21 Glut und Asche

Perrin schlug die Augen auf und entdeckte, dass er in der Luft hing.

Ein Stich des Entsetzens durchfuhr ihn, dort am Himmel zu schweben. Über ihm brodelten schwarze Wolken unheilvoll. In der Tiefe wogte auf einer Ebene braunes Gras im Wind, ohne jedes Anzeichen von Menschen. Es gab keine Zelte, keine Straßen, nicht einmal Fußabdrücke.

Perrin fiel nicht. Er hing einfach da. Reflexartig wedelte er mit den Armen, als wollte er schwimmen, geriet in Panik, als sein Verstand versuchte, der Desorientierung einen Sinn zu verleihen.

Der Wolfstraum, dachte er. Ich bin im Wolfstraum. Ich bin in der Hoffnung eingeschlafen herzufinden.

Er zwang sich dazu, ganz ruhig zu atmen und mit dem Armgefuchtel aufzuhören, auch wenn Hunderte von Fuß am Himmel hängend jede Beherrschung schwerfiel. Plötzlich schoss eine graupelzige Gestalt an ihm vorbei und sprang durch die Luft. Der Wolf glitt zu dem Feld in der Tiefe und landete mühelos.

»Springer!«

Spring runter, junger Bulle. Spring. Es ist sicher. Wie immer kam die Botschaft des Wolfes als Mischung aus Gerüchen und Bildern. Perrin wurde immer besser in der Interpretation - weiche Erde repräsentierte den Boden, rauschender Wind das Bild fürs Springen, der Geruch von Ruhe und Entspannung als Hinweis, dass es nichts zu fürchten gab.

»Aber wie?«

Früher bist du immer wie ein Welpe losgestürmt. Spring. Spring runter! Tief unten saß Springer auf den Hinterbeinen und grinste zu ihm hoch.

Perrin murmelte einen oder zwei Flüche, die auf Wölfe gemünzt waren. Es hatte den Anschein, dass die Toten besonders stur waren. Obwohl Springer nicht unrecht hatte. Er war schon zuvor an diesem Ort gesprungen, wenn auch nicht vom Himmel.

Er holte tief Luft, schloss die Augen und stellte sich vor, wie er sprang. Plötzlich raste ein Luftstrom an ihm vorbei, aber dann berührten seine Füße weichen Boden. Er öffnete die Augen. Neben ihm saß ein großer grauer Wolf, der Narben von vielen Kämpfen aufwies. Auf der großen Ebene breitete sich wild wuchernde Hirse aus, zwischen der sich Inseln aus langen dünnen Grashalmen hoch in den Himmel erstreckten. Kratzige Halme fuhren vom Wind bewegt über Perrins Arme, was juckte. Das Gras roch zu trocken, wie Heu, das den Winter über in der Scheune gelagert hatte.

Manche Dinge waren hier im Wolfstraum vergänglich; im einen Augenblick lag ein Haufen Blätter zu seinen Füßen, nur um im nächsten wieder verschwunden zu sein. Alles roch leicht abgestanden, als wäre es gar nicht richtig da.

Er schaute auf. Der Himmel war stürmisch. Normalerweise waren die Wolken an diesem Ort genau so unstet wie andere Dinge. Eben noch herrschte Bewölkung, ein Blinzeln später war der Himmel klar. Aber dieses Mal hielten sich die dunklen Sturmwolken. Sie brodelten und spannten Blitze zwischeneinander. Aber diese Blitze schlugen nie im Boden ein und machten auch keinen Lärm.

Auf der Ebene herrschte eine seltsame Stille. Die Wolken verhüllten unheilvoll den ganzen Himmel. Und sie verschwanden auch nicht.

Die Letzte Jagd kommt. Springer blickte in den Himmel. Dann laufen wir zusammen. Solange wir nicht stattdessen schlafen.

»Schlafen? Und was ist mit der Letzten Jagd?«

Sie kommt. Wenn der Schattentöter dem Sturm zum Opfer fällt, werden wir alle für alle Ewigkeit schlafen. Überlebt er, dann werden wir zusammen jagen. Du und wir.

Perrin rieb sich das Kinn und versuchte die Bilder, Gerüche, Laute und Gefühle zu verstehen. Sie ergaben nur wenig Sinn für ihn.

Aber gut, er war jetzt hier. Er hatte herkommen wollen, und er hatte sich entschieden, falls möglich ein paar Antworten von Springer zu erhalten. Es war schön, den Wolf wiederzusehen.

Laufen, schickte Springer. Das Bild war nicht alarmiert. Es war ein Angebot. Lass uns zusammen laufen.

Perrin nickte und fing an, durch das Gras zu laufen. Springer lief neben ihm und übersandte Belustigung. Auf zwei Beinen, junger Bulle? Zwei Beine sind langsam! Die übermittelte Botschaft bestand aus einem Bild von Männern, die wegen ihrer viel zu langen Beine ständig übereinander stolperten.

Perrin zögerte. »Ich muss die Kontrolle behalten, Springer«, sagte er. »Wenn ich den Wolf die Kontrolle übernehmen lasse ... nun, dann tue ich gefährliche Dinge.«

Der Wolf legte den Kopf schief und trabte weiter neben ihm durch das Gras. Die Halme raschelten, als sich die beiden einen Weg bahnten, bis sie einen kleinen Wildpfad fanden und ihm folgten.

Lauf, drängte Springer ihn, offensichtlich verwirrt von seinem Zögern.

»Ich kann nicht«, sagte Perrin und blieb stehen. Springer drehte sich um und kam mit ein paar Sätzen zurück zu ihm. Er roch verwirrt.

»Springer, wenn ich die Kontrolle verliere, dann habe ich Angst vor mir selbst«, sagte Perrin. »Das erste Mal passierte es mir, kurz nachdem ich die Wölfe kennenlernte. Du musst mir helfen, es zu verstehen.«

Springer starrte ihn bloß weiterhin an, die Zunge hing ihm ein Stück aus dem Maul, die Pfoten waren leicht auseinander gestellt.

Warum mache ich das?, dachte Perrin und schüttelte den Kopf Wölfe dachten nicht wie Menschen. Was spielte es für eine Rolle, was Springer davon hielt?

Wir jagen zusammen, übermittelte Springer.

»Und wenn ich nicht mit dir zusammen jagen will?«, sagte Perrin. Allein schon die Worte ließen sein Herz verkrampfen. Ihm gefiel dieser Ort, der Wolfstraum, so gefährlich er auch sein mochte. Seit seinem Aufbruch aus den Zwei Flüssen hatte er viel erlebt, und manches war auch wunderbar gewesen.

Aber er durfte nicht mehr die Kontrolle verlieren. Er musste ein Gleichgewicht finden. Die Axt wegzuwerfen hatte einen Unterschied gemacht. Axt und Hammer waren sehr unterschiedliche Waffen - die eine konnte man nur fürs Töten benutzen, während ihm die andere eine Wahl ließ.

Lauf mit mir, Junger Bulle. Vergiss diese Gedanken. Lauf wie ein Wolf.

»Das kann ich nicht«, erwiderte Perrin. Er drehte sich um, ließ die Blicke über die Ebene schweifen. »Aber ich muss über diesen Ort Bescheid wissen, Springer. Ich muss lernen, wie man ihn benutzt, wie man ihn kontrolliert.«

Menschen, dachte Springer, übersandte Gerüche von Geringschätzung und Wut. Kontrolle. Immer nur Kontrolle.

»Ich will, dass du es mir beibringst«, sagte Perrin zu dem Wolf. »Ich will diesen Ort meistern. Zeigst du mir, wie das geht?«

Springer setzte sich auf die Hinterbeine.

»Schön. Dann suche ich mir andere Wölfe, die das tun werden.«

Er drehte sich um und setzte sich in Bewegung. Er erkannte diesen Ort nicht, aber er hatte gelernt, dass der Wolfstraum unberechenbar war. Dieses Feld mit seinem hüfthohen Gras und der Hirse konnte überall sein. Wo würde er Wölfe finden? Er hielt mit seinem Verstand Ausschau und entdeckte, dass das hier viel schwieriger war.

Du willst nicht laufen. Aber du suchst nach Wölfen. Warum bist du so schwierig, Welpe? Springer setzte sich vor ihm ins Gras.

Perrin knurrte, dann tat er einen Sprung, der ihn hundert Fuß in die Höhe beförderte. Er kam wieder auf, als wäre es ein ganz normaler Schritt gewesen.

Und Springer saß vor ihm. Er hatte den Wolf nicht springen gesehen. Eben war er noch an dem einen Ort gewesen, jetzt war er an einem anderen. Perrin suchte wieder mit seinen Gedanken. Nach anderen Wölfen. Da war etwas, in der Ferne. Er musste sich mehr anstrengen. Er konzentrierte sich, zog irgendwie mehr Stärke in sich und schaffte es, mit seinem Verstand weiter hinauszugreifen.

Das ist gefährlich, Junger Bulle. Du setzt hier zu viel Kraft ein. Du wirst sterben.

»Das sagst du immer«, erwiderte Perrin. »Sag mir, was ich wissen will. Zeig mir, wie ich es lernen kann.«

Sturer Welpe, sendete Springer. Komm zurück, wenn du entschlossen bist, deine Schnauze nicht ins Nest der Feuernatter zu stecken.

Und etwas krachte gegen Perrin, ein schweres Gewicht traf seinen Verstand. Alles verschwand um ihn herum, und er wurde wie ein Blatt im Sturm aus dem Wolfstraum geworfen.

Faile lag neben ihrem Mann, der sich im Schlaf herumwälzte. Sie betrachtete ihn in dem dunklen Raum; obwohl sie neben ihm auf der Pritsche lag, hatte sie nicht geschlafen. Sie hatte gewartet und seinen Atemzügen gelauscht. Er drehte sich auf den Rücken und murmelte etwas.

Ausgerechnet in dieser Nacht muss er unruhig schlafen!, dachte sie verärgert.

Seit ihrem Aufbruch aus Malden war eine Woche vergangen. Die Flüchtlinge hatten ein Lager - nun, mehrere Lager - in der Nähe eines Wasserweges aufgeschlagen, der direkt zur nur ein kurzes Stück entfernten Jehannahstraße führte.

In den vergangenen paar Tagen war alles glatt gelaufen, auch wenn Perrin zu dem Schluss gekommen war, dass die Asha'man noch immer zu erschöpft waren, um Wegetore zu erschaffen. Faile hatte den Abend mit ihrem Ehemann verbracht und ihn an mehrere wichtige Gründe erinnert, warum er sie überhaupt geheiratet hatte. Er war ziemlich enthusiastisch gewesen, aber da hatte ein merkwürdiger Ausdruck in seinem Blick gelegen. Kein gefährlicher Ausdruck, eher ein trauriger. Während ihrer Trennung war er ein von Geistern getriebener Mann geworden. Das konnte sie verstehen. Sie hatte selbst ein paar Geister, die sie heimsuchten. Man konnte nicht erwarten, dass alles so blieb, wie es gewesen war, und ihr war nicht entgangen, dass er sie noch immer liebte - leidenschaftlich liebte. Das reichte ihr, also machte sie sich deswegen keine Sorgen.

Aber sie plante eine Auseinandersetzung, die ihm seine Geheimnisse entlocken würde. Noch ein paar Tage würde sie damit warten. Es war nur vernünftig, einen Ehemann daran zu erinnern, dass man nicht alles friedlich hinnahm, was er so machte, aber es war auch keine gute Idee, ihn auf den Gedanken zu bringen, dass sie es nicht zu schätzen wusste, ihn zurückzuhaben.

Ganz im Gegenteil. Faile lächelte, drehte sich um und legte ihm die Hand auf die behaarte Brust, schmiegte den Kopf an seine nackte Schulter. Sie liebte diese stattliche Lawine von einem Mann. Wieder mit ihm vereint zu sein war noch süßer als der Sieg ihrer Flucht von den Shaido.

Seine Augen öffneten sich, und sie seufzte. Liebe hin oder her, in dieser Nacht wollte sie, dass er schlief! Hatte sie ihn denn nicht müde genug gemacht?

Er sah sie an. Seine goldenen Augen schienen in der Dunkelheit leicht zu glühen, obwohl sie wusste, dass das nur ein Trick des Lichts war. Dann zog er sie ein Stück näher an sich heran. »Ich habe nicht mit Berelain geschlafen«, sagte er schroff. »Ganz egal, was die Gerüchte behaupten.«

Lieber, süßer, unverblümter Perrin. »Ich weiß, dass du das nicht getan hast«, sagte sie tröstend. Sie hatte die Gerüchte gehört. Buchstäblich jede Frau, mit der sie im Lager gesprochen hatte, von den Aes Sedai bis zur letzten Dienerin, hatte so getan, als würde sie krampfhaft versuchen, den Mund zu halten, während sie mit dem nächsten Atemzug diese Neuigkeit verriet. Perrin hatte eine Nacht im Zelt der Ersten von Mayene verbracht.

»Nein, wirklich«, beharrte Perrin, und ein flehender Unterton schlich sich in seine Stimme. »Ich habe es nicht getan. Faile. Bitte.«

»Ich sagte, ich glaube dir.«

»Du klangst so ... ich weiß nicht. Verdammt, Frau, du klangst eifersüchtig.«

Würde er denn niemals lernen? »Perrin«, sagte sie tonlos. »Es hat mich den größten Teil eines ganzen Jahres gekostet - ganz zu schweigen von beträchtlicher Mühe -, um dich zu verführen, und auch dann hat es nur funktioniert, weil es sich um eine Ehe drehte! Berelain hat nicht die nötige Finesse, um mit dir klarzukommen.«

Er hob die rechte Hand und kratzte sich scheinbar verwirrt am Bart. Dann lächelte er.

»Außerdem«, sagte sie und schmiegte sich enger an ihn, »hast du mir ein Versprechen gegeben. Und ich vertraue dir.«

»Also bist du nicht eifersüchtig?«

»Natürlich bin ich das«, sagte sie und schlug sich gegen die Brust. »Perrin, habe ich das nicht erklärt? Ein Ehemann muss wissen, dass seine Frau eifersüchtig ist, sonst begreift er nicht, wie viel sie für ihn übrig hat. Du bewachst das, was dir am Kostbarsten ist. Also ehrlich, wenn du mich weiter dazu bringst, diese Dinge zu erklären, dann bleiben mir überhaupt keine Geheimnisse mehr!«

Die letzte Bemerkung ließ ihn leise schnauben. »Ich bezweifle, dass so etwas überhaupt möglich ist.«

Er verstummte, und Faile schloss die Augen in der Hoffnung, dass er wieder einschlief. Draußen vor dem Zelt ertönten die gedämpften Stimmen der patrouillierenden Wachen und der Lärm eines der Hufschmiede - Jerasid, Aemin oder Falton -, der bis spät in die Nacht arbeitete und ein Hufeisen oder einen Nagel zurechthämmerte, um eines der Pferde für den morgigen Marsch bereitzumachen. Es tat gut, diesen Laut wieder zu hören. Die Aiel waren nutzlos, wenn es um Pferde ging, und die Shaido hatten die erbeuteten Tiere entweder freigelassen oder sie zu Ackergäulen gemacht. Während ihres Aufenthalts in Malden hatte Faile viele prächtige Reitpferde gesehen, die Karren zogen.

Sollte es sich seltsam anfühlen, wieder zurück zu sein? Weniger als zwei Monate war sie Gefangene gewesen, aber es war ihr wie Jahre vorgekommen. Jahre, die sie damit verbracht hatte, Botengänge für Sevanna zu erledigen und willkürlich bestraft zu werden. Aber die Zeit hatte sie nicht gebrochen. Seltsamerweise hatte sie sich dabei mehr als Adlige gefühlt als je zuvor.

Als hätte sie vor Malden nie so richtig begriffen, was es bedeutete, eine Lady zu sein. Oh, sie hatte ihren Anteil an Siegen gehabt. Cha Faile, die Menschen von den Zwei Flüssen, Alliandres und Perrins Lagergenossen. Sie hatte ihre Ausbildung genutzt und Perrin dabei geholfen, ein Anführer zu werden. Das war alles wichtig gewesen; sie hatte auf das zurückgegriffen, zu dem ihre Mutter und ihr Vater sie gemacht hatten.

Aber Malden hatte ihr die Augen geöffnet. Dort war sie Menschen begegnet, die sie mehr gebraucht hatten, als das jemals zuvor der Fall gewesen wäre. Unter Sevannas grausamer Schreckensherrschaft hatte es keine Zeit für Spielchen gegeben, keine Zeit für Fehler. Man hatte sie gedemütigt, geschlagen und beinahe getötet. Und das hatte dafür gesorgt, dass sie zum ersten Mal begriff, was es wirklich bedeutete, eine Lehnsherrin zu sein. Tatsächlich hatte sie sich sogar im Nachhinein wegen der Momente schuldig gefühlt, in denen sie Perrin - oder andere - gezwungen hatte, sich ihrem Willen zu beugen. Eine Adlige zu sein bedeutete vorauszugehen. Es bedeutete, geschlagen zu werden, damit andere verschont blieben. Es bedeutete, sich zu opfern und den Tod zu riskieren, um die zu schützen, die von einem abhängig waren.

Nein, es fühlte sich nicht merkwürdig an, wieder zurück zu sein, denn sie hatte Malden mitgenommen. Jedenfalls die Teile, die wichtig waren. Hunderte Gai'schain hatten ihr die Treue geschworen, und sie hatte sie gerettet. Sie hatte es durch Perrin getan, aber sie hatte Pläne geschmiedet, und auf die eine oder andere Weise wäre sie entkommen und mit einer Armee zurückgekehrt, um jene zu befreien, die ihr den Treueid geleistet hatten.

Es hatte einen Preis gekostet. Aber darum würde sie sich später kümmern, wenn es das Licht wollte. Sie öffnete ein Auge und spähte zu Perrin hinüber. Er schien zu schlafen, aber atmete er gleichmäßig? Vorsichtig befreite sie ihren Arm.

»Was dir dort passiert ist, hat keine Bedeutung für mich«, sagte er.

Sie seufzte. Nein, er schlief noch nicht. »Was mir dort passiert ist?«, fragte sie verwirrt.

Er öffnete die Augen, starrte zur Zeltdecke. »Die Shaido, der Mann, der bei dir war, als ich dich rettete. Was auch immer er tat ... was auch immer du tun musstest, um zu überleben. Es ist in Ordnung.«

War es das, was ihm zu schaffen machte? Beim Licht! »Du großer Ochse«, sagte sie und hieb ihm die Faust auf die Brust, was ihn grunzen ließ. »Was sagst du da? Dass es in Ordnung wäre, wäre ich untreu gewesen? Nachdem du mir mit solchem Nachdruck versichern musstest, dass du es nicht warst?«

»Was? Nein, das ist etwas anderes, Faile. Du warst Gefangene ...«

»Und ich kann nicht für mich selbst sorgen? Du bist ein Ochse. Niemand hat mich angefasst. Es sind Aiel. Du weißt, dass sie es nicht wagen würden, einem Gai'schain etwas anzutun.« Das war nicht die ganze Wahrheit; Frauen waren im Lager der Shaido oft missbraucht worden, denn die Shaido hatten sich nicht länger wie Aiel verhalten.

Aber im Lager hatte es auch noch andere gegeben. Aiel, die keine Shaido gewesen waren. Männer, die sich geweigert hatten, Rand als ihren Car'a'carn anzuerkennen, denen es aber auch schwerfiel, die Autorität der Shaido zu akzeptieren. Die Bruderlosen waren Männer von Ehre gewesen; auch wenn sie sich selbst als Ausgestoßene bezeichnet hatten, waren sie die Einzigen in Malden gewesen, die die alten Bräuche befolgt hatten. Als die Gai'schain-Frauen in Gefahr geraten waren, hatten die Bruderlosen eine Entscheidung getroffen und jene beschützt, die sie beschützen konnten. Sie hatten dafür nichts als Gegenleistung verlangt.

Obwohl ... das stimmte so nicht ganz. Gebeten hatten sie um viel, aber verlangt hatten sie nichts. Rolan war ihr immer wie ein echter Aiel gegenübergetreten. Aber wie Masemas Tod war ihre Beziehung zu Rolan etwas, das Perrin nicht wissen musste. Sie hatte Rolan nicht einmal geküsst, aber sie hatte sein Verlangen nach ihr ausgenutzt. Und vermutlich hatte er das ganz genau gewusst.

Perrin hatte Rolan getötet. Noch ein Grund, warum ihr Ehemann nichts über die Anständigkeit des Bruderlosen wissen musste. Es würde ihn innerlich zerreißen, wäre ihm klar gewesen, was er da getan hatte.

Perrin entspannte sich, schloss die Augen. Während dieser Monate hatte er sich verändert, vielleicht genauso sehr wie sie auch. Das war gut. In den Grenzlanden hatte ihr Volk ein Sprichwort: »Nur der Dunkle König bleibt immer gleich.« Männer wuchsen und entwickelten sich; der Schatten blieb so, wie er war. Böse.

»Morgen werden wir ein paar Pläne ausarbeiten müssen«, sagte Perrin gähnend. »Sobald die Wegetore zur Verfügung stehen, müssen wir uns entscheiden, ob wir die Leute zum Gehen zwingen, und wir entscheiden, wer zuerst geht. Hat irgendjemand entdeckt, was aus Masema geworden ist?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Faile vorsichtig. »Aber da so viele seiner Besitztümer aus seinem Zelt verschwunden sind ...«

»Masema interessiert sich nicht für Besitz«, murmelte Perrin leise, die Augen noch immer geschlossen. »Obwohl er ihn vielleicht mitgenommen hätte, um einen Neuanfang zu versuchen. Er könnte vielleicht geflohen sein, das gebe ich zu, auch wenn es seltsam ist, dass keiner weiß, wohin oder wie.«

»Vermutlich hat er sich im Chaos nach der Schlacht davongestohlen.«

»Vermutlich«, stimmte Perrin ihr zu. »Ich frage mich ...« Er gähnte. »Ich frage mich, was Rand dazu sagen wird. Masema war doch überhaupt erst der Grund für diese Reise. Ich sollte ihn finden und zurückbringen, und da habe ich wohl versagt.«

»Du hast die Männer vernichtet, die im Namen des Drachen mordeten und raubten«, sagte Faile, »und du hast der Shaidoführung das Herz herausgeschnitten, ganz zu schweigen von all dem, was du über die Seanchaner erfahren hast. Ich glaube, der Drache wird der Ansicht sein, dass das, was du hier vollbracht hast, viel bedeutsamer ist, als Masema zurückzubringen.«

»Vielleicht hast du recht«, murmelte Perrin schläfrig. »Verdammte Farben ... ich will dich nicht schlafend sehen, Rand. Was ist mit deiner Hand passiert? Vom Licht geblendeter Narr, pass besser auf dich auf ... du bist alles, was wir haben ... die Letzte Jagd kommt ...«

Sie konnte das Letzte kaum verstehen. Warum sprach er davon, dass Rands Hand auf die Jagd gehen sollte? Schlief er endlich ein?

Zweifellos, denn er fing bald an, leise zu schnarchen. Sie lächelte, schüttelte zärtlich den Kopf. Er war ein Ochse. Jedenfalls manchmal. Aber er war ihr Ochse. Sie stieg von der Pritsche und eilte durch das Zelt, schlüpfte in einen Morgenrock und verschnürte den Gürtel. Ein Paar Sandalen folgten, dann huschte sie aus dem Zelt. Arrela und Lacile bewachten sie, zusammen mit zwei Töchtern. Die Töchter nickten ihr zu; sie würden ihr Geheimnis bewahren.

Faile ließ die Töchter zurück, nahm aber Arrela und Lacile mit, als sie in die Dunkelheit ging. Arrela war eine schwarzhaarige Tairenerin, die die meisten Töchter überragte; sie hatte eine sehr brüske Art an sich. Lacile war klein, blass und sehr schlank, und sie bewegte sich ausgesprochen anmutig. Sie waren so unterschiedlich, wie zwei Frauen nur sein konnten, aber die Gefangenschaft hatte sie vereint. Beide Angehörige der Cha Faile waren zusammen mit ihr gefangen genommen worden und als Gai'schain nach Malden gegangen.

Ein kurzes Stück weiter schlossen sich ihnen zwei andere Töchter an - vermutlich hatten Bain und Chiad mit ihnen gesprochen. Sie verließen das Lager und begaben sich zu einer Stelle, wo zwei Weidenbäume nebeneinander standen. Ein Stück davor warteten zwei Frauen, die noch immer das Weiß der Gai'schain trugen. Bain und Chiad waren beide Töchter, Erstschwestern, und bedeuteten Faile sehr viel. Sie waren noch loyaler als jene, die ihr den Treueid geleistet hatten. Ihr gegenüber loyal, ohne ihr aber einen Eid geleistet zu haben. Ein Widerspruch, wie ihn nur Aiel zustande bringen konnten.

Im Gegensatz zu Faile und den anderen wollten Bain und Chiad ihr Weiß nicht ablegen, nur weil ihre Häscher besiegt worden waren. Sie würden diese Tracht ein Jahr und einen Tag lang tragen. Tatsächlich strapazierte ihre Anwesenheit hier die Grenzen dessen, was ihre Ehre erlaubte - damit gestanden sie das Leben ein, das sie vor ihrer Gefangennahme geführt hatten. Allerdings hatten sie zugegeben, dass die Existenz als Gai'schain im Shaido-Lager alles andere als normal gewesen war.

Faile begrüßte sie mit einem Lächeln, entehrte sie aber nicht, indem sie sie mit dem Namen ansprach oder die Handsprache der Töchter benutzte. Allerdings konnte sie sich nicht davon abhalten, sie zu fragen: »Geht es euch gut?«, während sie von Chiad ein kleines Bündel entgegennahm.

Chiad war eine wunderschöne Frau mit grauen Augen und kurz geschnittenem rotblonden Haar, das unter der Kapuze ihres Gai'schain-Gewandes verborgen lag. Die Frage ließ sie das Gesicht verziehen. »Gaul hat das ganze Shaido-Lager nach mir durchsucht, und Berichte besagen, er hätte zwölf Algai'd'siswai mit dem Speer besiegt. Vielleicht werde ich doch noch einen Brautkranz für ihn anfertigen müssen, sobald das alles hier vorbei ist.«

Faile lächelte.

Chiad erwiderte das Lächeln. »Er hat nicht damit gerechnet, dass einer der von ihm getöteten Männer ausgerechnet derjenige war, der Bain als Gai'schain hatte. Ich glaube nicht, dass es Gaul gefällt, dass wir ihm beide dienen.«

»Dummer Mann«, sagte Bain, die größere der beiden. »Sieht ihm ähnlich, nicht aufzupassen, wo er mit dem Speer hinsticht. Er konnte einfach nicht den richtigen Mann töten, ohne auch noch aus Versehen ein paar andere töten zu müssen.« Beide Frauen kicherten.

Faile lächelte und nickte; Aiel-Humor ging über ihren Horizont. »Vielen Dank, dass ihr das hier besorgt habt«, sagte sie und hielt das kleine Tuchbündel hoch.

»Nicht der Rede wert«, sagte Chiad. »An diesem Tag arbeiteten zu viele Hände, also war es leicht. Alliandre Maritha Kigarin wartet bereits bei den Bäumen auf Euch. Wir sollten ins Lager zurückkehren.«

»Ja«, fügte Bain hinzu. »Vielleicht will Gaul ja wieder den Rücken massiert haben oder Wasser gebracht bekommen. Er wird so wütend, wenn wir fragen, aber Gai'schain erringen Ehre nur durch den Dienst. Was sollen wir sonst tun?«

Die Frauen lachten wieder, und beide schüttelten den Kopf, als sie mit raschelnden Gewändern zurück in Richtung Lager liefen. Der Gedanke, so eine Tracht noch einmal tragen zu müssen, ließ Faile zusammenzucken, auch wenn es sie nur an die Tage erinnerte, die sie Sevanna hatte bedienen müssen.

Die hochgewachsene Arrela und die anmutige Lacile gesellten sich bei den Weiden wieder zu ihr. Die Töchter, die als ihre Leibwache fungierten, blieben zurück und passten aus der Ferne auf. Eine dritte Tochter trat aus den Schatten und gesellte sich zu ihnen, vermutlich von Bain und Chiad geschickt, um Alliandre zu beschützen. Die dunkelhaarige Königin stand vor den Bäumen und sah in ihrem kostbaren roten Gewand und den Goldkettchen im Haar wieder wie eine richtige Lady aus. Es war eine auffällige Aufmachung, als wäre sie entschlossen, die Tage als unfreiwillige Dienerin ungeschehen zu machen. Alliandres Gewand machte Faile unwillkürlich ihren Morgenrock bewusst. Aber sie hätte sich nichts anderes anziehen können, ohne Perrin zu wecken. Arrela und Lacile trugen nur die bestickten Hosen und Hemden, die bei den Cha Faile üblich waren.

Alliandre hielt eine kleine Laterne mit vorgeschobener Blende, die nur wenig Licht spendete; es beleuchtete ihr jugendliches Gesicht und das dunkle Haar. »Haben sie etwas gefunden?«, fragte sie sofort. »Bitte, sagt mir, dass sie Erfolg hatten.« Für eine Königin war sie immer erstaunlich bodenständig gewesen, wenn auch etwas herrisch. Ihre Zeit in Malden schien Letzteres etwas gedämpft zu haben.

»Ja.« Faile hob das Bündel. Die Frauen drängten sich um sie, als sie niederkniete. Das kurze Gras wurde von der Laterne angestrahlt und funkelte wie Flammenzungen. Faile öffnete das Bündel. Es enthielt nichts Außergewöhnliches. Ein kleines Taschentuch aus gelber Seide. Ein Ledergürtel mit einem eingestanzten Muster aus Vogelfedern. Ein schwarzer Schleier. Und ein schmaler Lederriemen, in dessen Mitte ein Stein eingeschnürt war.

»Dieser Gürtel gehörte Kinhuin«, sagte Alliandre und zeigte darauf. »Ich habe gesehen, wie er ihn trug, bevor ...« Sie verstummte, kniete nieder und nahm ihn.

»Der Schleier gehört einer Tochter«, sagte Arrela.

»Unterscheiden sie sich?«, fragte Alliandre überrascht.

»Natürlich tun sie das«, sagte Arrela und hob den Schleier hoch. Faile hatte die Tochter, die Arrelas Beschützerin geworden war, nie kennengelernt, aber die Frau war in der Schlacht gestorben, wenn auch nicht auf so dramatische Weise wie Rolan und die anderen.

Das Seidentuch gehörte Jhoradin; Lacile zögerte, dann nahm sie es in die Hand, drehte es um und enthüllte einen Blutfleck auf der anderen Seite. Damit war nur noch der Lederriemen übrig. Rolan hatte ihn gelegentlich unter seinem Cadin'sor um den Hals getragen. Faile hätte gern gewusst, was er ihm bedeutet hatte, und ob der Stein, ein grob bearbeiteter Türkis, eine besondere Bedeutung für ihn gehabt hatte. Sie nahm ihn, dabei fiel ihr Blick auf Lacile. Überraschenderweise schien die schlanke Frau zu weinen. Weil Lacile so schnell in das Bett des stämmigen Bruderlosen gestiegen war, war Faile immer davon ausgegangen, dass ihre Beziehung zu ihm aus der Notwendigkeit heraus entstanden war und nicht aus Zuneigung.

»Vier Menschen sind tot«, sagte Faile. Plötzlich war ihr Mund ganz trocken. Sie bemühte sich um einen förmlichen Tonfall, denn das war die beste Weise, Gefühle aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Sie haben uns beschützt, hatten sogar etwas für uns übrig. Obwohl sie der Feind waren, betrauern wir sie. Aber vergesst nie, dass sie Aiel waren. Für einen Aiel gibt es viel schlimmere Schicksale als der Tod im Kampf.«

Die anderen beiden nickten, aber Lacile erwiderte ihren Blick. Für sie beide war es anders. Als Perrin aus dieser Gasse gestürmt gekommen war - vor Wut brüllend, weil Faile und Lacile allem Anschein nach von einem Shaido misshandelt wurden -, waren viele Dinge sehr schnell geschehen. In dem folgenden Kampf hatte sie Rolan in genau dem richtigen Augenblick abgelenkt und ihn zögern lassen. Er hatte das aus Sorge um sie getan, aber dieses Zögern hatte Perrin erlaubt, ihn zu töten.

Hatte sie es absichtlich getan? Sie vermochte es noch immer nicht zu sagen. Ihr war so viel durch den Kopf geschossen, der Anblick Perrins hatte so viele Gefühle ausgelöst. Sie hatte aufgeschrien und ... sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie versucht hatte, Rolan abzulenken, damit er durch Perrins Hand sterben konnte.

Für Lacile hatte es kein derartiges Zögern gegeben. Jhoradin war vor sie gesprungen, hatte sie hinter sich geschoben und die Waffe gegen den Eindringling erhoben. Sie hatte ihm ein Messer in den Rücken gestoßen und zum ersten Mal in ihrem Leben einen Menschen getötet. Und das war ein Mann gewesen, dessen Bett sie geteilt hatte.

Faile hatte Kinhuin getötet, den anderen Bruderlosen, der sie alle beschützt hatte. Er war nicht der erste Mann, dem sie das Leben genommen hatte - auch nicht der erste, den sie hinterrücks getötet hatte. Aber er war der erste Mann, den sie getötet hatte, obwohl er sie als Freundin betrachtet hatte.

Es hatte keine andere Möglichkeit gegeben. Perrin hatte nur Shaido gesehen, und die Bruderlosen nur den angreifenden Feind. Dieser Konflikt hätte nicht beendet werden können, ohne dass entweder Perrin oder die Bruderlosen tot am Boden lagen. Kein noch so lautes Brüllen hätte auch nur einen der Männer aufgehalten.

Aber das machte es nur noch tragischer. Faile kämpfte dagegen an, dass sich ihre Augen genau wie Laciles mit Tränen füllten. Sie hatte Rolan nicht geliebt, und sie war froh, dass Perrin derjenige gewesen war, der den Kampf überlebt hatte. Aber Rolan war ein ehrenhafter Mann gewesen, und irgendwie fühlte sie sich ... beschmutzt, dass sein Tod ihr Verschulden war.

Das hätte nicht so kommen müssen. Aber das war es nun einmal. Ihr Vater hatte oft von solchen Situation gesprochen, wenn man Leute töten musste, die man eigentlich mochte, nur weil man ihnen auf der falschen Seite des Schlachtfelds begegnete. Sie hatte ihn da nie verstanden. Müsste sie das noch einmal tun, würde sie wieder genauso handeln. Sie würde Perrin keinem Risiko aussetzen. Rolan hatte sterben müssen.

Aber die Welt erschien ihr als ein traurigerer Ort, weil es nötig gewesen war.

Lacile wandte sich ab und schniefte leise. Faile nahm ein kleines Fläschchen Öl aus dem Bündel. Sie zog den Stein aus dem Lederriemen, dann legte sie den Riemen in die Mitte des Tuches. Sie goss Öl darüber, entzündete einen Zunderstab an der Laterne und setzte den Riemen in Brand.

Sie sah zu, wie er mit winzigen blauen und grünen, an der Oberseite orange gekrönten Flammen verbrannte. Der Geruch von brennendem Leder hatte eine schreckliche Ähnlichkeit mit dem von brennendem menschlichen Fleisch. Die Nacht war windstill, und so konnten die Flammen ungehindert tanzen.

Alliandre tränkte den Gürtel und legte ihn in das kleine Feuer. Arrela tat das Gleiche mit dem Schleier. Schließlich fügte Lacile das Taschentuch hinzu. Sie weinte noch immer.

Das war alles, was sie tun konnten. Im Chaos des Aufbruchs aus Malden war es unmöglich gewesen, sich um die Leichen zu kümmern. Chiad hatte gesagt, es würde niemanden entehren, sie zurückzulassen, aber Faile hatte etwas tun müssen. Eine kleine Zeremonie, um Rolan und die anderen zu ehren.

»Gestorben durch unsere Hand«, sagte sie, »oder einfach nur in der Schlacht gefallen. Diese vier haben uns Ehre erwiesen. Wir schulden ihnen großes Toh, wie die Aiel sagen würden. Ich glaube nicht, dass man es vergelten kann. Aber wir können uns an sie erinnern. Die Bruderlosen und eine Tochter haben uns Freundlichkeit erwiesen, obwohl sie es nicht mussten. Sie hielten ihre Ehre aufrecht, wo andere sie vergaßen. Wenn wir uns dafür erkenntlich zeigen können, dann auf diese Weise.«

»In Perrins Lager gibt es einen Bruderlosen«, sagte Lacile. Die Flammen des Scheiterhaufens spiegelten sich in ihren Augen. »Er heißt Niagen; er ist Gai'schain von Sulin, der Tochter. Ich habe ihn besucht und ihm erzählt, was die anderen für uns taten. Er ist ein freundlicher Mann.«

Faile schloss die Augen. Vermutlich meinte Lacile, dass sie mit diesem Niagen ins Bett gegangen war. Das war Gai'schain nicht verboten. »Ihr könnt Jhoradin nicht auf diese Weise ersetzen«, sagte sie und öffnete die Augen wieder. »Oder das ungeschehen machen, was Ihr tatet.«

»Ich weiß«, erwiderte Lacile beschämt. »Aber sie waren trotz der schrecklichen Situation so humorvoll. Sie hatten etwas Besonderes an sich. Jhoradin wollte mich mit ins Dreifache Land nehmen, mich zu seiner Frau machen.«

Und du hättest das nie getan, dachte Faile. Ich weiß, dass du das nicht getan hättest. Aber jetzt, wo er tot ist, wird dir klar, welche Gelegenheit du versäumt hast.

Nun, mit welchem Recht wollte sie anderen einen Vorwurf machen? Sollte Lacile doch tun, was sie wollte. Wenn dieser Niagen auch nur ein halb so guter Mann wie Rolan und die anderen war, dann würde Lacile es ja vielleicht gut bei ihm haben.

»Kinhuin hatte gerade erst angefangen, auf mich aufzupassen«, sagte Alliandre. »Ich weiß, was er sich wünschte, aber er hat es nie verlangt. Bestimmt wollte er die Shaido verlassen und hätte uns bei der Flucht geholfen. Er hätte uns geholfen, selbst wenn ich ihn abgewiesen hätte.«

»Marthea hasste, was die anderen Shaido taten«, sagte Arrela. »Aber sie blieb bei ihnen, weil es ihr Clan war. Für diese Loyalität ist sie gestorben. Es gibt schlimmere Dinge, für die man sterben kann.«

Faile sah zu, wie die letzte Glut des Miniaturscheiterhaufens flackernd verlosch. »Ich glaube, Rolan hat mich wirklich geliebt«, sagte sie. Und das war alles.

Sie standen auf und kehrten ins Lager zurück. Die Vergangenheit war ein Feld aus Glut und Asche, wie ein altes saldaeanisches Sprichwort sagte, die Reste des Feuers, das die Gegenwart war. Diese Glut wurde hinter ihr fortgeweht. Aber sie behielt Rolans Türkis. Nicht aus Bedauern, sondern zur Erinnerung.

Perrin lag wach in der stillen Nacht und roch das Segeltuch seines Zeltes und den einzigartigen Duft Failes. Sie war nicht da, obwohl sie eben noch hier gewesen war. Er war eingeschlafen, und jetzt war sie fort. Vermutlich zu den Latrinen.

Er starrte in die Finsternis hinauf und versuchte Springer und den Wolfstraum zu verstehen. Je länger er darüber nachdachte, desto entschlossener wurde er. Er würde zur Letzten Schlacht marschieren - und wenn er das tat, wollte er den Wolf in seinem Inneren kontrollieren können. Entweder wollte er von den vielen Menschen befreit sein, die ihm folgten, oder lernen, ihre Loyalität zu akzeptieren.

Er musste einige Entscheidungen treffen. Es würde ihm nicht leichtfallen, aber er würde sie treffen. Ein Mann musste schwere Dinge tun. So war das Leben nun einmal. Da hatte er bei Failes Gefangennahme einfach falsch reagiert. Statt Entscheidungen zu treffen, war er ihnen aus dem Weg gegangen. Meister Luhhan wäre von ihm enttäuscht gewesen.

Was ihn zu einer weiteren Entscheidung brachte, der schwersten von allen. Er würde Faile in die Gefahr reiten lassen müssen, sie vielleicht sogar erneut einem Risiko aussetzen. Zählte das überhaupt als Entscheidung? Konnte er so eine Entscheidung überhaupt treffen? Allein der Gedanke, sie wieder in Gefahr zu sehen, bereitete ihm Übelkeit. Aber er würde deswegen etwas tun müssen.

Drei Probleme. Er würde sich ihnen stellen, und er würde Entscheidungen treffen. Aber er würde vorher darüber nachdenken, denn so ging er die Dinge an. Ein Mann war ein Narr, wenn er Entscheidungen traf, ohne vorher zu überlegen.

Aber die Entscheidung, sich seinen Problemen zu stellen, brachte ihm einen gewissen Frieden, und er drehte sich auf die Seite und schlief wieder ein.

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