5 Eine Geschichte über Blut

Rand überquerte den zertrampelten Rasen; Banner flatterten vor ihm, Zelte umgaben ihn, Pferde wieherten am entgegengesetzten westlichen Lagerrand. In der Luft hingen die Gerüche eines effizienten Kriegslagers: Rauch und der Duft von kochendem Eintopf waren viel stärker als der gelegentliche Gestank von Pferdemist oder ungewaschenen Leibern.

Basheres Männer betrieben ein ordentliches Lager, beschäftigten sich mit den Hunderten kleinen Aufgaben, die ein Heer erst funktionieren ließen: Schwerter wurden geschärft, Leder geölt, Sättel geflickt, Wasser vom Bach geholt. Links auf der anderen Seite übte man Angriffe, drüben auf dem freien Platz zwischen Zeltreihen und den kümmerlichen Bäumen, die an dem Bach wuchsen. Die Männer hielten funkelnde Lanzen waagerecht, während ihre Pferde den schlammigen Boden in einer breiten Schneise zertrampelten. Die Manöver trainierten nicht nur ihre Fähigkeiten, sie sorgten auch dafür, dass die Pferde bewegt wurden.

Wie immer umgab Rand eine Schar Leute. Töchter waren seine Leibwächter, und die Aiel beobachteten die Soldaten aus Saldaea mit Argwohn. Neben ihm gingen Aes Sedai. Sie waren nun immer um ihn herum. Das Muster hatte keinen Platz für seine einstige sture Entscheidung, alle Aes Sedai auf eine Armlänge Abstand zu halten. Es webte, wie es wollte, und die Erfahrung hatte gezeigt, dass er diese Aes Sedai brauchte. Was er wollte, spielte keine Rolle mehr. Das begriff er mittlerweile.

Viele der Aes Sedai in seinem Lager hatten ihm die Treue geschworen, aber das war nur ein kleiner Trost. Jeder wusste, dass Aes Sedai Eide auf ihre eigene Weise befolgten, und sie würden entscheiden, was darunter zu verstehen war.

Elza Penfell - die ihn heute begleitete - gehörte zu jenen, die den Treueid geleistet hatten. Sie war eine Grüne Ajah und hatte ein Gesicht, das man durchaus als ansehnlich bezeichnen konnte, wäre da nicht diese Alterslosigkeit gewesen, die sie als Aes Sedai auswies. Für eine Schwester war sie angenehm, wenn man einmal die Tatsache außer Acht ließ, dass sie bei seiner Entführung geholfen und ihn mehrere Tage lang in eine Kiste gesperrt hatte, aus der man ihn nur gelegentlich herausholte, um ihn zu schlagen.

In seinem Hinterkopf knurrte Lews Therin.

Das lag in der Vergangenheit. Elza hatte den Treueid geleistet. Das reichte aus, um sie hinzuzuziehen. Die andere Frau, die ihm heute zur Hand ging, war weniger berechenbar; sie gehörte zu Cadsuanes Gefolge. Corele Hovian - eine schlanke Gelbe mit blauen Augen, ungebändigtem Haar und einem allgegenwärtigen Lächeln - hatte nicht geschworen, ihm zu gehorchen. Trotzdem neigte er dazu, ihr zu vertrauen, da sie einmal versucht hatte, ihm das Leben zu retten. Sein Überleben hatte er allein ihr, Samitsu und Damer Flinn zu verdanken. Eine der beiden Wunden in seiner Seite, die nicht heilen wollten - ein Geschenk von Padan Fains verfluchtem Dolch - war noch immer eine Erinnerung an diesen Tag. Der ständige Schmerz von schwärendem Bösen überlagerte den gleichwertigen Schmerz der darunter liegenden Verletzung, die er vor so langer Zeit beim Kampf gegen Ishamael davongetragen hatte.

Bald würde eine dieser beiden Wunden - oder vielleicht auch beide - sein Blut auf die Steine des Shayol Ghul vergießen. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn töten würden oder doch etwas anderes. Zog man die vielen verschiedenen Faktoren in Betracht, die darum wetteiferten, sein Leben zu beenden, hätte nicht einmal Mat gewusst, worauf er sein Geld hätte setzen sollen.

Sobald er an Mat dachte, wirbelten Farben durch Rands Sichtfeld und verfestigten sich zu dem Bild eines drahtigen Mannes mit braunen Augen, der einen breitkrempigen Hut trug und vor einer kleinen Gruppe Soldaten würfelte. Mat grinste und schien sich vor ihnen zu produzieren, was nicht ungewöhnlich war, auch wenn nach seinem Wurf keine Münzen die Besitzer wechselten.

Die Visionen kamen immer dann, wenn Rand an Mat oder Perrin dachte, und er hatte aufgegeben, sie zu verdrängen. Er wusste nicht, warum die Bilder erschienen; vermutlich reagierte seine Eigenschaft als Ta'veren mit den anderen beiden Ta'veren aus seinem Heimatdorf. Was auch immer der Grund dafür war, er benutzte es. Nur ein weiteres Werkzeug. Anscheinend war Mat noch immer mit der Bande zusammen, lagerte aber nicht länger in den Wäldern. Aus diesem Sichtwinkel war es schwer zu sagen, aber er schien irgendwo in der Nähe einer Stadt zu sein. Zumindest war da eine große Straße zu sehen. Die kleine dunkelhäutige Frau, die bei Mat gewesen war, hatte er nun schon eine Weile nicht mehr gesehen. Wer war sie? Wo war sie hin?

Die Vision verblasste. Hoffentlich würde Mat bald wieder zu ihm stoßen. Er würde ihn und sein taktisches Geschick am Shayol Ghul brauchen.

Einer von Basheres Quartiermeistern, ein stämmiger Kerl mit krummen Beinen und buschigem Schnurrbart, sah ihn kommen und näherte sich ihm mit schnellen Schritten. Er winkte abweisend; im Moment hatte er kein Interesse an Proviantberichten. Der Quartiermeister salutierte sofort und zog sich zurück. Einst hätte es ihn überrascht, wie schnell man ihm gehorchte, aber das war vorbei. Schließlich war es richtig, dass Soldaten gehorchten. Denn er war ein König, auch wenn er die Krone der Schwerter im Augenblick nicht trug.

Er passierte den Rasen, der mit Zelten und Pferden gefüllt war, dann verließ er das Lager, ging an dem nicht fertig gestellten Erdwall vorbei. Hier säumten Kiefern den leicht abschüssigen Hang. Zwischen eine Baumgruppe direkt rechts von ihnen gezwängt befand sich das Reisegelände, ein rechteckiges Stück Boden, das man mit Seilen markiert hatte, um über eine sichere Stelle für Wegetore zu verfügen.

In diesem Augenblick hing eines von ihnen in der Luft, ein Durchgang zu einem anderen Ort. Eine kleine Gruppe traf gerade ein und trat auf den mit Kiefernzapfen übersäten Boden. Rand konnte die Gewebe erkennen, die das Tor erschufen. Es war mit Saidin errichtet worden.

Viele der Neuankömmlinge trugen die farbenprächtige Tracht des Meervolks - trotz der kühlen Frühlingsluft hatten die Männer alle nackte Oberkörper, und die Frauen trugen locker fallende helle Blusen. Alle trugen voluminöse Hosen, alle hatten Nasen und Ohren durchstochen, und die Komplexität des Schmucks verkündete den jeweiligen Status.

Während Rand auf das Meervolk wartete, trat einer der Soldaten, die das Reisegelände bewachten, auf ihn zu und übergab ihm ein versiegeltes Schreiben. Der Brief würde durch einen Asha'man-Kurier von einem seiner Leute im Osten gebracht worden sein. In der Tat stammte er von Darlin, dem König von Tear. Rand hatte ihm den Befehl gegeben, ein Heer aufzustellen und es für den Einmarsch in Arad Doman vorzubereiten. Das war nun schon seit einiger Zeit erledigt, und Darlin fragte wieder einmal nach seinen nächsten Befehlen. Konnte denn keiner einfach mal das tun, was man ihm auftrug?

»Schickt einen Boten«, sagte er zu dem Soldaten und steckte den Brief ungeduldig weg. »Sagt Darlin, er soll weiter rekrutieren. Ich will, dass er jeden Tairener einzieht, der ein Schwert halten kann, und er soll sie entweder zum Kampf ausbilden oder sie in den Schmieden an die Arbeit stellen. Die Letzte Schlacht ist nah. Sehr nah.«

»Ja, mein Lord Drache«, sagte der Soldat und salutierte.

»Richtet ihm aus, dass ich einen Asha'man schicke, wenn ich will, dass er aufbricht«, fuhr Rand fort. »Ich will ihn noch immer in Arad Doman einsetzen, aber zuerst muss ich wissen, was die Aiel entdeckt haben.«

Der Soldat verneigte sich und ging. Rand widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Meervolk. Eine Frau kam auf ihn zu.

»Coramoor«, sagte sie und nickte ihm zu. Harine war eine hübsche Frau in den mittleren Jahren, deren Haar von weißen Strähnen durchzogen wurde. Ihre Bluse war hellblau, bunt genug, um einen Kesselflicker zu beeindrucken, und sie trug an jedem Ohr fünf große Goldringe sowie eine Nasenkette mit goldenen Medaillons.

»Ich habe nicht erwartet, dass Ihr uns persönlich willkommen heißt«, fuhr Harine fort.

»Ich habe Fragen, die nicht warten können.«

Harine sah bestürzt aus. Sie war die Botschafterin des Atha'an Miere beim Coramoor, was ihr Name für Rand war. Sie waren wütend auf ihn, weil er wochenlang auf eine Begleiterin vom Meervolk verzichtet hatte - er hatte versprochen, ständig jemanden von ihnen in seinem Gefolge mitzuführen -, aber Logain hatte von ihrem Zögern berichtet, Harine zurückzuschicken. Warum? War sie in einen höheren Rang aufgestiegen, der sie zu wichtig machte, um ihm zu dienen? Konnte jemand überhaupt zu wichtig sein, um dem Coramoor nicht zu dienen? Vieles vom Meervolk blieb ihm verschlossen.

»Deine Fragen werde ich beantworten, wenn ich es kann«, sagte Harine vorsichtig. Hinter ihr brachten Träger den Rest ihrer Besitztümer durch das Wegetor. Flinn stand an der Seite und hielt das Tor aufrecht.

»Gut«, sagte Rand und ging vor ihr auf und ab. Manchmal war er so müde, so abgrundtief müde, dass er wusste, dass er niemals stehen bleiben durfte. Niemals. Tat er es, würden seine Feinde ihn finden. Entweder das, oder seine geistige und körperliche Erschöpfung würden ihn einholen.

»Verratet mir eines«, verlangte er zu wissen, während er ging. »Wo sind die versprochenen Schiffe? Die Domani verhungern, während im Osten das Getreide verfault. Logain sagte, ihr hättet euch mit meinen Forderungen einverstanden erklärt, aber ich habe kein Schiff gesehen. Das ist schon Wochen her!«

»Unsere Schiffe sind schnell«, sagte Harine gereizt, »aber es ist ein weiter Weg - und wir müssen durch Gewässer, die von den Seanchanern kontrolliert werden. Die Invasoren waren sehr eifrig mit ihren Patrouillen, und unsere Schiffe mussten bei mehreren Gelegenheiten umkehren und die Flucht ergreifen. Habt Ihr erwartet, wir könnten Eure Nahrungsmittel augenblicklich herbeischaffen? Vielleicht hat Euch die Bequemlichkeit dieser Wegetore ungeduldig gemacht, Coramoor. Wir müssen uns mit den Realitäten der Schifffahrt und des Krieges abmühen, selbst wenn das für Euch nicht gilt.«

Ihr Tonfall deutete an, dass er sich in diesem Fall mit den Realitäten abfinden musste. Er schüttelte den Kopf. »Ich erwarte Ergebnisse, keine Verzögerungen. Es mag euch widerstreben, unsere Vereinbarung erfüllen zu müssen, aber ich akzeptiere keine Verzögerungen, nur um etwas zu beweisen. Weil ihr so langsam seid, sterben Menschen.«

Harine sah aus, als hätte man sie geohrfeigt. »Sicherlich will der Coramoor nicht andeuten, wir würden uns nicht an unsere Abmachung halten.«

Das Meervolk war stur und stolz, vor allem die Herrinnen der Wogen, und erinnerte ihn an die Aes Sedai. Er zögerte. Ich sollte sie nicht so beleidigen, nur weil ich wegen anderer Dinge frustriert bin. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, das wollte ich nicht andeuten. Sagt mir, Harine, hat man Euch wegen unseres Handels schlimm bestraft?«

»Man hat mich nackt an den Knöcheln aufgehängt und geschlagen, bis ich nicht mehr schreien konnte.« Sobald die Worte ihren Mund verlassen hatten, riss sie entsetzt die Augen auf. Beeinflusst von Rands ta'veren sagten Leute oft Dinge, die sie gar nicht zugeben wollten.

»So schlimm?« Er war ehrlich überrascht.

»Nicht so schlimm, wie es hätte sein können. Ich behalte meine Position als Herrin der Wogen für meinen Clan.«

Aber es war offensichtlich, dass sie einen großen Gesichtsverlust erlitten oder sich großes Toh aufgeladen hatte oder wie auch immer das verdammte Meervolk seine Ehre nannte. Selbst wenn er nicht anwesend war, verursachte er Schmerzen und Leid!

»Ich freue mich, dass Ihr zurückgekehrt seid«, zwang er sich zu sagen. Kein Lächeln, aber einen freundlicheren Tonfall. Das war das Beste, zu dem er imstande war. »Ihr habt mich mit Eurer Unerschütterlichkeit beeindruckt, Harine.«

Sie nickte dankbar. »Wir werden unsere Abmachung einhalten, Coramoor. Seid unbesorgt deswegen.«

Etwas anderes fiel ihm ein, eine der ursprünglichen Fragen, wegen der er gekommen war. »Harine. Ich möchte Euch eine möglicherweise heikle Frage über Euer Volk stellen.«

»Ihr dürft fragen«, sagte sie vorsichtig.

»Wie geht das Meervolk mit Männern um, die die Macht lenken können?«

Sie zögerte. »Das ist eine Angelegenheit, die Küstenbewohner nichts angeht.«

Er erwiderte ihren Blick. »Wenn Ihr mir die Frage beantwortet, werde ich Euch im Gegenzug auch eine Frage beantworten.« Mit den Atha'an Miere kam man am besten zurecht, wenn man sie nicht drängte und einzuschüchtern versuchte, sondern ihnen ein Geschäft anbot.

Harine zögerte noch immer. »Wenn Ihr mir zwei Fragen beantwortet«, sagte sie dann, »werde ich antworten.«

»Ich gestatte Euch eine Frage, Harine«, sagte er und hob einen Finger. »Aber ich verspreche Euch, so wahrheitsgetreu zu antworten, wie ich kann. Das ist ein fairer Handel, und das wisst Ihr. Im Augenblick habe ich nur wenig Geduld.«

Harine berührte die Lippen mit dem Finger. »Einverstanden, gesehen vom Licht.«

»Einverstanden«, sagte Rand. »Gesehen vom Licht. Beantwortest du jetzt meine Frage?«

»Männer, die die Macht lenken können, können sich entscheiden«, sagte Harine. »Entweder treten sie mit einem Stein in der Hand, der auch an ihre Beine gebunden ist, vom Bug ihres Schiffes, oder sie lassen sich ohne Essen und Wasser auf einer unfruchtbaren Insel aussetzen. Das Letztere wird als die weniger ehrenvolle Möglichkeit betrachtet, aber ein paar wählen sie, um noch eine Weile länger zu leben.«

Im Grunde unterschied sich das kaum von dem, was sein Volk Männern durch das Dämpfen antat. »Saidin ist gereinigt worden«, sagte er zu ihr. »Diese Praxis muss aufhören.«

Sie schürzte die Lippen, betrachtete ihn nachdenklich. »Euer ... Mann hat davon erzählt, Coramoor. Es fällt manchen schwer, das zu glauben.«

»Es ist die Wahrheit«, sagte er nachdrücklich.

»Ich bezweifle nicht, dass Ihr das glaubt.«

Rand knirschte mit den Zähnen und bezwang einen weiteren Wutausbruch, seine Hand ballte sich zur Faust. Er hatte den Makel gereinigt! Er, Rand al'Thor, hatte eine Tat vollbracht, wie man sie seit dem Zeitalter der Legenden nicht mehr gesehen hatte. Und wie ging man damit um? Mit Misstrauen und Zweifel. Die meisten nahmen an, dass er verrückt geworden war und darum eine »Reinigung« sah, die nie stattgefunden hatte.

Männern, die die Macht lenken konnten, wurde immer misstraut. Und doch waren sie die Einzigen, die seine Behauptung bestätigen konnten! Er hatte angenommen, dass dieser Sieg Freude und Erstaunen auslöste, aber er hätte es besser wissen müssen. Einst hatte man männliche Aes Sedai genauso respektiert wie ihre weiblichen Gegenstücke, aber das war vor langer Zeit gewesen. Die Tage eines Jorlen Corbesan waren im Dunkel der Zeitalter verschollen. Jetzt konnten sich die Menschen nur noch an die Zerstörung der Welt und den Wahnsinn erinnern.

Sie hassten Machtlenker. Und doch dienten sie einem, indem sie Rand folgten. Begriffen sie denn den Widerspruch nicht? Wie konnte er sie nur davon überzeugen, dass es keinen Grund mehr gab, Männer zu ermorden, die die Eine Macht berühren konnten? Er brauchte sie! Es war durchaus vorstellbar, dass sich unter den Männern, die das Meervolk in den Ozean stürzte, der nächste Jorlen Corbesan befand!

Rand erstarrte. Jorlen Corbesan war einer der talentiertesten Aes Sedai vor der Zerstörung der Welt gewesen, der Schöpfer einiger der erstaunlichsten Ter'angreale, die er je gesehen hatte. Nur dass in Wahrheit nicht er sie gesehen hatte. Das waren Lews Therins Erinnerungen, nicht die seinen. Der Rückschlag der Macht aus dem Stollen hatte Jorlens Forschungsstation in Sharom vernichtet und ihn selbst getötet.

Beim Licht, dachte Rand verzweifelt. Ich verliere mich. Ich verliere mich in ihm.

Das Erschreckende daran war, dass er sich nicht einmal mehr zu dem Wunsch zwingen konnte, Lews Therin zu verbannen. Therin hatte eine Methode gekannt, den Stollen zu versiegeln, auch wenn sie nicht perfekt gewesen war, aber Rand hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte. Das Überleben der Welt hing möglicherweise von den Erinnerungen eines toten Verrückten ab.

Viele der Leute um ihn herum wirkten verstört, und Harine sah zugleich unbehaglich und etwas verängstigt aus. Rand wurde sich bewusst, dass er wieder vor sich hinmurmelte, und er hörte sofort damit auf.

»Ich akzeptiere Eure Antwort«, sagte er steif. »Wie lautet Eure Frage?«

»Ich werde sie später stellen«, erwiderte Harine. »Sobald ich Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken.«

»Wie Ihr wünscht.« Er wandte sich ab, und sein Gefolge aus Aes Sedai, Töchtern und Dienern folgte ihm. »Die Wächter des Reisegeländes werden Euch Euer Zimmer zeigen und Euer Gepäck tragen.« Davon gab es nun buchstäblich einen Berg. »Flinn, zu mir!«

Der ältere Asha'man sprang durch das Tor und bedeutete den letzten Trägern, sich wieder auf das Dock auf der anderen Seite zu begeben. Er ließ das Portal zu einem sich verdrehenden Strich aus Licht zusammenschrumpfen und verschwinden, dann eilte er hinter Rand her. Aber nicht ohne Corele, die mit ihm den Behüterbund eingegangen war, vorher ein Lächeln zuzuwerfen.

»Ich entschuldige mich dafür, dass die Rückreise so lange gedauert hat, Lord Drache.« Flinn hatte ledrige Haut und nur noch ein paar vereinzelte Haarbüschel auf dem Kopf. Er ähnelte verblüffend einigen der Bauern, die Rand aus Emondsfelde kannte, dabei war er den größten Teil seines Lebens Soldat gewesen. Flinn war zu ihm gekommen, weil er das Heilen hatte lernen wollen. Stattdessen hatte Rand ihn zu einer Waffe gemacht.

»Ihr habt getan, was Euch aufgetragen wurde«, sagte er und ging wieder in Richtung Rasen. Er wollte Harine für die Vorurteile einer ganzen Welt verantwortlich machen, aber das war nicht gerecht. Er musste eine bessere Möglichkeit finden, damit sie es alle begriffen.

»Ich war nie besonders gut darin, Wegetore zu erschaffen«, fuhr Flinn fort. »Nicht wie Androl. Ich musste ...«

»Flinn«, unterbrach ihn Rand. »Es reicht.«

Der Asha'man errötete. »Bitte vergebt mir, mein Lord Drache.«

Corele lachte leise und klopfte Flinn auf die Schulter. »Beachte ihn nicht weiter, Damer«, sagte sie mit ihrem melodischen murandianischen Akzent. »Er ist schon den ganzen Morgen so mürrisch wie eine Gewitterwolke.«

Rand warf ihr einen Blick zu, aber sie lächelte bloß gutmütig. Ganz egal, was Aes Sedai grundsätzlich von Männern hielten, die die Macht lenken konnten, diejenigen unter ihnen, die Asha'man als Behüter genommen hatten, schienen ihnen gegenüber so fürsorglich zu sein wie Mütter bei ihren Kindern. Sie war mit einem seiner Männer den Bund eingegangen, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Flinn einer seiner Männer war. Zuerst ein Asha'man, und erst dann ein Behüter.

»Was denkt Ihr, Elza?«, fragte er die andere Aes Sedai. »Über den Makel und Harines Worte?«

Die rundgesichtige Frau zögerte. Sie ging mit hinter dem Rücken verschränkten Händen; das dunkelgrüne Kleid fiel nur durch subtile Stickereien auf. Für eine Aes Sedai war das bestenfalls zweckmäßig zu nennen. »Wenn mein Lord Drache sagt, dass der Makel entfernt wurde«, erwiderte die Frau mit sorgfältig gewählten Worten, »dann ist es sicherlich ungehörig, ihn in Gegenwart anderer anzuzweifeln.«

Rand schnitt eine Grimasse. Eine typische Aes Sedai-Antwort. Eid oder nicht, Elza machte, was sie wollte.

»Oh, wir waren beide bei Shadar Logoth dabei«, sagte Corele und rollte mit den Augen. »Wir haben gesehen, was Ihr getan habt, Rand. Außerdem kann ich den männlichen Teil der Macht durch den lieben Damer hier spüren, wenn wir uns verbinden. Sie hat sich verändert. Der Makel ist verschwunden. Sie ist so rein wie das Sonnenlicht, auch wenn sich das Lenken der männlichen Hälfte noch immer wie ein Ringkampf mit einem Sommerwirbelwind anfühlt.«

»Ja«, sagte Elza, »das mag ja so sein, aber Lord Drache, Ihr müsst verstehen, wie schwer es anderen fallen wird, das zu glauben. Im Zeitalter des Wahnsinns hat es Jahrzehnte gedauert, bis so mancher akzeptieren konnte, dass männliche Aes Sedai zum Wahnsinn verurteilt waren. Vermutlich wird es noch viel länger dauern, bis sie ihr Misstrauen überwunden haben, jetzt, da es so tief in ihnen verwurzelt ist.«

Rand atmete tief durch. Er hatte einen kleinen Hügel beim Lager erreicht, direkt neben dem Erdwall. Er stieg weiter hinauf, und die Aes Sedai folgten ihm. Hier hatte man eine kleine hölzerne Plattform errichtet - eine Schützenstellung, um Pfeile über den Wall schießen zu können.

Er blieb auf der Hügelmitte stehen, umgeben von Töchtern. Die ihm salutierenden Soldaten nahm er kaum wahr, als er sich das saldaeanische Lager mit seinen ordentlichen Zeltreihen ansah.

War das alles, was er der Welt hinterlassen würde? Ein entfernter Makel, und trotzdem wurden Männer wegen etwas, für das sie nichts konnten, auch weiterhin getötet oder ins Exil geschickt? Die meisten Nationen hatte er an sich gebunden. Trotzdem wusste er genau, je fester man einen Ballen schnürte, umso lauter peitschten die Schnüre, wenn man sie durchschnitt. Was würde geschehen, wenn er starb? Kriege und Verwüstungen, die der Zerstörung der Welt entsprachen? Das letzte Mal hatte er nicht helfen können, denn sein Wahnsinn und die Trauer um Ilyenas Tod hatten ihn aufgefressen. Konnte er dieses Mal etwas Ähnliches verhindern? Hatte er überhaupt eine Wahl?

Er war ta'veren. Das Muster beugte und formte sich um ihn herum. Und doch hatte er als König sehr schnell eines gelernt: über je mehr Autorität man verfügte, desto weniger Kontrolle hatte man über das eigene Leben. Die Pflicht war wahrlich schwerer als ein Berg; sie erzwang seine Handlungen genauso oft, wie es die Prophezeiungen taten. Oder waren beide ein und dasselbe? Pflicht und Prophezeiung? Seine Natur als Ta'veren und sein Platz in der Geschichte? Konnte er sein Leben ändern? Konnte er nach seinem Dahinscheiden eine bessere Welt hinterlassen, statt die Nationen in sich zerrissen und blutend zurückzulassen?

Er beobachtete das Lager, wo Männer ihrer Arbeit nachgingen und Pferde mit der Nase auf dem Boden umherstrichen, auf der Suche nach Flecken mit Wintergras, das noch nicht bis zu den Wurzeln abgenagt war. Obwohl er seinem Heer befohlen hatte, mit wenig Gepäck zu reisen, gab es trotzdem einen Tross. Frauen, die Essen kochten und Wäsche wuschen, Schmiede und Hufschmiede, die sich um Ausrüstung und Pferde kümmerten, junge Burschen, die als Botenjungen umherliefen und mit Waffen trainierten. Saldaea gehörte zu den Grenzländern, und der Kampf war für seine Bewohner eine Lebensart.

»Manchmal beneide ich sie«, flüsterte er.

»Mein Lord?«, fragte Flinn und trat näher heran.

»Die Menschen im Lager. Sie tun, was man ihnen sagt, erfüllen jeden Tag ihre Befehle. Manchmal sogar strenge Befehle. Aber Befehle oder nicht, diese Menschen sind freier, als ich es bin.«

»Ihr, mein Lord?«, sagte Flinn und rieb sich das ledrige Gesicht. »Ihr seid der mächtigste Mann auf der Welt! Ihr seid ta'veren. Selbst das Muster gehorcht Eurem Willen, denke ich!«

Rand schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht, Flinn. Diese Menschen dort unten, jeder von ihnen könnte einfach wegreiten. Dem entfliehen, wenn sie dazu die Lust hätten. Den Kampf anderen überlassen.«

»In meinem Leben habe ich so einige Saldaeaner kennengelernt, mein Lord«, sagte Flinn. »Verzeiht mir, aber ich bezweifle, dass auch nur einer von ihnen so handeln würde.«

»Aber sie könnten es«, erwiderte Rand. »Es ist möglich. Trotz ihrer Gesetze und Eide sind sie frei. Ich hingegen, es hat den Anschein, als könnte ich tun, was ich will, aber ich bin so eng gebunden, dass die Fesseln in mein Fleisch einschneiden. Im Angesicht des Schicksals sind meine Macht und mein Einfluss bedeutungslos. Meine Freiheit ist nur eine Illusion, Flinn. Und darum beneide ich sie. Manchmal.«

Flinn faltete die Hände auf dem Rücken, sich offensichtlich unsicher, was er darauf antworten sollte.

Wir tun alle das, was wir tun müssen, erklang Moiraines Stimme aus der Vergangenheit in Rands Erinnerung. Wie es das Muster bestimmt. Für manche gibt es weniger Freiheit als für andere. Es spielt keine Rolle, ob wir wählen oder auserwählt werden. Was geschehen muss, wird geschehen.

Sie hatte es begriffen. Ich versuche es, Moiraine, dachte er. Ich werde tun, was getan werden muss.

»Mein Lord Drache«, rief eine Stimme. Rand drehte sich um und sah einen von Basheres Spähern den Hügel herauflaufen. Die Töchter erlaubten dem jugendlichen dunkelhaarigen Mann näher zu kommen.

»Mein Lord«, sagte der Späher und salutierte. »Da sind Aiel am Rand des Lagers. Zwei von ihnen schleichen am Hang zwischen den Bäumen umher.«

Die Töchter fingen augenblicklich an, die Hände zu bewegen und in ihrer geheimen Gebärdensprache zu sprechen.

»Soldat, hat einer dieser Aiel Euch zugewinkt?«, fragte Rand trocken.

»Mein Lord?«, fragte der Mann. »Warum sollten sie das tun?«

»Es sind Aiel. Wenn ihr sie gesehen habt, dann bedeutet das, dass sie das wollten - und es bedeutet, dass sie Verbündete und keine Feinde sind. Informiert Bashere, dass wir uns bald mit Rhuarc und Bael treffen. Die Zeit ist gekommen, Arad Doman zu sichern.«

Vielleicht war es auch der Zeitpunkt, es zu zerstören. Manchmal fiel es schwer, den Unterschied festzustellen.

Merise ergriff das Wort. »Graendals Pläne - sagt mir, was Ihr von ihnen wisst.« Die hochgewachsene Aes Sedai - wie Cadsuane ein Mitglied der Grünen Ajah - behielt ihren strengen Gesichtsausdruck bei, die Arme unter den Brüsten verschränkt.

Die Frau aus Tarabon war eine gute Wahl, um das Verhör zu leiten. Oder zumindest war sie die Beste, die Cadsuane zur Verfügung stand. Merise verriet keinerlei Unbehagen darüber, so nahe neben einem der gefürchtetsten Wesen in der Schöpfung zu stehen, und sie ließ mit ihren Fragen nicht locker. Sie bemühte sich etwas zu sehr zu beweisen, wie streng sie war. So wie sie etwa das Haar so straff zurückgekämmt hatte, oder wie sie mit ihrem Asha'man-Behüter angab.

Das Zimmer befand sich auf der ersten Etage des Herrenhauses, das die Domani Rand al'Thor zur Verfügung gestellt hatten; die Außenwand bestand aus dicken runden Kieferstämmen, die Zimmerwände aus Holzplanken, die alle die gleiche dunkle Farbe aufwiesen. Man hatte fast sämtliche Möbel aus dem Raum entfernt, der zuvor als Schlafzimmer gedient hatte, es befand sich nicht einmal mehr ein Teppich auf dem Holzfußboden. Tatsächlich bestand das einzige Möbelstück aus dem stabilen Stuhl, auf dem Cadsuane saß.

Sie nippte an ihrem Tee und präsentierte sich als die personifizierte Gelassenheit. Das war wichtig, vor allem dann, wenn man innerlich alles andere als gelassen war. Im Moment hätte sie zum Beispiel nichts lieber getan, als die Teetasse mit beiden Händen zu zerbrechen und dann eine Stunde oder so auf den Scherben herumzutrampeln.

Sie nahm den nächsten kleinen Schluck.

Die Quelle ihrer Frustration - und Objekt von Merises Fragen - hing mit auf den Rücken gefesselten Armen kopfüber in der Luft, gehalten von Geweben aus Luft. Die Gefangene hatte kurzes lockiges Haar und dunkle Haut. Ihr Gesichtsausdruck entsprach trotz der Umstände Cadsuanes, was die Gelassenheit anging. Die Gefangene trug ein schlichtes braunes Kleid - ein Gewebe Luft hielt den Saum um ihre Beine, damit er ihr nicht ins Gesicht fiel und es verhüllte - und schien irgendwie diejenige zu sein, die hier die Kontrolle hatte, obwohl sie gefesselt und abgeschirmt war.

Merise stand vor der Gefangenen. Narishma lehnte an der Wand, die einzige andere Person im Raum.

Cadsuane führte das Verhör nicht selbst, noch nicht. Die anderen die Fragen stellen zu lassen arbeitete zu ihrem Vorteil; es ließ sie nachdenken und planen. Vor der Tür standen Erian, Sarene und Nesune und hielten die Abschirmung der Gefangenen aufrecht, zwei mehr, als man normalerweise für nötig hielt.

Bei einer Verlorenen ging man kein Risiko ein.

Ihre Gefangene war Semirhage. Ein Ungeheuer, das viele nur für eine Legende hielten. Cadsuane wusste nicht, wie viele der Geschichten über diese Frau der Wahrheit entsprachen. Aber sie wusste, dass sich Semirhage nicht leicht einschüchtern, aus der Ruhe bringen oder manipulieren ließ. Und das war das Problem.

»Nun?«, fragte Merise. »Eine Frage: habt Ihr eine Antwort?«

Semirhage betrachtete Merise, in ihrer Stimme lag eiskalte Verachtung, als sie sprach. »Weißt du, was mit einem Mann geschieht, dessen Blut man durch etwas anderes ersetzt?«

»Ich habe nicht ...«

»Natürlich stirbt er«, sagte Semirhage und schnitt Merise das Wort wie mit Messern ab. »Der Tod tritt oft sofort ein, und ein schneller Tod ist nicht von großem Interesse. Durch Experimente habe ich eine Lösung entdeckt, die Blut effektiver ersetzen kann, die dem Subjekt erlaubt, nach der Transfusion noch für kurze Zeit zu überleben.«

Sie verstummte.

»Beantwortet die Frage«, sagte Merise. »Oder Ihr hängt wieder aus dem Fenster und ...«

»Die Transfusion selbst benötigt natürlich den Einsatz der Macht«, unterbrach Semirhage sie erneut. »Andere Methoden sind nicht schnell genug. Ich habe das Gewebe selbst erfunden. Es kann das Blut sofort aus einem Körper ziehen und es in einem Glas sammeln, während es zugleich die Lösung nimmt und in die Adern drückt.«

Merise knirschte mit den Zähnen und wechselte einen Blick mit Narishma. Der Asha'man trug wie gewöhnlich Hosen und Mantel in Schwarz, sein langes schwarzes Haar war zu Zöpfen geflochten, an deren Enden Glöckchen baumelten. Er lümmelte sich an der Wand herum. Er hatte ein jungenhaftes Gesicht, aber da war zusehends ein gefährlicher Zug. Vielleicht kam der vom Training mit Merises anderen Behütern. Vielleicht kam es auch durch den Umgang mit Leuten, die eine Verlorene verhörten.

»Meine Warnung ...«, fing Merise wieder an.

»Eines meiner Versuchskaninchen hat die Transfusion eine ganze Stunde lang überlebt«, sagte Semirhage im Plauderton. »Ich zähle das als einen meiner größten Erfolge. Natürlich litt er die ganze Zeit Schmerzen. Wahre Schmerzen, die er in jeder Ader seines Körpers spürte, bis hinunter in die fast unsichtbaren in seinen Fingern. Mir ist keine andere Methode bekannt, die zur gleichen Zeit in allen Körperteilen solche Qualen verursacht.«

Sie erwiderte Merises Blick. »Eines Tages werde ich dir das Gewebe zeigen.«

Merise wurde blass.

Mit einer peitschenhaften Handbewegung webte Cadsuane ein Schild aus Luft um Semirhages Kopf, damit sie nichts hörte, dann webte sie Feuer und Luft zu zwei kleinen Leuchtkugeln, die sie direkt vor die Augen der Verlorenen platzierte. Das Licht war nicht hell genug, um sie zu blenden und ihre Augen zu schädigen, aber es verhinderte, dass sie etwas sah. Das war ein besonderer von Cadsuanes Tricks; viele Schwestern würden zwar daran denken, einen Gefangenen nichts hören zu lassen, ihn aber zusehen lassen. Man konnte nie wissen, wer Lippenlesen gelernt hatte, und sie hatte nicht vor, ihre derzeitige Gefangene zu unterschätzen.

Merise sah sie unwirsch an.

»Ihr habt die Kontrolle über sie verloren«, sagte Cadsuane energisch und stellte die Teetasse neben ihrem Stuhl auf den Boden.

Merise zögerte, dann nickte sie und sah jetzt wirklich wütend aus. Vermutlich auf sich selbst. »Diese Frau, bei ihr wirkt nichts«, sagte sie. »Sie verändert nie den Tonfall ihrer Stimme, ganz egal, was wir mit ihr machen. Jede Strafe, die mir einfällt, ruft nur weitere Drohungen hervor. Jede noch schrecklicher als die vorherige! Beim Licht!« Sie knirschte wieder mit den Zähnen, verschränkte erneut die Arme und schnaubte. Narishma spannte sich an, als wollte er zu ihr kommen, aber sie winkte ab. Merise behandelte ihre Behüter so streng, wie es sich gehörte, obwohl sie jeden anfauchte, der versuchte, sie auf ihren Platz zu verweisen.

»Wir können ihren Widerstand brechen«, sagte Cadsuane.

»Können wir das, Cadsuane?«

»Pah! Natürlich können wir das. Sie ist ein Mensch, genau wie jeder andere auch.«

»Das stimmt«, meinte Merise. »Auch wenn sie seit dreitausend Jahren lebt. Dreitausend, Cadsuane.«

»Den größten Teil dieser Zeit war sie eingesperrt«, sagte Cadsuane und schnaubte abfällig. »Jahrhunderte im Gefängnis des Dunklen Königs eingekerkert, vermutlich in Trance oder tiefem Schlaf. Zieht man diese Jahre ab, ist sie nicht älter als eine von uns. Vermutlich sogar wesentlich jünger als die eine oder andere, vermute ich.«

Es war eine subtile Erinnerung an ihr eigenes Alter, über das man bei Aes Sedai nur selten sprach. Die ganze Unterhaltung über das Alter war in der Tat ein Zeichen, wie sehr die Verlorene Merise doch Unbehagen einflößte. Aes Sedai waren darin geübt, gelassen zu erscheinen, aber es gab einen Grund dafür, dass Cadsuane die Erzeuger der Abschirmung außerhalb des Raumes platziert hatte. Sie gaben zu viel preis. Selbst die normalerweise unerschütterliche Merise verlor bei diesen Verhören viel zu oft die Beherrschung.

Natürlich kamen Merise und die anderen im Grunde nicht an das heran, was eine Aes Sedai wirklich darstellen sollte - so wie zurzeit alle Frauen in der Burg. Man hatte zugelassen, dass die jüngeren Aes Sedai allesamt sanft und verweichlicht und anfällig für Zank geworden waren. Ein paar von ihnen hatten sich sogar so sehr unter Druck setzen lassen, dass sie Rand al'Thor die Treue geschworen hatten. Manchmal wünschte sich Cadsuane, sie könnte sie alle ein paar Jahrzehnte lang zur Buße schicken.

Aber vielleicht sprach da auch nur ihr Alter. Sie war alt, und das machte sie zusehends unduldsam gegenüber jeglicher Dummheit. Vor über zwei Jahrhunderten hatte sie sich geschworen, lange genug zu leben, um an der Letzten Schlacht teilzunehmen, ganz egal, wie lange das dauern sollte. Die Benutzung der Einen Macht verlängerte die einem gegebenen Jahre, und sie hatte die nötige Entschlossenheit und Charakterstärke gefunden, um diese Jahre noch weiter zu strecken. Sie war eine der ältesten Personen auf der Welt.

Unglücklicherweise hatten sie die Jahre gelehrt, dass, ganz egal, wie sehr man auch vorausplante oder entschlossen war, man das Leben letztlich nicht in die gewünschten Bahnen lenken konnte. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, sich darüber aufzuregen, wenn es geschah. Man hätte annehmen sollen, dass die Jahre sie auch Geduld gelehrt hatten, aber das genaue Gegenteil traf zu. Je älter sie wurde, umso weniger war sie bereit zu warten, denn sie wusste, dass ihr nicht mehr viele Jahre blieben.

Jeder, der behauptete, das Alter hätte ihn geduldiger gemacht, war entweder ein Lügner oder senil.

»Ihr Widerstand kann und wird gebrochen werden«, wiederholte sie. »Ich lasse nicht zu, dass eine Person, die Gewebe aus dem Zeitalter der Legenden kennt, so unbeschwert zur Hinrichtung tanzt. Wir werden jeden Funken Wissen aus dem Kopf dieser Frau kratzen, selbst wenn wir ein paar ihrer ›kreativen‹ Gewebe bei ihr selbst anwenden müssen.«

»Das A'dam. Wenn uns der Lord Drache es doch nur bei ihr benutzen lassen würde ...«, sagte Merise und schaute Semirhage an.

Falls Cadsuane je versucht gewesen war, ihr Wort zu brechen, dann hier. Dieser Frau das A'dam anzulegen ... aber nein, um die Trägerin eines A'dam zum Reden zu zwingen, musste man ihr Schmerzen zufügen. Es war das Gleiche wie Folter, und al'Thor hatte es verboten.

Wegen Cadsuanes Lichtern hatte Semirhage die Augen geschlossen, aber sie war noch immer die Ruhe selbst. Was ging nur im Kopf dieser Frau vor? Wartete sie auf ihre Rettung? Glaubte sie, sie könnte ihre Hinrichtung erzwingen, um so einer echten Folterung zu entgehen? Glaubte sie wirklich, entfliehen und sich dann an den Aes Sedai rächen zu können, die sie verhört hatten?

Vermutlich traf das Letztere zu - und es fiel schwer, nicht zumindest einen Hauch von Unbehagen zu verspüren. Die Frau wusste Dinge über die Eine Macht, die nicht einmal in Legenden überlebt hatten. Dreitausend Jahre waren eine lange Zeit. Konnte Semirhage eine Abschirmung auf unbekannte Weise durchbrechen? Und wenn sie es konnte, warum hatte sie es nicht schon getan? Cadsuane würde erst dann völlig beruhigt sein, wenn sie endlich etwas Spaltwurzeltee in die Hände bekam.

»Ihr könnt Eure Gewebe entfernen, Cadsuane«, sagte Merise. »Ich habe mich wieder unter Kontrolle. Ich fürchte, wir werden sie eine Weile aus dem Fenster hängen lassen müssen, wie ich versprach. Vielleicht können wir ja mit Schmerzen drohen. Sie kann ja nicht wissen, dass al'Thor diese albernen Bedingungen gestellt hat.«

Cadsuane beugte sich vor und löste die Gewebe auf, die die Lichter vor die Augen der Verlorenen platzierten, so wie den Schild aus Luft, der sie am Hören hinderte. Semirhage schlug die Augen auf, dann fand ihr Blick schnell Cadsuane. Ja, sie wusste, wer hier den Befehl hatte. Sie maßen sich mit Blicken.

Merise setzte die Befragung fort, fragte nach Graendal. Al'Thor glaubte, die andere Verlorene könnte sich möglicherweise irgendwo in Arad Doman aufhalten. Cadsuane war viel mehr an anderen Fragen interessiert, aber Graendal war ein akzeptabler Anfang.

Dieses Mal reagierte Semirhage mit Schweigen auf die Fragen, und Cadsuanes Gedanken wanderten zu al'Thor. Der Junge hatte sich ihrem Unterricht genauso stur verweigert wie Semirhage dem Verhör. Sicher, er hatte ein paar Kleinigkeiten gelernt, zweifellos ... wie man ihr mit einem Hauch Respekt gegenübertrat, wie man Höflichkeit zumindest vortäuschte. Aber mehr auch nicht.

Cadsuane hasste es, sich ein Scheitern einzugestehen. Und das war nicht einmal ein Scheitern, noch nicht, aber es fehlte nicht mehr viel. Das Schicksal hatte den Jungen ausersehen, die Welt zu vernichten. Und sie vielleicht auch zu retten. Das Erste war nicht zu verhindern, das Zweite hing von vielen Dingen ab. Sie hätte sich gewünscht, es wäre genau umgekehrt gewesen, aber Wünsche waren etwa so nützlich wie aus Holz geschnitzte Münzen. Man konnte sie lackieren, wie man wollte, aber es würde Holz bleiben.

Sie verdrängte die Gedanken an den Jungen. Sie musste Semirhage beobachten. Jedes Wort der Frau konnte ein Hinweis sein. Semirhage erwiderte ihren bohrenden Blick und ignorierte Merise.

Wie brach man den Willen einer der mächtigsten Frauen, die je gelebt hatten? Eine Frau, die im Zeitalter der Wunder zahllose Gräueltaten begangen hatte, und das selbst vor der Befreiung des Dunklen Königs? Cadsuane erwiderte den Blick aus diesen onyxfarbenen Augen, und plötzlich kam ihr eine Erkenntnis. Al'Thors Verbot, Semirhage zu quälen, war bedeutungslos. Diese Frau konnte man nicht mit Schmerzen brechen. Semirhage war die größte Foltermeisterin der Verlorenen, eine Frau, die Tod und Agonie faszinierten.

Nein, ihr Widerstand würde sich nicht auf diese Weise brechen lassen, selbst wenn ihnen diese Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Als Cadsuane in diese Augen blickte, glaubte sie mit einem Frösteln etwas von sich selbst in dieser Kreatur wiederzuerkennen. Alter, Einfallsreichtum und den eisernen Willen, keinen Schritt zurückzuweichen.

Damit stellte sich ihr eine Frage. Einmal angenommen, man hätte ihr die Aufgabe übertragen, ihren eigenen Willen zu brechen, wie wäre sie vorgegangen?

Die Vorstellung war so unerfreulich, dass sie erleichtert war, als Corele das Verhör wenige Augenblicke später unterbrach. Die schlanke fröhliche Murandianerin war ihr treu ergeben und hatte an diesem Nachmittag den Dienst übernommen, al'Thor im Auge zu behalten. Ihre Nachricht, dass sich al'Thor bald mit den Aielhäuptlingen treffen würde, beendete das Verhör, und die drei Schwestern, die die Abschirmung aufrechterhielten, traten ein und zogen Semirhage in das Zimmer, wo sie sie gefesselt und geknebelt mit Strängen aus Luft hinsetzen würden.

Cadsuane sah zu, wie man die Verlorene auf Geweben aus Luft wegtrug, dann schüttelte sie den Kopf. Semirhage war nur der Beginn des Tages gewesen. Jetzt war die Zeit gekommen, sich um den Jungen zu kümmern.

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