Draußen auf dem Gang war keine Spur von Bert, und ich wagte es nicht, auf eigene Faust auf die Suche zu gehen. Den Weg zu dem ozeannahen Eingang hatte ich noch in Erinnerung. Dorthin schwamm ich nun in der Hoffnung, daß dies für ihn der logischste Warteplatz wäre.
In dem großen Raum traf ich mindestens ein Dutzend Menschen an. In dem dunklen Wasser darüber konnte ich noch mehr Schwimmer, aber leider nur undeutlich sehen. Bert war nicht darunter. Mir blieb nichts übrig, als auf ihn zu warten, was das Hauptprogramm betraf. Aber inzwischen konnte ich gut meine Ortskenntnisse erweitern.
Ich schwamm an die Zwischenschicht heran und zögerte zunächst. Die anderen schwammen hindurch. Ich wollte mir erst ihre Technik näher ansehen, ehe ich es selbst versuchte.
Dabei war es ganz einfach. Man brauchte nur zu einer Leiter zu schwimmen, den Ballastgürtel abzulegen und an einen der zahlreichen Haken zu hä ngen. Nun konnte man durch. Aber alle, die das machten, trugen Helm und Coverall, vermutlich, um die besondere Flüssigkeit in Mund, Ohren und so weiter, zu halten. Möglich, daß Meereswasser in den Lungen schmerzte. Jedenfalls steckte niemand einen unbehelmten Kopf durch die Grenzschicht, und ich entschloß mich, ebenfalls auf Nummer Sicher zu gehen, obwohl ich zunächst keine Gefahr entdecken konnte.
Ich bemerkte, daß ich von einigen beobachtet wurde. Ihre Mienen drückten Besorgnis aus. Eine machte mir Zeichen, die ich natürlich nicht deuten konnte. Sie beobachtete mich, sah, daß ich keine Antwort gab und machte nun für die Umstehenden eine Reihe von flatternden Bewegungen. Dann kam sie zu mir herübergeschwommen. Sie deutete auf das Wasser, sodann auf mich und zog fragend die Brauen hoch. Die Natur ihrer Frage war leicht zu erraten, obgleich das Mädchen selbst mehr Aufmerksamkeit auf sich zog als ihre Handzeichen.
Vielleicht war es dieselbe, die ich draußen schon gesehen hatte, obgleich man nicht sicher sein konnte. In der Gruppe waren mehrere andere, die es ebenso gut hätten sein können. Sie hatte glattes blondes Haar, so kurz geschnitten, daß sich leicht ein Schwimmhelm darüberstülpen ließ. Sie war mittelgroß und hätte außerhalb des Wassers an die hundertzehn Pfund gewogen. Sie trug eine zweiteilige Kombination, die mit einem Coverall keine Ähnlichkeit hatte, aber mehr Flächenschutz bot als ein Bikini. Ihr Gesicht war ganz schmal und ließ keine Schlüsse auf ihre Herkunft zu.
Als Antwort auf ihre Frage oder auf das, was ich für eine Frage hielt, deutete ich mit dem Arm zur Wasseroberfläche, ganz langsam, und beobachtete sie dabei mit hochgezogenen Brauen.
Sie verneinte mit einem Kopfschütteln, verschränkte die Arme vor sich und schüttelte sich ganz drastisch. Das konnte ich natürlich nicht deuten und ärgerte mich über mich selbst, weil mir nicht eingefallen war, daß das Wasser draußen kalt sein würde. Ein nützlicher Hinweis. Es gestattete die Annahme, daß die uns umgebende Flüssigkeit kein guter Wärmeleiter war, sonst hätte ich die Kälte des Meerwassers schon zu spüren beko mmen. Auch ein schlechter Wärmeleiter konnte dieses Medium nicht sein, oder wir hätten mit dem üblichen Rauma nzug-Problem kämpfen müssen, unsere überschüssige Körperwärme loszuwerden.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich weder Hitze noch Kälte gespürt. Nun wünschte ich mir ein Thermometer herbei, damit ich mir ein verläßlicheres und in Zahlen faßbares Bild hätte machen kö nnen.
Ich wies mit ausgestrecktem Finger auf die Grenzschicht und stellte dem Mädchen dieselbe Frage mit den Brauen. Sie zog die Achseln hoch, als wollte sie damit sagen, es sei ja mein Finger.
Ich steckte ihn also durch.
Die Temperatur war durchaus erträglich, aber ich verstand jetzt, warum die Schwimmer in Coveralls steckten. Sicher hätte ich es eine kurze Weile aushalten können, aber im Moment sah ich in einem Test keinen Sinn.
Ich hielt es für nützlicher, mich langsam mit der normalen Verständigungsmethode dieser Menschen vertraut zu machen. Trotz Berts Bemerkungen und meines früheren Versuches durch die Tankwände, erschien es mir möglich, daß es darunter einige Menschen geben könne, die wenigstens eine Ahnung von einer mir bekannten Sprache hatten. Ich zeigte dem Mädchen mein Schreibmaterial. Sie nickte und lächelte den anderen zu, die in der Nähe umherschwammen. Ich schrieb einen kurzen Satz in jeder der mit geläufigeren Sprachen und hielt ihr die Tafel unter die Nase.
Sie besah sich das Geschriebene höflich und gründlich und schüttelte sodann lächelnd den Kopf.
Ich zeigte es den anderen und erntete dieselbe Reaktion. Dann folgte eine längere Unterhaltung in Fingersprache untereinander. Einige, das Mädchen mit eingeschlossen, sahen aus, als hätten sie gern gelacht, wenn es physikalisch möglich gewesen wäre. Dann nahm das Mädchen mir das Schreibzeug aus der Hand und schrieb etwas in ihrer eigenen Schrift.
Der Griffel huschte behände über die Tafel, aber keineswegs in geordneten Linien von einer Seite zur anderen. Von meinem Standpunkt aus sah es eher wie eine Zeichnung aus. Sie brauchte etwa eine halbe Minute, dann gab sie mir das Täfelchen zurück, und ich staunte Bauklötze. Ich staunte wirklich nicht schlecht.
Was sie da vollbracht hatte, läßt sich im Detail nicht beschreiben. Ich kann verbal nur einen allgemeinen Eindruck vermitteln. Es ähnelte einem Elektro-Diagramm. Gerade Linien, meist parallel zum Rand. In den Linien kleine Lücken, wo andere Linien auftrafen. Manchmal waren die Kreuzungspunkte mit Punkten gekennzeichnet. Manchmal wiederum kreuzte eine Linie die andere ohne weitere Kennzeichnung. Da und dort in dem Labyrinth sah man Miniatur-Muster, unglaublich kompliziert in Anbetracht der kurzen Zeit, die sie dafür gebraucht hatte. Das alles ähnelte keinem der elektrographischen Symbole, die mir bekannt waren, aber alles in allem vermittelte es ein vages Gefühl der Vertrautheit. Das ganze Muster wirkte annähernd wie ein Bild, etwas das mir bekannt vorkommen sollte, das ich jedoch nicht imstande war, aus dem Gedächtnis auszugraben. Ich versuchte es als Schaltungs-Diagramm zu deuten, weil es mit einem solchen annähernd Ähnlichkeit hatte, aber damit kam ich nicht weiter. Ich versuchte es als Trick-Zeichnung zu sehen, und kam damit auch nicht weiter. Ich schüttelte den Kopf, wie es das Mädchen auch getan hatte.
Ich löschte nun das Gezeichnete und versuchte es mit ein paar anderen Sprachen, diesmal mit solchen, die ich nicht allzu gut beherrschte. Dabei hoffte ich ja bloß auf ein leises Zeichen des Erke nnens. Vergeblich. Keine Spur. Das war seltsam, da das gute Dutzend Sprachen, das ich damit erfaßt hatte, die Muttersprachen von drei Viertel der Erdbevölkerung darstellte, und darunter auch einige Sprachen waren, die von Gebildeten der ganzen Erde verstanden wurden.
Das Mädchen reagierte auf meinen zweiten Versuch mit einem neuen Versuch ihrerseits. Ich sah, daß das Ergebnis diesmal in Einzelheiten von dem ersten abwich, im großen und ganzen aber ähnlich war. Der Sinn blieb mir ebenso verschlossen. Hätte ich eine Kamera zur Hand gehabt, so hätte ich eine Aufnahme machen können, in der Hoffnung, daß die Skizze etwas mit dem Kraftwerk zu tun hatte, obgleich ich zugeben mußte, daß dies auch bei größtem Optimismus nur eine winzige Chance darstellte.
Aber der Gedanke an Pläne im allgemeinen brachte mich auf eine Idee. Ich löschte das Geschreibsel und zeichnete nun eine kleine Skizze des Raumes, in dem wir uns befanden und von den verschiedenen Gängen, die davon abzweigten, sodann den Raum, in dem Maries Boot lag. Zunächst erfaßte das Mädchen nicht, worum es ging. Ich schwamm daher zu dem Gang, auf dessen Eingang ich zuvor gezeigt hatte, sah nach, ob er gerade verlief, und brachte die passenden Striche an der Zeichnung an.
Jetzt war der Groschen gefallen. Sie nickte nach einer gestenreichen Unterhaltung mit ihren Freunden. Sie warf mir einen „Nawennschon“-Blick zu. Ich gab ihr Tafel und Griffel und machte ihr gestenreich klar, daß ich eine Skizze der ganzen Anlage wollte.
Auch dies wurde verstanden, dessen war ich sicher, aber die gestikulierend geführte Unterhaltung wollte kein Ende nehmen. Ich hoffte, man diskutierte nur die Art und Weise, wie man mir das Wissen übermitteln und nicht, ob man es mir überhaupt weitergeben sollte. Am liebsten wäre mir natürlich ein richtiger Lageplan der Anlage gewesen und nicht nur eine Freihandzeichnung.
Die Auseinandersetzung, falls es eine war, wurde durch Berts Rückkehr beendet. Es war eine Erleichterung, sich verständlich, wenn auch langsam, unterhalten zu können, aber Bert hatte da seine eigene Vorstellung. Er nahm dem Mädchen das Schreibzeug ab und löschte das Geschriebene, ohne einen Blick darauf zu werfen.
„Hast du Marie zur Mitarbeit bewegen können oder hat sie dich sofort mit den übrigen Hiesigen in einen Topf geworfen?“ fragte er.
„Ich glaube, sie räumt mir eine Bewährungsfrist ein“, gab ich zurück. „Aber sie wird sich nur zufrieden geben, wenn sie eine endgültige Nachricht über Joey bekommt.“
„Die können wir ihr nicht geben. Meines Wissens war er nie da.“
„Und ihr habt sein Boot nicht mal irgendwo in der Nähe gesichtet?“
„Darüber liegt keine Meldung vor.“
„Und was ist mit euren Sonar-Einrichtungen?“
„Die wenden wir nur unter besonderen Umstä nden an. Man könnte sie zu leicht orten. Wir sind bereit, uns von der Welt entdecken zu lassen, aber nur für den Fall, daß man von uns wirklich alles in Erfahrung bringen will. Begreifst du noch immer nicht? Wir möchten nicht mit den Energieklau-Typen, hinter denen die Behörde her ist, in einen Topf geworfen werden, und du weißt sehr gut, daß dies genau der Eindruck ist, den die Menschen von uns bekommen, wenn man uns keine Chance für weitere Erklärungen einräumt.“
„Das dürfte stimmen. Es ist der Eindruck, den Marie jetzt hat, und sie scheint ihn nicht aufgeben zu wollen. Ich frage mich, ob da einfache Erklärungen genügen werden.“
„Wenn die Menschen die Erklärungen glauben, genügt es.“ Über die Tiefe dieser Bemerkung ließ ich mich nicht weiter aus.
„Du lieferst Marie seit sechs Wochen Erklärungen, und sie glaubt kein Wort.“
„Nein, das stimmt nicht. Wir wollen seit sechs Wochen mit ihr ins Gespräch kommen, und sie hört gar nicht hin. Das ist ein großer Unterschied. Sie will von nichts anderem reden als von Joey. Ich glaube, der größte Dienst, den du uns und der Behörde erweisen könntest wäre, wenn du sie dazu brächtest, ihre Aufmerksamkeit einer Beschreibung der Gesamtsituation zu widmen.“
Das mußte ich erst verdauen. Einige der Schwimmer hatten sich davongemacht, aber das Mädchen und zwei oder drei andere beobachteten uns noch immer voll Interesse. Sie konnten sich an unserem Geschreibsel nicht sattsehen und guckten uns neugierig über die Schulter. Dabei ergatterte das Mädchen immer den besten Platz. Verglichen mit den meisten Zonen der Erdoberfläche war hier das Benehmen noch reichlich altmodisch.
„Vielleicht hast du recht“, schrieb ich schließlich, nachdem ich das, was er gesagt hatte, mit dem für mich ausgearbeiteten Plan in Einklang gebracht hatte. „Das soll wohl heißen, daß ich mir die ganze Anlage ansehen muß, damit ich mich auf Wissen aus erster Hand berufen kann.“
„Genau. Komm jetzt. Mit dieser Aufgabe kommst du vielleicht um die landwirtschaftliche Betätigung herum, aber du solltest die Farmen wenigstens sehen. Außerdem habe ich Hunger, und bei dir liegt die letzte anständige Mahlzeit sicher schon länger zurück.“
Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Ich folgte ihm, als er auf einen Gang zuschwamm. Das Mädchen und drei andere folgten uns nach dem Austausch von ein paar Handbewegungen.
Wie vorhin erwies es sich als unpraktisch gleichzeitig schreiben und schwimmen zu wollen. So blieb mir wenigstens während des Schwimmens reichlich Zeit zum Überlegen. Sehr konstruktiv waren meine Überlegungen nicht, und über unseren Anmarschweg oder vielmehr Anschwimmweg kann ich nicht mehr sagen, als daß er an die fünfzehn bis zwanzig Minuten dauerte. Es passierte absolut nichts Interessantes und meines Wissens nichts Wichtiges, bis wir einen Eingang erreichten, der nicht so regelmäßig geformt war wie die runden und eckigen, die ich bis jetzt gesehen hatte.
Das Licht auf der anderen Seite war schwächer als in den Tunnels, aber heller als im Ozean jenseits der regelmäßig geformten Eingänge. Ich folgte Bert mit neuerwachtem Interesse und stellte Mutmaßungen über das an, was ich nun zu sehen bekommen würde.