Ich erwachte mit einigermaßen klarem Kopf. Ich lag in einer Koje in einem kleinen Raum, der außer zwei anderen Schlafstellen nicht mehr viel enthielt.
Ich war allein.
Jemand hatte mich ausgezogen. Die Sachen lagen säuberlich zusammengelegt in einer Art Hybridsprößling eines Wäschekorbes und einer Ablage in Kopfnähe des Bettes. Daneben lag eine Schwimmhose ähnlich der, die ich an vielen der Männer um meinen Tank herum bemerkt hatte. Nach kurzer Überlegung zog ich die Schwimmhose an. Meine anderen Sachen waren fürs Schwimmen nicht geeignet. Ich kroch aus der Koje und stand nun aufrecht da. Mein Kopf fühlte sich komisch an.
Mir fiel ein, daß ich unter den gegebenen Umständen gar nicht das Recht hatte, genügend Gewicht zu haben, um stehen zu können. Ich war vermutlich in eine Flüssigkeit eingetaucht, die dichter war als Wasser und daher dichter als mein Körper. Da hatte ich eine Idee. Ich kramte in den Taschen meiner abgelegten Sachen, entdeckte mein Klappmesser und ließ es fallen.
Sieh mal einer an! Es fiel an meinem Gesicht vorüber. Ich stand auf der Decke und die Kojenbetten ebenso.
Ich versuchte dem Messer nachzuschwimmen, das außer meiner Reichweite auf dem Boden der Decke zu liegen kam. Das bedeutete eine große Anstrengung, stellte sich aber als durchaus machbar heraus. Jetzt war mir klar, warum hier alle Menschen Ballastgürtel trugen. Im Moment allerdings konnte ich nirgends einen sehen. Ich würde also bis auf weiteres gehen müssen, wenn ich irgendwohin wollte. Dies versprach einigermaßen beschwerlich zu werden, weil die Flüssigkeit ziemlich zähflüssig war, wenn auch in geringerem Maße als Wasser. Überdies war die Architektur nicht auf Gehen eingestellt. Eine der Türen war kaum zugänglich, die andere befand sich im Boden — das heißt, in dem Boden, auf den mein Kopf nun zeigte und auf dem mein Messer gelandet war. Unter diesen Umständen entschloß ich mich, abzuwarten, bis Bert oder jemand anderer mit Ballast und Schwimmflossen auftauche.
Der Entschluß wurde noch durch die Tatsache begünstigt, daß ich mich noch immer nicht ganz tadellos fühlte, ganz abgesehen von der Meinungsverschiedenheit zwischen meinen Augen und den halbkreisförmigen Kanälen im Kopf, in der Frage, was oben und unten ist. Ich hatte das Gefühl, daß die Kanäle sich in diesem Fall zu keinem Entschluß durchringen konnten, und da fiel mir ein, daß man sie womöglich auch einem chirurgischen Eingriff unterzogen hatte. Man hatte sie doch nicht mit Luft gefüllt belassen können — oder doch? Wie stark war ein Knochen und wie gut geschützt waren die Kanäle übrigens?
Ich tastete mich ab und entdeckte verschiedene Stellen am Hals und um die Ohren, wo glattes Plastikmaterial eines chirurgischen Verbandes die Haut bedeckte, aber das bewies nicht viel. Mir war ohnehin klargewesen, daß man im Ohrenbereich hatte Änderungen vornehmen müssen.
Ich verspürte nicht den leisesten Drang Atem zu holen. Man hatte mir also einen gewissen Vorrat an Sauerstoff-Nahrung während des Umwandlungsvorganges eingeschmuggelt. Ich hätte gern gewußt, wie lange dieser Vorrat wohl ausreichen würde.
Plötzlich fiel mir ein, daß ich mich völlig in die Gewalt jedes Beliebigen begeben hatte, der sie gegen mich anwenden wollte, da ich keine Ahnung hatte, woher ich mir Nachschub von dem Zeug besorgen konnte. Das war ein Punkt, den ich mit Bert baldigst durchdiskutieren mußte.
Ich versuchte mich zum Atmen zu zwingen. Ich entdeckte, daß ich imstande war, langsam Flüssigkeit aus meinen Lungen zu drücken und sie ebenso langsam zurückzubekommen, doch es schmerzte, und ich fühlte mich noch benommener als von dem für mich ungewohnten Zustand, gleichzeitig aufrecht und verkehrt zu stehen. Die Flüssigkeit geriet in meine Luftröhre. Das spürte ich deutlich, obwohl der Hustenreiz ausblieb. Meiner Meinung nach war dies der komplizierteste Teil der Umwandlung in Anbetracht der Nerven— und Muskelaktivitäten, die das Husten bedingt.
Das Vorhandensein der Flüssigkeit in meiner Luftröhre, obschon nicht unerwartet, führte zu einer anderen Frage. Sicher hatte ich jetzt die Sprechfähigkeit eingebüßt, und die hier gebräuchliche Zeichensprache beherrschte ich nicht. Ich kannte nicht mal die gesprochene Sprache, auf der sie vermutlich basierte. Bis ich mich mit den Menschen hier verständigen konnte, würde ich viel Mühe und Plackerei aufwenden müssen. Vielleicht war es klüger, diese Mühe gar nicht erst auf sich zu ne hmen. Falls ich alles Wissenswerte von Bert erfahren konnte, waren Sprachstunden die reinste Zeitverschwendung.
Aber hören konnte ich wenigstens. Ich hörte merkwürdige Geräusche, von denen ich einige eventuell als Summen eines Hochleistungsmotors oder Generators eingestuft hätte. Pfeifen, Heulen, Stampfen — alles Mögliche, aber keine vertrauten Geräusche. Hinzu kam, daß hier eine bestimmte Geräuschklasse völlig fehlte, nämlich das Gewirr menschlicher Stimmen, das man in allen bewohnten Teilen der Erde vernimmt.
Meine Uhr zeigte an, daß fast eine ganze Stunde vergangen war, ehe jemand auftauchte. (Die Uhr wurde radioaktiv betrieben und war dem auf dem Meeresboden herrschenden Druck eigentlich nicht gewachsen, hatte sich aber tadellos gehalten.) Den Großteil dieser Zeitspanne machte ich mir Vorwürfe — nicht etwa, weil ich die Umwandlung hatte durchführen lassen, sondern weil ich versäumt hatte, die Zeit zwischen Entschluß und Durchführung auszunutzen und Bert nach weiteren Informationen auszuquetschen.
Der Neuankömmling war jung und recht dekorativ — aber von Verliebtheit meinerseits konnte keine Rede sein. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie winkte mich an die Bettstelle heran und begutachtete meine Kluft fachmännisch.
Ich versuchte ihre Aufmerksamkeit auf das Fehlen von Schwimmballast zu lenken. Vielleicht hatte sie verstanden, denn sie hörte mir höflich zu und nickte freundlich, nachdem ich mein Gebärdenspiel beendet hatte. Doch sie entfernte sich, ohne etwas Konstruktives unternommen zu haben. Ich hoffte sehr, sie würde Bert herbeiholen.
Ob sie es getan hatte oder nicht, er kam jedenfalls als nächster herein. Er hatte zwar keinen zusätzlichen Ballast bei sich, dafür aber sein Schreibzeug.
Das war ja noch besser. Ich nahm es an mich und machte mich ans Schreiben.
Schon einmal im Leben hatte ich mich auf schriftliche Mitteilungen beschränken müssen. Dieser Zustand hatte mit dem Verlassen der Schule aufgehört. Damals war damit eine gewisse Erregung verknüpft, da es im Studiersaal als verbotene Aktivität galt. Jetzt aber erwies sich das Schreiben als reinstes Ärgernis.
In etwas über zwei Stunden hatten wir uns geeinigt: Daß ich als vollwertiger Bürger überall Zutritt hätte und alles tun durfte, was nicht gegen die Interessen der anderen gerichtet war. Daß ich nicht nur die energieerzeugenden Anlagen besichtigen durfte, sondern mich mit ihnen so rasch als möglich vertraut machen sollte.
Das ich Marie in ihrem U-Boot besuchen durfte, wann ich wollte, und den Segen des Rates für meine Debatten mit ihr hatte, und daß man von mir erwartete, ich würde mich mit landwirtschaftlicher Betätigung fortbringen, bis ich bewies, daß ich auf andere, aber mindestens ebenso nützliche Weise zum Gemeinwohl beizutragen imstande war.
Das war alles.
Wie oft in der Vergangenheit hatte ich nach einem ausführlichen Gespräch feststellen müssen, daß mir, kaum war der Partner außer Sicht, noch etliche Punkte einfielen, die ich vergessen hatte vorzubringen. Hier unten aber war das die Norm.
Es handelte sich dabei gar nicht um vergessene Punkte. Hier war nicht einmal ausreichend Zeit, alle abzuhandeln, die man sich vorgemerkt hatte.
Noch nie im Leben hatte ich die Gabe des Sprechens so schätzen gelernt. Leser, die nach Lektüre dieses Berichtes zu der Ansicht gelangen, ich hätte gewisse Hauptfa ktoren schon viel früher entdecken müssen, mögen sich gefälligst diese Schwierigkeit vor Augen halten. Ich behaupte gar nicht, daß ich nicht schneller hätte kombinieren können, kann jedoch für mein Versagen immerhin eine Entschuldigung in Anspruch nehmen.
Das alles war nicht nur ärgerlich, nein, es gestaltete sich so, daß ich als arms eliger Dummkopf dastand, dümmer als je zuvor, und dümmer, als ich je wieder sein werde. Und das eigentlich Peinliche daran ist, daß gewiß viele, die meiner Geschichte bis zu diesem Punkt gefolgt sind, bereits wissen, an welchem Punkt ich in die Irre ging.
Für die Betätigung auf dem Agrarsektor fehlte mir nun jedwede Begeisterung, obgleich es mich interessiert hätte, wie man hier unten Landwirtschaft betrieb. Noch mehr hätte mich allerdings die Energiequelle interessiert, aber auch diesen Punkt mußte ich mir vorerst verkneifen. Als erstes bat ich Bert nämlich, er möge mich zu Marie führen. Er nickte und schwamm mir voraus.
Unterwegs gab es keine Verständigung. Mag ja sein, daß Bert schon so schwimmgewohnt war, daß er dabei hätte schreiben und lesen können wie eine Sekretärin, die unterwegs zum Mittagessen ihr Kreuzworträtsel löst, ich jedenfalls war es nicht.
Während des Schwimmens sah ich mich eifrig nach allen Seiten um und versuchte mir möglichst viel zu merken.
Die Tunnels waren lang und größtenteils gerade, bildeten aber für mich einen hoffnungslosen Irrgarten. Es würde gewiß sehr sehr lange dauern, bis ich mich hier allein zurechtfand. Falls es überhaupt etwas gab, das einem Verkehrsschild annähernd entsprach, so übersah ich es. An den Wänden sah ich alle möglichen Farbmuster, konnte aber nicht unterscheiden, ob sie eine Bedeutung hatten oder rein dekorativen Zwecken dienten. Alles war hell erleuchtet.
Die Anlage bestand auch nicht ausschließlich aus Tunnels. Es gab hier große Räumlichkeiten in den verschiedensten Formen, von denen einige Einkaufsze ntren oder Theater oder alles Mögliche sein konnten. Jedenfalls war hier Platz für große Menschenansammlungen. Zwar bekam ich selten richtige Menschenscharen zu Gesicht, aber die Schwimmer waren doch so zahlreich, um der Behauptung eine gewisse Wahrscheinlichkeit zu verleihen, daß nämlich die Bevölkerung ziemlich groß sei, kein Wunder, wenn die Sache hier schon seit mehreren Generationen lief. Allmählich gewöhnte ich mich daran, die Anlage als ganzes Land anzusehen, wie Bert behauptet hatte, und nicht nur als eine Organisation von Gesetzesbrechern. Ein Land, das seine Identität niemals aufgegeben hatte und dem Energieabkommen nicht beigetreten war. Ja, so verhielt es sich vielleicht wirklich — die Anlage war womöglich älter als die Energiebewirtschaftung. Ich wußte ja nicht, um wie viel mehr als die achtzig Jahre, die Bert genannt hatte, die hiesige Geschichte dauerte. Auch das mußte ich erst herausfinden.
Beim Abschätzen von Entfernungen im Schwimmen war ich nie sehr gut, und einige der Korridore leisteten dem Verkehr mittels einer pumpengeste uerten Strömung Schützenhilfe. Ich weiß daher nicht, welche Strecke wir zurücklegten, ehe wir das U-Boot erreichten. Ehrlich gesagt, meine Vorstellung von der Größe der gesamten Anlage ist noch immer sehr vage. Jedenfalls glitten wir von einem engen Gang in eine der großen Kammern unter einem Meereseingang, schwammen unter dem schwarzen Kreis hinweg, schwammen einen noch längeren Gang entlang und gelangten schließlich zum Eingang eines mittelgroßen Raumes, in dem ein gewöhnliches Arbeits-U-Boot der Behörde stand, beladen mit Außenballast wie mein Tank.
Bert blieb vor dem Eingang stehen und schrieb etwas aufs Täfelchen. Ich las über seine Schulter mit. „Ich bleibe lieber draußen. Sie ist der festen Überzeugung, daß ich ein Verräter bin und Judas gegen mich ein Waisenknabe war. Du wirst auch ohne mich noch genügend Schwierigkeiten haben, wenn du hier so einfach auftauchst. Hast du dir eine Erklärung für den Umwandlungsprozeß zurechtgelegt?“
Ich nickte bloß, weil ich mit dem Gekritzel keine Zeit verlieren wollte. Bert machte ein erwartungsvolles Gesicht und reichte mir Tafel und Griffel.
Ich aber winkte ihm zum Abschied zu und hielt stracks auf das Boot zu. Als ich mich umdrehte, war er schon verschwunden. Da fiel mir ein, daß ich ziemlich bald das Bedürfnis nach ganz gewöhnlichem Essen verspüren würde und vermutlich das noch dringendere Verlangen nach der Sauerstoff-Nahrung. Ich wußte noch immer nicht, wo ich mir diese Dinge beschaffen konnte.