«

Kovano hob die Schultern. »Ich bin auch kein Kerkermeister, handle aber, wie die Situation es verlangt. Ich habe keine Ahnung, ob es damit zu tun hat, daß Olhado bei ihm ist oder Ender vor kurzem bei ihm war, aber ich habe noch nie lautere Stimmen und größere Aufregung in der Zelle vernommen – jedenfalls nicht, wenn die Insassen nüchtern waren. Natürlich werden in dieser Stadt die meisten Menschen wegen Trunkenheit eingesperrt.«

»Ender war hier?«

»Direkt nach seinem Besuch bei der Schwarmkönigin. Er möchte mit Ihnen sprechen. Er wußte nicht, wo Sie waren.«

»Na schön, ich gehe zu ihm, wenn ich hier fertig bin.« Sie war bei ihrem Mann gewesen. Jakt schickte sich an, mit dem Shuttle ins All zurückzukehren, sein eigenes Schiff für einen schnellen Aufbruch vorzubereiten und festzustellen, ob das ursprüngliche Kolonieschiff Lusitanias nach so vielen Jahrzehnten ohne Wartung des Sternenantriebs für einen weiteren Flug wiederhergestellt werden konnte. Es war lediglich zur Unterbringung von Samen, Genen und Embryos erdgeborener Spezies benutzt worden. Jakt würde mindestens eine Woche lang fort sein, vielleicht sogar länger, und Valentine konnte ihn schlecht gehen lassen, ohne vorher etwas Zeit mit ihm zu verbringen. Er wußte natürlich, unter welch schrecklichem Druck alle standen, und hätte Verständnis gehabt – doch Valentine wußte auch, daß sie keine der Schlüsselfiguren dieser Ereignisse war. Sie würde erst später nützlich sein, wenn sie alles niederschrieb.

Doch nachdem sie Jakt verlassen hatte, war sie nicht direkt zum Büro des Bürgermeisters gegangen, um Grego zu besuchen. Sie hatte einen Spaziergang durch die Stadt gemacht. Kaum vorstellbar, daß sich hier vor kurzer Zeit wütend und betrunken der Mob gebildet und in einen mörderischen Zorn gesteigert hatte. Jetzt war es so still hier. Sogar das Gras hatte sich erholt und wieder aufgerichtet, abgesehen von einem Schlammloch, wo es nicht mehr wachsen wollte.

Doch es war nicht friedlich hier. Ganz im Gegenteil. Als Valentine hier eingetroffen und die Stadt wirklich friedlich gewesen war, hatte es hier im Herzen der Kolonie den ganzen Tag über vor Leben und Geschäftigkeit geradezu gesummt. Nun waren nur ein paar Menschen unterwegs, doch sie wirkten verdrossen, fast wie Flüchtlinge. Sie hielten die Köpfe gesenkt und richteten die Blicke auf den Boden vor ihren Füßen, als habe jeder Angst, auf die Nase zu fallen, wenn er nicht aufpaßte, wohin er ging.

Ein Teil der Verdrossenheit resultiert wahrscheinlich aus der Scham, dachte Valentine. Mittlerweile wies jedes Gebäude in der Stadt ein Loch auf, wo man Steine oder Ziegel herausgebrochen hatte, um sie für den Bau der Kapelle zu verwenden. Viele der Löcher waren von der Praca aus zu sehen, auf der Valentine ging.

Sie vermutete jedoch, daß eher die Furcht als die Scham das vibrierende Leben hier abgetötet hatte. Niemand sprach offen darüber, doch sie erhaschte genug verstohlene Blicke zu den Hügeln im Norden der Stadt, um Bescheid zu wissen. Es war nicht die Scham über das Niederbrennen des Pequenino-Waldes. Es waren die Krabbler. Die dunklen Gestalten waren nur selten auf den Hügeln oder im Gras draußen vor der Stadt zu sehen. Es waren die Alpträume der Kinder, die sie gesehen hatten. Das widerwärtige Entsetzen in den Herzen der Erwachsenen. Historische Romane und Videos, die zu den Zeiten der Krabblerkriege spielten, waren in der Bibliothek ständig ausgeliehen; die Leute waren besessen davon, Menschen zu sehen, die Siege über Krabbler errungen. Und während sie zusahen, gaben sie ihren schlimmsten Träumen Nahrung. Bei vielen Leuten, wenn nicht sogar den meisten, war die theoretische Vorstellung, die Schwarmkultur sei wunderschön und würdig und das Bild, das Ender in seinem ersten Buch von der Schwarmkönigin gezeichnet hatte, verschwunden, während sie in der unausgesprochenen Einkerkerung lebten, die von den Arbeitern der Schwarmkönigin durchgesetzt wurde.

War unsere Arbeit schließlich doch völlig vergeblich? dachte Valentine. Ich, der Philosoph Demosthenes, habe versucht, die Menschen zu lehren, daß sie nicht alle Außerirdischen fürchten müssen, sondern sie als Ramänner sehen können. Und Ender mit seinen eindringlichen Büchern über die Schwarmkönigin, den Hegemon und Menschs Leben – welche Macht hatten sie wirklich, verglichen mit dem instinktiven Schrecken beim Anblick dieser gefährlichen, übergroßen Insekten? Die Zivilisation ist nur ein Vorwand; in einer Krise werden wir wieder zu bloßen Affen, vergessen wir die rationalen Zweifüßler, die wir angeblich sind, und werden wieder zu den haarigen Primaten an der Höhlenöffnung, die den Feind anschreien, sich wünschen, er würde verschwinden, und den schweren Stein umklammern, den wir in dem Augenblick benutzen werden, da er in Reichweite kommt.

Nun war sie wieder an einem sauberen, sicheren Ort, nicht ganz so beunruhigend, auch wenn er als Gefängnis wie auch als Hauptsitz der Stadtverwaltung diente. An einem Ort, wo die Krabbler als Verbündete gesehen wurden – oder zumindest als unerläßliche Friedenstruppe, die die Antagonisten zu ihrem gegenseitigen Schutz voneinander trennte. Es gibt Menschen, erinnerte sich Valentine, die sich über ihre tierische Abstammung erheben können.

Als sie die Zellentür öffnete, lagen Olhado wie auch Grego auf Pritschen. Sie hatten Papiere auf dem Boden und dem Tisch zwischen ihnen ausgebreitet; sie bedeckten sogar das Computerterminal, so daß das Display, falls das Gerät eingeschaltet war, nicht funktionieren konnte. Es sah aus wie das typische Kinderzimmer eines Teenagers. Grego hatte die Beine gegen die Wand gelehnt. Seine nackten Füße tanzten einen seltsamen Rhythmus, zuckten in der Luft hin und her. Was für eine innere Musik hörte er?

»Boa tarde, Tia Valentina«, sagte Olhado.

Grego sah nicht einmal auf.

»Störe ich?«

»Sie kommen gerade rechtzeitig«, sagte Olhado. »Wir sind drauf und dran, ein neues Konzept für das Universum zu entwickeln. Wir haben gerade das erleuchtende Prinzip entdeckt, daß man sich einfach alles wünschen kann und Lebewesen aus dem Nichts fallen, wenn sie gerade gebraucht werden.«

»Wenn man sich einfach alles wünschen kann«, sagte Valentine, »könnten wir uns ja auch den Überlichtflug wünschen.«

»Grego rechnet gerade herum«, sagte Olhado, »deshalb reagiert er im Augenblick nicht auf Sie. Aber ich glaube, er ist da einer Sache auf der Spur – vor einer Minute hat er geschrien und herumgetanzt. Wir hatten eine Nähmaschinenerfahrung.«

»Ah ja«, sagte Valentine.

»Das ist eine alte Geschichte aus der Physikklasse«, sagte Olhado. »Leute, die eine Nähmaschine erfinden wollten, sind immer wieder gescheitert, weil sie versuchten, die Bewegungen des Nähens mit der Hand zu imitieren. Sie stießen die Nadel durch das Gewebe und zogen den Faden durch das Öhr am Ende der Nadel hinterher. Das schien ja ganz offensichtlich zu sein. Bis dann jemand auf die Idee kam, das Öhr am Kopf der Nadel anzubringen und zwei Fäden statt nur einem zu benutzen. Ein völlig unnatürlicher, indirekter Annäherungsversuch, wenn man es so will, den ich noch immer nicht verstehe.«

»Also wollen wir uns unseren Weg durch das All nähen?«

»Gewissermaßen. Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten ist nicht unbedingt eine Gerade. Diese Idee stammt von dem, was Andrew von der Schwarmkönigin gelernt hat. Wie sie ein Geschöpf aus einer alternativen Raumzeit ruft, wenn sie eine neue Schwarmkönigin erschaffen will. Grego hat das als Beweis dafür genommen, daß es einen echten realen irrealen Raum gibt. Fragen Sie mich nicht, was er damit meint. Ich bin von Beruf Ziegelmacher.«

»Einen irrealen Realraum«, sagte Grego. »Du hast es umgedreht.«

»Die Toten erwachen«, sagte Olhado.

»Setz dich, Valentine«, erklärte Grego. »Meine Zelle ist nicht viel, aber mein Heim. Die mathematischen Formeln sind noch immer völlig verrückt, doch sie scheinen zu passen. Ich muß noch einige Zeit mit Jane damit verbringen, die wirklich komplizierten Berechnungen vorzunehmen und einige Simulationen zu fahren, aber wenn die Schwarmkönigin recht hat, gibt es einen Raum, der so universell an unseren Raum angrenzt, daß Philoten aus dem anderen Raum an jeder Stelle in unseren Raum überwechseln können. Wenn wir davon ausgehen, daß dieses Wechseln auch in die andere Richtung möglich ist, und wenn die Schwarmkönigin ebenfalls damit recht hat, daß der andere Raum genau wie der unsrige Philoten enthält, nur daß sie in dem anderen Raum – nennen wir ihn das Außen – nicht den Naturgesetzen entsprechend angeordnet sind, sondern statt dessen bloße Möglichkeiten sind, dann könnten wir…«

»Das sind schrecklich viele Wenns«, sagte Valentine.

»Sie vergessen«, sagte Olhado, »daß wir von der Prämisse ausgehen, uns einfach etwas wünschen zu müssen.«

»Richtig, das vergaß ich zu erwähnen«, sagte Grego. »Wir gehen ebenfalls davon aus, daß die Schwarmkönigin recht damit hat, daß die unorganisierten Philoten auf Muster im Verstand eines Menschen reagieren und damit augenblicklich die Rolle einnehmen, die in diesem Muster möglich ist. Dinge, die also im Außen begriffen werden, werden hier sofort Wirklichkeit.«

»Das ist mir alles völlig klar«, sagte Valentine. »Es überrascht mich nur, daß ihr nicht früher darauf gekommen seid.«

»Genau«, sagte Grego. »Wir machen es also folgendermaßen. Anstatt zu versuchen, alle Partikel, aus denen das Sternenschiff, seine Passagiere und die Fracht bestehen, physikalisch von Stern A nach Stern B zu versetzen, stellen wir uns einfach alles – das gesamte Muster, einschließlich aller Menschen – als nicht im Innen, sondern im Außen existent vor. In diesem Augenblick desorganisieren sich alle Philoten, die das Sternenschiff und die Menschen darin bilden, fallen ins Außen und setzten sich dem entsprechenden Muster zufolge wieder zusammen. Dann machen wir dasselbe noch einmal und fallen wieder ins Innen – nur, daß wir jetzt beim Stern B sind. Vorzugsweise in sicherer Orbitentfernung.«

»Wenn jeder Punkt in unserem Raum einem Punkt im Außen entspricht«, sagte Valentine, »könnten wir doch einfach dort reisen anstatt hier.«

»Dort sind die Regeln etwas anders«, sagte Grego. »Dort gibt es keine Räumlichkeit. Nehmen wir einmal an, daß in unserem Raum die Räumlichkeit – die relative Anordnung – einfach ein Ausdruck der Ordnung ist, der die Philoten folgen. Eine Konvention. Das gilt also auch für Entfernungen. Wir messen eine Entfernung nach der Zeit, die wir benötigen, um sie zu überwinden – aber dieser Zeitraum ist nur erforderlich, weil die Philoten, aus denen Materie und Energie bestehen, gezwungen sind, den Konventionen der Naturgesetze zu folgen. Zum Beispiel der Lichtgeschwindigkeit.«

»Sie gehorchen einfach der Lichtgeschwindigkeit.«

»Ja. Abgesehen von der Geschwindigkeitsbegrenzung ist die Größe unseres Universums willkürlich. Wenn man unser Universum als eine Kugel betrachtet und außerhalb dieser Kugel steht, könnte es genausogut einen Durchmesser von einem Meter, einer Billiarde Lichtjahren oder einem Mikron haben.«

»Und wenn wir ins Außen gehen…«

»Dann hat das Innenuniversum genau dieselbe Größe wie jedes der nicht organisierten Philoten dort – nämlich überhaupt keine. Da es dort überdies keine Räumlichkeit gibt, sind alle Philoten in diesem Raum unserem Universum gleichermaßen nah oder fern. Also können wir an jeder beliebigen Stelle wieder in den Innen-Raum eintreten.«

»Das klingt ja fast ganz einfach«, sagte Valentine.

»Ja, nun«, sagte Olhado.

»Die Schwierigkeit dabei ist das Wünschen«, sagte Olhado.

»Um das Muster festzuhalten, muß man es wirklich verstehen«, sagte Grego. »Ein jedes Philot, das ein Muster beherrscht, versteht nur seinen eigenen Teil der Wirklichkeit. Es kommt auf die Philoten in dem Muster an, ihre Aufgabe zu erledigen und ihr Muster zusammenzuhalten, und es kommt auch darauf an, ob das Philot, das das Muster beherrscht, von dem es ein Teil ist, es an der richtigen Stelle halten kann. Das Atomphilot muß darauf vertrauen, daß die Neutronen-, Protonen- und Elektronenphiloten ihre eigene innere Struktur zusammenhalten und das Molekülphilot das Atom an seinem richtigen Platz hält, während das Atomphilot sich auf seine Aufgabe konzentriert, die darin besteht, die Teile des Atoms an Ort und Stelle zu halten. So scheint die Wirklichkeit zu funktionieren – zumindest in diesem Modell.«

»Also setzt ihr das ganze Ding ins Außen und dann wieder ins Innen«, sagte Valentine. »Das verstehe ich noch.«

»Ja, aber wer? Denn der Sendemechanismus verlangt, daß das Muster des Schiffes und seines gesamten Inhalts als eigenes Muster etabliert werden muß und nicht nur als zufällige Konglomeration. Ich meine, wenn du ein Schiff mit Fracht beladen hast und die Passagiere zugestiegen sind, hast du noch kein lebendes Muster erschaffen, noch keinen philotischen Organismus. Es ist nicht so, als würdest du ein Kind gebären – das ist ein Organismus, der sich selbst zusammenhalten kann. Das Schiff und sein Inhalt ist nur eine Ansammlung, die jederzeit auseinanderbrechen kann. Wir versetzen also all ihre Philoten in den nicht organisierten Raum, in dem es keine Räumlichkeit gibt, kein Organisationsprinzip. Aber wie wollen wir sie dort wieder zusammensetzen? Und was hätten wir, wenn sie sich sogar selbst zu den Gebilden zusammensetzten, die sie kennen? Eine Menge Atome. Vielleicht sogar lebende Zellen oder Organismen – aber ohne Raumanzüge oder ein Raumschiff, denn die leben ja nicht. Die Atome und vielleicht sogar Moleküle des Raumschiffs würden herumtreiben und sich vielleicht sogar wie verrückt replizieren, wenn die nicht organisierten Philoten da draußen anfangen, das Muster zu kopieren, aber wir hätten damit noch kein Schiff.«

»Fatal.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Grego. »Wer kann das schon wissen? Da draußen sind die Regeln ganz anders. Des Pudels Kern ist, daß man sie in diesem Zustand nicht in unseren Raum zurückholen kann, denn das wäre eindeutig fatal.«

»Also geht es nicht.«

»Ich weiß noch nicht. Die Wirklichkeit wird im Innen-Raum zusammengehalten, weil sich alle Philoten, aus denen sie besteht, auf die Regeln geeinigt haben. Alle Philoten kennen ihre jeweiligen Muster und befolgen sie. Vielleicht wird auch im Außen-Raum alles zusammengehalten, solange das Raumschiff und seine Fracht und Passagiere bekannt sind. Solange es eine Wissende gibt, die die gesamte Struktur in ihrem Kopf festhalten kann.«

»In ihrem Kopf?«

»Wie gesagt, Jane muß die Berechnungen durchführen. Sie muß feststellen, ob sie Zugang zu genug Speicherplatz hat, um das Muster aller Beziehungen in einem Raumschiff dort abzulegen. Dann muß sie feststellen, ob sie dieses Muster nehmen und es sich an einem neuen Ort vorstellen kann.«

»Das ist der Teil, bei dem es um das Wünschen geht«, sagte Olhado. »Ich bin sehr stolz darauf, denn ich bin derjenige, der auf den Gedanken gekommen ist, daß wir eine Wissende brauchen, um das Schiff zu bewegen.«

»Eigentlich stammt die ganze Idee von Olhado«, sagte Grego. »Aber ich habe vor, meinen Namen ganz oben auf den Forschungsbericht zu setzen, weil er nicht an einem Karrieresprung interessiert ist und ich einen guten Eindruck machen muß, wenn die Leute mir diese Vorstrafe verzeihen sollen, sobald ich irgendwo auf einer anderen Welt einen Job an einer Universität bekomme.«

»Wovon sprichst du?« fragte Valentine.

»Ich spreche davon, diese zurückgebliebene Kolonie zu verlassen. Verstehst du nicht? Wenn das alles stimmt, wenn es funktioniert, dann kann ich nach Rheims oder Baia oder… oder zur Erde fliegen und zu den Wochenenden wieder hierher zurückkommen. Energiekosten entstehen nicht, denn wir treten völlig außerhalb der Naturgesetze. Wartung und Betriebskosten des Fahrzeugs sind gering.«

»So gering nun auch nicht«, sagte Olhado. »Wir müssen noch immer nahe an den Zielplaneten heran.«

»Wie ich sagte, alles hängt davon ab, was Jane sich vorstellen kann. Sie muß imstande sein, das gesamte Schiff mitsamt Inhalt zu begreifen. Sie muß imstande sein, es sich nach Außen und wieder nach Innen vorzustellen. Sie muß imstande sein, die genauen relativen Positionen des Start- und des Zielpunkts zu berechnen.«

»Also hängt die überlichtschnelle Reise völlig von Jane ab«, sagte Valentine.

»Wenn es sie nicht gäbe, wäre die Sache unmöglich. Es würde nicht einmal helfen, wenn man alle Computer miteinander verbindet. Man kann dafür auch nicht einfach nur ein Programm schreiben. Denn ein Programm ist nur eine Sammlung, keine Wesenheit. Es besteht nur aus Teilen. Es hat kein… wie hat Jane es noch genannt? Kein Aiua.«

»Sanskrit für Leben«, erklärte Olhado. »Der Begriff für die Philoten, die ein Muster beherrschen, das andere Philoten ordnet. Das Wort für Wesenheiten – wie Planeten und Atome und Tiere und Sterne –, die eine wahre, dauerhafte Form haben.«

»Jane ist ein Aiua, nicht nur ein Programm. Also kann sie eine Wissende sein. Sie kann das Schiff als Muster in ihr eigenes Muster integrieren. Sie kann es aufnehmen und in sich enthalten, und es ist immer noch real. Sie macht es zu einem Teil von ihr und kennt es so vollkommen und unterbewußt, wie dein Aiua deinen Körper kennt und ihn zusammenhält. Dann kann sie es mit sich ins Außen und wieder ins Innen nehmen.«

»Jane müßte also mitgehen?« fragte Valentine.

»Wenn dies überhaupt möglich sein sollte, dann nur, weil Jane mit dem Schiff reist«, sagte Grego.

»Wie?« fragte Valentine. »Wir können sie doch nicht einfach aufgabeln und in einer Tasche mitnehmen.«

»Das ist etwas, was Andrew von der Schwarmkönigin erfahren hat«, sagte Grego. »Sie existiert in Wirklichkeit an einem ganz besonderen Ort – das heißt, ihr Aiua hat eine spezifische Anordnung in unserem Raum.«

»Wo?«

»In Andrew Wiggin.«

Sie brauchten eine Weile, um ihr zu erklären, was Ender von der Schwarmkönigin über Jane erfahren hatte. Die Vorstellung, daß sich diese Computerwesenheit in Enders Körper befand, war seltsam, doch es ergab einen gewissen Sinn, daß Jane von den Schwarmköniginnen erschaffen worden war, während Ender gegen sie zu Felde gezogen war. Für Valentine ergab sich jedoch noch eine weitere, unmittelbare Konsequenz. Wenn das Überlichtschiff nur dorthin fliegen konnte, wohin Jane es brachte, und Jane sich in Ender befand, konnte es nur eine Schlußfolgerung geben.

»Dann muß Andrew ebenfalls mitfliegen?«

»Natürlich«, sagte Grego.

»Er ist etwas zu alt für einen Testpiloten«, sagte Valentine.

»In diesem Fall ist er nur ein Testpassagier«, sagte Grego. »Er trägt nur zufällig den Piloten in sich.«

»Der Flug wird keinerlei körperlichen Ansprüche stellen«, sagte Olhado. »Wenn Gregos Theorie stimmt, wird er einfach da sitzen, und nach ein paar Minuten oder genauer gesagt nach einer oder zwei Mikrosekunden wird er an dem anderen Ort sein. Und wenn die Theorie nicht stimmt, wird er einfach weiterhin dort sitzen, und wir alle werden uns töricht vorkommen, weil wir geglaubt haben, wir könnten uns den Weg durch den Raum wünschen.«

»Und wenn sich herausstellt, daß Jane ihn ins Außen bringen, aber die Dinge dort nicht zusammenhalten kann, wird er in einem Raum gestrandet sein, der nicht mal Räumlichkeit hat«, sagte Valentine.

»Nun ja«, erwiderte Grego. »Wenn es nur zur Hälfte funktioniert, werden die Passagiere effektiv sterben. Doch da wir uns an einem Ort ohne Zeit befinden, wird es für uns keine Rolle spielen. Es wird einfach ein ewiger Augenblick sein. Wahrscheinlich nicht einmal genug Zeit für unsere Gehirne, um zu bemerken, daß das Experiment fehlgeschlagen ist. Eine Stasis.«

»Doch falls es funktioniert«, sagte Olhado, »nehmen wir natürlich unsere Raumzeit mit uns, so daß natürlich Zeit verstreichen würde. Daher werden wir nie wissen, ob das Experiment gescheitert ist. Wir werden es nur wissen, wenn wir Erfolg gehabt haben.«

»Aber ich werde es wissen, wenn er nicht zurückkommt«, sagte Valentine.

»Richtig«, erwiderte Grego. »Wenn er nicht zurückkommt, wirst du es ein paar Monate lang wissen, bis die Flotte hier eintrifft und alles und jeden in die Hölle schickt.«

»Oder bis die Descolada unsere Gene von innen nach außen dreht und uns alle tötet«, fügte Olhado hinzu.

»Da hast du wohl recht, Neffe.« Valentine wählte die vertraulichere Form. »Wenn das Experiment fehlschlägt, werden sie genauso tot sein, als würden sie einfach bleiben.«

»Aber du weißt, daß wir unter gewaltigem Druck stehen«, sagte Grego. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, bevor Jane ihre Verkürzer-Verbindungen verliert. Andrew meint, daß sie es vielleicht doch überlebt. Aber sie wird verkrüppelt sein. Gehirngeschädigt.«

»Selbst wenn es funktioniert, könnte der erste Flug auch der letzte sein.«

»Nein«, sagte Olhado. »Die Flüge finden ohne Zeitverlust statt. Wenn es funktioniert, kann sie alle Leute in der Zeit von diesem Planeten bringen, die sie brauchen, um das Sternenschiff zu besteigen und wieder zu verlassen.«

»Soll das heißen, daß sie von der Planetenoberfläche aus starten kann?«

»Das ist noch problematisch«, sagte Grego. »Vielleicht kann sie die genauen Positionen nur auf… sagen wir, zehntausend Kilometer berechnen. Es besteht keine Explosions- oder Überlagerungsgefahr, da die Philoten den Innen-Raum an einer Stelle betreten, an denen sie den Naturgesetzen gehorchen können. Doch wenn das Sternenschiff mitten in einem Planeten auftaucht, wird es ziemlich schwer sein, sich wieder an die Oberfläche zu graben.«

»Aber wenn sie die Koordinaten wirklich genau bestimmen kann – zum Beispiel auf ein paar Zentimeter –, können die Flüge von einer Oberfläche zur anderen stattfinden«, sagte Olhado.

»Natürlich träumen wir«, sagte Grego. »Jane wird zurückkommen und uns sagen, daß sie, selbst wenn sie alle Sternenmassen in der Galaxis in den Computer eingeben kann, noch längst nicht alle Daten verarbeiten kann, die sie braucht, um ein Sternenschiff auf diese Art und Weise zu fliegen. Doch im Augenblick klingt es noch möglich, und ich habe ein gutes Gefühl!«

Daraufhin fingen Grego und Olhado so laut an zu lachen und zu jubeln, daß Bürgermeister Kovano zur Tür kam, um sich zu überzeugen, daß Valentine in Ordnung war. Es war ihr peinlich, daß er sie ertappte, wie sie mit ihnen lachte.

»Dann sind wir also zufrieden?« fragte Kovano.

»Ich glaube schon«, sagte Valentine und versuchte, ihre Fassung zurückzugewinnen.

»Welches unserer vielen Probleme haben wir gelöst?«

»Wahrscheinlich keins davon«, sagte Valentine. »Es wäre zu idiotisch einfach, wenn sich das Universum auf diese Art und Weise manipulieren ließe.«

»Aber irgend etwas haben Sie sich doch ausgedacht.«

»Die metaphysischen Genies hier sind auf eine völlig unwahrscheinliche Möglichkeit gekommen«, sagte Valentine. »Oder haben Sie ihnen vielleicht etwas ins Essen geschüttet?«

Kovano lachte und ließ sie wieder allein. Doch sein Besuch hatte sie wieder ernüchtert.

»Ist es möglich?« fragte Valentine.

»Ich wäre nie darauf gekommen«, erwiderte Grego. »Ich meine, da ist das Problem der Herkunft.«

»Nein, in Wirklichkeit beantwortet es das Problem der Herkunft«, sagte Olhado. »Die Urknalltheorie gibt es schon seit…«

»Seit der Zeit vor meiner Geburt«, sagte Valentine.

»Ich glaube schon«, sagte Olhado. »Doch niemand konnte je erklären, warum es zum Urknall gekommen ist. Auf diese Art und Weise ergibt es einen seltsamen Sinn. Wenn jemand, der imstande war, das Muster des gesamten Universums in seinem Kopf zu halten, ins Außen getreten ist, hätten sich alle Philoten, die es gibt, an der größten Stelle des Musters angeordnet, die sie beherrschen konnten. Da es dort keine Zeit gibt, hat es vielleicht eine Milliarde Jahre oder eine Mikrosekunde gedauert, eben so lange, wie es brauchte, und bumms, als sie sich aussortiert hatten, war es da, das gesamte Universum, das in einen neuen Innen-Raum stürzte. Und da es keine Entfernung und keinen Raum gab, hätte das gesamte Gebilde mit der Größe eines geometrischen Punktes begonnen…«

»Nein, es hätte überhaupt keine Ausdehnung gehabt«, sagte Grego.

»Mir fällt meine Geometrie wieder ein«, sagte Valentine.

»… und sich augenblicklich ausgedehnt und dabei Raum geschaffen. Und während es sich ausdehnte, verlangsamte sich die Zeit… oder beschleunigte sie sich?«

»Das spielt keine Rolle«, sagte Grego. »Es hängt nur davon ab, ob man sich im Innen des neuen Raums, oder im Außen oder in irgendeinem anderen Innen-Raum befindet.«

»Auf jeden Fall scheint das Universum nun eine konstante Zeit zu haben, während es sich räumlich ausdehnt. Doch wenn man will, könnte man es auch als einen konstanten Raum betrachten, der sich zeitlich verändert. Die Lichtgeschwindigkeit wird geringer, so daß es länger dauert, von einer Stelle zur anderen zu gelangen, doch wir merken nicht, daß sie sich verringert, weil sich alles andere ebenfalls genau relativ zur Lichtgeschwindigkeit verlangsamt. Versteht ihr? Alles eine Frage der Perspektive. Was das betrifft, hat das Universum, in dem wir leben, wie Grego es gerade sagte, noch immer in absoluten Begriffen die Ausdehnung eines geometrischen Punktes – wenn man es vom Außen betrachtet. Jede Ausdehnung, die. im Innen stattzufinden scheint, ist nur eine Sache der relativen Räumlichkeit und Zeit.«

»Und was mich auf die Palme bringt«, sagte Grego, »ist die Tatsache, das all das schon seit Jahren in Olhados Kopf vor sich ging. Diese Vorstellung des Universums als dimensionsloser Punkt im Außen-Raum hat er schon die ganze Zeit über gehabt. Nicht, daß er der erste wäre, der diese Theorie vertritt. Er ist lediglich der erste, der tatsächlich daran geglaubt hat und die Verbindung zwischen dieser Theorie und dem Nicht-Raum sah, in dem laut Andrew die Schwarmkönigin ihre Aiuas findet.«

»Wenn wir schon metaphysische Spielchen treiben«, sagte Valentine, »wann hat das alles angefangen? Wenn wir uns die Wirklichkeit als Muster vorstellen, das jemand ins Außen gebracht hat, und das Universum einfach in die Existenz stürzte, dann wandert derjenige, der es einmal getan hat, wahrscheinlich noch immer herum und erzeugt Universen, wo immer er geht. Aber woher kommt er? Und was war vorhanden, bevor er damit anfing? Und wie hat das Außen angefangen zu existieren?«

»Das ist Innen-Denken«, sagte Olhado. »So stellt man sich die Dinge vor, wenn man Raum und Zeit noch immer für absolut hält. Du stellst dir vor, alles habe einen Anfang und ein Ende, alles habe einen Ursprung, denn so ist es in dem Universum, das wir beobachten können. Aber im Außen gibt es keinerlei derartigen Gesetze. Das Außen war immer und wird immer sein. Die Anzahl der Philoten dort ist unendlich, und sie alle haben schon immer existiert. Ganz gleich, wie viele von ihnen du herausziehst und in organisierte Universen zerrst, es werden immer genauso viele sein, wie es schon immer waren.«

»Aber jemand muß doch damit angefangen haben, Universen zu schaffen.«

»Warum?« fragte Olhado.

»Weil… weil ich…«

»Niemand hat jemals damit angefangen. Es ging schon immer so. Ich meine, wenn es nicht schon immer so wäre, könnte es gar nicht anfangen. Draußen, wo es keine Muster gibt, wäre es unmöglich, sich ein Muster vorzustellen. Sie können unserer Definition zufolge nicht handeln, da sie sich buchstäblich nicht einmal selbst finden können.«

»Aber wie kann es denn schon immer so gewesen sein?«

»Stelle dir vor, daß dieser Augenblick in der Zeit, die Wirklichkeit, in der wir in diesem Augenblick leben, dieser Zustand des gesamten Universums… aller Universen…«

»Du meinst das Jetzt.«

»Genau. Stelle dir vor, dieses jetzt wäre die Oberfläche einer Kugel. Die Zeit bewegt sich vorwärts durch das Chaos des Außen wie die Oberfläche einer sich ausdehnenden Kugel, eines Ballons, der aufgeblasen wird. Außen Chaos, Innen Wirklichkeit. Und die Kugel dehnt sich ständig aus. Wie du es gesagt hast, Valentine – sie läßt die ganze Zeit über neue Universen entstehen.«

»Aber woher ist dieser Ballon gekommen?«

»Na schön, du hast den Ballon. Die sich ausdehnende Kugel. Jetzt stelle dir einmal eine Kugel mit einem unendlichen Radius vor.«

Valentine überlegte, was er damit meinen konnte. »Ihre Oberfläche wäre völlig flach.«

»Ganz genau.«

»Und man könnte sie niemals ganz umkreisen.«

»Ebenfalls richtig. Unendlich groß. Es ist sogar unmöglich, alle Universen zu zählen, die es auf der Wirklichkeitsseite gibt. Und wenn du jetzt ein Sternenschiff besteigst und vom Rand aus zum Mittelpunkt fliegst, wird alles älter, je weiter du kommst. All die alten Universen, jedes älter als das vorherige. Wann wirst du das erste erreichen?«

»Nie«, sagte Valentine. »Nicht, wenn man mit endlicher Geschwindigkeit fliegt.«

»Du wirst die Mitte einer Kugel mit unendlichem Radius niemals erreichen, wenn du an der Oberfläche losfliegst, denn ganz gleich, wie schnell du fliegst, die Mitte, der Anfang, ist immer unendlich weit entfernt.«

»Und da hat das Universum begonnen.«

»Ich glaube schon«, sagte Olhado. »Ich bin dieser Ansicht.«

»Also funktioniert das Universum so, weil es schon immer so funktioniert hat«, sagte Valentine.

»Die Wirklichkeit funktioniert so, weil das Wirklichkeit ist. Alles, was nicht so funktioniert, stürzt ins Chaos zurück. Alles, was so funktioniert, kommt in die Wirklichkeit hinüber. Die Scheidelinie ist immer dort.«

»Mir gefällt eine ganz andere Vorstellung«, sagte Grego. »Was hindert uns daran, wenn wir erst einmal ohne Zeitverlust in unserer Wirklichkeit herumfliegen, auch andere zu finden? Ganz neue Universen?«

»Oder andere zu schaffen«, sagte Olhado.

»Ha«, sagte Grego. »Als ob wir das Muster für ein ganzes Universum in unserem Verstand enthielten.«

»Aber vielleicht könnte Jane es«, sagte Olhado. »Oder nicht?«

»Ihr behauptet damit«, warf Valentine ein, »daß Jane vielleicht Gott ist.«

»Wahrscheinlich hört sie in diesem Augenblick zu«, sagte Grego. »Der Computer ist eingeschaltet, auch wenn das Display blockiert ist. Ich wette, das wird sie auf einige Gedanken bringen.«

»Vielleicht hat jedes Universum lange genug Bestand, um so etwas wie Jane hervorzubringen«, sagte Valentine. »Und dann geht sie her und schafft neue Universen…«

»Und es geht immer so weiter«, sagte Olhado. »Warum nicht?«

»Aber sie ist zufällig entstanden«, sagte Valentine.

»Nein«, sagte Grego. »Das ist auch etwas, was Andrew heute herausgefunden hat. Du mußt mit ihm sprechen. Jane war kein Zufall. Nach allem, was wir wissen, gibt es keine Zufälle. Nach allem, was wir wissen, war alles von Anfang an Teil des Musters.«

»Alles außer uns«, sagte Valentine. »Unsere… wie lautet der Begriff für das Philot, der uns kontrolliert?«

»Aiua«, sagte Grego und buchstabierte es ihr.

»Ja«, sagte sie. »Unser Wille jedenfalls, der schon immer existiert hat, mit allen Stärken und Schwächen, die er zufällig hat. Und aus diesem Grund sind wir, solange wir Teil des Realitätsmusters sind, auch frei.«

»Das klingt ganz so, als käme die Ethikerin endlich zum Zug«, sagte Olhado.

»Das alles ist wahrscheinlich kompletter Unsinn«, sagte Grego. »Jane wird herzlich über uns lachen. Aber Nossa Senhora, es macht Spaß, nicht wahr?«

»He, nach allem, was wir wissen, hat genau deshalb das Universum vielleicht nur angefangen«, sagte Olhado. »Weil es ein Heidenspaß ist, durchs Chaos zu gehen und Wirklichkeiten zu schaffen. Vielleicht findet Gott einfach nur Vergnügen daran.«

»Oder er wartet vielleicht nur darauf, daß Jane hier herauskommt und ihm Gesellschaft leistet«, sagte Valentine.


Es war Miros Schicht bei Pflanzer. Es war spät – nach Mitternacht. Im Isolierraum mußte Miro einen Schutzanzug tragen, nicht, um nicht selbst verseucht zu werden, sondern um zu verhindern, daß der Descolada-Virus, den er in sich trug, Pflanzer verseuchte.

Wenn ich nur einen kleinen Riß in meinen Anzug machen würde, dachte Miro, könnte ich ihm das Leben retten.

Ohne die Descolada vollzog sich der Zusammenbruch von Pflanzers Körper schnell und mit verheerender Wirkung. Sie alle wußten, daß die Descolada Einfluß auf den Reproduktionszyklus der Pequeninos hatte, den Pequeninos ihr drittes Leben als Bäume schenkte, doch bis jetzt war ihnen nicht klar gewesen, wieviel vom alltäglichen Leben der Pequeninos von der Descolada abhing. Wer immer diesen Virus entworfen hatte, er war ein kaltherziges, rein nach Begriffen der Wirksamkeit denkendes Ungeheuer. Ohne die tägliche, stündliche, minütliche Intervention der Descolada arbeiteten die Zellen nur noch träge, hörte die Produktion von lebenswichtigen, energiespeichernden Molekülen auf und arbeiteten die Synapsen des Gehirns nicht mehr so schnell. Pflanzer war mit Röhren und Elektroden gespickt, und er lag inmitten mehrerer Scanner-Felder, so daß Ela und ihre Pequenino-Assistenten von außen jeden Aspekt seines Sterbens aufzeichnen konnten. Darüber hinaus wurden ihm rund um die Uhr Gewebeproben entnommen. Seine Schmerzen waren so stark, daß er, schlief er überhaupt einmal, nicht aufwachte, wenn man ihm die Proben entnahm. Und doch blieb Pflanzer trotz aller Schmerzen verbissen klar. Als wolle er durch reine Willenskraft beweisen, daß ein Pequenino auch ohne die Descolada intelligent sein konnte. Pflanzer tat dies natürlich nicht für die Wissenschaft. Er tat es für die Würde.

Die wirklichen Wissenschaftler hatten nicht die Zeit, sich gegenseitig abzuwechseln und über ihn zu wachen, einfach in dem Anzug neben ihm zu sitzen, ihn zu beobachten, mit ihm zu sprechen. Nur Leute wie Miro, und Jakts und Valentines Kinder – Syfte, Lars, Ro, Varsam – und die seltsam stille Frau namens Plikt; Leute, die sich keinen anderen dringenden Pflichten widmen mußten, die geduldig genug waren, um das Warten zu ertragen, und jung genug, um ihre Aufgabe mit Präzision zu erledigen – nur sie wechselten sich ab. Sie hätten gern noch einen Pequenino über Pflanzer wachen lassen, doch alle Brüder, die genug über menschliche Technik wußten, um die Aufgabe richtig zu erledigen, gehörten zu Elas oder Ouandas Teams und hatten zuviel zu tun. Von allen, die im Isolierraum über Pflanzer wachten, ihm Gewebeproben entnahmen, ihn fütterten, die Fusionsflaschen wechselten und ihn säuberten, kannte nur Miro die Pequeninos gut genug, um mit ihm kommunizieren zu können. Miro konnte sich in der Sprache der Brüder mit ihm unterhalten. Das bot ihm einen gewissen Trost, obwohl sie sich praktisch gar nicht kannten; Pflanzer war geboren worden, nachdem Miro zu seiner dreißigjährigen Reise von Lusitania aufgebrochen war.

Pflanzer schlief nicht. Seine Augen waren halb geöffnet, sahen ins Nichts, doch Miro erkannte anhand der Bewegungen seiner Lippen, daß er sprach. Er rezitierte Passagen aus einem der Epen seines Stammes. Manchmal stimmte er Gesänge über die Stammesgenealogie an. Als er damit angefangen hatte, hatte Ela befürchtet, daß er in ein Delirium fiel. Doch er beharrte darauf, damit nur sein Gedächtnis auf die Probe stellen zu wollen. Sich vergewissern zu wollen, daß er mit der Descolada nicht auch seinen Stamm verloren hatte – was für ihn genauso wäre, als hätte er sich selbst verloren.

Miro stellte die Lautstärke in seinem Schutzanzug höher und konnte hören, wie Pflanzer die Geschichte eines schrecklichen Krieges mit dem Wald Himmelzerreißers, »dem Wald, der den Donner rief«, erzählte. Mitten in der Geschichte des Krieges schweifte er ab und erklärte, wie Himmelzerreißer seinen Namen bekommen hatte. Dieser Teil der Erzählung klang sehr alt und mythisch, eine magische Geschichte über einen Bruder, der kleine Mütter an den Ort trug, an dem der Himmel aufriß und die Sterne zu Boden fielen. Obwohl sich Miro in Gedanken mit den Erkenntnissen des Tages beschäftigte – Janes Herkunft, Gregos und Olhados Idee von der Reise durch Gedankenkraft –, stellte er fest, daß er aus irgendeinem Grund Pflanzers Worten Aufmerksamkeit schenkte. Und als die Geschichte ihr Ende fand, mußte Miro nachfragen.

»Wie alt ist diese Geschichte?«

»Alt«, flüsterte Pflanzer. »Du hast zugehört?«

»Bis zum Schluß.« Es stellte kein Problem dar, ausführlich mit Pflanzer zu sprechen. Entweder wurde er mit Miros langsamer Sprache nicht ungeduldig, oder seine Aufnahmefähigkeit war auf die Stufe von Miros schleppenden Worten gesunken. Pflanzer ließ Miro jedenfalls aussprechen und antwortete dann, als habe er aufmerksam zugehört. »Habe ich dich richtig verstanden, als du gesagt hast, dieser Himmelzerreißer habe kleine Mütter mit sich getragen?«

»Das stimmt«, flüsterte Pflanzer.

»Aber er ging nicht zum Vaterbaum.«

»Nein. Er hatte einfach kleine Mütter auf seinen Wanderungen dabei. Ich habe diese Geschichte vor Jahren gehört. Bevor ich die menschliche Wissenschaft kennenlernte.«

»Weißt du, wie das für mich klingt? Diese Geschichte stammt vielleicht aus einer Zeit, als ihr noch keine kleinen Mütter zum Vaterbaum getragen habt. Als die kleinen Mütter noch nicht ihre Nahrung aus dem saftigen Inneren des Mutterbaums leckten. Statt dessen hingen sie an Vorsprüngen am Unterleib der Männer, bis die Kinder groß genug waren, um hervorzukommen und ihren Platz an den Zitzen der Mütter einzunehmen.«

»Deshalb habe ich dir das Lied gesungen«, sagte Pflanzer. »Ich habe darüber nachgedacht, wie es vielleicht gewesen ist, falls wir intelligent waren, bevor die Descolada kam. Und schließlich fiel mir dieser Teil der Geschichte von Himmelzerreißers Krieg ein.«

»Er ging zu dem Ort, wo der Himmel aufriß.«

»Die Descolada muß irgendwie hierher gekommen sein, nicht wahr?«

»Wie alt ist diese Geschichte?«

»Himmelzerreißers Krieg fand vor neunundzwanzig Generationen statt. Unser Wald ist nicht so alt. Aber es wurden uns Lieder und Geschichten von unserem Vater-Wald überliefert.«

»Aber der Teil mit dem Himmel und den Sternen könnte viel alter sein, nicht wahr?«

»Sehr alt. Der Vaterbaum Himmelzerreißer starb vor langer Zeit. Er war wahrscheinlich schon sehr alt, als der Krieg stattfand.«

»Hältst du es für möglich, daß es sich dabei um eine Erinnerung des Pequenino handelt, die die Descolada als erster entdeckte? Daß sie mit einem Sternenschiff hierher gebracht wurde und er eine Art Fähre gesehen hat?«

»Deshalb habe ich das Lied gesungen.«

»Wenn das stimmt, wart ihr schon vor der Descolada eindeutig intelligent.«

»Jetzt sind alle weg«, sagte Pflanzer.

»Was ist weg? Ich verstehe nicht.«

»Unsere Gene aus dieser Zeit. Wir können nicht einmal Vermutungen anstellen, was die Descolada uns nahm und wegwarf.«

Das stimmte. Vielleicht enthielt jeder Descolada-Virus den kompletten genetischen Code jeder einheimischen Lebensform Lusitanias in sich, doch dabei handelte es sich lediglich um den genetischen Code von heute, in seinem von der Descolada beherrschten Zustand. Wie der Code ausgesehen hatte, bevor die Descolada kam, konnte nicht mehr rekonstruiert oder wiederhergestellt werden.

»Trotzdem eine faszinierende Möglichkeit«, sagte Miro. »Wenn ihr schon vor dem Virus Sprache, Lieder und Geschichten gehabt habt…« Und obwohl er wußte, daß er es eigentlich nicht tun sollte, fügte er hinzu: »Vielleicht mußt du jetzt nicht mehr die Unabhängigkeit der Pequenino-Intelligenz beweisen.«

»Noch ein Versuch, das Schweinchen zu retten«, sagte Pflanzer.

Eine Stimme erklang über den Lautsprecher. Eine Stimme von draußen.

»Du kannst jetzt herauskommen.« Es war Ela. Sie sollte während Miros Schicht eigentlich schlafen.

»Meine Schicht ist erst in drei Stunden vorüber«, erwiderte Miro.

»Jemand löst dich ab.«

»Dann soll er einen anderen Anzug nehmen.«

»Ich brauche dich hier draußen, Miro.« Elas Stimme machte jeden Widerspruch unmöglich. Und sie war die leitende Wissenschaftlerin dieses Experiments.

Als er ein paar Minuten später herauskam, begriff er sofort, was passiert war. Quara stand mit eisigem Blick dort, und Ela war mindestens genauso wütend. Sie hatten sich offensichtlich wieder gestritten, doch das war keine Überraschung. Die Überraschung bestand darin, daß Quara überhaupt gekommen war.

»Du kannst genausogut wieder hineingehen«, sagte Quara, kaum daß Miro die Sterilisationskammer verlassen hatte.

»Ich weiß nicht einmal, warum ich herausgekommen bin«, sagte Miro.

»Sie besteht darauf, ein privates Gespräch zu führen«, sagte Ela.

»Sie hat dich herausgerufen«, sagte Quara, »aber sie wollte nicht das Tonüberwachungssystem ausschalten.«

»Wir müssen der Klarheit halber jeden Augenblick von Pflanzers Gespräch aufzeichnen.«

Miro seufzte. »Ela, werde erwachsen.«

Sie wäre fast explodiert. »Ich! Erwachsen werden! Sie stürmt hier herein, als wäre sie die Nossa Senhora auf ihrem Thron…«

»Ela«, sagte Miro. »Halt den Mund und hör zu. Quara ist Pflanzers einzige Hoffnung, dieses Experiment zu überleben. Kannst du allen Ernstes behaupten, es würde dem Zweck dieses Experiments nicht dienen, wenn du sie…«

»Na schön«, sagte Ela und unterbrach ihn, weil sie seine Argumentation bereits begriffen und sich ihr gebeugt hatte. »Sie ist der Feind jedes lebenden, vernunftbegabten Wesens auf diesem Planet, doch ich schalte das Tonüberwachungssystem aus, weil sie ein Gespräch unter vier Augen mit dem Bruder führen will, den sie umbringt.«

Das war zuviel für Quara. »Du mußt wegen mir überhaupt nichts ausschalten«, sagte sie. »Es tut mir leid, daß ich gekommen bin. Es war ein dummer Fehler.«

»Quara!« rief Miro.

Sie blieb an der Labortür stehen.

»Lege den Anzug an und sprich mit Pflanzer. Was hat er mit ihr zu tun?«

Quara funkelte Ela erneut an, ging jedoch zu dem Sterilisationsraum, aus dem Miro gerade gekommen war.

Er fühlte sich sehr erleichtert. Da er wußte, daß er hier nicht die geringsten Befugnisse hatte und beide Frauen ihm hätten sagen können, wohin er sich seine Befehle stecken sollte, verriet die Tatsache, daß sie ihm gehorchten, daß sie in Wirklichkeit gehorchen wollten. Quara wollte wirklich mit Pflanzer sprechen. Und Ela wollte, daß sie mit ihm sprach. Vielleicht waren sie mittlerweile so erwachsen, daß sie mit ihren persönlichen Differenzen nicht das Leben anderer Leute gefährden wollten. Vielleicht bestand doch noch Hoffnung für diese Familie.

»Sobald ich drinnen bin, wird sie das System wieder einschalten«, sagte Quara.

»Nein, das wird sie nicht tun«, sagte Miro.

»Sie wird es versuchen«, sagte Quara.

Ela sah sie verächtlich an. »Ich pflege mein Wort zu halten.«

Beide schwiegen. Quara ging in die Sterilisationskammer, um sich umzuziehen. Ein paar Minuten später war sie im Isolierraum; sie tropfte noch von der Lösung zum Abtöten der Descolada, mit der sie besprüht worden war.

Miro konnte Quaras Schritte hören.

»Schalte ab«, sagte er.

Ela drückte einen Knopf. Die Schritte verstummten.

»Soll ich dir alles abspielen, was sie sagen?« fragte Jane in seinem Ohr.

Er subvokalisierte. »Du kannst auch dort drinnen mithören?«

»Der Computer ist mit mehreren Monitoren verbunden, die auf Schwingungen reagieren. Ich habe mittlerweile ein paar Tricks gelernt, mit denen ich auch aus den schwächsten Schwingungen die menschliche Sprache dekodieren kann. Und diese Instrumente sind sehr empfindlich.«

»Worauf wartest du dann?« sagte Miro.

»Keine moralischen Bedenken wegen der Verletzung der Privatsphäre?«

»Nicht die geringsten«, erwiderte er. Ihr Überleben stand auf dem Spiel. Und er hatte sein Wort gehalten – die Tonüberwachung war ausgeschaltet. Ela konnte nicht hören, was gesprochen wurde.

Das Gespräch war anfangs nicht sehr ergiebig. Wie geht es dir? Sehr krank. Starke Schmerzen? Ja.

Schließlich durchbrach Pflanzer die freundlichen Formalitäten und kam zur Sache.

»Warum willst du, daß mein ganzes Volk versklavt bleibt?«

Quara seufzte – doch zu ihren Gunsten klang das Geräusch nicht aufgesetzt. Für Miros geübte Ohren schien es, als sei sie wirklich hin und her gerissen. Keineswegs so trotzig, wie sie es ihrer Familie vormachte. »Das will ich nicht«, sagte sie.

»Vielleicht hast du die Ketten nicht geschmiedet, doch du hast den Schlüssel dafür und weigerst dich, ihn zu benutzen.«

»Die Descolada ist keine Kette«, erwiderte sie. »Eine Kette ist ein Ding. Die Descolada lebt.«

»Ich auch. Mein ganzes Volk lebt. Warum ist das Leben der Descolada wichtiger als unseres?«

»Die Descolada tötet euch nicht. Euer Feind ist Ela und meine Mutter. Sie sind diejenigen, die euch alle töten würden, um zu verhindern, daß die Descolada sie tötet.«

»Natürlich«, sagte Pflanzer. »Natürlich würden sie das. Wie ich jeden von ihnen töten würde, um mein Volk zu schützen.«

»Also hast du keinen Streit mit mir.«

»Doch. Ohne das, was du weißt, werden sich die Menschen und Pequeninos schließlich töten. Sie haben keine Wahl. Solange die Descolada nicht gezähmt werden kann, wird sie schließlich die Menschheit töten, oder die Menschheit muß sie vernichten – und uns mit ihr.«

»Sie werden sie niemals vernichten«, sagte Quara.

»Weil du es nicht zuläßt.«

»Genausowenig, wie ich zulassen würde, daß sie euch vernichten. Vernunftbegabtes Leben ist nun mal vernunftbegabtes Leben.«

»Nein«, sagte Pflanzer. »Mit Ramännern kann man leben. Aber mit Varelse kann es keine Verständigung geben. Nur Krieg.«

»Das ist Unsinn!« sagte Quara. Dann führte sie die gleichen Argumente an wie im Gespräch mit Miro.

Als sie fertig war, herrschte einen Augenblick lang Stille.

»Unterhalten sie sich noch?« flüsterte Ela den Leuten zu, die die Sichtmonitore überwachten. Miro hörte keine Antwort – wahrscheinlich hatte jemand den Kopf geschüttelt.

»Quara«, flüsterte Pflanzer.

»Ich bin noch hier«, erwiderte sie. Der streitsüchtige Tonfall war wieder aus ihrer Stimme gewichen. Ihre grausame moralische Korrektheit hatte ihr keine Freude bereitet.

»Nicht deshalb weigerst du dich, uns zu helfen«, sagte er.

»Doch.«

»Du würdest mir sofort helfen, wenn du dich damit nicht deiner Familie beugen müßtest.«

»Das ist nicht wahr!« rief sie.

»Du bist dir nur so sicher, recht zu haben, weil sie sich so sicher sind, daß du dich irrst.«

»Ich habe recht!«

»Wann hast du jemanden gesehen, der keine Zweifel hatte, ob er recht hat?«

»Ich habe Zweifel«, flüsterte Quara.

»Höre auf deine Zweifel«, sagte Pflanzer. »Rette mein Volk. Und deins.«

»Wer bin ich, daß ich zwischen der Descolada und unserem Volk entscheiden kann?«

»Genau«, sagte Pflanzer. »Wer bist du, daß du so eine Entscheidung treffen kannst?«

»Ich treffe keine Entscheidung«, sagte sie. »Ich halte sie zurück.«

»Du weißt, was die Descolada bewerkstelligen kann. Du weißt, was sie bewerkstelligen wird. Indem du eine Entscheidung zurückhältst, triffst du eine.«

»Es ist keine Entscheidung. Es ist keine Tat.«

»Ist es kein Mord, wenn du einen Mord nicht verhinderst, den du leicht verhindern könntest?«

»Wolltest du mich deshalb sprechen? Als eine weitere Person, die mir sagt, was ich zu tun habe?«

»Ich habe das Recht dazu.«

»Weil du es auf dich genommen hast, ein Märtyrer zu werden und zu sterben?«

»Ich habe noch nicht den Verstand verloren«, sagte Pflanzer.

»Genau. Du hast deine Auffassung bewiesen. Jetzt können sie dir die Descolada injizieren und dich retten.«

»Nein.«

»Warum nicht? Bist du so sicher, daß du recht hast?«

»Über mein eigenes Leben kann ich entscheiden. Ich bin nicht wie du – ich treffe nicht die Entscheidung, daß andere sterben müssen.«

»Wenn die Menschheit stirbt, werde ich mit ihr sterben«, sagte Quara.

»Weißt du, warum ich sterben will?« sagte Pflanzer.

»Warum?«

»Damit ich nicht zusehen muß, wie Menschen und Pequeninos wieder einander töten.«

Quara senkte den Kopf.

»Du und Grego – ihr seid beide gleich.«

Tränen tropften auf die Sichtscheibe des Helms. »Das ist eine Lüge.«

»Beide weigert ihr euch, auf andere zu hören. Ihr wißt alles besser. Und wenn ihr fertig seid, sind viele unschuldige Geschöpfe tot.«

Sie stand auf, als wolle sie gehen. »Dann stirb doch«, sagte sie. »Warum sollte ich um dich weinen, wenn ich eine Mörderin bin?« Doch sie machte keinen Schritt. Sie will nicht gehen, dachte Miro.

»Verrate es ihnen«, sagte Pflanzer.

Sie schüttelte den Kopf, so heftig, daß Tränen aus ihren Augen flogen und ihr Visier benetzten. Wenn sie so weitermachten, konnte sie bald nichts mehr sehen.

»Wenn du sagst, was du weißt, sind alle klüger. Wenn du es geheimhältst, sind alle verloren.«

»Wenn ich es sage, wird die Descolada sterben!«

»Soll sie doch sterben!« schrie Pflanzer.

Der Gefühlsausbruch hatte ihn ungeheuerlich angestrengt. Einen Augenblick lang spielten die Laborinstrumente verrückt. Ela fluchte unterdrückt, während sie die Monitore überprüfte.

»Solche Gefühle soll ich dir also entgegenbringen?« fragte Quara.

»Du bringst mir diese Gefühle entgegen«, flüsterte Pflanzer. »Soll er doch sterben!«

»Nein«, sagte sie.

»Die Descolada kam und versklavte mein Volk. Was für eine Rolle spielt es, ob sie nun vernunftbegabt ist oder nicht? Sie ist ein Tyrann. Wenn ein Mensch sich so verhielte, wie sich die Descolada verhält, würdest sogar du mir zustimmen, daß man ihn aufhalten muß, notfalls auch, indem man ihn tötet. Warum sollte eine Spezies großzügiger als ein Mitglied deiner eigenen behandelt werden?«

»Weil die Descolada nicht weiß, was sie tut«, sagte Quara. »Sie versteht nicht, daß wir intelligent sind.«

»Ihr ist es gleichgültig«, sagte Pflanzer. »Wer immer die Descolada geschaffen hat, schickte sie aus, ohne sich darum zu kümmern, ob die Spezies, die sie versklavt oder tötet, vernunftbegabt ist oder nicht. Ist das das Geschöpf, für das mein Volk und dein gesamtes Volk sterben soll? Bist du so voller Haß auf deine Familie, daß du dich auf die Seite eines Ungeheuers wie die Descolada stellst?«

Quara hatte keine Antwort. Sie sank auf den Stuhl neben Pflanzers Bett.

Pflanzer legte ihr eine Hand auf die Schulter. Der Anzug war nicht so dick und undurchdringlich, daß sie den Druck nicht gespürt hätte, auch wenn er sehr schwach war.

»Ich habe mich mit dem Tod abgefunden«, sagte er. »Vielleicht wegen des dritten Lebens fürchten wir Pequeninos den Tod nicht so wie ihr kurzlebigen Menschen. Doch obwohl ich das dritte Leben nicht bekommen werde, Quara, werde ich die Art von Unsterblichkeit bekommen, die ihr Menschen habt. Mein Name wird in den Geschichten weiterleben. Selbst wenn ich keinen Baum habe, wird mein Name leben. Und das, was ich getan habe. Ihr Menschen glaubt vielleicht, daß ich für nichts und wieder nichts zum Märtyrer geworden bin, doch meine Brüder werden es verstehen. Indem ich bis zum Ende sauber und intelligent bleibe, beweise ich, daß sie sind, was sie sind. Ich helfe bei dem Beweis, daß nicht unsere Sklavenmeister uns zu dem gemacht haben, was wir sind, und uns nicht daran hindern können, es zu sein. Die Descolada zwingt uns vielleicht zu vielen Dingen, doch sie besitzt uns nicht ganz im Innersten. In uns ist ein Ort, der unser wahres Selbst birgt. Also habe ich nichts gegen den Tod. Ich werde in jedem freien Pequenino weiterleben.«

»Warum sagst du das, wo doch nur ich es hören kann?« fragte Quara.

»Weil nur du die Macht hast, mich ganz zu töten. Nur du hast die Macht, meinen Tod bedeutungslos werden zu lassen, indem mein gesamtes Volk nach mir stirbt und sich niemand mehr an mich erinnern wird. Warum sollte ich dir allein nicht mein Vermächtnis anvertrauen? Nur du kannst entscheiden, ob es einen Wert hat oder nicht.«

»Ich hasse dich dafür«, sagte sie. »Ich habe gewußt, daß du dies tun würdest.«

»Was tun?«

»Mich dazu bringen, mich so schrecklich zu fühlen, daß ich… nachgeben muß!«

»Warum bist du gekommen, wenn du es gewußt hast?«

»Ich hätte nicht kommen sollen! Ich wünschte, ich wäre nicht gekommen!«

»Ich will dir sagen, warum du gekommen bist. Du bist gekommen, damit ich dich zum Nachgeben zwinge. Damit du, wenn du nachgibst, es um meinetwegen tust und nicht wegen deiner Familie.«

»Also bin ich deine Puppe?«

»Ganz im Gegenteil. Du bist freiwillig hierher gekommen. Du benutzt mich, um tun zu können, was du tun willst. Im Herzen bist du noch ein Mensch, Quara. Du willst, daß dein Volk lebt. Wolltest du es nicht, wärest du ein Ungeheuer.«

»Nur, weil du im Sterben liegst, bist du noch lange nicht weise«, sagte sie.

»Doch«, erwiderte Pflanzer.

»Und was wäre, wenn ich dir sage, daß ich niemals meinen Beitrag zur Vernichtung der Descolada leisten würde?«

»Dann würde ich dir glauben«, sagte Pflanzer.

»Und mich hassen.«

»Ja.«

»Das kannst du nicht.«

»Doch, ich kann. Ich bin kein sehr guter Christ. Ich kann die, die mich und mein ganzes Volk töten will, nicht lieben.«

Quara sagte nichts.

»Geh jetzt«, fuhr er fort. »Ich habe alles gesagt, was ich sagen kann. Jetzt will ich meine Gesänge anstimmen und intelligent bleiben, bis der Tod schließlich kommt.«

Sie drehte sich von ihm weg und ging in die Sterilisationskammer.

Miro wandte sich Ela zu. »Alle sollen das Labor verlassen«, sagte er.

»Warum?«

»Weil eine Chance besteht, daß sie herauskommt und dir sagt, was sie weiß.«

»Dann sollte ich gehen, und alle anderen sollten bleiben«, erwiderte Ela.

»Nein. Du bist die einzige, der sie es je sagen wird.«

»Wenn du das glaubst, bist du ein kompletter…«

»Es einem anderen zu verraten, würde sie nicht genug verletzen, um sie zu befriedigen«, sagte Miro. »Alle raus.«

Ela dachte einen Augenblick lang nach. »Na schön«, sagte sie zu den anderen. »Geht ins Hauptlabor zurück und überwacht eure Computer. Wenn sie mir etwas sagt, schalte ich uns ins Netzwerk ein, und ihr könnt sehen, was sie eingibt. Wenn die Daten Sinn ergeben zu scheinen, geht ihr ihnen nach. Auch wenn sie wirklich etwas weiß, bleibt uns nicht mehr viel Zeit, um einen gestutzten Descolada-Virus zu entwerfen, den wir Pflanzer injizieren können, bevor er stirbt. Also geht jetzt.«

Sie gingen.

Als Quara aus der Sterilisationskammer auftauchte, warteten nur Ela und Miro auf sie.

»Ich halte es für falsch, die Descolada zu töten, bevor wir auch nur versucht haben, mit ihr zu sprechen«, sagte sie.

»Das kann schon sein«, erwiderte Ela. »Ich weiß nur, daß ich vorhabe, sie zu töten, wenn ich kann.«

»Zeige mir deine Dateien«, sagte Quara. »Ich werde dir alles verraten, was ich über die Descolada-Intelligenz weiß. Wenn es funktioniert und Pflanzer überleben sollte, werde ich ihm ins Gesicht spucken.«

»Spucke tausend Mal«, sagte Ela. »Wenn er nur überlebt.«

Ihre Dateien erschienen im Display. Quara deutete auf bestimmte Regionen eines Modells des Descolada-Virus. Innerhalb von ein paar Minuten saß Quara vor dem Terminal, gab Daten ein, erklärte und sprach, während Ela ihr Fragen stellte.

In Miros Ohr meldete sich wieder Jane. »Dieses kleine Miststück«, sagte sie. »Sie hat ihre Dateien gar nicht in einen anderen Computer eingegeben. Sie hat alles auswendig gelernt, was sie weiß.«


Am frühen Abend des nächsten Tages befand sich Pflanzer am Rande des Todes und Ela am Rand der Erschöpfung. Ihr Team hatte die ganze Nacht durchgearbeitet; Quara hatte ihr ununterbrochen geholfen, alles gelesen und kritisiert, was Elas Leute sich einfallen ließen, und auf Fehler hingewiesen. Am Morgen hatten sie einen gestutzten Virus entworfen, der den alten ersetzen sollte. Sämtliche Sprachanlagen fehlten, was bedeutete, daß die neuen Viren nicht miteinander kommunizieren konnten. Soweit sie es zu sagen vermochten, verfügte er auch über keinerlei analytische Fähigkeiten mehr. Doch es befanden sich noch alle Teile des Virus an Ort und Stelle, die Körperfunktionen des einheimischen Lebens Lusitanias bestimmten. Soweit sie es sagen konnten, ohne ein Probeexemplar des Virus zur Verfügung zu haben, stellte dieser Entwurf genau das dar, was sie brauchten – eine Descolada, die im Lebenszyklus der Spezies Lusitanias, einschließlich der Pequeninos, voll funktionsfähig war, aber keinerlei globale Regulation oder Manipulation mehr ausführen konnte. Sie nannten den neuen Virus Recolada. Der alte war nach seiner Eigenschaft benannt worden, Lebewesen auseinanderzureißen; der neue nach seiner übriggebliebenen Funktion, die Spezies-Paare, die das einheimische Leben Lusitanias darstellten, zusammenzuhalten.

Ender erhob einen Einwand – da die Descolada die Pequeninos in einen kriegerischen, aggressiven Zustand versetzt haben mußte, würde der neue Virus sie vielleicht in diesem Zustand halten. Doch Ela und Quara antworteten übereinstimmend, daß sie absichtlich eine ältere Version der Descolada als Modell genommen hatten, aus einer Zeit, da die Pequeninos entspannter gewesen waren – ›mehr sie selbst‹. Die Pequeninos, die an dem Projekt mitarbeiteten, hatten zugestimmt; und sie hatten zu wenig Zeit, noch jemanden hinzuzuziehen außer Mensch und Wühler, die ebenfalls beipflichteten.

Mit den Informationen, die Quara ihnen über die Vorgehensweise der Descolada verraten hatte, ließ Ela auch ein Team an einem Killerbakterium arbeiten, das sich schnell in der gesamten Gaialogie des Planeten ausbreiten, die normale Descolada an jedem Ort und in jeder Form aufspüren, sie zerreißen und töten würde. Dieses Bakterium würde die alte Descolada an genau jenen Bestandteilen erkennen, die der neuen fehlte. Wenn sie die Recolada und das Killerbakterium gleichzeitig aussetzten, müßten sie die Descolada ausmerzen können.

Nur ein Problem blieb noch – die eigentliche Konstruktion des neuen Virus. An diesem Projekt arbeitete Ela von Mittag an. Quara brach zusammen und schlief, die meisten Pequeninos taten es ihr gleich. Doch Ela machte weiter, benutzte alle Werkzeuge, die ihr zur Verfügung standen, um den Virus aufzubrechen und so wieder zusammenzusetzen, wie sie ihn brauchte.

Als Ender am frühen Abend kam, um ihr zu sagen, daß sie den neuen Virus jetzt einsetzen mußten, wollten sie Pflanzer retten, brach sie ebenfalls zusammen und konnte nur noch vor Erschöpfung und Frustration weinen.

»Ich schaffe es nicht«, sagte sie.

»Dann sage ihm, daß du Erfolg gehabt hast, aber den neuen Virus nicht mehr rechtzeitig hinbekommst und…«

»Ich meine, es geht nicht.«

»Du hast ihn entworfen.«

»Wir haben ihn geplant, wir haben ihn entworfen, aber wir können ihn nicht herstellen. Die Descolada ist eine wirklich gemeine Konstruktion. Wir können ihn nicht aus Einzelteilen zusammensetzen, weil es zu viele Teile gibt, die nicht zusammenhalten, wenn wir in diese Teile nicht schon die Fähigkeit eingebaut haben, sich einander wieder aufzubauen, während sie noch zusammenbrechen. Und wir können keine Modifikationen des derzeitigen Virus vornehmen, wenn die Descolada nicht mindestens bruchstückhaft aktiv ist. Doch in diesem Fall hebt sie unsere Veränderungen schneller wieder auf, als wir sie durchführen können. Sie wurde so angelegt, daß sie sich ständig selbst überwacht, damit sie nicht verändert werden kann, und ist gleichzeitig in all ihren Einzelteilen so unstabil, daß man sie nicht neu herstellen kann.«

»Aber sie haben sie hergestellt.«

»Ja, aber ich weiß nicht, wie. Im Gegensatz zu Grego kann ich nicht einfach meine Wissenschaft aufgeben, auf einen metaphysischen Einfall zurückgreifen und mir Dinge herbeiwünschen. Ich muß mich an die Naturgesetze halten, wie sie hier und jetzt gelten, und die Naturgesetze lassen die Herstellung des Virus nicht zu.«

»Also kennen wir unser Ziel, finden aber nicht den richtigen Weg dorthin.«

»Bis gestern abend wußte ich nicht genug, um Vermutungen darüber anstellen zu können, ob wir diese neue Recolada überhaupt entwerfen können, und konnte daher auch nicht wissen, ob wir es überhaupt schaffen würden. Ich habe gedacht, wenn wir den Virus entwerfen können, können wir ihn auch bauen. Ich habe nur den Augenblick abgewartet, in dem Quara nachgibt, um es zu versuchen. Bislang haben wir jedoch nur festgestellt, daß es unmöglich ist. Quara hatte recht. Wir wissen jetzt eindeutig genug, um jeden Descolada-Virus auf Lusitania töten zu können. Aber wir können nicht die Recolada herstellen, die die Descolada ersetzen und das Leben auf Lusitania funktionsfähig halten könnte.«

»Wenn wir also das Mordbakterium einsetzen…«

»Würden innerhalb von einer oder zwei Wochen alle Pequeninos auf Lusitania dort sein, wo Pflanzer jetzt ist. Und alle Gräser und Vögel und Ranken und alles. Versengte Erde. Eine ungeheuerliche Tat. Quara hatte recht.« Sie weinte wieder.

»Du bist nur übermüdet.« Es war Quara, die gerade erwacht war. Sie sah schrecklich aus; der Schlaf hatte sie nicht erfrischt.

Ela konnte ihrer Schwester nicht antworten.

Quara sah aus, als wolle sie etwas Grausames sagen, etwa: Na, habe ich es dir nicht gesagt? Doch sie überlegte es sich anders, ging zu Ela und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du bist müde, Ela. Du mußt schlafen.«

»Ja«, sagte Ela.

»Aber zuerst wollen wir es Pflanzer sagen.«

»Uns von ihm verabschieden, meinst du.«

»Ja, das meine ich.«

Sie begaben sich zu dem Labor, in dem sich Pflanzers Isolierraum befand. Die Pequenino-Forscher, die geschlafen hatten, waren wieder wach und hatten sich zusammengefunden, um in Pflanzers letzten Stunden über ihn zu wachen. Miro war wieder bei Pflanzer, und diesmal baten sie ihn nicht zu gehen, obwohl Ender wußte, daß sowohl Ela als auch Quara gern zu ihm gegangen wären. Statt dessen sprachen sie über das Lautsprechersystem mit ihm und erklärten ihm, was sie entdeckt hatten. Dieser halbe Erfolg war auf seine Art schlimmer als ein kompletter Fehlschlag, denn er konnte leicht zur Vernichtung aller Pequeninos führen, wenn die Menschen auf Lusitania nur verzweifelt genug sein würden.

»Ihr werdet es nicht benutzten«, flüsterte Pflanzer. Die Mikrofone konnten trotz ihrer Empfindlichkeit seine Stimme kaum aufnehmen.

»Wir nicht«, sagte Quara. »Aber wir sind nicht die einzigen Menschen hier.«

Seine letzten Worte waren nicht verständlich; sie lasen später seine Lippenbewegungen von der Holoaufzeichnung ab, um zu erfahren, was er gesagt hatte. Und nachdem er es gesagt und ihre Abschiedsworte vernommen hatte, starb er.

In dem Augenblick, da die Überwachungsgeräte seinen Tod bestätigten, stürmten die Pequeninos der Forschergruppe in den Isolierraum. Sterilisation war jetzt überflüssig; im Gegenteil, sie wollten die Descolada mit sich bringen. Sie schoben Miro barsch aus dem Weg und machten sich an die Arbeit, injizierten den Virus in jeden Teil von Pflanzers Körper, Hunderte von Injektionen in ein paar Augenblicken. Sie hatten sich offensichtlich darauf vorbereitet. Sie würden Pflanzers Opfer im Leben respektieren – doch sobald er erst tot und seine Ehre gewahrt war, versuchten sie alles, um ihn für das dritte Leben zu retten, falls dies möglich sein sollte.

Sie brachten ihn auf die Lichtung, auf der Mensch und Wühler standen, und legten ihn auf eine vorher markierte Stelle, so daß er mit den beiden jungen Vaterbäumen ein gleichschenkliges Dreieck bildete. Sie zogen ihm die Haut ab und öffneten seine Leiche. Innerhalb von ein paar Stunden wuchs ein Baum, und kurze Zeit über bestand Hoffnung, daß es sich um einen Vaterbaum handelte. Doch die Brüder, die darin erfahren waren, einen jungen Vaterbaum zu erkennen, brauchten nur ein paar Tage, um zu erkennen, daß der Versuch gescheitert war. Der Baum verfügte über Leben und enthielt Pflanzers Gene; doch die Erinnerungen, der Wille, die Person waren verloren. Der Baum war stumm; er verfügte über keinen Verstand, der mit den anderen Vaterbäumen ständig Zwiesprache halten konnte. Pflanzer hatte den Entschluß gefaßt, sich von der Descolada zu befreien, selbst wenn es bedeutete, daß er das dritte Leben verlor, das das Geschenk der Descolada an jene war, die sie besaß. Er hatte Erfolg gehabt und, indem er verloren hatte, gewonnen.

Er hatte auch noch mit etwas anderem Erfolg gehabt. Die Pequeninos nahmen Abstand von der Gewohnheit, den Namen eines bloßen Bruderbaums schnell zu vergessen. Obwohl keine kleine Mutter jemals über seine Borke kriechen würde, wurde der Bruderbaum, der aus seiner Leiche gewachsen war, als Pflanzer bekannt und mit Respekt behandelt, als wäre er ein Vaterbaum. Überdies wurde seine Geschichte immer und immer wieder auf ganz Lusitania erzählt, überall, wo Pequeninos lebten. Er hatte bewiesen, daß die Pequeninos auch ohne die Descolada intelligent waren; er hatte ein edles Opfer gebracht, und der Name Pflanzer erinnerte alle Pequeninos an ihre grundlegende Freiheit von dem Virus, der sie in Ketten gelegt hatte.

Doch Pflanzers Tod führte nicht zu einer Pause bei den Vorbereitungen der Kolonisation anderer Welten durch die Pequeninos. Kriegmachers Fraktion hatte jetzt die Mehrheit, und als sich Gerüchte verbreiteten, die Menschen hätten ein Bakterium, das die Descolada töten konnte, setzten sie ihre Bestrebungen noch dringlicher fort. Schnell, sagten sie immer wieder zu der Schwarmkönigin. Schnell, damit wir uns von dieser Welt befreien können, bevor sich die Menschen entschließen, uns alle zu töten.


»Ich glaube, ich kann es schaffen«, sagte Jane. »Wenn das Schiff klein und einfach ist, eine Fracht so gut wie nicht vorhanden und die Besatzung so gering wie möglich, kann ich das Muster in meinem Geist halten. Wenn die Reise kurz und der Aufenthalt im Außen-Raum sehr kurz ist. Was den Start- und Zielpunkt betrifft, ist es ein Kinderspiel. Ich müßte es auf den Millimeter genau hinbekommen und könnte es sogar im Schlaf. Also sind Vorrichtungen zur Beschleunigung oder komplizierte Lebenserhaltungssysteme überflüssig. Das Sternenschiff kann ganz einfach konstruiert sein. Eine abgeschottete Umgebung, Plätze, Licht, Wärme. Wenn ich alles zusammenhalten und uns dorthin und wieder zurück bringen kann, werden wir nicht einmal lange genug im All sein, um den Sauerstoffvorrat in dem kleinen Raum aufzubrauchen.«

Sie hatten sich alle im Büro des Bischofs versammelt, um mit ihr zu sprechen – die gesamte Familie Ribeira, Jakts und Valentines Familie, die Pequeninoforscher, mehrere Priester und Filhos und vielleicht ein Dutzend anderer Anführer der Menschenkolonie. Der Bischof hatte darauf bestanden, das Treffen in seinem Büro abzuhalten. »Weil es groß genug ist«, hatte er gesagt, »und weil ich dabei sein möchte, um Gott zu bitten, gnädig mit euch zu verfahren, wenn ihr wie Nimrod ausziehen und vor dem Herren jagen, wenn ihr ein Raumschiff in den Himmel schicken wollt, das wie einst Babel das Gesicht Gottes suchen soll.«

»Wieviel Kapazität bleibt dir dann noch?« fragte Ender.

»Nicht mehr viel«, antwortete Jane. »Während des Versuchs wird sowieso schon jeder Computer auf den Hundert Welten nur noch quälend langsam arbeiten können. Ich muß ihre Speicher benutzen, um das Muster aufnehmen zu können.«

»Ich frage, weil wir ein Experiment durchführen wollen, während wir dort draußen sind.«

»Rede nicht darum herum, Ender«, sagte Ela. »Wir wollen ein Wunder durchführen, während wir dort sind. Wenn wir überhaupt ins Außen gelangen, heißt das, daß Grego und Olhado wahrscheinlich richtig vermutet haben, wie es dort aussieht. Und das heißt, daß dort andere Regeln gelten. Man kann Dinge erschaffen, indem man sich einfach ihr Muster vorstellt. Deshalb will ich mitfliegen. Es besteht die Chance, daß ich, wenn ich das Muster der Recolada im Sinn habe, sie dort tatsächlich erschaffen kann. Ich könnte einen Virus zurückbringen, den ich im Realraum nicht konstruieren kann. Kannst du mich mitnehmen? Kannst du lange genug dort bleiben, daß ich den Virus erschaffen kann?«

»Wie lange ist das?« fragte Jane.

»Es müßte praktisch ohne Zeitverlust gehen«, sagte Grego. »In dem Augenblick, in dem wir dort eintreffen, müßten alle voll ausgebildeten Muster, die wir im Kopf haben, in einem Zeitraum geschaffen werden, der zu kurz ist, als daß Menschen ihn messen könnten. Aber es wird dauern, den Virus zu analysieren, um festzustellen, ob es auch der ist, den sie haben will. Vielleicht fünf Minuten.«

»Ja«, sagte Jane. »Wenn ich es überhaupt schaffe, schaffe ich es auch fünf Minuten lang.«

»Der Rest der Crew«, sagte Ender.

»Der Rest der Crew wird aus dir und Miro bestehen«, erwiderte Jane. »Und aus niemandem sonst.«

Grego protestierte am lautesten, aber er war nicht der einzige.

»Ich bin Pilot«, sagte Jakt.

»Ich bin der einzige Pilot dieses Schiffes«, sagte Jane.

»Olhado und ich sind auf die Idee gekommen«, sagte Grego.

»Ender und Miro werden mitfliegen, weil es ohne sie nicht geht. Ich existiere in Ender – er nimmt mich mit, wohin er auch geht. Miro hingegen steht mir mittlerweile so nahe, daß er womöglich Teil des Musters ist, das ich bin. Ich will ihn dabeihaben, weil ich ohne ihn vielleicht nicht vollständig bin. Sonst kann niemand mitkommen. Ich kann niemanden mehr in das Muster aufnehmen. Ela ist die einzige Ausnahme.«

»Dann ist das die Mannschaft«, sagte Ender.

»Ohne Diskussion«, fügte Bürgermeister Kovano hinzu.

»Wird die Schwarmkönigin das Schiff bauen?« fragte Jane.

»Ja«, sagte Ender.

»Dann möchte auch ich um einen Gefallen bitten. Ela, kannst du dir auch das Muster für einen weiteren Virus einprägen, wenn ich dir diese fünf Minuten gebe?«

»Den Virus für Weg?« fragte sie.

»Wir sind es ihnen für die Hilfe schuldig, die sie uns geleistet haben.«

»Ich glaube schon«, sagte sie. »Zumindest kann ich mir die Unterschiede zwischen diesem Virus und der normalen Descolada einprägen. Das ist sowieso alles, was ich mir merken kann – die Unterschiede.«

»Und wann wird das alles stattfinden?« fragte der Bürgermeister.

»Sobald die Schwarmkönigin das Schiff gebaut hat«, erwiderte Jane. »Uns bleiben nur noch achtundvierzig Tage, bis die Hundert Welten ihre Verkürzer ausschalten werden. Wir wissen mittlerweile, daß ich diesen Tag überleben werde, doch er wird mich verkrüppeln. Es wird eine Weile dauern, bis ich all meine verlorenen Erinnerungen zurückbekommen habe, wenn mir das überhaupt jemals möglich sein sollte. Und bis dahin kann ich mir unmöglich das Muster eines Schiffes einprägen, das ins Außen fliegen soll.«

»Die Schwarmkönigin kann ein so primitives Schiff lange vorher fertig haben«, sagte Ender. »Mit einem so kleinen Schiff besteht keine Chance, alle Menschen und Pequeninos vor der Ankunft der Flotte von Lusitania wegzubringen, einmal ganz davon abgesehen, daß das Ausschalten der Verkürzer verhindern wird, daß Jane das Schiff weiterhin fliegen kann. Aber es bleibt genug Zeit, um neue, Descolada-freie Pequenino-Gemeinschaften auf ein Dutzend Planeten zu bringen. Zeit genug, um ebenfalls die neuen, bereits für ihre ersten paar hundert Eier fruchtbar gemachten Schwarmköniginnen in ihren Kokons auf ein Dutzend Welten zu bringen. Falls es funktioniert, falls wir nicht nur Verrückte sind, die sich wünschen, fliegen zu können, werden wir mit Frieden für diese Welt zurückkehren, mit der Freiheit von der Gefahr der Descolada und sicherem Unterschlupf für die genetischen Erbanlagen der anderen Ramänner-Spezies auf diesem Planeten. Vor einer Woche sah es noch unmöglich aus. Jetzt haben wir Hoffnung.«

»Gracas a deus«, sagte der Bischof.

Quara lachte.

Alle sahen sie an.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe nur gedacht… ich habe vor ein paar Wochen ein Gebet gehört. Ein Gebet an Os Venerados, an Großvater Gusto und Großmutter Cida. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, die unmöglichen Probleme zu lösen, denen wir gegenüberstehen, sollten sie Gott bitten, uns den Weg zu zeigen.«

»Kein schlechtes Gebet«, sagte der Bischof. »Und vielleicht hat uns Gott den Wunsch gewährt.«

»Ich weiß«, sagte Quara. »Das habe ich auch gedacht. Und wenn diese Sache mit dem Außen-Raum und dem Innen-Raum vorher ganz einfach nicht real gewesen wäre? Wenn es nur wegen dieses Gebets Wirklichkeit wurde?«

»Was dann?« fragte der Bischof.

»Nun, meint ihr nicht auch, daß das ungeheuer komisch wäre?«

Anscheinend war niemand dieser Meinung.

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