XXIII

Ich mußte überdies zugeben, daß wir dies hätten voraussehen müssen. Man hätte Joey nichts von den Rückkehrplänen sagen sollen, ehe Marie und Bert nicht schon weit weg waren.

Nichts war wahrscheinlicher, als daß ihm ein paar letzte Fragen eingefallen waren, die er Bert unbedingt stellen wollte. Und er wußte, wo er ihn antreffen würde. Bert war augenscheinlich ebenso überrascht wie ich, aber das nützte uns im Moment nicht viel.

Marie sah ihn, noch ehe Bert oder ich überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnten. Das Boot ließ plötzlich den schwimmenden Führer hinter sich. Sekunden später brachten uns seine Wasserdüsen ins Schleudern, als es unvermittelt vor uns anhielt. Ja, Marie hatte Joey gesehen. Ihre guten Manieren im Umgang mit den Eingeborenen waren wie weggeblasen.

Maries Stimme übertönte unser aller Herzklopfen.

Ihre ersten Worte waren nicht eben das, was ich erwartet hätte, aber ich habe bereits zugegeben, daß sie um etliches schneller denken kann als ich. Nicht immer in dieselbe Richtung oder gar in die richtige, aber immerhin schneller.

„Joey!“ Das hätte ein willkommen heißender Ausruf sein sollen, doch auch die besondere Situation, in der wir uns befanden, ließ klar erkennen, daß es dies nicht war. Kaum zu glauben, daß ein Mädchen, das für einen Ma nn so viel auf sich genommen hatte, eben diesen Mann mit dem Ton einer strengen Tante ansprechen konnte, aber die Ähnlichkeit war unverkennbar. „Joey, seit wann weißt du schon, daß ich hier bin?“


Joey sah sich nach den Schreibutensilien um. Ich händigte sie ihm mit dem größten Vergnügen aus.

„Ich hatte bis zu diesem Augenblick keine Ahnung“, schrieb er.

„Seit wann weißt du, daß Bert hier ist?“

„Ein paar Wochen. Genau weiß ich es nicht. Einen oder zwei Tage, nachdem ich selbst hier ankam.“

Ich ahnte, was als nächstes kommen würde, aber zum Glück hatte ich mich geirrt.

Marie war keine Technikerin. Natürlich kann sie ein U-Boot steuern, wenn es der Dienst verlangt, aber mit allen an Bord befindlichen Instrumenten und Zusatzgeräten ist sie nicht ganz vertraut. Aus diesem Grund war es mir schleierhaft, wie sie es fertigbrachte, ihren nächsten Schachzug so vollendet über die Bühne zu bringen. Eine der kleineren Greifzangen schnellte aus ihrem Lager und faßte Bert feinsäuberlich um den Hals. Erst als Marie ihn fest im Griff ha tte, ließ sie der Tat die Worte folgen.

„Du dreckiger Lügner! Du schleimiger Schmutzfink! Ich sollte dir den Schädel vom verlogenen Hals drehen! Ich würde dich am liebsten auf der Stelle erwürgen! Du wußtest, warum ich kam und wen ich suchte. Du wußtest, daß er hier war. Du hast ihm nicht gesagt, daß ich gekommen war, und du hast mich angelogen und gesagt, du hättest ihn nicht gesehen. Du hast den armen Tummy herumgekriegt, so daß er bei deiner krummen Tour mi tmachte!“

Ich stieß mich ein wenig an ihrer Äußerung, daß es mir an Verstand oder Initiative fehlte und ich für mein Verhalten nicht verantwortlich wäre, doch widerstand ich der Versuchung, sie zu unterbrechen und ihr klarzumachen, daß dieser Teil des Planes auf meiner Eigeninitiative beruhte. Ich erhob nicht einmal einen Einwand dagegen, daß sie einen der mir verhaßten Spitznamen gebrauchte. Ich ließ sie reden, bis ihr die Worte ausgingen.

Mehr will ich hier gar nicht anführen. Ich habe es ihr versprochen. Bert tat mir ein wenig leid, da der Griff um den Hals ziemlich schmerzhaft sein mußte, doch hatte Marie ja selbst gesagt, daß sie ihn hier nicht gut erwürgen konnte. Ich war übrigens davon überzeugt, daß sie es auch nicht getan hätte, wenn es ihr mö glich gewesen wäre.

Nicht Marie.

Die anderen schienen besorgt. Das Mädchen und ihr ständiger Begleiter stürzten sich auf den Greifarm und zerrten daran, erfolglos, wie es sich erwies. Auch der Arzt machte sich erfolglos an der Greifzange zu schaffen. Joey versuchte es erst gar nicht. Er winkte Marie zu und schüttelte den Kopf, in dem Bemühen sie aufzuhalten. Es war eine Szene, wie geschaffen, von lebhafter Musik untermalt zu werden, begleitet von Schreien, dem Aufschlag von Fäusten und dem Geklirr zerbrochenen Glases.

Und doch rollte alles in geisterhafter Stille ab.

Keine Schreie, die hier unten unmöglich waren, keine Fäuste, die in diesem Medium keine große Geschwindigkeit entwickeln konnten, kein Apparat in Reichweite, der zertrümmert hätte werden kö nnen.

Joey schaffte es, dem allem ein Ende zu ma chen.

Er hielt noch immer die Tafel in der Hand und schrieb nun in den größtmöglichen Buchstaben:

„Du wirst ihn töten!“

Das hielt er so gegen die Scheibe, daß Marie praktisch nur die Tafel sehen konnte.

Nach wenigen Sekunden harte sie ihre fünf Sinne wieder beisammen und öffnete den Greifer. Berts Gesicht war violett, er hatte das Bewußtsein verloren. Der Arzt packte sein Handgelenk, nicht um den Puls zu fühlen, wie ich zunächst glaubte, sondern einfach, um ihn abzuschleppen. Die beiden verschwanden im Umwandlungsraum.

Ich zögerte sekundenlang, weil ich schwankte, was nun wichtiger wäre, dann schwamm ich ihnen nach. Das Mädchen und sein Freund folgten mir.

Maries Führer blieb draußen beim Boot. Joey machte zunächst ein Gesicht, als wolle er uns nach, änderte dann aber seine Absicht.

Im Operationsraum war Bert im Nu auf dem Tisch festgeschnallt, und der Arzt machte sich ans Werk.

Eigentlich war er kein Arzt, wie mir rasch klar wurde. In einer Gesellschaft von ein paar tausend Menschen, die sich seit drei oder vier Generationen vom Hauptstrom des menschlichen Wissens abgespalten hat, kann es keine Ärzte geben. Er war aber ein verdammt guter Techniker und hatte es hier mit seinem ureigenen Fachgebiet zu tun. Er kannte die Herz-Lungen-Maschine in— und auswendig und wußte genau um die Schwierigkeiten von Störungen im Atmungs— und Kreislaufbereich.

Der Eingriff in den Hustenreflex, den diese Me nschen zum Überleben unter diesem Druck vorne hmen mußte, hatte Forschungen in dieser Richtung nötig gemacht. Im Raum waren verschiedene Ste uereinrichtungen für die Maschine und ihre Zusatzgeräte angebracht, offenbar parallel zu der Fernsteuerung. Die Druckminderung war augenscheinlich nicht der einzige Zweck des Apparates.

In weniger als einer Minute hatte der Techniker Bert an den Apparat angeschlossen. Langsam bekam er wieder seine normale Farbe. Dann wurden andere Instrumente in seine Kehle geschoben, damit man hineinsehen konnte.

Dort war offenbar kein großer Schaden eingetreten, im Gegensatz zur Außenseite des Halses, die zu einer einzigen großen Schwellung auflief. In weniger als fünf Minuten hatte der Doktor — ich will ihn unter den gegebenen Umstä nden so nennen — seine Geräte wieder eingepackt und ging nun mit einer Injektionsnadel gegen den Unterarm seines Patienten vor. Die Ampulle muß wohl ein Belebungsmittel enthalten haben, denn Bert öffnete augenblicklich die Augen.

Nur wenige Sekunden, und er hatte sich orientiert.

Sein Blick blieb an mir hängen, und er errötete tatsächlich. Noch immer verwirrt, versuchte er zu sprechen. Der Schmerz in seiner Brust, als er seine flüssigkeitsgefüllten Lungen unter Druck setzte, brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Er sah sich suchend um und vollführte Schreibbewegungen. Der Arzt hatte sichtlich nichts dagegen, daß ich Bert das Schreibtäfelchen gab, das Joey noch immer in der Hand hielt.

Das bedeutete keine Gesprächsunterbrechung.

Joey hatte nichts geschrieben und Marie nichts gesagt.

Während der Krise im Operationsraum war kein Wort laut geworden — wir hätten Maries Stimme auch hier drinnen hören müssen, und Joeys Satz von vorhin stand noch immer auf der Tafel. Marie sah zum Fenster hinaus, sie sah Joey an, und er sah überallhin, nur nicht zu ihr hin. Ich nahm ihm, ohne zu zögern das Täfelchen ab und schwamm zurück zum Tisch.

Der Arzt lenkte Berts Aufmerksamkeit auf die Blutleitungen zwischen ihm und der Maschine hin, unternahm jedoch keinen Versuch, ihn vom Schreiben abzuhalten. Bert gab mit einem Nicken zu verstehen, daß er die Warnung verstanden hatte, und setzte den Griffel in Bewegung. Er faßte sich kurz und reichte mir die Tafel.

„Tut mir leid, aber ich kann erkennen, wann ich schachmatt gesetzt bin. Hoffentlich hast du mehr Glück, obwohl ich dir jetzt, da sie weiß, daß Joey am Leben ist, keine großen Chancen einräume. Sag ihr, daß sie mich nicht getötet hat, falls du glaubst, daß diese Möglichkeit ihr Kummer bereitet. Mir ist lieber, wenn ich ihr nicht mehr unter die Augen trete.“

Das waren Sätze, die mir die Augen öffneten.

Plötzlich begriff ich, warum Bert mit der Wahrheit gespielt hatte, warum er Joeys Anwesenheit vor Marie verheimlicht hatte, warum er sich so plötzlich zur Rückkehr an die Oberfläche entschlossen hatte, und warum er mir gegenüber unaufrichtig war — ja sogar, warum der hiesige Rat uns nicht gemeinsam nach oben lassen wollte.

Ich sah auch, daß ich nicht in der Lage war, ihn auch nur in einem Punkt zu kritisieren. Man konnte nicht ein Wort gegen ihn sagen, das nicht ebenso gut auch auf mich zugetroffen hätte. Der einzige Grund, warum ich nicht so gehandelt hatte wie er — und das unter demselben Motiv —, war die Tatsache, daß ich dazu nicht in der Lage war.

Ich konnte ihm weder die Schuld geben noch ihn kritisieren. Ich habe zwar Fehler, bin aber kein Heuchler. Er tat mir nur leid. Wie er eben gesagt hatte, waren seine Chancen vergeben.

Vielleicht würde Marie zu der Einsicht gelangen, daß sie, was Joey betraf, ein hoffnungsloser Fall war, sogar nach der Entdeckung, daß er doch noch am Leben war. Vielleicht würde sie sich dann für mich entschließen. Doch nach den letzten Wochen und den Enthüllungen der letzten Minuten würde sie für Bert nie wieder Verwendung haben.

Ich bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. Mir fiel nichts ein, was ich hätte schreiben können. Er antwortete mit einem verbitterten Grinsen und winkte mir zu, ich solle verschwinden. Ich trollte mich. Mit Ausnahme des Arztes folgten mir die anderen.

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