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Die Uhr zeigte an, daß ich gute acht Stunden gepennt hatte. Ich erwachte mit der Überzeugung, daß Pläneschmieden sinnlos wäre, ehe ich nicht herausbekommen hatte, wie diese Menschen hier existieren konnten, was man mit mir für den Fall meines Hierbleibens vorhatte, und ganz besonders, wie es mir ergehen würde, falls ich mich doch zur Rückkehr entschloß, nachdem ich zunächst meine Einwilligung zum Bleiben gegeben hatte und einer entspreche nden Behandlung unterzogen worden war.

Bert hatte mir klargemacht, daß er es mir nicht sagen würde, doch hatte er immerhin zugegeben, daß er mir ein wenig mehr — als erlaubt — gesagt hatte. Es bestand also die Chance, daß ich selbst dahinterkommen konnte.

Mein Gedächtnis gilt als verläßlich. Was aber hatte er gesagt? Und was konnte von Bedeutung sein?

Am auffallendsten war seine Bemerkung, daß er nicht Wasser atme. In jenem Satz war noch etwas vorgekommen — was war es nur? — , „daß die Folgerung sich in zwei Punkten irre.“ Was konnte das nur bedeuten?

In grammatikalischer Hinsicht war der einleuchtendste Sinn des ersten Satzes jener, daß die uns umgebende Flüssigkeit kein Wasser war. War dies möglich? Und wenn ja, gab es dafür andere Beweise.

Beide Male ja. Es gibt viele Flüssigkeiten, die sich mit Wasser nicht vermischen — im allgemeinen nichtpolare Flüssigkeiten. Kohlenstofftetrachloride und sämtliche öle, um die bekanntesten zu nennen.

Wenn dies aber eine solche Flüssigkeit war, dann mußte sie zumindest die Dichte des Wassers aufweisen, wenn nicht gar eine größere Dichte. Also nicht die gewöhnlichen Öle. Auch nicht Kohlenstofftetrachlorid, da dies sehr giftig ist. Die Dichte mußte hoch sein, weil es zwischen hier und dem Ozean keine Tür und auch kein Ventil gab, und Öl wäre längst an die Oberfläche getrieben und entdeckt worden.

Auf dieser Grundlage mußte sich die Zwischenschicht zwischen dem Wasser und meiner hypothetischen Flüssigkeit höchstwahrscheinlich am Eingang befinden. Meine Erinnerung kam der Idee zu Hilfe.

Als der Tank die Ebene des Schachteinganges erreicht hatte, wurde der Ballast vermehrt — eine Notwendigkeit, wenn die neue Flüssigkeit dichter war als Wasser und der Tank in letzterem kaum sinken konnte. Auch die Schwimmer hatten den Ballast vergrößert — natürlich, die Werkzeugbehälter. Wenn es sich um Werkzeuge handelte, warum hatte man sie auf dem Heimweg vom Meeresgrund an sich genommen? Falls aber draußen nur Erholungsgebiet war und man die Werkzeuge nur im Inneren benutzte, warum blieben sie nicht an dem Ort, wo sie gebraucht wurden? Wäre genügend Platz im Tank vorhanden gewesen, hätte ich mir selbst einen Tritt versetzt, weil ich nicht früher dahintergekommen war — oder vielmehr, weil ich den Zweifeln, die ich zu jenem Zeitpunkt gehabt hatte, nicht nachgegangen war.

Schön und gut, erste Arbeitshypothese. Wir befinden uns in einer nichtpolaren, nichtgiftigen Flüssigkeit, eine Spur dichter als Wasser. Ich glaube zu durchschauen warum, aber wir wollen nichts überstürzen.

Nun kam also der zweite Punkt, in dem meine Analyse sich geirrt hatte.

Die Menschen atmeten kein Wasser, wie Bert sagte — weil sie sich nicht im Wasser befanden und weil sie gar nicht atmeten. Ich kam mit dieser Tatsache immer noch nicht zurecht, doch die Logik marschierte munter weiter.

Die grundlegende Idee war ureinfach. Wenn die Menschen nicht atmeten, brauchten sie in ihren Lungen kein Gas. Und wenn sie kein Gas in den Lungen hatten, machten ihnen Druckunterschiede nichts aus. Nun, sehen wir uns das genauer an. Man mußte also auch Mittelohren und Nebenhöhlen mit Flüssigkeit füllen. Wenn die Flüssigkeit ungefähr dieselbe Kompressionsfähigkeit hatte wie Wasser (Frage: warum wurde nicht Wasser benutzt? Für spätere Überlegung vorgemerkt), dann brachte eine Veränderung der Tiefe keine sichtbare Volumensveränderung in irgendeinem Teil des Körpers mit sich.

Ein paar Einzelheiten fehlten noch. Angeno mmen, man kam ohne Atmen aus, wie wurde das bewerkstelligt?

Nun, warum atmet man denn eigentlich? Um Sauerstoff ins Blut zu bekommen. Gibt es einen Ersatz für Sauerstoff? Ein kategorisches Nein.

Element Nummer acht ist das eine und einzige oxydierende Agens, auf das der menschliche Stoffwechsel eingestellt ist — und in diesem Zusammenhang ist „eingestellt“ der beste Ausdruck.

Muß aber Sauerstoff als Gas aufgenommen werden? Vielleicht nicht unbedingt. Falls meine Schulweisheit mich nicht im Stich läßt, ist das Hämoglobin nur an O2-Molekülen interessiert, nicht an Oxyd— oder Peroxydionen oder Ozon. Aber bis zu dem Zeitpunkt, da das Zeug in das Hämoglobin übergeht, sind die anderen immerhin denkbar. Als erstes kommt einem etwa Eß— oder Trinkbares in den Sinn. Konnte man etwas dem Magen zuführen, das Oxygenmoleküle freisetzte? Sicherlich. Es gab immerhin Wasserstoffperoxyd. Der freigesetzte Sauerstoff ging nicht sofort in diatomische Moleküle über, obgleich dieser Zustand sehr rasch erreicht wurde. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, daß jemand, der seine fünf Sinne beisammen hatte, einen Humpen Peroxyd austrank, und das aus me hreren Gründen, doch schien mir das Prinzip bislang nicht anfechtbar.

Konnte der Sauerstoff vom Magen in den Blutkreislauf gelangen? Nicht direkt, doch konnte er den Weg der anderen Nahrungsmittel nehmen. In den Dünndarm und durch die Darmzotten. Ich erinnerte mich dunkel, daß die Oberfläche hier viel weniger absorptionsfähig ist, als in den Lungen, doch unter dem Druck in diesen Tiefen stellte dies vielleicht keinen ernsthaften Mangel dar.

Arbeitshypothese zwei lautet daher: diese Menschen essen oder trinken etwas, das allmählich Sauerstoff abgibt. Wenn das Gas unter diesem Druck immer in löslichem Zustand blieb, würde der Körper einer Druckänderung gegenüber relativ indifferent bleiben. Obwohl mein Außenpassagier vor wenigen Stunden doch vielleicht ernste Schwierigkeiten gehabt hatte, nachdem er den ganzen Weg an die Oberfläche mit mir zurückgelegt hatte.


Und wie stand es mit der Ausscheidung von Kohlendioxyd? Kein Problem. Wie üblich durch die Lungen hinaus. In der umgebenden Flüssigkeit löste es sich sofort. Vielleicht war das der Grund, warum die Flüssigkeit kein Wasser war. Möglicherweise benutzte man etwas, das Kohlendioxyd besser aufnehmen konnte, obwohl unter diesem Druck Wasser sicher ebenso gut war. Natürlich spielte bei Körperflüssigkeiten unter gleichem Druck das komplexe Ione ngleichgewicht eher eine Rolle als die einfache Löslichkeit. Vielleicht war sogar eine pH-Steuerung nötig. Das geschah mit Sicherheit innerhalb des Körpers. Das alles schien mir die Unterschiede zwischen Innen und Außen zu verringern.

All das deutete darauf hin, daß man mich für den Fall meines Bleibens vermutlich einer Druckbehandlung unterziehen würde. Irgendwann während dieses Eingriffs würde man mir von der Sauerstoffquelle zu essen oder zu trinken geben. Ja, soweit ich es beurteilen konnte, war das die Hauptsache, abgesehen von kleineren mechanischen Tricks bei der Füllung der Nebenhöhlen und Mittelohren mit Flüssigkeit.

Und wie stand es mit der Rückkehr zu den gewöhnlichen Atemgewohnheiten? Man mußte den Druck wiederherstellen. Die Sauerstoffquelle im Magen — ja, die stellte natürlich eine Schwierigkeit dar. Wenn die noch immer Sauerstoff abgab und der Druck bis fast auf eine Atmosphäre absank — aus. Also dann eben ein supergenaues Timing, indem man den Eingriff genau dann ausführte, wenn der Magensauerstoff im Auslaufen war? Mechanische Hilfen, wie beispielsweise eine künstliche Lunge, während der Zeitspanne zwischen dem Auslaufen der inneren Quelle und dem Einsetzen der natürlichen Atmung? So oder so, allein würde es für mich schwierig sein, falls sich die Notwendigkeit je ergeben sollte.

Jedenfalls konnte ich jetzt versuchsweise Pläne schmieden, mir dabei aber immer vor Augen halten, daß meine Hypothesen möglicherweise grundfalsch waren. Trotzdem gefielen sie mir. Ich hatte das sichere Gefühl, ich würde allerhöchstens ein paar Einzelheiten modifizieren müssen, sobald ich über neue Informationen verfügte. Ein angenehmes Gefühl, solange es andauerte.

Unter den gegebenen Umständen schien es mir am günstigsten, Bert zu sagen, daß ich bleiben wolle um so wenig Zeit als möglich mit dem Aussteigen aus dieser Blase zu vergeuden, damit ich endlich etwas Nützliches beginnen konnte. Meinen eigenen Moralstandard hatte ich mir vor langer Zeit angeeignet — sozusagen mein Treuebekenntnis zur Menschheit geleistet —, so daß es weiter keine Gewissensfrage geben würde, falls man vor meiner Aufnahme irgendeine Erklärung von mir verlangte.

Wahrscheinlich würde es gar nicht dazu kommen.

Diese Dinge hatte man früher viel zu wichtig genommen, damals als die Me nschen politische Differenzen für gefährlicher hielten als Energieknappheit. Logen und ähnliche private Gruppierungen legten noch Wert auf Gelöbnisse und dergleichen, doch auch in diesen Bereichen war das alles nicht mehr so bedeutungsvoll wie früher.

Mir schoß die Frage durch den Kopf, warum meine Gedanken überhaupt in diese Richtung wanderten — mein Plan war zwar nicht ganz astrein, doch diente er einem guten Zweck, und mein Gewissen war unbeschwert. Ich wandte mich flugs dringe nderen Problemen zu.

Einzelheiten mußten warten. Ich würde mir die örtliche Geographie aneignen müssen, insbesondere den Weg zu Maries U-Boot. Weiterhin mußte ich herausbekommen, wie viel Handlungsfreiheit man mir zubilligen würde. Bert schien nach Belieben zu kommen und zu gehen, aber der war schließlich schon seit einem Jahr hier. In diesem Zusammenhang fiel mir ein, daß man vermutlich von mir erwartete, daß ich mir irgendwie meinen Unterhalt verdiente. Falls ich mit der Erkundung der benötigten Einzelheiten und dem Plan, wie ich mich und Marie wieder an die Oberfläche manövrierte, zuviel Zeit verbrauchte, dann würde sich dies wohl nicht vermeiden lassen. Welche Art von Arbeit sowohl hier unten nützlich, als auch von mir zu bewältigen sein würde, das war eine Frage, welche die Zukunft beantworten würde.

Im Augenblick mußte ich auf Bert warten oder nach ihm schicken und ihm Bescheid geben. Abwarten war vermutlich besser. Nur keine Ungeduld an den Tag legen. Er hatte gesagt, er käme des öfteren vorbei und war zweifellos dagewesen, während ich schlief. Früher oder später mußte er mit meinem Erwachen rechnen.

Ich wartete nun ab, wie ein Affe im Zoo — besser gesagt wie ein Fisch im Aquarium.

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