26 Ein Riss im Stein

Aviendha betrachtete das Gelände des Anwesens, auf dem Leute umhereilten und sich auf die Abreise vorbereiteten. Für Feuchtländer waren Basheres Männer und Frauen gut ausgebildet, und sie verstauten ihre Habe umsichtig und kümmerten sich um ihre Ausrüstung. Verglichen mit den Aiel waren die anderen Feuchtländer, jene, die nicht zu den Soldaten gehörten, jedoch eine Katastrophe. Lagerfrauen eilten hin und her, als wären sie davon überzeugt, etwas zu vergessen. Die Botenjungen rannten mit ihren Freunden und bemühten sich, beschäftigt auszusehen, damit sie nichts tun mussten. Zelte und Ausrüstung der Zivilisten wurden nur langsam eingepackt und verstaut, und sie würden Pferde, Wagen und Kutscher brauchen, um alles dorthin zu schaffen, wo sie hingehen mussten.

Aviendha schüttelte den Kopf. Aiel nahmen nur das mit, was sie tragen konnten, und ihre Kriegergruppe schloss nur Soldaten und Weise Frauen ein. Und wenn für einen längeren Feldzug mehr als nur die Speere gebraucht wurden, wussten die Arbeiter und Handwerker, wie sie sich schnell und effizient auf den Aufbruch vorzubereiten hatten. Darin lag Ehre. Ehre, die verlangte, dass ein jeder fähig war, für sich selbst und seine Familie zu sorgen und den Clan nicht aufzuhalten.

Sie schüttelte erneut den Kopf und wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu. Die Einzigen, denen es an einem solchen Tag an Ehre mangelte, waren die, die nicht arbeiteten. Sie tauchte einen Finger in den kleinen Eimer vor ihr, dann hob sie die Hand und hielt sie über einen zweiten Eimer. Ein Wassertropfen löste sich. Sie wiederholte das Ganze.

Es handelte sich um die Art von Bestrafung, die kein Feuchtländer verstanden hätte. Sie hätten es für eine lächerliche Aufgabe gehalten, dort auf dem Boden zu sitzen und mit dem Rücken an der Holzwand des Herrenhauses zu lehnen. Die Hand hin und her zu bewegen, den einen Eimer zu leeren und den anderen zu füllen. Und zwar einen Tropfen nach dem anderen. Für sie hätte das kaum eine Bestrafung dargestellt.

Aber das lag nur daran, dass Feuchtländer oft faul waren. Sie würden lieber Wasser in Eimer tröpfeln statt Steine zu schleppen. Steine zu schleppen erforderte Aktivität - und Aktivität war gut für Körper und Seele. Wasser zu bewegen war bedeutungslos. Sinnlos. Es erlaubte ihr weder, die Beine zu strecken, noch ihre Muskeln zu bewegen. Und sie tat es, während der Rest des Lagers die Zelte für den Marsch verpackte. Das machte die Bestrafung zehnmal so beschämend! Sie verdiente Toh für jeden Augenblick, den sie nicht mithalf, und es gab nicht das Geringste, was sie daran ändern konnte.

Außer Wasser zu bewegen. Tropfen um Tropfen um Tropfen.

Es machte sie wütend. Dann schämte sie sich wegen der Wut. Weise Frauen ließen sich niemals auf diese Weise von ihren Gefühlen beherrschen. Sie musste geduldig bleiben und den Grund für ihre Bestrafung herausfinden.

Allein schon der Versuch, sich dem Problem zu nähern, hätte sie am liebsten schreien lassen. Wie oft konnte sie dieselbe Lösung in Gedanken durchgehen? Vielleicht war sie ja einfach zu beschränkt, um es zu verstehen. Vielleicht verdiente sie es auch nicht, eine Weise Frau zu sein.

Sie steckte die Hand in den Eimer, dann bewegte sie den nächsten Tropfen Wasser. Ihr gefiel nicht, was diese Strafen mit ihr machten. Sie war eine Kriegerin, auch wenn sie keinen Speer mehr trug. Sie fürchtete weder Strafen noch Schmerz. Aber in ihr wuchs die Furcht, dass sie ihren Mut verlieren und völlig nutzlos sein würde.

Sie wollte eine Weise Frau werden, wollte es sogar unbedingt. Diese Erkenntnis hatte sie überrascht, denn sie hätte niemals gedacht, jemals etwas mit der Leidenschaft anzustreben, mit der sie vor langer Zeit die Speere gewollt hatte. Aber während der vergangenen Monate hatte sie die Weisen Frauen studiert, und ihr Respekt für sie war gewachsen; sie hatte sich selbst als eine Gleichgestellte akzeptiert, die dabei helfen würde, die Aiel durch diese gefährlichste aller Zeiten zu führen.

Die Letzte Schlacht würde eine Prüfung sein, wie sie ihr Volk noch nie zuvor erlebt hatte. Amys und die anderen versuchten mit aller Macht, die Aiel zu beschützen, und sie saß da und bewegte Wassertropfen!

»Geht es dir gut?«, fragte eine Stimme.

Aviendha zuckte zusammen, schaute auf und griff so abrupt nach dem Messer, dass sie beinahe die Eimer umstieß. Ein kurzes Stück entfernt stand eine Frau mit kurzem dunklen Haar im Schatten des Hauses. Min Farshaw hatte die Arme verschränkt und trug einen kobaltblauen Mantel mit silbernen Stickereien. Und ein Halstuch.

Aviendha entspannte sich, ließ das Messer los. Jetzt konnten sich schon Feuchtländer an sie anschleichen? »Mir geht es gut«, sagte sie und kämpfte dagegen an, nicht zu erröten.

Ihr Ton und ihr Verhalten hätte ein deutlicher Hinweis sein müssen, dass sie nicht durch eine Unterhaltung beschämt werden wollte, aber Min schien das nicht zu bemerken. Die Frau drehte sich um und betrachtete das Lager. »Hast du … hast du nichts zu tun?«

Dieses Mal vermochte Aviendha ein Erröten nicht zu unterdrücken. »Ich mache das, was man mir aufträgt.«

Min nickte, und Aviendha zwang sich, ihre Atmung zu kontrollieren. Sie konnte es sich nicht leisten, auf diese Frau wütend zu werden. Ihre Erstschwester hatte sie gebeten, nett zu Min zu sein. Sie entschied sich, sich nicht beleidigt zu fühlen. Min hatte ja keine Ahnung, was sie da sagte.

»Ich dachte, ich könnte vielleicht mit dir reden«, sagte Min und betrachtete noch immer das Lager. »Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte. Ich vertraue den Aes Sedai nicht, und er auch nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob er jetzt überhaupt noch jemandem vertraut. Vielleicht nicht einmal mehr mir.«

Aviendha wandte den Kopf und sah, dass Min Rand al’Thor beobachtete, der durchs Lager ging. Er trug einen schwarzen Mantel, sein rotes Haar leuchtete im Nachmittagslicht. Er schien die Saldaeaner, die ihm dienten, hoch zu überragen.

Aviendha hatte von den Geschehnissen in der vergangenen Nacht gehört, als er von Semirhage angegriffen worden war. Von einer der Schattenbeseelten selbst; sie wünschte sich, sie hätte die Kreatur mit eigenen Augen sehen können, bevor sie getötet wurde. Sie erschauderte.

Rand al’Thor hatte gekämpft und gewonnen. Auch wenn er sich meistens wie ein Narr verhielt, war er ein geschickter Krieger, dem das Glück zur Seite stand. Welcher lebende Mensch konnte sonst von sich behaupten, eigenhändig so viele von den Schattenbeseelten besiegt zu haben wie er? Er hatte viel Ehre errungen.

Sein Kampf hatte ihm auf eine Weise Narben zugefügt, die Aviendha noch nicht richtig verstand. Sie konnte seine Schmerzen fühlen. Sie hatte sie auch während Semirhages Angriff gefühlt, auch wenn sie es zuerst fälschlicherweise für einen Albtraum gehalten hatte. Aber sie hatte schnell erkannt, dass das ein Irrtum war. Kein Albtraum konnte so schrecklich sein. Noch immer konnte sie den Widerhall dieses unglaublichen Schmerzes fühlen, diese Wogen der Qual, diese Raserei in ihm.

Sie hatte Alarm geschlagen, aber nicht schnell genug. Für ihren Fehler schuldete sie ihm Toh; darum würde sie sich kümmern, sobald sie das mit ihren Strafen erledigt hatte. Falls sie jemals damit fertig wurde.

»Rand al’Thor wird seine Probleme lösen«, sagte sie und tropfte mehr Wasser.

»Wie kannst du so etwas sagen?«, fragte Min und sah zu ihr herüber. »Fühlst du seinen Schmerz denn nicht?«

»Ich fühlte ihn jeden Augenblick«, erwiderte sie durch zusammengebissene Zähne. »Aber er muss sich seinen eigenen Prüfungen stellen, so wie ich mich den meinen. Vielleicht kommt der Tag, an dem er und ich uns ihnen gemeinsam stellen können, aber dieser Zeitpunkt ist nicht jetzt.«

Zuerst muss ich ihm ebenbürtig sein, fügte sie in Gedanken hinzu. Ich werde nicht als Unterlegene an seine Seite treten.

Min musterte sie, und Aviendha verspürte einen Schauder und fragte sich, welche Visionen die Frau sah. Angeblich trafen ihre Vorhersagen über die Zukunft immer ein.

»Du bist nicht das, was ich erwartet habe«, sagte Min schließlich.

»Ich habe dich getäuscht?«, fragte Aviendha stirnrunzelnd.

»Nein, das nicht«, erwiderte Min mit einem leisen Lachen. »Ich meinte, dass ich dich wohl falsch eingeschätzt habe. Ich war mir nicht sicher, was ich nach dieser Nacht in Caemlyn denken sollte, als wir … nun, die Nacht, in der wir zusammen mit Rand den Bund eingingen. Ich fühle mich dir nahe und zugleich schrecklich fern.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vermutlich habe ich erwartet, dass du sofort nach deiner Ankunft zu mir kommst. Wir hatten Dinge zu besprechen. Als du nicht kamst, machte ich mir Sorgen. Vielleicht habe ich dich ja beleidigt.«

»Du schuldest mir kein Toh«, versicherte Aviendha. »Gut«, sagte Min. »Manchmal befürchte ich, dass wir … dass es zu einer Konfrontation zwischen uns kommen könnte.«

»Und was würde das nützen?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Min schulterzuckend. »Ich dachte, das wäre die Art der Aiel. Mich zu einem Ehrenkampf herauszufordern. Um ihn.«

Aviendha schnaubte. »Um einen Mann kämpfen? Wer tut denn so etwas? Würdest du mir Toh schulden, vielleicht könnte ich dann verlangen, dass wir den Tanz der Speere tanzen - aber nur, wenn du eine Tochter wärst. Und nur, wenn ich auch eine wäre. Vermutlich könnten wir mit Messern kämpfen, aber das wäre kaum ein fairer Kampf. Welche Ehre läge darin, gegen jemanden zu kämpfen, der es nicht kann?«

Min errötete, als wäre sie gerade beleidigt worden. Welch seltsame Reaktion. »Ach, ich weiß nicht«, sagte sie, ließ ein Messer aus dem Ärmel gleiten und dann über ihre Knöchel tanzen. »Ich würde mich kaum als schutzlos bezeichnen.« Sie ließ das Messer in ihrem anderen Ärmel verschwinden. Warum mussten Feuchtländer immer so mit ihren Messerkünsten angeben? Thom Merrilin war dafür genauso anfällig gewesen. War Min denn nicht klar, dass Aviendha in der Zeit, die sie brauchte, um wie ein Straßenkünstler mit dem Messer herumzufummeln, ihr dreimal die Kehle hätte durchschneiden können? Aber sie sagte nichts. Offensichtlich war Min auf dieses Geschick sehr stolz, und es bestand kein Grund, sie zu beschämen.

»Das ist unwichtig«, sagte Aviendha und fuhr mit der Arbeit fort. »Ich würde nicht mit dir kämpfen, solange du mich nicht schwer beleidigst. Meine Erstschwester betrachtet dich als Freundin, und ich würde das auch gern tun.«

»Also gut«, sagte Min, verschränkte die Arme und schaute wieder zu Rand hinüber. »Nun, ich schätze, das ist gut so. Ich muss zugeben, dass mir die Vorstellung nicht gefällt, teilen zu sollen.«

Aviendha zögerte, dann tauchte sie den Finger wieder in den Eimer. »Mir auch nicht.« Zumindest gefiel ihr die Vorstellung nicht, mit einer Frau teilen zu müssen, die sie nicht gut kannte.

»Also was tun wir?«

»Weitermachen wie bisher«, meinte Aviendha. »Du hast, was du willst, und ich bin mit anderen Dingen beschäftigt. Wenn sich etwas ändert, sage ich dir Bescheid.«

»Das ist … aufrichtig von dir.« Min sah verwirrt aus. »Du bist mit anderen Dingen beschäftigt? So wie Finger in Wassereimer zu tauchen?«

Wieder errötete Aviendha. »Ja«, fauchte sie. »Genau das. Du entschuldigst mich.« Sie stand auf und ging los, ließ die Eimer stehen. Ihr war klar, dass sie die Beherrschung nicht hätte verlieren dürfen, aber sie konnte es nicht ändern. Min, die immer wieder ihre Strafe zur Sprache brachte. Ihre Unfähigkeit zu begreifen, was die Weisen Frauen eigentlich von ihr wollten. Rand al’Thor, der sich ständig in Gefahr brachte, und sie konnte nicht einmal einen Finger rühren, um ihm zu helfen.

Sie ertrug es einfach nicht länger. Sie überquerte den Rasen und ballte dabei ständig die Fäuste, hielt Abstand zu Rand. So wie dieser Tag verlief, würde er ihre verschrumpelten Finger bemerken und sie fragen, warum sie sie eingeweicht hatte! Wenn er dann entdeckte, dass die Weisen Frauen sie bestraften, tat er vermutlich etwas Übereiltes und machte sich zum Narren. Männer waren so, und Rand al’Thor erst recht.

Aviendha stolzierte über den frühlingshaften Boden. Der braune Untergrund wies rechteckige Abdrücke auf, wo Zelte gestanden hatten. Sie bahnte sich einen Weg vorbei an den Feuchtländern, die in alle Richtungen eilten, und passierte eine Reihe Soldaten, die sich Kornsäcke zuwarfen und damit einen Wagen beluden, an den zwei Zugpferde mit dicken Hufen angeschirrt waren.

Sie blieb in Bewegung und gab sich alle Mühe, nicht zu platzen. Tatsächlich konnte sie das Gefühl nicht loswerden, gleich etwas »Übereiltes« zu tun, sich wie Rand al’Thor zu benehmen. Warum? Warum konnte sie nicht ergründen, was sie falsch machte? Die anderen Aiel im Lager schienen genauso unwissend zu sein wie sie, obwohl sie natürlich keiner darauf angesprochen hatte. Sie erinnerte sich daran, als Tochter ähnliche Bestrafungen gesehen zu haben, und sie hatte sich nie in die Angelegenheiten der Weisen Frauen eingemischt.

Sie ging um den Wagen herum und entdeckte, dass sie wieder auf Rand al’Thor zuhielt. Er sprach mit drei von Davram Basheres Quartiermeistern, die er um Haupteslänge überragte. Einer davon, ein Mann mit langem, schwarzen Schnurrbart, zeigte auf die Pferdeseile und sagte etwas. Rand sah Aviendha und hob die Hand, aber sie drehte sich auf dem Absatz um und ging auf das Aiellager an der Nordseite des Rasens zu.

Vergeblich versuchte sie ihren Zorn zu zügeln. Hatte sie denn kein Recht auf ihre Wut, auch wenn sie sie nur gegen sich selbst richtete? Die Welt stand kurz vor dem Untergang, und sie verbrachte ihre Tage damit, bestraft zu werden! Voraus entdeckte sie eine kleine Gruppe von Weisen Frauen - Amys, Bair und Melaine -, die neben einem Stapel aus zusammengelegten braunen Zelten standen. Die eng zusammengebundenen Bündel waren mit Riemen versehen, damit man sie sich auf den Rücken schnallen konnte.

Eigentlich hätte Aviendha zu ihren Eimern zurückkehren und ihre Bemühungen verdoppeln sollen. Aber das tat sie nicht. Vor Wut schäumend hielt sie auf die Weisen Frauen zu, wie ein Kind, das eine Narshkatze mit einem Stock angreift.

»Aviendha?«, fragte Bair. »Hast du deine Strafe bereits erledigt?«

»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Aviendha, blieb vor den Frauen stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften. Der Wind zerrte an ihrer Bluse, aber sie ließ sie flattern. Umhereilende Arbeiter - Aiel und Saldaeaner - machten einen großen Bogen um die Gruppe.

»Nun?«, sagte Bair.

»Du lernst nicht schnell genug«, fügte Amys hinzu und schüttelte den weißhaarigen Kopf.

»Ich lerne nicht schnell genug?«, wiederholte Aviendha. »Ich habe alles gelernt, was ihr mir aufgetragen habt! Ich habe jede Lektion gelernt, jede Tatsache wiederholt, jede Pflicht erfüllt! Ich habe alle eure Fragen beantwortet, und ich habe gesehen, dass ihr bei jeder Antwort zustimmend genickt habt!«

Sie starrte jede von ihnen an, bevor sie fortfuhr. »Ich lenke die Macht besser als jede Aielfrau. Ich habe die Speere aufgegeben, und ich heiße den Platz unter euch willkommen. Ich habe meine Pflicht getan und bei jeder Gelegenheit Ehre gesucht. Und doch bestraft ihr mich immer noch! Damit ist jetzt Schluss. Entweder ihr sagt mir jetzt, was ihr von mir wollt, oder ihr schickt mich weg.«

Sie rechnete mit Wut. Sie erwartete Enttäuschung. Sie rechnete damit, erklärt zu bekommen, dass ein unwissender Lehrling die Entscheidungen Weiser Frauen nicht infrage stellte. Zumindest rechnete sie mit einer größeren Strafe für ihre Anmaßung.

Amys sah Melaine und Bair an. »Kind, nicht wir sind es, die dich bestrafen«, sagte sie und schien ihre Worte sehr sorgfältig zu wählen. »Für diese Strafen bist du selbst verantwortlich.«

»Was auch immer ich getan habe, ich glaube einfach nicht, dass ich dafür verdiene, zum Da’tsang gemacht zu werden. Wenn ihr mich so behandelt, dann entehrt ihr euch nur selbst.«

»Kind«, sagte Amys und erwiderte ihren Blick. »Weist du unsere Strafen zurück?«

»Ja«, erwiderte Aviendha mit pochendem Herzen. »Das tue ich allerdings.«

»Du hältst deinen Anspruch für genauso wichtig wie wir den unseren?«, fragte Bair und beschattete das Gesicht mit der Hand. »Du hältst dich für ebenbürtig?«

Ebenbürtig?, dachte Aviendha und verspürte die erste Panik. Ich bin ihnen nicht ebenbürtig! Ich muss noch Jahre lernen. Was mache ich hier?

Konnte sie jetzt noch den Rückzug antreten? Um Verzeihung bitten, ihr Toh irgendwie erfüllen? Am besten eilte sie zurück zu ihrer Strafe und füllte das Wasser um. Ja! Genau das musste sie tun. Sie musste gehen und …

»Ich sehe keinen Sinn mehr darin, noch weiter zu lernen«, sagte sie stattdessen. »Wenn diese Strafen alles sind, was ihr mir noch beibringen könnt, dann muss ich davon ausgehen, dass ich alles gelernt habe, was ich lernen muss. Ich bin bereit, mich euch anzuschließen.«

Sie wartete auf den unweigerlichen Ausbruch wütender Fassungslosigkeit. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie hätte sich nicht von Mins dummen Gerede so sehr aufstacheln lassen dürfen.

Und dann fing Bair an zu lachen.

Es war ein herzliches Lachen, das gar nicht zu einer so kleinen Frau zu passen schien. Melaine stimmte ein und hielt sich den von der Schwangerschaft leicht gewölbten Bauch. »Sie hat noch länger als du gebraucht, Amys!«, rief Melaine aus. »So ein stures Mädchen habe ich noch nie gesehen.«

Amys’ Miene war ungewöhnlich weich. »Willkommen, Schwester«, sagte sie zu Aviendha.

Aviendha blinzelte. » Was?«

»Du bist jetzt eine von uns, Mädchen!«, erklärte Bair. »Oder zumindest bald.«

»Aber ich habe euch widersprochen!«

»Eine Weise Frau kann nicht zulassen, dass andere auf ihr herumtrampeln«, sagte Amys. »Wenn sie den Schatten unserer Schwesternschaft noch immer mit der Einstellung eines Lehrlings betritt, dann wird sie sich nie als eine von uns betrachten.«

Bair schaute zu Rand al’Thor hinüber, der einige Schritte entfernt stand und sich mit Sarene unterhielt. »Mir ist nie bewusst geworden, wie wichtig unsere Bräuche sind, bevor ich diese Aes Sedai studierte. Die ganz unten betteln wie Hündchen und werden von denen ignoriert, die sich als ihre Höhergestellten betrachten. Ist es da ein Wunder, dass sie nichts erreichen?«

»Aber die Weisen Frauen haben doch auch ihre Ränge«, sagte Aviendha. »Oder etwa nicht?«

»Ränge?« Amys sah verwirrt aus. »Manche von uns haben mehr Ehre errungen als andere, die sie durch Weisheit, Taten und Erfahrung verdient haben.«

Melaine hob einen Finger. »Aber es ist wichtig, nein, es ist sogar von entscheidender Bedeutung, dass jede Weise Frau bereit ist, ihren Standpunkt gut zu verteidigen. Wenn sie davon überzeugt ist, im Recht zu sein, kann sie sich nicht zur Seite schieben lassen, nicht einmal von einer anderen Weisen Frau. Ganz egal, wie alt oder weise die auch sein mag.«

»Keine Frau ist bereit, sich uns anzuschließen, es sei denn, sie erklärt sich bereit dazu«, fuhr Amys fort. »Sie muss als Gleichgestellte auftreten.«

»Eine Strafe ist keine richtige Strafe, solange man sie nicht akzeptiert, Aviendha«, sagte Bair, die noch immer lächelte. »Wir hielten dich schon vor Wochen bereit, aber du musstest uns ja weiterhin stur gehorchen.«

»Ich hätte dich beinahe schon für zu stolz gehalten, Mädchen«, fügte Melaine mit einem Lächeln voller Zuneigung hinzu.

»Sie ist kein Mädchen mehr«, sagte Amys.

»Oh, das ist sie sehr wohl noch«, sagte Bair. »Bis noch eine Sache erledigt ist.«

Aviendha war wie benommen. Sie hatten behauptet, sie würde nicht schnell genug lernen. Lernen, für sich selbst einzustehen! Dabei hatte sie noch nie zugelassen, sich von anderen herumstoßen zu lassen, aber das hier waren keine »anderen« - es waren Weise Frauen, und sie war der Lehrling. Was wäre geschehen, hätte Min sie nicht so wütend gemacht? Sie würde sich bei der Frau bedanken müssen, obwohl Min gar nicht klar sein würde, was sie da getan hatte.

Bis noch eine Sache erledigt ist… »Was muss ich noch tun?«

»Rhuidean«, sagte Bair.

Natürlich. Eine Weise Frau besuchte die heiligste aller Städte zweimal in ihrem Leben. Einmal, wenn sie Lehrling wurde, und dann noch einmal, wenn man sie zur Weisen Frau erhob.

»Die Dinge werden jetzt anders sein«, versicherte Melaine. »Rhuidean ist nicht länger das, was es einst war.«

»Das ist kein Grund, die alten Bräuche zu vergessen«, erwiderte Bair. »Die Stadt mag nun für alle zugänglich sein, aber keiner wird so dumm sein, zwischen den Säulen hindurchzugehen. Aviendha, du musst…«

»Bair«, unterbrach Amys sie. »Wenn es dir recht ist, würde ich es ihr gern sagen.«

Bair zögerte, dann nickte sie. »Ja, natürlich. Das ist nur gerecht. Aviendha, wir wenden dir nun den Rücken zu. Wir werden dich nicht wiedersehen, bis du zu uns als Schwester zurückkommst, die von einer langen Reise heimkehrt.«

»Eine Schwester, die wir vergessen hatten, dass wir sie kannten«, sagte Melaine lächelnd. Die beiden Frauen wandten sich von ihr ab, dann ging Amys los in Richtung Reisegelände. Aviendha beeilte sich, sich ihr anzuschließen.

»Dieses Mal darfst du deine Kleidung tragen«, erklärte Amys, »als Zeichen deiner Stellung. Normalerweise würde ich vorschlagen, dass du dich zu Fuß zu der Stadt begibst, auch wenn wir nun Reisen können, aber ich glaube, dass wir in diesem Fall den Brauch am besten etwas beugen. Trotzdem solltest du nicht direkt in die Stadt Reisen. Ich schlage vor, du Reist zur Kaltfelsenfestung und gehst von dort aus weiter. Du musst Zeit im Dreifachen Land verbringen, um über deine Reise zu meditieren.«

Aviendha nickte. »Ich werde dort einen Wasserschlauch und Ausrüstung brauchen.«

»In der Festung liegt alles für dich bereit. Wir haben damit gerechnet, dass du diesen Abgrund bald überspringst. Das hättest du schon vor Tagen tun sollen, wenn man einmal überlegt, wie viele Hinweise wir dir gaben.« Sie warf Aviendha einen Blick zu, die zu Boden schaute.

»Du hast keinen Grund, dich zu schämen«, sagte Amys. »Diese Last liegt auf uns. Trotz Bairs Neckerei hast du es gut gemacht. Manche Frauen lassen sich monatelang bestrafen, bevor sie entscheiden, dass sie genug davon haben. Wir mussten hart zu dir sein, Kind - härter, als je ein Lehrling behandelt wurde, jedenfalls soweit ich es erlebt habe. Aber die Zeit ist so knapp!«

»Ich verstehe«, erwiderte Aviendha. »Und … danke.«

Amys schnaubte. »Du hast uns gezwungen, sehr kreativ zu sein. Vergiss nie die Zeit, die du damit verbracht hast, und die Schande, die du verspürt hast, denn es ist die Schande, die jeder Da’tsang fühlen wird, solltest du sie zu diesem Schicksal verurteilen. Und sie können dem nicht einfach entfliehen, indem sie verlangen, dass es aufhören soll.«

»Was macht ihr, wenn sich ein Lehrling während seiner ersten Ausbildungsmonate zur Weisen Frau erklärt?«

»Ich vermute, ihr ein paar Mal den Riemen zu schmecken geben und sie dann losschicken, Löcher zu graben«, meinte Amys. »Ich wüsste nicht, dass das schon einmal vorgekommen ist. Die Einzige, die kurz davor stand, war Sevanna.«

Aviendha hatte sich gewundert, warum die Weisen Frauen die Shaido ohne Widerspruch akzeptiert hatten. Sevannas Erklärung hatte ausgereicht: also waren Amys und die anderen gezwungen gewesen, sie zu akzeptieren.

Amys zog das Schultertuch enger um den Leib. »Die Töchter, die das Reisegelände bewachen, haben ein Bündel für dich. Sobald du Rhuidean erreichst, gehst du zur Stadtmitte. Dort findest du die Glassäulen. Geh in der Mitte zwischen ihnen hindurch, dann komm zurück. Genieß die Tage, die du zur Stadt läufst. Wir haben dich so hart angetrieben, damit du diese Zeit zum Nachdenken hast. Vermutlich ist es für eine Weile die letzte Gelegenheit, die du haben wirst.«

Aviendha nickte. »Die Schlacht kommt.«

»Ja. Kehre schnell zurück, nachdem du die Säulen passiert hast. Wir werden besprechen müssen, wie wir am besten mit dem Car’a’carn umgehen. Er hat sich seit letzter Nacht … verändert.«

»Ich verstehe.« Aviendha holte tief Luft.

»Geh«, sagte Amys, »und kehre zurück.« Sie betonte die letzten Worte. Einige Frauen überlebten Rhuidean nicht.

Aviendha erwiderte ihren Blick und nickte. In vielerlei Hinsicht war Amys ihr eine zweite Mutter gewesen. Sie wurde mit einem seltenen Lächeln belohnt. Dann wandte Amys ihr den Rücken zu, genau wie es die beiden anderen getan hatten.

Aviendha holte noch einmal tief Luft und warf noch einen Blick auf das zertrampelte Gras vor dem Herrenhaus, wo Rand mit strenger Miene mit den Quartiermeistern sprach, den Arm mit der fehlenden Hand auf dem Rücken haltend, während er mit der anderen Hand lebhaft gestikulierte. Sie lächelte ihn an, auch wenn er nicht in ihre Richtung schaute.

Ich kehre zu dir zurück, dachte sie.

Dann lief sie zum Reisegelände, sammelte das Bündel ein und webte ein Wegetor, das sie ein gutes Stück vor der Kaltfelsenfestung absetzen würde, neben einer Felsformation namens Töchterspeer, von wo aus sie zur Festung laufen konnte, um sich vorzubereiten. Das Tor öffnete sich in die vertraute trockene Luft der Wüste hinein.

Sie duckte sich in das Tor und jubelte endlich über das, was gerade geschehen war.

Sie hatte ihre Ehre zurückgewonnen.


»Ich kam durch ein kleines Wassertor, Aes Sedai«, sagte Shemerin und senkte vor den anderen Anwesenden im Zelt den Kopf. »Ehrlich gesagt war das nicht besonders schwer, nachdem ich die Burg verlassen hatte und in der Stadt war. Ich wagte es nicht, über eine der Brücken zu gehen. Ich durfte die Amyrlin nicht wissen lassen, was ich da tat.«

Romanda sah mit verschränkten Armen zu. Ihr Zelt wurde von zwei großen Messinglampen erhellt, aus deren Spitzen Flammen tanzten. Sechs Frauen lauschten der Geschichte der Ausreißerin. Lelaine war da, obwohl sich Romanda doch so bemüht hatte, dass sie nichts von dieser Zusammenkunft erfuhr. Romanda hatte gehofft, dass die schlanke Blaue zu sehr damit beschäftigt sein würde, sich in ihrem Status zu sonnen, um sich für ein scheinbar so triviales Ereignis zu interessieren.

Neben ihr stand Siuan. Die ehemalige Amyrlin hatte sich mit der Verbissenheit eines Flusskrebses an sie geklammert. Romanda war durchaus über die neu gefundene Fähigkeit erfreut, das Dämpfen wieder Heilen zu können - immerhin war sie eine Gelbe -, aber ein Teil von ihr wünschte sich, Siuan hätte nicht davon profitiert. Als wäre Lelaine nicht allein schon schlimm genug gewesen. Romanda hatte Siuans durchtriebene Natur keinesfalls vergessen, obwohl viele andere im Lager da anscheinend wesentlich nachsichtiger waren. Eine reduzierte Stärke in der Macht bedeutete nicht, dass man plötzlich keine vernünftigen Intrigen mehr schmieden konnte.

Natürlich war Sheriam auch da. Die rothaarige Behüterin der Chroniken saß neben Lelaine. In letzter Zeit war Sheriam sehr still gewesen und hatte kaum die Würde einer Aes Sedai zur Schau gestellt. Dumme Frau. Sie musste aus ihrer Stellung entfernt werden; das konnte jeder sehen. Sollte Egwene jemals zurückkehren - und Romanda betete darum, dass sie es tat, und sei es auch nur, weil es Lelaines Pläne vereiteln würde -, dann würde dazu Gelegenheit sein. Eine neue Behüterin.

Die letzte Person im Zelt war Magla. Romanda und Lelaine hatten - gesittet - darüber diskutiert, wer Shemerin zuerst verhören sollte. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass das nur auf eine faire Weise geschehen konnte, und zwar, wenn sie es gemeinsam taten. Weil Shemerin eine Gelbe war, hatte Romanda die Zusammenkunft in ihrem eigenen Zelt veranstalten können. Es war eine böse Überraschung gewesen, als Lelaine nicht nur mit Siuan, sondern auch noch mit Sheriam im Schlepptau aufgetaucht war. Aber keiner hatte festgelegt, wie viele Begleiter mitgebracht werden konnten. Und so blieb Romanda nur Magla. Die Frau mit den breiten Schultern saß neben ihr und lauschte still dem Geständnis. Sollte sie noch jemanden holen lassen? Aber die Zusammenkunft auf diese Weise zu verzögern wäre zu offensichtlich gewesen.

Doch eigentlich war es auch gar kein Verhör. Shemerin sprach frei heraus, widersetzte sich keinen Fragen. Sie saß vor ihnen auf einem Hocker. Ein Kissen hatte sie abgelehnt. Nur selten hatte Romanda eine Frau gesehen, die so entschlossen war, sich selbst zu bestrafen, wie dieses arme Kind.

Sie ist kein Kind, dachte sie dann. Sie ist eine vollwertige Aes Sedai, ganz egal, was sie auch sagt. Sei verflucht, Elaida, eine von uns in das da zu verwandeln!

Shemerin war eine Gelbe gewesen. Verflixt, sie war noch immer eine Gelbe. Sie sprach nun fast schon eine Stunde, beantwortete Fragen über die Lage in der Weißen Burg. Siuan war die Erste gewesen, die gefragt hatte, wie die Frau überhaupt von dort entkommen war.

»Bitte vergebt mir, dass ich im Lager Arbeit suchte, ohne zu euch zu kommen, Aes Sedai«, sagte Shemerin mit gesenktem Kopf. »Aber meine Flucht verstieß gegen das Gesetz. Als Aufgenommene, die ohne Erlaubnis geht, gelte ich als Ausreißerin. Ich wusste, dass man mich bestraft, sollte man mich entdecken.

Ich bin in der Gegend geblieben, weil sie so vertraut ist, und ich kann sie nicht loslassen. Als euer Heer kam, sah ich die Gelegenheit, eine Arbeit zu finden, und ich ergriff sie. Aber bitte, zwingt mich nicht, zurückzugehen. Ich werde keine Gefahr sein. Ich will das Leben einer normalen Frau führen und darauf achten, meine Fähigkeiten nie zu benutzen.«

»Ihr seid eine Aes Sedai«, sagte Romanda und bemühte sich um einen gemäßigten Tonfall. Das Verhalten dieser Frau verlieh vielem zusätzliche Glaubwürdigkeit, was Egwene über Elaidas machthungrige Herrschaft in der Burg gesagt hatte. »Ganz egal, was Elaida gesagt hat.«

»Ich …« Shemerin schüttelte bloß den Kopf. Beim Licht! Sie war nie die selbstbewussteste aller Aes Sedai gewesen, aber sie so tief gesunken zu sehen war erschreckend.

»Erzählt mir von diesem Wassertor«, sagte Siuan und lehnte sich auf ihrem Stuhl vor. »Wo können wir es finden?«

»An der südwestlichen Seite der Stadt, Aes Sedai«, erwiderte Shemerin. »Fünf Minuten Fußweg östlich von der Stelle, an der die alten Statuen von Eleyan al’Landerin und ihren Behütern stehen.« Sie zögerte, erschien plötzlich noch nervöser. »Aber es ist ein kleines Tor. Da kann man kein Heer hindurchführen. Ich kenne es nur, weil ich die Pflicht hatte, mich um die Bettler zu kümmern, die dort leben.«

»Ich will trotzdem eine Karte«, beharrte Siuan, dann warf sie Lelaine einen Seitenblick zu. »Zumindest bin ich der Ansicht, wir sollten eine haben.«

»Das ist ein weiser Vorschlag«, sagte Lelaine in einem widerwärtig großherzigen Tonfall.

»Ich will mehr über Eure … Situation wissen«, sagte Magla. »Wie kommt Elaida nur auf die Idee, dass es klug sein könnte, eine Schwester zu degradieren? Egwene sprach von diesem Vorfall, und ich fand es schon damals unglaublich. Was hat sie sich nur dabei gedacht?«

»Ich … kann nicht für die Amyrlin sprechen«, sagte Shemerin. Und zuckte zusammen, als die Frauen im Raum sie ziemlich unverhohlen finster anstarrten, weil sie Elaida als Amyrlin bezeichnete. Romanda verzichtete darauf. Da kroch etwas unter dem Segeltuchboden des Zeltes, bewegte sich von der einen Ecke auf die Mitte des Raumes zu. Beim Licht! War das eine Maus? Nein, dazu war es zu klein. Vielleicht eine Grille. Romanda rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum.

»Aber Ihr habt doch sicherlich etwas getan, um ihren Zorn zu verdienen«, fuhr Magla fort. »Etwas, das eine solche Behandlung rechtfertigt?«

»Ich …«, sagte Shemerin. Aus irgendeinem Grund schaute sie immer wieder zu Siuan hinüber.

Dumme Frau. Fast war Romanda geneigt, Elaida zuzugestehen, genau richtig gehandelt zu haben. Man hätte Shemerin niemals zur Stola erheben dürfen. Sie zur Aufgenommenen zu degradieren war natürlich auch keine Art und Weise, die Situation zu lösen. So viel Macht durfte man der Amyrlin nicht zugestehen.

Ja, da war definitiv etwas unter dem Segeltuch, das sich wild entschlossen einen Weg zur Zeltmitte bahnte, eine winzige Erhebung, die sich ruckartig bewegte.

»Ich war in ihrer Gegenwart schwach«, sagte Shemerin schließlich. »Wir sprachen von den … Geschehnissen in der Welt. Ich konnte sie nicht ertragen. Ich zeigte nicht die Selbstsicherheit, die einer Aes Sedai geziemt.«

»Das ist alles?«, fragte Lelaine. »Ihr habt keine Intrigen gegen sie geschmiedet? Ihr habt ihr nicht widersprochen?«

Shemerin schüttelte den Kopf. »Ich war loyal.«

»Es fällt mir schwer, das zu glauben«, sagte Lelaine.

»Ich glaube ihr«, sagte Siuan trocken. »Shemerin hat oft genug gezeigt, dass sie in Elaidas Tasche war.«

»Das ist ein gefährlicher Präzedenzfall«, bemerkte Magla. »Soll man meine Seele verbrennen, aber das ist es.«

»Ja«, stimmte Romanda ihr zu und beobachtete, wie das, was es auch immer war, unter dem Segeltuch langsam auf sie zukroch. »Ich vermute, sie hat die arme Shemerin benutzt, um die Weiße Burg mit dem Konzept der Degradierung vertraut zu machen. So kann sie es gegen jene einsetzen, die wirklich ihre Feinde sind.«

Die Unterhaltung kam zum Erliegen. Die Sitzenden, die Egwene unterstützten, standen vermutlich ganz oben auf der Liste derjenigen, die degradiert werden sollten - falls sich die Aes Sedai wieder versöhnten und Elaida ihre Macht behielt.

»Ist das eine Maus?«, fragte Siuan und schaute zu Boden.

»Zu klein«, antwortete Romanda. »Und das ist nicht wichtig.«

»Klein?«, meinte Lelaine und beugte sich vor.

Romanda runzelte die Stirn und schaute wieder auf die Stelle. Sie schien größer geworden zu sein. Tatsächlich …

Plötzlich zuckte die Beule. Der Zeltboden riss, und eine dicke Küchenschabe von der Größe einer Feige kämpfte sich aus dem Spalt. Angeekelt wich Romanda zurück.

Mit zuckenden Fühlern krabbelte die Küchenschabe über den Boden. Siuan zog den Schuh aus, um sie totzuschlagen. Aber der Zeltboden in der Nähe des Risses wölbte sich erneut empor, und eine zweite Küchenschabe schob sich in die Freiheit. Dann eine dritte. Und dann kam ein ganzer Schwarm, der aus der Lücke sprühte wie zu heißer, ausgespuckter Tee. Ein schwarzer Teppich aus krabbelnden, wimmelnden Kreaturen, die sich in ihrer Eile voranzukommen übereinander schoben.

Die Frauen kreischten vor Ekel, warfen beim Aufspringen Stühle und Hocker um. Im nächsten Augenblick waren die Behüter da, der breitschultrige Rorik, der mit Magla verbunden war, und der kupferhäutige Hüne namens Burin Shaeren, der zu Lelaine gehörte. Die Schreie hatten sie die Schwerter ziehen lassen, aber die Küchenschaben schienen sie einfach nur zu verwirren. So standen sie da und starrten den dreckigen Insektenstrom einfach nur an.

Sheriam sprang auf ihren Stuhl. Siuan lenkte die Macht und fing an, die Schaben in ihrer Nähe zu zerquetschen. Romanda hasste es, die Eine Macht zum Töten zu benutzen, selbst bei so widerwärtigen Kreaturen, aber auch sie lenkte Luft und schlug breite Schneisen in die Schädlingsflut, doch die Insekten kamen viel zu schnell. Bald lebte der ganze Boden, und die Aes Sedai mussten das Zelt verlassen. Rorik verschnürte den Eingang, auch wenn das die Insekten nicht aufhalten würde.

Draußen konnte Romanda einfach nicht damit aufhören, sich mit den Fingern das Haar zu kämen, nur um sicherzugehen, dass sich dort keine Schabe verfangen hatte. Der Gedanke, dass die Kreaturen über ihren Körper krabbelten, ließ sie erschaudern.

»Gibt es in dem Zelt irgendetwas, das Euch am Herzen liegt?«, fragte Lelaine und betrachtete das Zelt. Das Lampenlicht zeigte schattenhafte Insekten die Wände hochschwärmen.

Romanda dachte kurz an ihr Tagebuch, aber sie wusste genau, dass sie es nie wieder anfassen konnte, nachdem ihr Zelt auf diese Weise verseucht worden war. »Nichts, das ich jetzt noch haben will«, erwiderte sie und webte Feuer. »Und nichts, das sich nicht ersetzen ließe.«

Die anderen schlossen sich ihr an, und das Zelt fing an zu brennen. Rorik sprang zurück, als die Frauen die Macht lenkten. Romanda glaubte die Insekten drinnen zerplatzen zu hören. Die plötzliche Hitze trieb die Aes Sedai zurück. In wenigen Augenblicken war das Zelt ein flammendes Inferno. Frauen eilten aus den umstehenden Zelten.

»Ich glaube nicht, dass das etwas Natürliches war«, sagte Magla leise. »Das waren Küchenschaben mit vierfach geteiltem Rückenschild. Es gibt sie auf Schiffen, die Shara besuchen. «

»Nun, das war nicht das Schlimmste, das wir vom Dunklen König gesehen haben«, sagte Siuan und verschränkte die Arme. »Wir werden bald viel Schlimmeres sehen, merkt euch meine Worte.« Sie warf Shemerin einen Blick zu. »Kommt. Ich will diese Karte von Euch.«

Sie gingen los, begleitet von Rorik und den anderen, die im Lager Bescheid geben würden, dass es der Dunkle König in dieser Nacht berührt hatte. Romanda blieb und sah zu, wie das Zelt verbrannte. Bald bestand es nur noch aus glühenden Resten.

Beim Licht, dachte sie. Egwene hat recht. Es kommt. Und zwar schnell. Und jetzt saß das Mädchen im Kerker; vergangene Nacht hatte sie sich mit dem Saal in der Welt der Träume getroffen und sie über den katastrophalen Abend mit Elaida und die Auswirkungen ihrer Beleidigung der falschen Amyrlin informiert. Und noch immer verweigerte sie jede Rettung.

Fackeln wurden entzündet und Behüter geweckt, die nach weiterem Bösen Ausschau halten sollten. Romanda roch Rauch. Das waren die Überreste von allem, was sie auf der Welt besessen hatte.

Die Burg musste wieder vereint sein. Ganz egal, was es kostete. Würde sie bereit sein, sich Elaida zu beugen, damit das geschah? Würde sie bereit sein, das Kleid der Aufgenommenen anzuziehen, wenn das für die nötige Einheit für die Letzte Schlacht sorgte?

Sie konnte sich nicht entscheiden. Und das bereitete ihr beinahe genauso viel Sorgen wie zuvor diese wimmelnden Küchenschaben.

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