XVI

Zum ersten Mal befand ich mich in einem Tunnel, dessen Schräge spürbar war — der Zug meines Ballastgürtels machte mir die Beurteilung leicht, ob es „hinauf“ oder „hinunter“ ging, als ich diesem Umstand meine ganze Aufmerksamkeit widmete. Es ging mit einer Neigung von sechzig Grad nach unten. Die Tunnelbeleuchtung, das einzig Erkennbare an den Wänden, glitt mit einer Geschwindigkeit an uns vorüber, die anzeigte, daß unserem Tempo mit Pumpen nachgeholfen wurde. Es herrschte eine starke Abwärtsströmung. Ich hätte zu gern gewußt, ob wir auf dem Rückweg dage gen würden anschwimmen müssen. Unmöglich, entschied ich. Entweder, man kehrte die Strömung um, oder wir mußten einen anderen Tunnel benutzen.

Eine Temperaturänderung fiel mir nicht auf, obwohl wir uns, wie ich sehr wohl wußte, einer Wärmequelle näherten. Womöglich gebot es die hier in bezug auf Energieverschwendung herrschende Moral, daß man leistungsmindernde Leckagen peinlich vermied, egal, wie verschwenderisch man nachher mit der gewonnen Energie umging.

Ich konnte nicht annähernd abschätzen, wie weit es hinunterging, bis wir endlich das Steuerzentrum erreichten. Sicher handelte es sich um eine größere Entfernung. Später bekam ich den Lageplan tatsächlich zu Gesicht, doch der von den Zeichnern benutzte seltsame Maßstab wollte mir einfach nicht in den Kopf. Gewiß lag das Kraftwerk so tief, daß auch gepanzerte Anzüge hier keinen Schutz mehr gegen den Druck boten.

Der Raum selbst war so groß, das man kaum bis ans andere Ende sehen konnte. Vielleicht habe ich vergessen zu erwähnen, daß die Flüssigkeit das Licht streute und weiter entfernten Gegenständen ein verschwommenes Aussehen verlieh.

Als Steuerzentrum war der Raum eigentlich erschreckend unkonventionell. An einer Wand sah ich ein Liniengewirr, das sogar ich unschwer als Verteilernetz erkannte. Darunter ein anderes Schema, schwieriger zu erkennen, jedoch von eindeutig vertikaler Orientierung. Ich vermutete, daß es die Flüssigkeitskreise zwischen der tief unten liege nden Wärmequelle, den Umformern und dem oben gelegenen Wärmeabzug darstellte. Eine Wärmemaschine, egal welcher Art, funktioniert nach grundlegenden thermodynamischen Prinzipien. Die Diagramme ähneln einander daher, ob es sich nun um eine Dampfturbine oder um ein Thermoelement handelt.

Entlang dieser Diagramm-Linien waren Meßapparate angebracht, größtenteils vom bekannten Skala-Nadel-Typ, Schalter und Rheostate. Nichts Geheimnisvolles also. Auf den ersten Blick als Steuerzentrum eines Kraftwerks zu erke nnen. Auf den ersten Blick allerdings nur als solches zu erkennen. Um sich hier zurechtzufinden, würde man mit Glück und Geschick einen oder zwei Monate brauchen.

Dreißig bis vierzig Schwimmer, gekleidet und behelmt wie wir trieben in einem gewissen Abstand vor der Instrumentenwand und ließen die Instrumente nicht aus den Augen. Das war ein wenig erstaunlich. Bei einem Kraftwerk dieser Größenordnung hätte ich weniger Operatoren erwartet.

Falls die hier alle nötig waren, um alles von Hand aus zu regeln, dann sprach diese Tatsache nicht für den technischen Wissensstand hier unten — ähnlich wie die scharfe Gürtelschnalle. Ich hoffte stark, daß eventuelle Koordinationsschwächen nur zu Pannen und zu keiner Katastrophe führten. Sicherlich waren Sicherheitssysteme vorhanden, außerdem konnte ich in den Diagrammen so etwas wie Notaggregate entdecken, aber diese Vielzahl an Operatoren verlieh der Anlage einen Anstrich von Laienhaftigkeit. Ich sah genau zu. Die mit uns Gekommenen, sahen ebenso interessiert zu, das spürte ich. Ich hatte den Eindruck, daß sie ebenfalls zum ersten Mal hier waren. Das war gut möglich. Die Bevölkerung konnte sich ja nicht ausschließlich aus Energietechnikern zusammensetzen.


Das Geheimnis war jedoch noch unergründlicher, weil ich wußte, daß auch Bert keiner war. Er hatte zwar wie ich einen allgemeinen technischen Hintergrund, denn beim Aufstöbern von Energieverschwendern geht es ohne entsprechende Ausbildung nicht ab. Aber aus welchem Grund besaß er hier unten Autorität?

Er drehte sich um und verständigte sich mit unserer Begleitung mittels Handbewegungen. Sodann schrieb er für mich eine Mitteilung auf.

„Geh nicht zu nahe heran, damit du die Leute nicht ablenkst. Mehr als die Hälfte sind Praktika nten.“ Jetzt sah die Situation schon besser aus.

„Hier nimmt man die Ausbildung offenbar sehr ernst“, antwortete ich.

„Darauf kannst du dich verlassen. Du wirst auch bald sehen warum. Schwimm umher und sieh dir an, was du willst — du weißt genügend Bescheid, so daß ich dich nicht ständig im Auge behalten muß wie die anderen. Komm bloß keinem Operator in die Quere.“

Ich nickte. Die nächste halbe Stunde verwandte ich so, wie er es mir empfo hlen hatte. Ich studierte das gesamte Schaltbrett so eingehend wie nur mö glich. Mit der Zeit wurde mir alles immer besser verständlich. Der erstaunliche Grund dafür war die Tatsache, daß die Meßgeräte und Kontrollschalter mit ganz gewöhnlichen Zahlen gekennzeichnet waren. Das hatte ich nicht erwartet, nachdem ich gesehen hatte, welche Art von Schrift hier verwendet wurde.

Leider standen die Zahlen allein da — ohne Angaben wie Volt oder Megabar. Trotzdem ließ die Lage eines jeden Instrumentes auf dem Diagramm einen Schluß auf seinen Zweck zu. Nach einer knappen Stunde hatte ich das Gefühl, ich würde mich in dem System leidlich auskennen.

Zehn Schächte führten zu den Wärmeabsorbern an der Quelle — höchstwahrscheinlich einer Magma-Höhle. Die Einzelheiten der Absorber selbst konnte ich der Schema-Tafel nicht entnehmen, doch hatte ich von vulkanischen Anlagen genügend Ahnung, um es mir ungefähr vorstellen zu können.

Ich hatte einmal in Java eine Untersuchung geleitet.

Dort war Wasser das Arbeitsmedium gewesen. Die Destillieranlage, die Meerwasser aufnahm und es entsalzte, die elektrolytischen Einheiten, die aus den gewonnenen Salzen Alkalimetalle zogen, und die Ioneneinspritzanlage waren aus der Planskizze ersichtlich.

Die MHD-Umwandler, zehn an der Zahl, wurden in einem gewöhnlichen Kühler entlüftet, der offe nbar mit Meerwasser gekühlt wurde. Er diente nicht als Vorheizung für die Destillieranlage, was in meinen Augen eine Verschwendung war.

Ohne Einheitsangaben an den Instrume nten konnte ich mir über die gewonnene Netzspannung keine Klarheit verschaffen, doch mußte es sich um Megawatt handeln.

Ich hatte das Geräusch, vor dem Bert mich gewarnt hatte, noch nicht wahrgenommen. Das hatte ich gewiß dem Anzug zu verdanken. Ich riskierte es und lockerte ganz leicht die Manschette zwischen Ärmel und Handschuh. Ja, da war ein Geräusch, ein schweres Dröhnen wie von einer großen Orgelpfeife und zweifellos derselben physikalischen Ursache zu verdanken. Es verursachte keine Beschwerden, doch ich konnte mir denken, daß es unklug gewesen wäre, den schützenden Anzug abzulegen. Ich fragte mich, wie nahe wir den Dampf-Kanälen wohl waren, welche die Quelle des Gesummes sein mußten. Noch neugieriger war ich auf die Art und Weise ihres Funktionierens, aber im Augenblick mußte ich mich ohne Einzelheiten zufrieden geben.

Die Schwimmer, die zusammen mit Bert und mir gekommen waren, hielten sich vom Schaltbrett weiter entfernt, vermutlich auf Grund seiner Anordnungen. Eine Weile sahen sie zu, dann aber fingen sie, nach ihren Handbewegungen zu urteilen, ein Gespräch an. Sie erinnerten mich stark an Schulkinder, denen der vorgeführte Film langweilig wird. Wieder fiel mir auf, wie seltsam es doch war, daß Bert Anordnungen geben, ja sogar als Führer fungieren konnte.

Er selbst kümmerte sich um die Leute, die mit uns gekommen waren, nach den ersten paar Minuten überhaupt nicht mehr. Er hatte mir mit einer Geste zugewunken, die ich dahingehend deutete, daß er in Kürze zurück sein wolle. Und schon war er fortgeschwommen. Ich widmete mich weiter der Betrachtung des Schaltbrettes.

Das Mädchen und ihre Begleiter blieben mir auf den Fersen, kamen aber den Anlagen und den Operatoren nicht so nahe wie ich. Ihr Interesse galt augenscheinlich mehr mir als der Technik. Im Falle des Mädchens war mir dies verständlich, und ich nahm an, die Männer wollten eben dem Mädchen nicht von der Seite weichen.

Schließlich war ich mit meiner Inspektion fertig und wurde ungeduldig, weil Bert noch nicht wieder da war. Fragen konnte ich nicht. Er hatte das Schreibzeug mitgenommen, überdies hatte sich die Fruchtlosigkeit dieser Methode bereits gezeigt. Nun war wohl der geeignete Moment für die ersten Lernversuche der hier üblichen Zeichensprache gekommen.


Ich schwamm zu der gegenüberliegenden Wand, gefolgt von den anderen, und begann etwas, das ich für eine Sprachlektion nach Standard-Methode hielt. Ich deutete auf einzelne Dinge und versuchte die anderen dazu zu bringen, ihre Zeichensprache dafür anzuwenden.

Zu sagen, daß es schlecht ging, wäre eine Untertreibung. Es ging so miserabel, daß ich nicht mal sicher sein konnte, ob sie kapiert hatten, was ich wollte. Sie vollführten jede Menge Hand-, Armund Fingerbewegungen, mir gegenüber als auch untereinander, doch ich konnte nicht unterscheiden, ob sie damit die Namen der gezeigten Dinge meinten oder ob es Symbole für die Verben waren, die ich ausführte. Möglich, daß mir die subtileren Bewegungen und Ausdrucksweisen entgingen, aber ich konnte kein Schema entdecken, das genügend oft wiederholt wurde, damit ich es mir hätte me rken können. Das war die frustrierendste Erfahrung, die ich seit — na, seit einigen Stunden gemacht hatte.

Als Bert schließlich wieder aufkreuzte und sah, was da vor sich ging, bekam er wieder einen Beinahe-Lachanfall.

„Das habe ich auch versucht“, schrieb er mir,

„damals, als ich hier herkam. Ich galt immer als sprachbegabt, aber hiermit bin ich nicht vorangekommen. Man schafft es nur, wenn man als kleines Kind anfängt, glaube ich.“

„Du mußt es aber doch ein wenig erlernt haben.“

„Ja, an die fünfzig Grundsymbole — schätzungsweise.“

„Du hast mit den Leuten hier gesprochen. Ich hatte den Eindruck, du gabst ihnen Anweisungen.“

„Ja, allerdings reichlich oberflächlich. Meine paar Dutzend Geste n beinhalten die gebräuchlichsten Verben, aber auch die beherrsche ich nicht besonders gut. Drei Viertel der Leute verstehen mich überhaupt nicht — dieses Mädchen gehört noch zu den besten. Und verstehen kann ich sie nur, wenn sie ihre Gesten ganz langsam machen.“

„Wie kommt es dann, um alles in der Welt, daß du ihnen Anweisungen geben kannst? Und wie stimmt das mit deiner Behauptung überein, hier könne niemand einem anderen etwas befehlen?“

„Da habe ich mich wohl falsch ausgedrückt. Die Regierung hier ist nicht sehr autoritär, doch werden die Anweisungen des Rates meist befolgt, wenigstens in Angelegenheiten, die auch nur im entferntesten mit der physikalischen Erhaltung der Anlage zu tun haben.“

„Und dieser Rat hat dich mit Autorität ausgestattet? Warum das? Heißt das, daß Marie mit ihrer Annahme recht hat, du hättest der Behörde und der Menschheit den Rücken gekehrt und wärest für immer zu diesen Verschwendern übergelaufen?“

„Nur eine Frage auf einmal“, kritzelte er hastig.

„Der Rat hat mich eigentlich nicht mit besonderer Autorität ausgestattet. Meine Vorschläge mache ich als Mitglied.“

Ich nahm die Tafel, löschte das Geschriebene, wobei ich ihn nicht aus den Augen ließ. Schließlich schrieb ich: „Bitte noch einmal. Ich muß mich verlesen haben.“

Er grinste und wiederholte den Satz. Meine Miene mußte ihn wohl ernüchtert haben. Er schrieb weiter.

„Ich werde hier nicht“ — dick unterstrichen — „für immer bleiben, egal, was Marie glaubt und ungeachtet dessen, was ich dir früher sagte. Es tut mir leid, daß ich dich anlügen mußte. Ich bin hier, um eine Aufgabe zu erfüllen. Was nachher kommt, weiß ich nicht. Wie du weißt, bist du in derselben Lage.“ In diesem Punkt konnte ich ihm nicht recht geben. „Ich gehöre dem Rat aufgrund meiner Sprachbegabung und meines allgeme inen Hintergrunds an.“ Ich war so sehr damit beschäftigt, daraus einen Sinn zu filtern, daß mir beinahe der nächste Satz entging. Ich mußte Bert aufhalten, als er das Geschriebene löschen und weiterschreiben wollte. „Ich habe meine Meinung geändert und werde dich weiter in die Einzelheiten dieser Anlage einweihen. Du darfst dir alles ansehen und kannst sodann selbst entscheiden, wie und ob du dein Wissen anwenden willst, wenn du Marie zu einer Entscheidung überredest. Ich habe natürlich meine Meinung darüber, wie es angewandt werden sollte, aber du hast das Recht auf eigene Meinung. Komm jetzt. Ich möchte, daß du den Ingenieur kennen lernst, der hier die Entwicklung überwacht.

Er schwamm davon, und ich ihm hinterher, die anderen im Schlepptau. Ich hatte kein Verlangen zu sprechen, auch wenn es möglich gewesen wäre. Ich versuchte noch immer dahinterzukommen, wie ein Mensch der den hiesigen Wortschatz beherrschte wie ein leicht zurückgebliebener Zweijähriger, sich eine Position aufgrund seiner sprachlichen Fähigkeiten ergattert haben konnte.

Zweifellos ist dem geneigten Leser die Sache bereits klar, da ich alles klar und deutlich zu berichten trachtete, aber für mich war es einfach zuviel. Ich war hinter den Tatsachen so weit zurückgeblieben, daß mir jemand eine n enormen Schrecken einjagen konnte, den der aufmerksame Leser vielleicht schon längst erwartet hat. Wir schwammen in eine Art Büro am anderen Ende des Steuerzentrums, und da sah ich vor einem Mikrofilmprojektor schwimmend, taub seiner Umgebung gegenüber, meinen guten Freund Joey Elfven.“

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