XXV

An der Oberfläche gibt es Sonne und Geräusche.

Bis vor kurzem hatte ich beides nicht richtig geschätzt. Sonne auf Bäumen und Seen, blauer Himmel, rote und orangefarbene Sonnenuntergänge.

Mädchenstimmen, Regentropfen, Gelächter, Scherze.

Hier unten hört man Herzklopfen, Maschinengesumme, das Klopfen und Hämmern verschiedener Aktivitäten, darüber hinaus aber Stille — keine Musik, keine Stimmen, nicht mal ein Zungenschnalzen oder Fingerschnippen.

An der Oberfläche herrscht Mangel. Jede Handlung wird von dem unterschwellig lauernden Bewußtsein gelenkt, daß damit ein Verbrauch an Energie verbunden ist, an Energie, die Leben bedeutet. Wenn jemand zufällig eine Energiezelle mindert oder ein Feuer anzündet, fühlt er sich so schuldig wie ein Mädchen aus der viktorianischen Zeit, das sich mit ihrem Anbeter zuviel herausgenommen hat. Die Tatsache, daß die Ehefrau in einem fünf Meilen entfernten Krankenhaus im Sterben liegt, ist ein Grenzfall für die Benutzung eines energiebetriebenen Fahrzeuges. Ein Flug, sei es in der Luft oder ins All, wird nur in direktem Zusammenhang mit Energiegewinnung oder Forschungsprogrammen überhaupt in Betracht gezogen.

Hier unten herrscht eine völlig andere Haltung, obwohl die Energieerzeugung pro Kopf nur um ein Geringes höher liegt. Niema nd fühlt sich getroffen oder ist gar neidisch, nur weil der andere mehr als den ihm zustehenden Anteil an Energie verbraucht.

Ich hatte es nicht fassen können, daß man in der Bibliothek die Leselampen sorglos brennen ließ und kein Mensch sich deswegen aufregte.

Und warum konnte es hier unten keine Musik geben? Ich hatte keine gehört, und Gesang war hier unmöglich. Aber mit Saiteninstrumenten ließ sich sicher etwas anfangen. Vielleicht mußte man sie ein wenig den Gegebenheiten anpassen, aber sie mußten eigentlich funktionieren. Zumindest die elektrischen. Und wenn es keine geeigneten gab, konnte ich ja welche entwickeln.

Und wenn es auch keine Mädchenstimmen gab, so gab es doch Mädchen. Ein sehr hübsches hielt sich nicht weit von mir entfernt auf und sah uns zu, als hätte sie eine Ahnung davon, was hier vorging.

Aber es war hier alles so anders. Würde ich mich hier ohne Energiebeschränkung wohl fühlen, nachdem ich mein Leben lang unter ihren Bedingungen gelebt hatte? Würde der Gedanke an den schwarzen, drückenden Ozean zwischen mir und allem, war mir lieb war, nicht zu bedrohlich werden? Und wenn ich nicht blieb — würde der Gedanke an das, was ich hier unten hätte erreichen kö nnen, sich nicht zu oft zwischen mich und das normale Leben drängen?

Ich konnte es nicht entscheiden. Auch wenn ich versuchte, sämtliche persönlichen Faktoren — nicht nur die mit Marie zusammenhängenden, sondern alle, die im weitesten Sinn als selbstsüchtig zu bezeichnen waren — auszuschalten, schaffte ich es nicht.


Da war beispielsweise me ine Arbeit für die Behörde. Sie war nützlich, ja sogar wichtig, und sie befriedigte mich. Aber ich konnte auch hier unten nützliche Arbeit leisten, und sie würde mir fast sicher ebenso gefallen. Der Lohn bedeutete hier wie dort nicht viel. Reichtum im herkömmlichen Sinn war seit dem Beginn der Energierationierung bedeutungslos geworden, und hier unten hatte ich ebenfalls keine Anzeichen einer Plutokratie entdecken können. Obwohl ich zugeben muß, daß sie mir vielleicht entgangen waren — ich wußte ja so wenig über die Anlage.

Natürlich konnte ich mehr darüber in Erfahrung bringen. Keine Entscheidung war widerruflich. Das einzig Unwiderrufliche war bereits geschehen.

Mein Hustenreflex war für immer dahin, und ich würde beim Essen für den Rest me ines Lebens Vorsicht walten lassen müssen, egal wo ich mich aufhielt.

Vielleicht konnte ich hier bleiben, mir das Leben hier näher ansehen und später wieder nach oben gehen. Schließlich gab es keinen Grund, warum die zwei Welten nicht in Verbindung treten sollten. Ich sah auf und wollte schon eine Antwort für Marie aufschreiben, als meine Gedanken wieder zu arbeiten anfingen.


Würde es eine solche Verbindung jemals geben?

Joey hatte mehrere einleuc htende Gründe dafür angeführt, warum die Behörde das Wissen um diese Anlage nicht verbreiten würde, obwohl er sich nicht so ausgedrückt hatte.

Hier war ein Ort, an dem Energierationierung, obwohl mathematisch gerechtfertigt, keine Rolle im täglichen Leben spielte. Die Bevölkerung war, wie Marie gesagt hatte, ähnlich einer Gruppe französischer Aristokraten in einer Welt der Jakobiner.

Die allgemeine Moral verlangte eine strenge Einhaltung der Energierationierung, eine Haltung, die diesen Menschen fremd war, ja die sie vermutlich gar nicht begreifen würden.

Wenn hier nun zu viele Besucher aus der Oberflächenwelt kamen und sich die Kunde von den hiesigen Lebensgewohnheiten verbreitete, würde es Schwierigkeiten geben. Auch wenn die ganze Wahrheit bekannt würde, was unwahrscheinlich war, würden viele Bewohner der Oberflächenwelt nach unten auswandern wollen oder für den Bau von weiteren Vulkan-Energie-Anlagen eintreten, damit endlich alle mehr bekämen. Das alte „Warumhatermehralsich“-Gefühl würde die Menschen nach dem modernen Äquivalent des Steins der Weisen rufen lassen, um ein Bild aus jenen Tagen zu gebrauchen, als Reichtum an Metall und nicht an Energie gemessen wurde.

Der Durchschnittsbürger würde imstande sein einzusehen, warum die Behörde das nicht tun konnte — nämlich mehr Kraftwerke zur Ausnutzung der gewaltigen Hitze im Erdinneren zu bauen. Ich möchte hier nicht als Zyniker auftreten, doch weiß ich, daß die Behörde eines niemals tun würde: Sie würde nie zulassen, daß die Energiebewirtschaftung abgeschafft wird.

Zynismus beiseite — sie hat recht damit. Die vor Jahrzehnten getroffene Entscheidung, daß Wasserstoff-Fusion die einzige echte Hoffnung der Menschheit darstelle, war mit Sicherheit richtig und vernünftig. Wir wissen inzwischen, daß die Lösung dieses Problems nicht allein von der technischen Bewältigung der Einzelheiten abhängt, wie man zunächst glaubte. Zu viele der beteiligten Faktoren sind von Natur aus von größter Instabilität, sofern ihnen nicht mindestens die Masse eines kleinen Sterns Einhalt gebietet. Daß wir sämtliche Probleme lösen werden, ist eine Sache des Glaubens. Wenn es uns glücken soll, müssen wir jegliche Anstrengung auf uns nehmen — und unser Bestes geben.

Und dieses Bemühen würde nachlassen, falls etwas einträte, das die Energienot hinausschiebt. Die Menschheit hat ihre Reserven so lange verschwendet, bis sie sich buchstäblich Aug’ in Aug’ mit der Katastrophe sah. Wenn nun plötzlich die reichlich vorhandene vulkanische Energie diese Bedrohung minderte, käme womöglich auch die Entwicklungsarbeit an der Wasserstoff-Fusion zum Stillstand.

Man würde vielleicht den Schein wahren und irgendwie weitermachen, in Wahrheit aber geschähe nichts mehr. Die Menschen sind von Natur aus nachlässig. Die tüchtigsten Kraftwerksingenieure lassen hinter sich die Lichter in den Arbeitsräumen brennen, nur weil sie an der Quelle sitzen und Energie scheinbar unbeschränkt zur Verfügung haben.

Und wenn man in Betracht zieht, was die Behörde manchmal gegen diese Haltung unternehmen muß!

Ich rechnete lieber nicht mehr mit der Möglichkeit, daß man mich später wieder nach oben ließ, wenn ich vorerst hier bleiben wollte, oder umgekehrt. Ich tat gut daran, meine jetzige Entscheidung, wie immer sie aussehen würde, als unwiderruflich anzusehen.

Und diese Überlegung machte mir die Entscheidung nicht leichter, ganz abgesehen von den moralischen und politischphilosophischen Aspekten.


Bestand überhaupt eine Chance, daß die Behörde diese Anlage in das Energienetz und damit in die Zivilisation einbeziehen würde?

Nein. Allein der Prozeß des Einbeziehens und Verbindens wäre nicht praktikabel. Jahrze hnte würden vergehen müssen, ehe sich die Energieinvestition dieser Verbindung bezahlt machen würde, selbst wenn die hier unten Lebenden sich der Rationierung anschlössen. Vermutlich würde es sich niemals bezahlt machen.

Daraus folgte also, daß die Transponder, die ich mit so viel Mühe ausgesetzt hatte, vergebliche Li ebesmühe bedeuteten.

Sollte ich hier unten bleiben oder nicht? Wollte ich hier leben oder oben unter der Sonne? Ich wußte es noch immer nicht.

Ich war immer noch geneigt, die Entscheidung von Marie abhängig zu machen, aber Marie ließ über ihre Pläne nichts verlauten.

Bert war nicht mehr im Rennen — von Maries Warte aus war er gar nicht gestartet. Man möchte annehmen, sie hätte endlich gemerkt, daß sie bei Joey keine Chancen hatte. Warum half sie mir nicht wenigstens mit einer kleinen Andeutung weiter?

Sie tat es. Sie hatte es offenbar satt, auf meine Antwort zu warten, die ich nicht geben konnte.


Zunächst hatte man den Eindruck, sie hätte wieder einmal das Thema gewechselt.

„Was Bert wohl machen wird? Wird er hier bleiben oder nach oben gehen?“ fragte sie.

Ich war heilfroh, daß ich unbeantwortbare Fragen im Moment links liegen lassen konnte.

„Er war bereits ein ganzes Jahr hier unten, ehe all das passierte“, sagte ich. „Ich glaube nicht, daß die letzten Minuten bei ihm eine Meinungsänderung bewirkten. Eher glaube ich, daß er jetzt noch weniger Ursache hat, nach oben zu gehen.“ Dabei warf ich Joey einen fragenden Blick zu. Er las mit, reagierte wie üblich mit einem Achselzucken und nickte sodann. Maries Antwort erwies sich als der reinste Augenöffner.

„Das möchte ich gar nicht sagen“, meinte sie.

„Einer von euch beiden soll ihm ausrichten, daß ich verstanden habe. Ich möchte nicht, daß er nach all dem unglücklich ist.“

Ich sah Joey an. Und er sah mich an und zog die vom Boot aus nicht sichtbare Braue hoch. Keinem von uns war vorher klar gewesen, daß Verzeihen weniger vom „Was“ als vom „Warum“ abhängen könnte.

Ich schrieb weiter: „Wenn es dein Wille ist, werde ich es ihm sagen. Ich werde hier unten bleiben, weil ich Joey helfen möchte. Ich werde Bert oft begegnen. Da ich ebenso sprachbegabt bin wie er, werde ich hoffentlich eine Lösung zum Entwirren dieser gräßlichen Art der Verständigung finden.“

Eine Bemerkung über eventuelle interessante Sprachlehrerinnen verkniff ich mir lieber. Wenn Marie aus purer Eifersucht ihren Entschluß umstieß, würde ich nie wieder Entscheidungen treffen können. Und meine jetzige Entscheidung befriedigte mich zu sehr, als daß ich sie nach der vorangegangenen Unsicherheit wieder über Bord geworfen hätte…


ENDE

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