XXIV

Aber ich hatte für den Tag noch nicht ausgelernt.

Als ich das große Ventil durchschwamm und von außen sichtbar wurde, hörte ich Maries Stimme. Sie klang scharf, erinnerte im übrigen aber an einen Keulenschlag.

„Wieso konntest du auf die Idee kommen, diese Menschen würden nicht Sauerstoff durch die Lungen inhalieren? Falls ich Bert tötete, tut es mir allzusehr leid, aber es ist deine Schuld.“

Sogar ich hatte genug Zeit gehabt, um vorauszusehen, daß diese Frage ko mmen würde, doch hatte ich zum Ausarbeiten einer guten Antwort keine Möglichkeit gehabt. Während der Arzt nämlich Bert bearbeitet hatte, hatte ich mein Gedächtnis bearbeitet. Mir war klar, daß meine Theorie vom Sauerstoff-Essen im Eimer war, aber eine bessere hatte ich nicht zur Hand.

Mir fiel nichts ein, als meine Theorie und die dafür sprechenden Gründe zu wiederholen. Ich beruhigte Marie auch, daß sie Bert nicht getötet hatte.

Irgendwie machten meine Argumente in geschriebenem Zustand keinen so luftdichten Eindruck wie damals, als ich sie mir zurechtgelegt hatte — ganz abgesehen von der Tatsache, daß ich nun offe nsichtlich auf dem Holzweg war. Trotzdem schien Marie sich zu beruhigen, während ich Seite auf Seite schrieb und sie ihr zu lesen gab. Vielleicht taten die erzwungenen Pausen das Ihre dazu.

„Ich gebe zu, daß du mich beim ersten Mal überzeugt hast“, sagte sie, als ich endlich fertig war,

„und ich sehe selbst nicht, wo die Schwachstelle steckt. Joey, hast du in der hier verbrachten Zeit genügend erfahren, damit du uns sagen kannst, in welchem Punkt wir uns irren?“

„Ich glaube ja“, schrieb er. Er stellte sich so auf, daß Marie gleich während des Schreibens mitlesen konnte. Ich nahm selbst eine Position ein, so daß ich alles mitbekam.

„Euer großer Irrtum war nur natürlich. Richtig ist, daß wir nicht atmen, was die Bewegungen des Brustkastens betrifft. Trotzdem beziehen wir Sauerstoff aus dieser Flüssigkeit. Es ist ein Wunderelixier. Vom Molekularaufbau her ähnelt es annähernd dem Hämoglobin, weil es an der Oberfläche Sauerstoffmoleküle lose binden kann. Ich weiß nicht, wie viele, aber die Zahl ist hoch. Die Flüssigkeit verfügt nicht über die Porphyrin-Gruppen des Hämoglobins. Die gingen verloren, als man den Stoff für sichtbares Licht durchlässig machte. Aus dem Gedächtnis kann ich euch die Aufbauformel nicht ableiten. Aber gesehen habe ich sie. Sie ist durch und durch verständlich.


Und jetzt überlegt einmal. Die Molekularkonze ntration des flüssigen Sauerstoffes ist viertausendmal größer als die des gasförmigen, den wir normalerweise einatmen. Der Grund für unser Atmen ist der, daß wir durch bloße Diffusion durch die Luftröhre zuwenig Sauerstoff bekämen. In flüssigem Sauerstoff kann ma n natürlich wegen der Temperaturprobleme nicht leben. In dieser Flüssigkeit hier aber ist die Konzentration fast freien Sauerstoffes viel viel höher als in der Atmosphäre — viel geringer zwar als in flüssigem Sauerstoff, aber immer noch sehr hoch. Das stellt ein anderes Problem dar.

Man versah den Kern dieses Moleküls mit einer Struktur, die bei Temperaturen über einigen hundert Graden endothermisch zusammenbrechen würde. Daher würde ein Feuer sich selbst ersticken.

Aber das ist ein Nebenproblem, soweit die Atmung betroffen ist.

Wenn die Moleküle dieser Flüssigkeit ihren Sauerstoff in die Lunge abgeben, geben benachbarte Moleküle O2 an diejenigen ab, die es verloren haben. Andere ersetzen diese wieder und so fort. Eine Situation ähnlich der Wasserkette beim Feuerlöschen. Sie wird von denselben Gleichungen erfaßt, die man bei Diffusionsproblemen anwendet. Die Rate des Sauerstofftransportes hängt vom Konzentrationsunterschied zwischen dem Lungeninneren und der Außenseite ab, und von der Fläche der Schranke, durch welche die Diffusion stattfindet — in diesem Fall die kleinste Querschnittfläche der Luftröhre. In diesem Fall reicht die Sauerstoffko nzentration um uns herum aus, um uns durch Diffusion über die Luftröhre am Leben zu erhalten. Was die Kohlendioxyd-Ausscheidung betrifft, bin ich nicht so sicher, aber ich glaube, eure Theorie ist in diesem Punkt richtig. Sie wird bewerkstelligt, indem Kohlendioxyd an unlösliche Karbonate im Körperinneren gebunden und als feste Ausscheidung abgesondert wird. Wie gesagt, das alles kommt mir ein wenig merkwürdig vor, und ich habe das Gelesene vielleicht da und dort mißverstanden. Wenn ich Zeit habe, werde ich tiefer in die Materie einsteigen. Ich bin kein Physiologe, doch hat mich der Stoff fasziniert, besonders die Geschichte dieser Entwicklung.“

„Aber warum diese komplizierten Vorgänge? Eine weniger wirksame Sauerstoffschranke würde es auch tun, solange frischer Nachschub in die Lungen gepumpt wird. Das ist der Grund, warum wir atmen!“ Marie war in diesem Augenblick gewiß nicht auf dem Höhepunkt ihrer Denkfähigkeit, denn sogar ich wußte die Antwort darauf. Ich nahm Joey das Täfelchen ab — er reichte es mir mit der Andeutung eines Lächelns — und begann mit meinen Ausführungen.

„Pumpt man eine noch dichtere Flüssigkeit als Wasser durch die Luftröhre, würde das eine gewaltige Anstrengung und wahrscheinlich gefährlich hohen Lungendruck bedeuten. Ich versuchte es knapp nach der Umwandlung und weiß, daß es schmerzt. Es würde mich nicht wundern, wenn dabei Risse im Lungengewebe aufträten. Es ist eine logische Kette: man fülle Körperhohlräume mit Flüssigkeit, so daß der Außendruck ohne nennenswerte Volumensänderung erreicht werden kann; sodann kann man die Flüssigkeit mit der normalen Atemtätigkeit nicht einpumpen. Man muß ihr eine genügend hohe Konzentration freien Sauerstoffes verpassen, um den nötigen Nachschub durch die Kehle diffundieren zu lassen. Ganz einfach, wenn man es erst mal begreift. Was ist übrigens die wichtigste Sauerstoffquelle, Joey?“

„Genau das, was man erwarten würde. Photosynthese. Und dafür wird auch der Großteil der hier erzeugten Energie verwendet. Etwa drei Viertel des Sauerstoffes stammen von den genmaßgeschneiderten Algen an der Zwischenfläche zwischen Meer und Atemflüssigkeit. Der Rest stammt von den angebauten Pflanzen. Die Verlustrate ist im Meer wegen des günstigen Teilungsverhältnisses gering.“

Ich nahm wieder die Tafel zur Hand.

„Nun, wenigstens hatte ich recht mit meiner Vermutung, warum das Lachen hier gefährlich ist und warum man den Hustenreflex ausschaltet. Beides könnte die Lungen zum Bersten bringen.“

„Klar“, sagte Joey. „Ich behaupte gar nicht, daß ich alles weiß — daß weiß nicht mal Bert, der viel länger hier ist. Was wir erfahren konnten, stammt aus den Büchern, und zwar aus denen, die zufällig in den uns bekannten Sprachen verfaßt waren. Die Menschen hier haben uns nichts davon gesagt. Es ist nicht nur unmöglich, sich mit ihnen auf dieser Stufe zu unterhalten, ich bin sogar ziemlich sicher, daß die meisten es selbst gar nicht wissen. Wie viele Menschen an der Oberfläche sind schon Ärzte, Physiologen oder Techniker?“

„Deswegen braucht man uns hier so dringend“, warf ich ein. „Bert muß es dir gesagt haben.“

„Wer würde Bert noch ein Wort glauben?“ stieß Marie hervor — wir hatten das Geschriebene immer so gehalten, daß sie mitlesen konnte, auch wenn es nicht ausdrücklich für sie bestimmt war. Joey übernahm jetzt das Schreiben.

„Du solltest ihm glauben. Daß diese Menschen alles tun würden, um technisch ausgebildete Besucher hier unten festzuhalten, dürfte stimmen. Was ich in den letzten Wochen hier beobachten konnte, verleitet mich zu folgender Annahme: wenn an dieser Anlage hier nicht in naher Zukunft weitreichende Verbesserungen und Erneuerungen vorgenommen werden, dann müssen zwölf- bis fünfzehntausend Menschen an die Oberfläche auswandern und ihren Anteil an der Energieration der nächsten Jahrzehnte fordern.“

„Das wäre eine bodenlose Unverschämtheit!“ äußerte Marie wütend. „Die haben hier jahrzehntelang Energie verschleudert, die dem Welt-Verbundnetz verlorenging. Sie sind nicht besser als die alten französischen Aristokraten, die den um Brot bettelnden Armen rieten, sie sollten Kuchen essen. Bloß wären die Adeligen zu stolz gewesen, die Jakobiner um Brosamen anzubetteln, nachdem ihr eigener Reichtum dahin war.“

„Meine erste Reaktion war ähnlich“, schrieb Joey gelassen weiter. „Ich ließ mich aus denselben Gründen unter Druck setzen wie Bert und du“ — er nickte mir zu —, „ich wollte mich hier gründlich umsehen und dann an die Behörde einen Bericht schicken, auf Grund dessen man die Anlage in kürzester Zeit an die übrige Welt angeschlossen hätte.

Doch als ich genügend Daten für einen handfesten Bericht beisammen hatte, wurde mir klar, daß es zwecklos wäre. Die Behörde würde gar nichts unternehmen.“

„Das behauptet Bert“, warf ich ein. „Er sagt, solche Berichte hätte man schon vor Jahrzehnten unter den Tisch fallen lassen.“

Joey schnappte sich die Tafel.

„Mir sind solche Berichte nicht bekannt. Aber Bert und ich haben wohl nicht dasselbe Material durchgesehen. Mein Standpunkt besagt, daß die Behörde gar nichts unternehmen kann.“

„Warum nicht? Sieh doch, wie viel Energie hier verpraßt wird!“ wandte Marie ein.

„Überleg doch mal, Mädchen. Hier wird nicht mehr Energie vergeudet als jene Menge, die an der Oberfläche von den natürlichen Pflanzen für die Photosynthese verbraucht wird — tatsächlich aber viel weniger. Es ist richtig, daß man die Energieerzeugung dieser Anlage durch die Bevölkerungszahl dividieren kann und auf eine Pro-Kopf-Ziffer kommt, die ein Vielfaches der normalen Pro-Kopf-Energieration beträgt. Der größte Teil dieser Energie wird jedoch zur Beleuchtung gebraucht. Wenn man nun die Beleuchtungsrate vermindert, senkt man die Rate der Photosynthese auf eine Stufe, auf der zuwenig Sauerstoff für die gegenwärtige Einwohnerzahl erzeugt würde. Vermindert man wiederum die Bevölkerungszahl, dann wird auch der jetzige lasche Betrieb, der mit Mühe aufrechterhalten wird, zusammenbrechen, und die Anlage wird Schluß machen müssen.

Man mag die vor mehreren Generationen getroffene Entscheidung der Vorfahren dieser Menschen kritisieren. Ich gebe zu, daß sie nach unseren heutigen Maßstäben unmoralisch war. Die Menschen hier unten tragen schwer an den Folgen, und sie zehren nicht vom planetarische n Versorgungsnetz.

Sie sind selbständig, wenn auch nicht in intellektueller Hinsicht. Ich sehe es als meine Pflicht an, hier zu bleiben. Ihr müßt nun eure Entscheidung allein treffen.“

Marie sagte gar nichts. Sie dachte nach. Und als sie sich wieder zu Wort meldete, sah es ganz so aus, als hätte sie das Thema gewechselt.

„Warum hat Bert mich belogen? Nichts von dem, was ihr jetzt erklärt habt, hat eine Lüge nötig gemacht.“

Joey reagierte mit einem Achselzucken.

„Keine Ahnung. Er hat mir ja nicht mal gesagt, daß du hier bist. Ich weiß nicht, was er sich dabei dachte.“

Joeys und Maries Blicke konzentrierten sich auf mich. Das Mädchen sagte: „Du weißt es. Heraus damit.“


Ich griff mir die Tafel, die Joey mir reichte und machte es kurz.

„Er log dich aus demselben Grund an wie ich.

Ihm war es einerlei, was du der Behörde berichtest.

Er wollte bloß verhindern, daß du erfährst, daß Joey noch am Leben ist. Er wollte, daß du an die Oberfläche zurückkehrst in der Meinung, Joey wäre nur mehr eine Erinnerung. Er wollte mi t dir gemeinsam zurück. Ich hätte es übrigens ebenso gemacht.“

Joey nahm die Tafel, nachdem Marie gelesen hatte, löschte das Geschriebene und schrieb: „Danke, Kumpel.“ Das hielt er so, daß ich es sehen konnte, aber nicht Marie. Dann löschte er es schleunigst aus. Falls Marie es bemerkt hatte, verlor sie kein Wort darüber. Aber wahrscheinlich hatte sie nichts bemerkt, denn meine Mitteilung war ihr in die Glieder gefahren.

„Ich verstehe“, sagte sie nach einem mindestens zwei Minuten dauernden Schweigen. „Dami t erscheint die ganze Sache in einem völlig anderen Licht. Er ist nicht so einfach zu durchschauen wie andere Menschen.“ Dann fuhr sie fort: „Joey, ich weiß, es ist deine persönliche Angelegenheit. Aber würdest du mir genau und wahrheitsgemäß sagen, warum du dich zum Hier bleiben entschlossen hast?“


Ein verneinendes Kopfschütteln war die Antwort.

„Und wie lange möchtest du bleiben?“

Wieder Verneinung.

„Betrachtest du dich noch als Beauftragter der Behörde?“

Noch immer keine Antwort. Ich war dabei ziemlich sicher, daß es Joey eigentlich gleichgültig war, ob Marie die Antwort auf diese Fragen erfuhr, besonders auf die erste. Doch gerade diese erste Frage wollte er ihr nicht selbst beantworten. Er war so nahe dran, ihr zu sagen, sie solle ihn endlich in Ruhe lassen, wie seine Natur es nur zuließ. Marie ist, wie ich schon mehrmals erklärt habe, gescheiter als ich, trotz ihres einen schwarzen Punktes.

Nach seiner dritten Verneinung sah sie ihn nachdenklich an. Dann wandte sie sich unvermittelt an mich.

„Bleibst du hier?“

Ich wußte es natürlich nicht. Mir blieb nichts übrig, als ihr die Gegenfrage zu stellen. Sie würde mir vielleicht unverblümter antworten, als Joey es ihr gegenüber getan hatte, aber ich war dafür gewappnet — das hoffte ich jedenfalls.

„Und du?“ schrieb ich. Da wurden wir von einer Druckwelle getroffen, die allerdings nicht allzu gewaltig ausfiel. Ich weiß nicht, ob sie mit der Faust auf etwas einhieb oder mit dem Fuß aufstampfte.

„Würdest du wohl dieses eine Mal eine Entscheidung selbst treffen?“ fragte sie wütend.

Das war ungerecht, natürlich. Ich bin sehr wohl imstande, Entscheidungen zu treffen, und das weiß Marie. Sie hatte es sogar zugegeben. Ich treffe jedoch höchst ungern Entscheidungen, wenn es mir an relevanten Informationen ma ngelt. Sie wußte genau, welche Information ich wollte und auch, daß sie eben dieselbe Information aus demselben Grund von Joey hatte haben wollen.

Ich unternahm den ehrlichen Versuch, ohne Rücksicht auf Marie zu einer Entscheidung zu gelangen und schaffte es nicht.

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