XVII

Dieser Anblick bewirkte in mir eine Veränderung.

Bert war seit Jahren mein Freund. Ich hatte ihm vertraut. Zugegeben, Marie hatte ihm nicht über den Weg getraut und hatte versucht, mich auf ihre Seite zu bringen, doch ich hatte geglaubt, sie wäre eine Schwarzseherin.

Vor wenigen Minuten hatte es mich wie ein Schlag getroffen, als Bert seine Unaufrichtigkeit eingestanden hatte, und doch hatte ich mir seine Ausflüchte angehört. Ich wäre sogar bereit gewesen anzunehmen, ich hätte ihn beim ersten Mal einfach mißverstanden.

Doch ebenso hatte er mir mitgeteilt — es mir in einfachen Worten unmißverständlich aufgeschrieben —, daß er nicht wüßte, wo Joey sich aufhielte, und daß Joey seines Wissens niemals hier heruntergekommen wäre.

Bert Whelstrahl hatte klar und unbestreitbar das Blaue vom Himmel gelogen. Er hatte gewußt, daß Joey hier unten war. Er hatte es gewußt und ebenso gewußt, was er machte. Warum aber hatte er mir und auch Marie diese Lüge aufgetischt? Und warum präsentierte er mir nun unverblümt den Beweis dafür, daß er ein gemeiner Lügner war? Und hatte Marie sich ihre Meinung gebildet, weil sie einen Beweis gesehen hatte, der mir entgangen war?

Eines jedenfalls war mir klar. Was immer Bert nun als Erklärung anführen würde, mußte durch gewichtige Beweiskraft gestützt sein, bevor ich es ihm glauben konnte. Dasselbe galt für alles, was er von nun an äußerte.

Diese Überlegungen wurden dadurch unterbrochen, daß Joey sich von dem Projektor umdrehte und mich bemerkte. Seine Miene bewies deutlich, daß Bert ihm von mir ebenfalls nichts erzählt hatte.

Er kam zu mir herüber, schüttelte mir kräftig die Hand und schien so wie ich frustriert von der Unmöglichkeit einer Verständigung. Er blickte sich suchend um, vermutlich nach dem Schreibzeug, aber Bert war schon eifrig mit dem Griffel am Werk. Er hielt das Geschriebene so, daß wir beide es lesen konnten.

„Joey, wir wissen, daß du für die nächsten paar Stunden versorgt bist, aber es ist dir sicher recht, wenn ich dir einen Assistenten zuteile, sobald der seine erste Aufgabe erledigt hat?“ Ich wußte es zu schätzen, daß er taktvollerweise meinen Namen wegließ und war schon eher geneigt, mir seine Ausreden anzuhören, wenn sie kämen. Joeys flüchtigem Lächeln merkte ich an, daß auch er es zu schätzen wußte. In den wenigen Wochen, die er weg war, hatte er meine chronische Verlegenheit nicht vergessen, die meine Eltern mir und meinem Selbstbewußtsein durch die vielen Spitznamen eingebrockt hatten, die mir an Stelle meines eigentlichen Namens angehängt wurden.

„Hocherfreut“, schrieb er. „Überlaß ihn mir mö glichst rasch, Bert. Wir brauchen ihn dringend.“ Fast hätte er mir auf die Schulter geklopft — wenn es die flüssige Umgebung zugelassen hätte. Dann wandte er sich wieder seinem Projektor zu.

Ich hätte gern ein ausführlicheres Gespräch geführt, merkte jedoch deutlich, daß jeder, der hier schon länger lebte, kein Verlangen nach müßigem Geplauder verspürte. Ich konnte mir denken, daß manchen Menschen ein solcher Tapetenwechsel sehr gut bekommen wäre.

Ich winkte Joey zum Abschied zu, was dieser übersah und folgte Bert hinaus in den Kontrollraum.

Ich wollte ihm ein paar unbequeme Fragen stellen, doch er hatte bereits das Schreibzeug zur Hand, und die Umstände waren nicht so, daß ich jema ndem ins Wort hätte fallen können. Als ich durch die Tür kam, schrieb er bereits.


„Ich wollte nicht, daß du von Joey etwas erfährst, ehe du nicht mit Marie gesprochen hast“, lautete seine Mitteilung. „Tatsächlich entschied ich mich eben vorhin, dich einzuweihen. Ich glaube nicht, daß sie von seinem Hiersein wissen sollte, und bin ganz sicher, daß er nicht erfahren sollte, daß sie hier ist.“

Ich faßte nach dem Täfelchen.

„Warum nicht? Mir sieht das alles ganz nach einem dreckigen Streich aus, der beiden gespielt werden soll.“

„Wenn sie erfährt, daß er hier ist, wird sie bleiben wollen.“

„Und was wäre daran so schlimm? Du wolltest, daß ich bleibe, und ich habe nie geleugnet, daß sie viel dekorativer ist als ich.“

„Sie soll nicht bleiben, weil der einzige Grund dafür Joey wäre. Du weißt so gut wie ich, daß ihr das nicht bekommt. Du weißt ja, daß er sich aus Marie nichts macht. Er hat sich nämlich entschieden, hier zu bleiben. Wenn sie erfährt, daß er da ist, und wenn sie sich zum Bleiben entschließt, steht ihm eine schwere Zeit bevor, und das können wir uns nicht leisten. Seine Aufgabe ist zu wichtig. Wenn er abgelenkt wird oder seine Absicht ändert, dann gibt es Schwierigkeiten.“

„Und warum darf er von ihr nichts erfahren?“


„Aus denselben Gründen. Er würde wissen, warum sie hier ist, und das wäre ebenso schlimm, als hinge sie sich ihm an den Hals. Er hat es selbst nie zugegeben, aber ich glaube, Marie war einer der Gründe, weswegen er sich zum Hier bleiben entschloß.“

„Er soll absichtlich verschwunden sein? Er soll von dieser Anlage schon vorher gewußt haben?“

„Aber nein. Er geriet hierher wie ich und wie Marie. Als er ein Arbeitsboot sichtete, das nicht der Behörde gehörte, nahm er die Verfolgung auf.“

Ich überlegte. Die Geschichte hatte ein paar überzeugende Aspekte. Joeys Haltung Marie gegenüber war fast ebenso allgemein bekannt wie meine, obwohl kein Mensch Marie davon hätte überzeugen können. Es hatten auch nur wenige versucht. Joey selbst gehörte nicht zu den Typen, die einem Mädchen unverblümt sagen, es solle sich zum Teufel scheren, auch wenn es ganz klar war, daß es für ihn und sie das Beste war. Er hatte irgendwie das Gefühl, es sei sein Fehler, daß er nicht auf sie flog.

„Aber warum hast du mir gegenüber lügen müssen?“ fragte ich schließlich.

„Weil du zu Marie wolltest und ich einige Hoffnungen hatte, du würdest sie zur Umkehr bewegen.

Wenn du von Joeys Anwesenheit hier gewußt hättest, so wärest du wohl nicht imstande gewesen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Ich möchte deine Schauspielkünste nicht herabsetzen, aber du hättest es in diesem Fall einfach nicht für nötig gehalten.“

„Ich bin gar nicht sicher, ob ich es jetzt für nötig halte. Ich bin noch immer nicht im Bilde über diesen bedeutsamen Job, den Joey zu erledigen hat und bei dem ich ihm helfen soll.“

„Das stimmt leider. Wir werden also darangehen, deine Bildungslücken aufzufüllen. Auf, in die Bibliothek!“

„Werden diese Bewacher, oder was immer das sind, bis zum Schluß dabeisein?“

„Schwer zu sagen. Es sind keine Bewacher, sondern nur interessierte Beobachter. Eigentlich solltest du dich geschmeichelt fühlen.“

„Ach, bin ich auch. Ich war noch nie zuvor eine Berühmtheit.“ Komisch, wie schwierig es ist, Ironie ausschließlich mit Hilfe des geschriebenen Wortes zu vermitteln. An Bert ging meine Anzüglichkeit vorüber, soweit ich es beurteilen konnte. Er schwamm in die Richtung des Tunnels, den wir entlanggekommen waren, zurück und wir anderen folgten ihm.

Wie ich vermutet hatte, führte der Rückweg über eine andere Route — besser gesagt eine andere Röhre —, wobei, wie ich ebenfalls erwartet hatte, uns die Strömung unterstützte.


Wie üblich wurde die Strecke nicht durch muntere Gespräche aufgelockert. Trotzdem war es nicht langweilig. Das Mädchen schwamm neben mir, anstatt mit den anderen das Schlußlicht zu bilden.

Wie vorhin, so wußte ich auch jetzt nicht, wie lange die Tour dauerte.

Ich habe keine Ahnung, wie die Strömung geste uert wurde. Sie hatte uns einen Gang entlanggetragen, sie führte uns in denselben Raum durch einen anderen Gang, aber in dem Raum selbst konnten wir ohne weiteres anhalten. Bert öffnete die große Tür, und wir entledigten uns unserer Coveralls auf der anderen Seite. Dann ging er uns wieder voraus.

Ich war ein wenig erstaunt und noch mehr enttäuscht, als wir an diesem Punkt unsere Begleitung loswurden. Kaum hatten wir die Coveralls abgelegt, zweigten sie in einen anderen Tunnel ab.

Zweifellos mußten auch sie von Zeit zu Zeit Arbeiten verrichten. Ich verdrängte sie mehr oder weniger aus meinem Bewuß tsein und folgte Bert.

Nun folgte einer der Punkte, die man nur schwer in allen Einzelheiten beschreiben kann, ohne La ngeweile zu erzeugen. Eine Bibliothek bleibt eine Bibliothek, auch wenn sie auf dem Kopf steht. Die Bücher waren in Form und Stil ganz gewöhnlich, wenn nicht gar auch dem Inhalt nach. Die Filme und Karten waren in keiner Hinsicht bemerkenswert. Ähnlich schwerelosen menschlichen Körpern verharrten die meisten im Schwebezustand. Stühle, Tische und Lesenischen befanden sich an der De kke, und die Ständer zum Ablegen der Ballastgürtel waren unter — nein, ich meine oberhalb — der Stühle. Aber nicht jeder legte sie ab. Viele Leser hatten ihre Gürtel umgeschnallt, während sie vor dem Lese-Bildschirm trieben oder mit einem Buch in der Hand im Wasser schwebten.

Die Bilder auf den Schirmen gehörten zu dem allgemeinen Typ, den mir das Mädchen aufgezeichnet hatte. Es waren Vettern zweiten Grades der elektrischen Diagramme oder topologischer Übungen an höheren Schulen. Ich beobachtete die Leser eingehend und gelangte zu der Oberzeugung, daß sie zwar lasen, daß aber dieses Lesen eine andere Art der Lesetechnik erforderte. Sie lasen Seite für Seite oder Bild für Bild, und brauchten dafür etwa eine halbe oder ganze Minute je nachdem, ehe sie zur nächsten Seite übergingen. Doch die Augen führten nicht die übliche linksrechts Bewegung des Buc hlesers aus. Die Blicke wanderten bar jeglicher Regelmäßigkeit über die Seite wie der Blick eines Menschen, der ein Bild betrachtet.

Das war allerdings nicht allzu sehr erstaunlich, überlegte ich. Das würde mir auch so gehen, wenn ich ein Netz-Diagramm ansehen müßte. Langsam fing ich an, die ganze Situation zu begreifen, langsam, aber sicher. Ich hatte mir bis jetzt nicht vorstellen können, daß technische Zeichnungen als eine Art Sprache dienen konnten.

Bert schwamm unauffällig eine Weile umher, und ließ mir Zeit, den Raum eingehend zu betrachten.

Schließlich winkte er mich an einen unbesetzten Filmbetrachter heran. Daneben stand ein großer Behälter mit Büchern. Ich brauchte etwa zwei Sekunden, um zu entdecken, daß diese Bücher in ganz gewöhnlichen Sprachen verfaßt waren. Chinesisch… Urdu… Latein… Englisch… Russisch…

ich erkannte sie alle, wenn ich sie auch nicht alle lesen konnte.

Bert fing wieder zu schreiben an.

„Diese Unterlagen werden dir die ganze Geschichte viel schneller vermitteln, als ich es könnte.

Inzwischen ist es ja für dich kein Schock mehr, daß viele Menschen, und zwar nicht nur Behördenangestellte, in der Vergangenheit auf diese Anlage gestoßen sind. Sie besteht schon länger, als es überhaupt die Behörde gibt. Viele dieser Menschen sind hier geblieben. Sie haben diese Bücher zum Teil mitgebracht, zum Teil hier selbst geschrieben. Die aus diesen Büchern gewonnene Information hat mich schließlich überzeugt von den Dingen, von denen ich dir gegenüber sprach — über die Versuche einer Verbindung mit der Behörde und so weiter.

Du kannst hier beliebig lange bleiben. Du mußt hier alles gründlich durchlesen. Es ist sehr wichtig, daß du die Sache in ihrer Gesamtheit verstehst. Ich werde dann kommen und dich zum Essen abholen.“

Er legte die Tafel unter einen Stuhl — eigentlich ist das falsch, die Tafel war nämlich dichter als die Flüssigkeit, also kann man sich vorstellen, was damit geschah — und er schwamm davon. Mir blieb also nichts übrig, als mi t der Lektüre zu beginnen.

Nein, Kopien oder Tonbänder dieser Bücher besitze ich nicht. Und ich weiß, daß Bert ein Lüge nbold war. Aber mein Wort darauf, diese vielen Bücher hätte er unmöglich in der Zeit, die er hier unten verbracht hatte, selbst fabrizieren können. Die meisten waren handgeschrieben, manche getippt.

Ich verbrachte an die achtzehn Stunden damit, jene Bücher zu überfliegen, die in den mir bekannten Sprachen abgefaßt waren. Diese achtzehn Stunden wurden natürlich von Mahlzeiten und Schlafpausen unterbrochen, aber die Beschreibung dieser Tatsachen des Lebens würde zu weit führen, obgleich diese Verrichtungen in me iner jetzigen Umgebung ziemlich ungewöhnlich ausfielen. Ich werde nun versuchen in möglichst knapper Form ein Bild der Situation zu entwerfen.

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