XXI

Es dauerte lange, aber ich tat mein Bestes. Sie las jede Zeile sehr sorgfältig durch, nickte hin und wieder und stellte manchmal eine Frage. Ich beantwortete sie so, wie mein Wissen es zuließ.

Etwa die Hälfte der Fragen befaßte sich damit, wie stark ich mich bei meinen Informationen auf Joey stützte. Es dauerte über eine Stunde, bis ich ihr ungefähr dasselbe Bild entworfen hatte, das ich mir selbst gebildet hatte.

Ich schloß mit der Bitte, die den Schlüssel des gesamten Planes darstellte:

„Marie, du muß t zurück an die Oberfläche und all das berichten. Was auch immer Bert über dein Bleiben gesagt haben mag, die Behörde muß alles erfahren. Bert und ich werden auf eigene Faust zurückgehen, und an Joey brauchst du nicht mehr zu denken.“

„Bert? Warum sollte der wohl zurückwollen? Ich weiß, daß er bleibt. Er hat es zugegeben. Er will tun, was er möchte, ohne Rücksicht auf andere.

Und mich wollte er auch dazu überreden, dieser Dreckskerl. Die Tatsache, daß er hier bleibt, ist der einzige Grund, warum ich mir deinen Vorschlag überhaupt anhöre.“

„Das glaube ich nicht von ihm“, schrieb ich. „Er sagte mir, er bliebe auch, deutete aber an, daß es nicht für immer wäre. Ich hatte das Gefühl, er hätte hier mitgemacht, um herauszufinden, was wir wissen müssen, und wäre zurückgekommen, wann und — falls er konnte — wie ich.“

„Von dir kann ich es glauben.“ Sie dachte nach, während ich meinem eigenen Herzschlag lauschte.

Das war das Ermutigendste, das sie jemals mir gegenüber geäußert hatte, und ich fühlte mich um so elender wegen meiner Lüge. Ich mußte mir mehrmals vorsagen, daß es um ihrer eigenen Sicherheit willen geschah.

Ihre Sicherheit war jedenfalls nicht Maries Hauptsorge. Das machte sie in den nächsten Minuten deutlich. Als sie wieder zu sprechen anfing, war es klar, daß sie in aller Eile Pläne entworfen hatte.


„Gut“, sagte sie. „Ich werde gehen, obwohl ich noch immer nicht glaube, daß man mich gehen lassen wird. Sicher wird es irgendeinen Unfall geben. Ich habe aber eine Idee, wie wir feststellen können, wer von uns recht hat.“

Ich sah sie fragend an.

„Du scheinst zu glauben, daß man mich gehen lassen wird, damit ich der Behörde Bericht erstatte, und daß die Umwandlung, die man an dir und Bert vornahm, wieder rückgängig gemacht werden kann. Daß du zurückgehen und wieder Luft atmen kannst? Richtig?“ Ich nickte. „Schön. Ich jedenfalls glaube davon kein Wort. Um die Wahrheit herauszufinden, brauchst du nur davonzuschwimmen und Bert zu sagen, daß ich zurückgehe, wenn er mich in meinem Boot begleitet. Wenn er will, kann er ja nachher wieder zurück. Ich werde mich von seinem Gerede erst überzeugen lassen, wenn ich ihn wieder Luft einatmen sehe, und ich werde mich viel sicherer fühlen, wenn er in diesem Boot an meiner Seite ist, wenn ich hier rausmanövriere.

Und jetzt sag mir, warum du das für eine dumme Idee, für eine Zeitverschwendung, für vergebliche Mühe und dergleichen Unsinn hältst.“

Auch unter diesen Umständen konnte ich mir den Sarkasmus in ihren Worten gut dazudenken. Ich konnte ihn nicht hören, aber er mußte vorhanden sein. Auch sie vertraute mir also nicht völlig. Wenigstens bereitete es mir einige Befriedigung, als ich sie mit meiner Antwort tüchtig in Erstaunen setzte.

„Eine gute Idee“, schrieb ich. „Ich werde Bert suchen und ihm diesen Vorschlag unterbreiten. Ich nehme an, du würdest mich nicht als Ersatzmann akzeptieren, falls er lieber länger hier bleiben möchte.“

Ihre Miene veränderte sich ein wenig, doch war ich nicht ganz sicher, was der neue Ausdruck bedeutete.

„Leider nein“, sagte sie. „Das würde zwar deine Ansicht lieber die Rückkehrmöglichkeit bestätigen, aber du würdest keine gute Geisel abgeben, glaube ich.“ Das war immerhin ein Trost. „Nein, wir machen es so, wie ich will. Geh und such Bert und hör dir an, was er zu sagen hat.“

Gehorsam schwamm ich fort. Diesmal wartete Bert in der Eingangskammer und war dabei, seine Kenntnisse der Fingersprache zu erweitern — mit Hilfe unserer früheren Begleiter, des Mädchens und ihrer Freunde, mit zweien von ihnen jedenfalls. Ich hätte nicht sagen können, welcher fehlte.

Ich hatte alles auf einen Satz vereinfacht, den ich nun aufschrieb und ihm zeigte, als ich nahe genug herangekommen war.


„Marie sagt, sie würde gehen, wenn du dich wieder umändern läßt und mit ihr gehst.“

Diese Mitteilung starrte er eine volle halbe Minute reglos an. Dann schnappte er sich das Täfelchen und schwamm damit, ohne den Satz zu löschen, den Tunnel entlang auf das Boot zu. Wir folgten ihm. Er glitt an das Fenster, in dem ihr Gesicht noch immer sichtbar war, und hielt das Täfelchen mit meinem Satz hoch. Er deutete auf mich und dann wieder auf das Geschriebene und machte ein Gesicht, das jedermann, ungeachtet seines kulturellen Hintergrundes, hätte deuten können. Sie antwortete ganz laut.

„Genau, Bert.“ Er löschte den Satz und sah sie fragend an.

„Warum?“ kritzelte er.

„Das möchte ich später erklären. Kommst du mit?“

Seine Antwort überraschte Marie. Was sie bei mir bewirkte, war mir nicht so ohne weiteres klar.

„Sicher doch. Ich werde später vielleicht wieder hierher zurückkommen müssen — hier unten kann ich viel nützliche Arbeit leisten. Aber es ist vielleicht wirklich das Beste, wenn ich jetzt mit dir gehe. Es gibt viel Berichtenswertes, das wir beide dir in aller Eile nicht erklären können.“ Sehr taktvoll, wie er damit ihre Weigerung überspielte, ihm in all den Wochen zuzuhören. „Ich könnte das viel gründlicher machen.“ Er hielt nachdenklich inne, länger als Marie zum Lesen brauchte. Dann fuhr er fort: „Wir schleppen dein U-Boot in den Umwandlungsraum ab — das ist einfacher, als wenn du es selbst steuerst — und schließen es an die Schleuse an. Ich steige ein und lasse meinen Druck senken.

Man wird keine großen Einwände dagegen erheben. Dann kann ich durch deine Schleuse einsteigen, und wir steigen gemeinsam auf.“ Zu mir gewandt fragte er: „Gut so?“

Ich war da nicht so sicher. Soweit ich beurteilen konnte, würde ich ohne Bert hier nichts anfangen können. Zweifellos würde das Mädchen, das uns noch immer ständig beobachtete, und ihre Freunde mich vor dem Verhungern bewahren, bis ich mich hier besser zurechtfand. Sie würden mich vielleicht zurück zu Joey dirigieren, damit ich mit ihm zusammenarbeiten konnte, falls dies me ine Hauptaufgabe hier sein sollte. Aber ich sah nicht recht ein, wie ich auf diese Weise der Behörde von Nutzen sein konnte. Zum Unterschied von Joey hatte ich nie beabsichtigt, für immer hier zu bleiben, das war hoffentlich klar. In diesem Punkt wenigstens hatte ich Marie nicht belogen.

Es hätte keinen Zweck vorzuschlagen, wir könnten gemeinsam zu dritt nach oben. Das Boot war zu klein. Es war ein Ein-Mann-Boot, und es würde schon schwierig sein, Bert hineinzupferchen.

Da fiel mir ein, daß ja Berts Boot noch irgendwo vorhanden sein müßte. Ich schnappte mir die Tafel.

„Wieso können wir nicht alle gemeinsam zurück?“ schrieb ich. „Dein Boot muß hier irgendwo vorhanden sein. Wenn Marie dich unbedingt bei sich haben will, könnte ich ja dein Boot benutzen.

Du könntest nachher wieder herunterkommen, oder gar wir beide, falls die Arbeit es erforderlich erscheinen läßt.“

Mir erschien das als fabelhafte Idee, und sogar Marie schien angetan davon, doch Bert hatte dazu eine oder zwei Fragen. Und nicht unbegründete, wie ich feststellen mußte.

„Der Umwandlungsraum faßt nur einen. Und wenn ich fertig bin, wird es während deiner eigenen Druckminderungsbehandlung Verständigungsschwierigkeiten geben.“

„Du könntest denen doch das ganze Programm erst mal erklären. Und ich könnte als erster drankommen.“

„Ich bin nicht sicher, ob ich es ihnen richtig erklären könnte. Du mußt bedenken, daß ich kein Experte im Fingerwackeln bin.“

„Warum aber könnte ich nicht als erster behandelt werden, während du Anweisungen gibst, welches Boot als erstes angeschlossen wird und dergleichen, bis du selbst an die Reihe kommst?“

„Möglich wäre es. Aber sehen wir uns erst lieber mein Boot an. Es ist schon lange hier unten und wurde hier zu routinemäßigen Arbeiten verwendet.

Wahrscheinlich muß man das Flotations-System überholen. Ich würde nicht riskieren, es großen Druckunterschieden auszusetzen, aber wir werden ja sehen. Verschaffen wir uns erst mal darüber Klarheit.“

Marie hatte unser Gespräch mitgelesen und nickte beistimmend. Unser Rudel machte sich also auf zum Boot.

Er hatte recht. Die Flotations-Flüssigkeit war ausgelaufen. Es war schon seit Monaten unbenutzt, da es hier keine Einrichtungen zur Herstellung des Kohlenwasserstoffs gab, den die Schwimm-Tanks brauchten. Die hier gebräuchlichen Maschinen benutzten dieselbe Art fester Körper von geringer Dichte, die in den Schwimm-Coveralls verwendet wurden. Und um diese in das U-Boot einzuführen, hätte es größerer struktureller Veränderungen bedurft. Das hatte man nicht für der Mühe wert befunden.

„Ich könnte ja eines der hier verwendeten Boote nehmen“, schlug ich vor.


„Das versuch erst, wenn du die Sprache verstehst“, laute te seine Antwort. Das kam mir unsinnig vor. Ein U-Boot bleibt ein solches, und man kennt sich damit aus oder nicht. Aber ein Blick in eines der Boote belehrte mich eines Besseren.

Ich begreife noch immer nicht, warum die Steuereinrichtungen hier so und nicht anders sind. Die physikalischen Gesetze gelten hier unten ebenso wie oben. Aber der Unterschied in der grundlege nden Denkungsart, die mit der merkwürdigen graphischen Sprache Hand in Hand geht, erstreckt sich bis auf Faktoren, an die man mit gesundem Me nschenverstand gar nicht denken würde.

Es sah nun ganz so aus, als müßten die anderen zwei allein nach oben gehen. Bert schien sich damit abzufinden, und sogar ich gewöhnte mich an den Gedanken. Aber als wir wieder bei Marie waren und es ihr beibrachten, hatte sie wieder eine ihrer brillanten Ideen. Langsam drängte sich mir der Verdacht auf, sie könnte mehr im Sinn haben, als mich bloß an die Oberfläche zu schaffen, aber sie ließ sich nicht in die Karten blicken. Vielleicht auch nur, weil sie mit mir nicht unter vier Augen sprechen konnte.

„In meinen Tanks habe ich ausreichend Schwimmkraft“, sagte sie unvermi ttelt und entschlossen. „Hängt einfach Berts Wrack an meine Schleppvorrichtung, und wir ziehen es mit hoch.

Ihr sagtet doch, der Rumpf könnte den verminderten Druck aushallen.“

Bert schien erschrocken, zweifellos, weil ihm das nicht selbst eingefallen war. Das vermutete ich jedenfalls. Aber er willigte prompt ein. Und damit war die Sache abgemacht. Er schwamm los, um Hilfe für das Abschleppen der Boote zu holen und den Umwandlungsraum vorzubereiten. Ich benutzte seine Abwesenheit und schrieb für Marie eine Mitteilung auf.

„Du scheinst dich in Bert getäuscht zu haben. Er hat die Probe bestanden, als er so prompt auf deinen Vorschlag einging.“

„Das habe ich auch gemerkt…“

Ich wartete auf einen weiteren Kommentar, aber es kam keiner. Ich hätte eigentlich wissen müssen, daß keiner zu erwarten war. Und als sie wieder etwas äußerte, war ein gänzlich anderes Thema an der Reihe, dachte ich.

„Vergiß nicht, die Poller zum Befestigen der Taue sehr sorgfältig nachzusehen.“

Ich nickte erstaunt. Das war eine Routinesache und bedurfte nicht eigens der Erwähnung.

„Und auch die Taue. Die sind neuer.“ Ich gab schweigend mein Einverständnis und wunderte mich und faßte auch ein wenig Hoffnung. Alles was von Marie kam und nach Interesse an meinem Wohlergehen klang, ließ mich hoffen. Ich hinkte noch immer meilenweit hinter ihren Überlegungen her, weil ich nicht von derselben Sammlung von Vorurteilen ausging. So wollte sie es wohl, schätze ich. Da wechselte sie wieder das Thema und fragte mich über die Leute aus, die neben mir im Wasser trieben.

„Was ist mit deinen Freunden? Ist die Dame einer der Gründe, warum du die Luftatmung aufgegeben hast?“

„Nein!“ schrieb ich mit Nachdruck. „Meines Wissens sah ich sie vor meiner Umwandlung gar nicht.“ Ich begriff nicht, warum Marie lachte. „Ich kann euch nicht miteinander bekannt machen, weil ich ihren Namen nicht kenne. Bei dieser Sprache kann man sich ja nicht vorstellen, wie ein Personenname aussieht. Vielleicht gibt es hier gar keine Namen.“

Zum erstenmal lachte sie hier unten.

„Ach, deswegen bist du also hier geblieben! Nein, mach dir nicht die Mühe, zu betonen, daß du bis vor kurzem von der Sprache keinen Schimmer hattest. Ich weiß es ohnehin. In deinen Augen sind die hiesigen Sprachbesonderheiten gewiß eine Empfe hlung.“


Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Sie hatte völlig recht. Eines der größten Ärgernisse meines Lebens war hier unten bedeutungslos. Marie ließ mich nicht aus den Augen und las in meiner Miene wie in einem offenen Buch. Und jetzt lachte sie noch lauter als vorhin. In dieser Umgebung klang es nicht wie Gelächter, unterschied sich aber von ihrem normalen Sprechton so stark, daß meine Begleiter aufmerksam wurden. Sie sahen abwechselnd zum Boot und zu mir und konnten sich keinen Reim auf die Situation machen.

Marie hatte recht. Falls ich aus irgendeinem Grund hier unten bleiben sollte…

Diesen Gedanken unterdrückte ich sofort. Wohin Marie ging, dahin wollte ich früher oder später auch gehen.

Загрузка...