XVIII

Die Anlage hatte tatsächlich schon vor der Schaffung, der Aufsichtsbehörde existiert. Während der letzten Jahrzehnte vor der Rationierung war den verschiedenen, damals existierenden politischen Institutionen langsam klargeworden, daß die Energiereserven der Menschheit im Schwinden begriffen waren. Nun wurden verzweifelte Versuche unternommen, um den Folgen auszuweichen oder sie zumindest hinauszuschieben, ohne der öffentlichen Meinung weh zu tun — oder vielmehr, ohne die Selbstzufriedenheit der Öffentlichkeit zu stören.

Meine historischen Kenntnisse stehen auf wackeligen Beinen, aber ich glaube mich zu erinnern, daß es die Periode des „Blitzprogramms“ war, eines Programms, das damalige Techniker zynisch als einen administrativen Versuch bezeichneten, ein Baby innerhalb eines Monats in die Welt zu setzen, indem man neun Frauen schwängerte. Einige Ergebnisse dieses Programms sind bekannt, beispielsweise der hydroelektrische Tunnel Mittelmeer-Totes Meer, die Dämme von Messina, Key, Ore und Arafura, das thermische Kraftwerk von Valparaiso, die vulkanischen Zapfstellen von Bandung und Akureyr. Manche Anlagen erwiesen sich als lohnend, ja sogar als gewinnbringend, andere blieben Denkmäler unfähiger Politik.

Die weiteren Konsequenzen sind bekannt — Diskussionen um Energienutzung, die zu einem Dutzend kleinerer Kriege führten, die wiederum in einem einzigen Jahr mehr Energie verbrauchten, als alle Blitzprogramm-Einheiten in einem Mensche nleben zusammen erzeugen konnten. Ebenso bekannt ist, daß als Folge davon die Aufsichtsbehörde gebildet und die allgemeine Energiebewirtschaftung eingeführt wurde.

Während der Periode der Reibereien unternahmen einige Nationen den Versuch, geheime Kraftwerke anzulegen in der Hoffnung, entweder der Habgier ihrer Nachbarn zu entgehen oder sich im Falle einer gewaltsamen Auseinandersetzung selbst mit Energie versorgen zu können. Meist waren diese „Geheima nlagen“ für die allgemeine Öffentlichkeit der betreffenden Nation nur vor der Inbetriebnahme geheim — wenn es überhaupt so weit kam. Einige bestanden auch noch mehrere Jahre nach Einfü hrung der Rationierung. Allgemein herrschte hernach die Annahme vor, die letzten dieser geheimen Anlagen wären aufgespürt und schon vor Jahrzehnten dem allgemeinen Energienetz eingegliedert worden.

Hier aber stand eine dieser Anlagen!

So einfach war das — beinahe.

Ich konnte den Unterlagen nicht entnehmen, welches Land dafür verantwortlich zeichnete. Ich versuchte es gar nicht erst festzustellen. Der Name des Landes wäre für mich, der ich ein halbes Jahrhundert nach der Abschaffung der Ländernamen geboren worden war, ohnehin bedeutungslos gewesen.

Es hatte sich höchstwahrscheinlich um ein kleineres Land gehandelt, das Befürchtungen gegen seine Nachbarländer hegte, aber immerhin groß genug, um hochindustrialisiert zu sein. Die Technik des Lebens in der Tiefsee, wie sie mir im Augenblick so wirkungsvoll und drastisch vor Augen geführt wurde, war nicht das Produkt halbherziger oder gar „Blitz-Programm“-Forschung. Dazu hatte es einer sehr langen Entwicklungszeit bedurft. Da mir die Gepflogenheiten der damaligen Zeit nicht unbekannt waren, konnte ich mich nicht genug darüber wundern, daß dieses Geheimnis bewahrt worden war — obgleich ich mir die Schritte vorstellen kann, die damals zur Erreichung dieses Ziels normal und angemessen schienen.


Wie dem auch sei, die Anlage wurde errichtet, und sie ging in Betrieb, ehe die Behörde und damit die Rationierung Wirklichkeit wurden.

Wie gesagt, es blieb ein Geheimnis. Es mußte geheim bleiben. Nur eine Handvoll Menschen durfte davon wissen — abgesehen von den Tausenden ständiger Bewohner. Diese Handvoll zog sich ganz einfach klammheimlich von der Erde zurück und brach alle Verbindungen hinter sich ab, als die Rationierung begann und die Energiequellen zum allgemeinen Eigentum erklärt wurden. Ein wenig Skrupellosigkeit mag dazu ja nötig gewesen sein, aber ich glaube lieber, daß das Schlimmste daran die ein wenig unter Zwang vorgenommene Adressenänderung darstellte.

Jedenfalls gab es plötzlich eine neue Nation mit einer Bevölkerung von fünfzehntausend Menschen am Grunde des Pazifiks. Diese Nation verfügte über Fabriken und chemische Anlagen und hatte Energie in Hülle und Fülle. Fünfzehntausend Me nschen. Wie Marie es später auszudrücken beliebte, fünfzehntausend Aristokraten — und über fünfzehn Milliarden Jakobiner.

Realistischer gesehen waren es fünfzehntausend Schnittblumen.

Die meisten Berichte die ich las, brachten zum Ausdruck oder deuteten zumindest an, daß die Unterbrechung der Beziehungen mit der Oberfläche nicht als endgültig angesehen wurde. Für alle Beteiligten muß es nämlich klar gewesen sein, daß eine Bevölkerung dieser Größe viel zu klein war, um eine hochtechnisierte Kultur am Leben zu erhalten und ebenso klar, daß nur eine hochtechnisierte Kultur unter diesen Umständen überleben konnte. Wahrscheinlich hatte man die Absicht, intellektuelle Kontakte mit der übrigen Menschheit zu pflegen — vielleicht sogar physische Kontakte, da es kaum glaublich ist, daß man glaubte, jedes einzelne Stückchen Ausrüstung, das für den Betrieb der Anlage nötig war, selbst zu fertigen.

Aber diese Kontakte wurden nicht aufrechterhalten. Sie konnten nicht aufrechterhalten werden.

Man hätte es vielleicht trotz aller möglichen auftauchenden Schwierigkeiten geschafft, wenn nicht ein jeder dieser Kontakte notwendigerweise ein Betrug sein mußte. Und diese Faktoren zusamme ngenommen ließen die Verbindung nicht wieder aufleben.

Die unerwartet auftretende Schwierigkeit hätte man voraussehen können, wenn die Anlage länger als nur ein paar Jahre vor dem Bruch in Betrieb gewesen wäre. Man hätte Erfahrungen sammeln können, die manchem die Augen geöffnet hätten.


Wie die Dinge nun lagen, sollten die Erfahrungen eben später kommen.

Eine technisch orientierte Kultur ist notwendigerweise eine auf Büchern beruhende Kultur, solange wenigstens, bis man einen Ersatz für die Nachschlagewerke gefunden hat.

Ob sich wohl jemals jemand das Problem vor Augen geführt hat, eine phonetische Sprache wie Russisch oder Englisch jemandem beizubringen, der nie ein gesprochenes Wort gehört hat und selbst keinen Laut hervorbringen kann?

Schön und gut, ich weiß, daß ein besonders ausgebildeter Spezialist es fertig bringen kann. Was aber, wenn unter der gesamten Bevölkerung niemand ein einziges Wort hervorbringt und wenn man unter diesen Umständen der jungen Generation die Lektüre von Farrington Daniels „Mathematische Vorübungen für die physikalische Chemie“

oder irgendein anderes grundlegendes Werk empfehlen möchte? Nun sitzen aber alle in ein und demselben Boot. Die Kinder verständigen sich beim Spielen mittels selbsterfundener Zeichen, aber können diese, für das Spiel erfundenen Zeichen auch zur Erklärung der Vektoren-Analyse angewandt werden? Auch die elementarsten Fragen der Disziplin sind so nicht zu lösen. In diesem Medium heißt es ohne Prügelstrafe auskommen.


Und dennoch — jede Generation muß unbedingt eine gewisse Anzahl fähiger Techniker hervorbringen, wenn nicht die gesamte Bevölkerung in der eisigen Finsternis des Ozeans zugrunde gehen soll.

Es mögen sich nun verschiedene Möglichkeiten anbieten. Hier jedenfalls nahm man seine Zuflucht zu Bildern. Die Einzelheiten sind mir nicht bekannt, und in den Büchern stieß ich auf verschiedene Versionen, von denen ich einige als bloße Mutmaßungen ihrer Autoren einstufe. Hier müssen mehrere Komponenten zusammengewirkt haben: feste Entschlossenheit, tiefe Verzweiflung, ein hoher Intelligenzgrad und dazu eine Portion Glück.

Die Folge davon war, daß die Enkel der Gründer eine äußerst brauchbare geschriebene Sprache entwickelten, die, wie ich gleich auf den ersten Blick richtig vermutete, aus elektrischen und technischen Diagrammen abgeleitet wurde. Die Schrift war eine Kombination aus Symbol und tatsächlicher Erfahrung und ließ sich den Kindern mü helos beibringen. Die Zeichensprache wiederum war ein Derivat der geschriebenen Sprache. Bewegungsfolgen stehen für gezeichnete Symbole, ähnlich unseren phonetischen geschriebenen Sprachen, die Derivate ihrer gesprochenen Äquivalente sind. Die Einzelheiten möge sich jeder beliebig ausmalen. Ich halte mich diesbezüglich noch immer für inkompetent.


Mir war nun folgendes klar: Kinder, die niemals ein gesprochenes Wort gehört hatten und mit einer auf Bildgrundlage entwickelten Sprache aufgewachsen waren, dazu mit einem Code von Handbewegungen als Ergänzung, brauchen eine gewisse Zeit, bis sie eine gesprochene Sprache erlernen, die als Ergänzung einen Code geschriebener phonetischer Symbole hat.

Daß es unmöglich ist, möchte ich nicht behaupten. Eine intelligente und mit viel Entschlußkraft gesegnete Person kann erstaunliche Dinge erreichen. Ich wage aber zu behaupten, daß nur ganz wenige den ganzen Energieaufwand für lohnend halten werden. Die Mehrheit, mag sie auch noch so intelligent sein, wird sich dazu nicht durchringen.

Und von den wenigen, welche die Mühe des Lernens auf sich nehmen, wird keiner den eigenen Fortschritten über den Weg trauen, da er ja keine Möglichkeit der Überprüfung seiner Kenntnisse hat, ähnlich einer Studentengruppe, die sich das Erlernen von Sanskrit zum Ziel setzt und die Sprache aus Büchern lernt. Diese Unsicherheit wirkt sich natürlich auch beim Vergleich eines technischen Textes mit der darin beschriebenen Maschine aus. Wenn man nun die Wahl hat zwischen den originalen Betriebsanleitungen, in Hieroglyphen gedruckt, die nie gehörte Laute wiedergeben, und den Aufzeichnungen der mit den Maschinen vertrauten Techniker — was werden sich die Schüler wohl als Hausaufgabe aussuchen?

Natürlich sind die Originale erhalten und stehen noch zur Verfügung. Sie sind auch nicht sonderlich zerlesen und abgegriffen. Leider verlieren sie aber mit der Zeit an Wert, weil man moderne, neue Texte braucht. Doch gegen den modernen Text sprechen zwei Gründe.

Erstens kann kein Mensch ihn lesen. Zweitens sind sie für Betrieb und Instandhaltung von Maschinen, die vor einem Jahrhundert konstruiert wurden, etwa so sinnvoll wie die Betriebsanleitung einer Hochleistungsdrehbank für einen Feuersteinaxthersteller aus dem Jahre 3000 vor der Zeitwende.

Die vor so langer Zeit erzeugten Maschinen haben sich gut gehalten, zeigen aber schon Abnützungserscheinungen. Die bloße routinemäßige Wartung muß immer häufiger einer größeren Reparatur, ja sogar dem Einbau von Ersatzteilen Platz machen.

In den ursprünglichen Büchern werden diese Probleme nicht behandelt, außerdem kann man diese Bücher ohnehin nicht lesen. Und die Aufzeichnungen der Bedienungsmannschaft behandeln diese Probleme schon gar nicht.


Man benötigt daher Leute von oben, Ingenieure, welche die nötigen Arbeiten ohne Anleitung schaffen, Fachleute, die den Inhalt neuer Bücher den hier Ansässigen verdeutlichen. Vielleicht wäre Lehrer der geeignetste Ausdruck dafür.

Mit anderen Worten, man brauchte hier Joey, Bert, Marie und mich. Man braucht hier praktisch jeden, den man von der Oberfläche rekrutieren kann. Man braucht uns dringend. Maries Hypothese erwies sich als völlig zutreffend. Man hat Me nschen wie uns schon jahrzehntelang geholt — jene Menschen, deren Aufzeichnungen mir alle diese Deutungen ermöglichten — und das Überleben hier hängt davon ab, daß man diese Praktik beibehält.

Damit aber wurde eine andere Überlegung gespeist.

Ich wollte gern glauben, daß sich ein gewisser Prozentsatz derjenigen, die hier hergekommen waren, sei es durch Zufall oder als Ergebnis betrügerischer Anwerbung, hatte überreden lassen, freiwillig zu bleiben. Aber mir erschien es unwahrscheinlich, daß dies bei allen der Fall war. Was war mit denen geschehen, die nicht eingewilligt hatten?

Ich sah zwei Möglichkeiten. Die eine war das Schicksal, das Marie erwartete, falls sie versuchte zurückzugehen. Die andere war die von Bert gebotene Erklärung, nämlich, daß man ihnen gestattet hätte, unversehrt zur Oberfläche zurückzukehren, daß aber die Behörde ihre Enthüllungen oder Berichte vertuscht hatte.

Aber Bert war erwiesenermaßen ein Lügner. Außerdem konnte er sich irren.

Ich fand Hinweise auf Besucher, die gekommen waren, von denen dann in weitere Folge aber nicht mehr die Rede war. Wenn sie nur vorübergehend blieben — klar, daß man sie nicht mehr erwähnte —, so oder so. Ich wollte nicht annehmen, daß man Gewalt angewandt hatte — ich glaubte lieber, daß Bert recht hatte. Aber Marie war schließlich auch nicht dumm, und die moralischen Grundsätze dieser isolierten Kultur ähnelten womöglich denen des vergangenen Jahrhunderts. Ja, in gewisser Weise stimmten sie mit ihnen haarscharf überein.

Mir reichte es, daß auch nur die Möglichkeit einer Gefahr für Marie bestand.

Diesmal war ich ausnahmsweise mit Bert ganz einer Meinung. Man mußte sie sofort zur Rückkehr bewegen. Zusätzlich mußte sie gut bewacht werden, bis sie außer Reichweite war. Von mir bewacht. Das waren zwei Aufgaben für mich, von denen die erste sich wahrscheinlich schwieriger gestalten würde. Marie hatte sich Berts Argumente für ihre Rückkehr mehrere Wochen lang angehört.

Die Folge davon war, daß ihr Vertrauen in Bert völlig untergraben war. Wie konnte ich es besser machen?

Ich behaupte von mir, daß ich ein annehmbarer Ingenieur bin. Ich kann außerdem eine Untersuchung fachmännisch leiten, wenn es sich um ein technisches Problem handelt, wie zum Beispiel das Aufspüren von Energie-Lecks. Aber ich bin nun einmal kein Ränkeschmied im richtigen altmodischen Sinn des Wortes, und dieses Problem machte mir eine ganze Weile schwer zu schaffen. Was mich so lange hemmte, war vermutlich mein natürliches Widerstreben, Marie etwas anderes als die reine Wahrheit zu erzählen, dazu kam das noch größere Widerstreben, ihr Kummer bereiten zu müssen.

Ich weiß nicht, was schließlich diese Blockade aufhob. Plötzlich erschien mir eines sonnenklar: Wenn Marie entschlossen war, hier unten zu bleiben, solange sie glaubte, Joey könnte am Leben und hier unten sein, würde sie vermutlich zurückkehren, wenn man sie überzeugen konnte, daß er hier unten sein Leben gelassen hatte.

Die Idee gefiel mir eigentlich gar nicht. Ich mag Lügen nicht, schon gar nicht Lügen gegenüber Menschen, die mir vertrauen, im besonderen gegenüber Marie. In meiner Kindheit durchlief ich die übliche Phase in der einem eine Lüge als der einfachste Weg aus allen Schwierigkeiten erscheint.

Ein paar ausgezeichnete Lehrer und verständnisvolle Eltern im Verein mit einem guten Freund mit einer schlagkräftigen Rechten, der fünfzehn Pfund mehr wog als ich, halfen mir, dieses Stadium zu überwinden. Im vorliegenden Falle muß te ich mir ständig vorsagen, daß es um Maries Sicherheit ging, ehe ich mich zu der Ansicht durchgekämpft hatte, daß es anständig wäre.

Ob es den Kummer wert war, den ich ihr mit Sicherheit damit bereiten mußte, darüber zerbrach ich mir lieber nicht den Kopf. Kaum hatte ich mich nämlich endgültig zu meinem Entschluß durchgerungen, als mir der ganze Plan auch schon so einfach erschien, daß ich mich fragte, warum Bert eigentlich nicht selbst darauf verfallen war.

Schließlich schien er meine Vorurteile gegen Falschheit und Lügen nicht zu teilen.

Загрузка...