49 Der Mann in der Menge

Rand ging mit gesenktem Kopf und hatte den Armstumpf in die Manteltasche geschoben; der Zugangsschlüssel war sicher in ein weißes Tuch gewickelt und an seiner Seite am Gürtel befestigt. Niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit. Er war nur ein Mann in der Menge, einer von vielen, die durch die Straßen von Ebou Dar gingen. Nichts Besonderes, und das trotz der Tatsache, dass er größer als die meisten war. Er hatte rötliches Haar, was vielleicht auf einen Anteil von Aielblut hindeutete. Aber kürzlich waren viele seltsame Leute in die Stadt geflohen, um den Schutz der Seanchaner zu suchen. Was bedeutete da schon einer mehr?

Solange jemand die Macht nicht lenken konnte, konnte er hier Stabilität finden. Sicherheit.

Das störte ihn. Sie waren seine Feinde. Sie waren Eroberer. Er vertrat die Ansicht, dass ihre Länder nicht friedlich hätten sein dürfen. Sie hätten schrecklich sein müssen, voller Leid wegen ihrer tyrannischen Herrschaft. Aber so war das überhaupt nicht.

Es sei denn, man konnte die Macht lenken. Was die Seanchaner dieser Gruppe von Menschen antaten, war einfach nur entsetzlich. Unter dieser glücklichen Oberfläche war bei weitem nicht alles in Ordnung. Und doch war es schockierend zu sehen, wie gut sie die anderen behandelten.

Draußen vor der Stadt lagerten große Gruppen Kesselflicker. Ihre Wagen waren seit Wochen nicht bewegt worden, und es hatte den Anschein, als würden sie Dörfer gründen. Rand hatte einige von ihnen davon sprechen hören, sich niederzulassen.

Andere hatten sich natürlich dagegen ausgesprochen. Sie waren die Kesselflicker, das fahrende Volk. Wie wollten sie das Lied finden, wenn sie nicht danach suchten? Das war genauso sehr ein Teil von ihnen wie der Weg des Blattes.

Letzte Nacht hatte Rand ihnen am Lagerfeuer zugehört. Sie hatten ihn willkommen geheißen, ihm zu essen gegeben und nicht ein einziges Mal gefragt, wer er eigentlich war. Er hatte den Drachen auf seiner Hand verborgen und den Zugangsschlüssel sorgfältig in der Manteltasche versteckt, hatte ins Feuer gesehen, bis es niederbrannte.

Er war noch nie in Ebou Dar gewesen; er hatte nur die Höhen im Norden besucht, wo er die Seanchaner mit Callandor bekämpfte. Das war ein Ort der Niederlage gewesen. Jetzt war er nach Altara zurückgekehrt. Aber wozu?

Als sich am Morgen die Stadttore geöffnet hatten, war er mit den anderen, die während der Nacht eingetroffen waren, eingetreten. Die Kesselflicker hatten sie alle aufgenommen; sie erhielten von den Seanchanern Lebensmittelrationen, um späte Reisende versorgen zu können. Das war nur eine ihrer vielen Tätigkeiten. Sie reparierten Töpfe, nähten Uniformen und erledigten alle möglichen anderen Arbeiten. Dafür erhielten sie zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte den Schutz der Herrscher.

Rand hatte genug Zeit mit den Aiel verbracht, um etwas von ihrer Verachtung für die Kesselflicker zu übernehmen. Aber diese Verachtung rang mit seinem Wissen, dass die Tuatha’an in vielerlei Hinsicht der echten, traditionelleren Lebensweise der Aiel folgten. Rand konnte sich daran erinnern, wie es war, so wie sie zu leben. In den Visionen von Rhuidean war er dem Weg des Blattes gefolgt. Er hatte auch das Zeitalter der Legenden gesehen. Für ein paar kurze Augenblicke hatte er diese Leben gelebt, die Leben von anderen.

Er ging über die dicht bevölkerten Straßen der schwülen Stadt und fühlte sich noch immer irgendwie benommen. Vergangene Nacht hatte er seinen teuren schwarzen Mantel bei einem Kesselflicker gegen einen schlichten braunen Umhang eingetauscht, der an vielen Stellen geflickt und dessen Saum ausgefranst war. Keinen Kesselflickerumhang, einfach einen, den ein Kesselflicker für einen Mann genäht hatte, der ihn nie abgeholt hatte. Damit würde er weniger auffallen, selbst wenn er nun den Zugangsschlüssel an den Gürtel binden musste, statt ihn in seiner tiefen Tasche zu transportieren. Der Kesselflicker gab ihm auch einen Wanderstab, den Rand leicht gebückt beim Gehen benutzte. Größe würde ihn möglicherweise hervorheben. Bei diesen Menschen wollte er unsichtbar sein.

Um ein Haar hätte er seinen Vater getötet. Dazu hatte ihn weder Semirhage noch Lews Therins Einfluss gezwungen. Keine Entschuldigungen. Keine Diskussionen. Er, Rand al’Thor, hatte versucht, seinen eigenen Vater zu töten. Er hatte sich mit der Macht gefüllt, die Gewebe hergestellt und sie beinahe benutzt.

Rands Zorn war verschwunden. Abscheu hatte ihn ersetzt. Abhärten hatte er sich wollen. Er hatte hart sein müssen. Aber die Härte hatte ihn genau dorthin gebracht. Lews Therin hatte den Wahnsinn für seine Gräueltaten verantwortlich machen können. Rand hatte nichts dergleichen, kein Versteck, an dem er sich vor sich selbst verbergen konnte. Ebou Dar. Es war eine geschäftige Stadt, die aus allen Nähten platzte und von ihrem großen Fluss in der Mitte geteilt wurde. Rand war durch die Westseite gegangen, über Plätze mit großen Statuen und Straßen, die von Reihen weißer Häuser mit vielen Stockwerken gesäumt wurden. Oft kam er an Männern vorbei, die mit Fäusten oder Messern kämpften, und niemand machte sich die Mühe, sie voneinander zu trennen. Selbst die Frauen trugen Messer um den Hals, die in juwelengeschmückten Scheiden steckten, über tief ausgeschnittenen Kleidern mit bunten Unterröcken.

Er ignorierte sie alle. Stattdessen dachte er an die Kesselflicker. Die Kesselflicker waren hier sicher, aber in seinem Reich war nicht einmal sein eigener Vater sicher. Selbst seine Freunde fürchteten ihn; er hatte es Nynaeve von den Augen ablesen können.

Die Menschen hier hatten keine Angst. Seanchanische Offiziere mit diesen insektenartigen Helmen bewegten sich durch die Menge. Die Leute machten ihnen Platz, aber es geschah aus Respekt. Rand belauschte die Bürger; sie waren froh über die Stabilität. Sie priesen die Seanchaner sogar dafür, sie erobert zu haben!

Rand überquerte eine kleine Brücke über einen Kanal. Kleine Boote trieben über den Wasserweg, Bootsführer grüßten einander. Die Stadt schien völlig planlos gewachsen zu sein; wo Rand Häuser erwartete, fand er Geschäfte, aber statt dass sich ähnliche Läden zusammengruppierten, wie es in den meisten Städten üblich war, waren sie hier völlig zufällig verteilt. Auf der anderen Seite der Brücke passierte er ein großes weißes Haus, an das sich eine Schenke anschloss.

Ein Mann in einer bunten Seidenweste rempelte Rand an und setzte zu einer langwierigen, übermäßig höflichen Entschuldigung an. Rand eilte weiter, bevor der Mann noch ein Duell wollte.

Keineswegs erweckten die Menschen den Eindruck eines unterdrückten Volkes. Da war keine unterschwellige Feindseligkeit. Die Seanchaner hatten Ebou Dar viel besser im Griff, als Rand Bandar Eban unter Kontrolle gehabt hatte, und die Menschen hier waren glücklich - blühten sogar auf. Natürlich war Altara als Königreich nie besonders stark gewesen. Rand wusste von seinen Tutoren, dass sich die Autorität der Krone nie weit über die Stadtgrenzen hinaus erstreckt hatte. Das war bei den anderen von den Seanchanern eroberten Orten nicht viel anders gewesen. Tarabon, Amadicia, die Ebene von Almoth. Einige waren stabiler als Altara, andere weniger, aber sie alle hießen die Sicherheit willkommen.

Rand blieb stehen und lehnte sich an ein weiteres weißes Gebäude, in dem ein Hufschmied zugange war. Er hob den Stumpf an die Schläfe, versuchte einen klaren Kopf zu bekommen.

Er wollte sich nicht dem stellen, was er beinahe im Stein getan hatte. Er wollte sich nicht dem stellen, was er getan hatte:

Luft zu weben und Tarn zu Boden zu schleudern, ihn wie ein Verrückter tobend zu bedrohen.

Rand konnte sich nicht darauf konzentrieren. Er war nicht nach Ebou Dar gekommen, um sich staunend wie ein Junge vom Land umzuschauen. Er war gekommen, um seine Feinde zu vernichten! Sie hatten ihm getrotzt; sie mussten ausgemerzt werden. Zum Wohl aller Nationen.

Aber wenn er so viel Macht durch den Zugangsschlüssel zog, welchen Schaden würde er anrichten? Wie viele Leben würde er beenden? Und würde er dabei kein Leuchtfeuer für die Verlorenen entzünden, so wie er es bei der Reinigung von Saidin getan hatte?

Sollen sie doch kommen. Er hob den Kopf. Er konnte sie besiegen.

Die Zeit zum Angriff war gekommen. Die Zeit, die Seanchaner vom Land zu brennen. Er stellte den Stab ab und nahm den Schlüssel vom Gürtel, aber er konnte sich nicht dazu überwinden, ihn aus dem Leinentuch auszuwickeln. Er starrte ihn eine Weile an, dann ging er weiter und ließ den Stab einfach stehen. Es fühlte sich so seltsam an, nur ein weiterer Fremder zu sein. Der Wiedergeborene Drache bewegte sich mitten unter seinem Volk, und es erkannte ihn nicht. Für sie war Rand al’Thor weit weg. Die Letzte Schlacht kam erst an zweiter Stelle vor der Sorge, ob sie ihre Hühner rechtzeitig zum Markt bekamen oder ob sich ihr Sohn von dem Husten erholte oder ob sie sich die neue Seidenweste leisten konnten, die sie unbedingt haben wollten.

Sie würden Rand nicht erkennen, bis er sie vernichtete.

Es wird eine Gnade sein, flüsterte Lews Therin. Der Tod ist immer eine Gnade. Der Verrückte klang nicht ganz so verrückt wie sonst. Tatsächlich hatte seine Stimme angefangen, eine erschreckende Ähnlichkeit mit Rands eigener Stimme aufzuweisen.

Auf der nächsten Brücke blieb Rand stehen und schaute zu dem gewaltigen Palast der Stadt mit seinen weißen Mauern hinüber, die Heimat des seanchanischen Hofes. Vier Stockwerke hoch hatte er goldene Ringe an der Basis seiner vier Kuppeln und noch mehr Gold an den Spitzen der vielen Türme. Dort würde man die Tochter der Neun Monde finden können. Er würde diesen Mauern eine Reinheit geben, wie sie sie noch nie gekannt hatten. Perfektion. In gewisser Weise würde er das Gebäude in dem Moment, bevor es sich in nichts auflöste, komplettieren.

Er wickelte den Zugangsschlüssel aus, nur ein weiterer Fremder auf einer schlammverschmierten Brücke. Nach der Vernichtung des Palastes würde er schnell handeln müssen. Er würde die Schiffe im Hafen mit vielen Blitzen aus Baalsfeuer zerstören, dann würde er etwas weniger Aufwendiges dazu benutzen, um Feuer auf die Stadt regnen zu lassen, um dort Panik ausbrechen zu lassen. Das Chaos würde die Reaktion seiner Feinde verzögern. Danach würde er zu den Garnisonen am Stadttor Reisen und sie zerstören. Er hatte eine vage Erinnerung an Späherberichte über Nachschublager im Norden, die gut mit Soldaten und Proviant ausgerüstet waren. Die würde er als Nächstes zerstören.

Von dort würde er sich weiter nach Amador begeben, dann nach Tanchico und zu anderen Orten. Er würde schnell Reisen, niemals lange genug an einem Ort bleiben, damit ihn die Verlorenen einholen konnten. Ein flackerndes Licht des Todes, das wie ein brennender Holzscheit hier und dort zu neuem Leben aufflammte. Viele würden sterben, aber der größte Teil davon würden Seanchaner sein. Die Eroberer.

Er starrte den Zugangsschlüssel an. Dann ergriff er Saidin.

Die Übelkeit überfiel ihn schlimmer als je zuvor. Sie stieß ihn zu Boden wie der Schlag einer Faust. Er schrie auf und nahm kaum war, dass er auf dem Steinpflaster landete. Er stöhnte, packte den Zugangsschlüssel fester und krümmte sich darum. Seine Eingeweide schienen in Flammen zu stehen, und er drehte den Kopf, rollte auf den Schultern herum und übergab sich auf die Brücke.

Aber er hielt Saidin fest. Er brauchte die Macht. Die süße, wunderschöne Macht. Selbst der Gestank seines eigenen Erbrochenen erschien ihm wegen der darin liegenden Macht süßer und echter.

Er schlug die Augen auf. Besorgt blickende Leute versammelten sich um ihn. Eine seanchanische Patrouille näherte sich. Der Augenblick war gekommen. Er musste zuschlagen.

Aber er konnte es nicht. Die Menschen sahen so besorgt aus. So verständnisvoll. Sie interessierten sich für ihn.

Vor Ohnmacht aufschreiend erschuf Rand ein Wegetor, was die Leute entsetzt zurückspringen ließ. Stolpernd kam er auf die Füße und warf sich auf allen vieren hinein, während die seanchanischen Soldaten die Schwerter zogen und fremde Worte riefen.

Rand landete auf einer großen schwarz-weißen Steinscheibe, und die Luft um ihn herum war ein Nichts aus Dunkelheit. Das Portal schloss sich hinter ihm und schnitt den Zugang nach Ebou Dar ab, dann setzte sich die Scheibe in Bewegung. Sie schwebte durch das Nichts, angestrahlt von einem seltsamen Licht im Hintergrund. Rand krümmte sich auf der Scheibe zusammen, den Zugangsschlüssel fest an sich gedrückt, und nahm tiefe Atemzüge.

Warum kann ich nicht stark genug sein? Er vermochte nicht zu sagen, ob das sein Gedanke oder der von Lews Therin gewesen war. Beide waren gleich. Warum kann ich nicht das tun, was ich tun muss?

Die Scheibe reiste eine Weile. Der einzige Laut im Nichts war sein Atmen. Die Scheibe sah aus wie eines der Siegel am Gefängnis des Dunklen Königs; eine Schlangenlinie in der Mitte trennte Weiß und Schwarz. Rand lag direkt darauf. Die schwarze Hälfte nannte man Drachenzahn. Für die Menschen war es ein Symbol des Bösen. Der Vernichtung.

Aber Rand war eine notwendige Vernichtung. Warum hatte ihn das Muster so unbarmherzig angetrieben, wenn er nicht vernichten sollte? Zuerst hatte er sich bemüht, jedes Töten zu vermeiden - aber das hatte nicht funktionieren können. Dann hatte er sich dazu verpflichtet, nach Möglichkeit keine Frauen zu töten. Das hatte sich als unmöglich erwiesen.

Er war die Vernichtung. Das musste er bloß akzeptieren. Irgendjemand musste doch hart genug sein, um das Nötige zu tun, oder nicht?

Ein Tor öffnete sich, und er kam mühsam auf die Füße, den Zugangsschlüssel fest an sich gedrückt. Er trat von der Gleitplattform auf eine leere Wiese. Der Ort, wo er einst mit Callandor gegen die Seanchaner gekämpft hatte. Und gescheitert war.

Er starrte den Ort lange Zeit an, atmete ein und aus, dann webte er ein neues Wegetor. Es öffnete sich auf ein verschneites Feld; eiskalter Wind wehte ihm entgegen. Er trat hindurch und ließ es sich schließen. Seine Füße versanken im tiefen Schnee.

Hier erstreckte sich die Welt vor ihm.

Warum sind wir hergekommen?, dachte Rand.

Darum, erwiderte Rand. Weil wir das hier erschaffen haben. Hier sind wir gestorben.

Er stand auf der höchsten Stelle vom Drachenberg, dem einsamen Gipfel, der in die Höhe geschossen war, als sich Lews Therin vor dreitausend Jahren umgebracht hatte. Auf der einen Seite konnte er Hunderte von Fuß nach unten in einen aus der Bergseite herausgesprengten Abgrund sehen. Die Öffnung war gewaltig, viel größer, als der Anblick im Profil aus der Tiefe erahnen ließ. Ein riesiges Oval aus rotem, flammendem, brodelndem Felsen. Es sah aus, als würde einfach ein Stück vom Berg fehlen, das man herausgerissen hatte, und so ragte der Gipfel noch viel höher in die Luft, während die ganze Bergseite fehlte.

Rand schaute in den brodelnden Abgrund. Er war wie der Rachen einer Bestie. Hitze strömte aus der Tiefe und blies Ascheflocken in den Himmel.

Der Himmel über ihm war wolkenverhangen. Der Talboden erschien gleichermaßen fern und war kaum sichtbar, wie eine mit Mustern versehene Steppdecke. Hier ein grüner Flicken, der ein Wald war. Dort eine Naht, die ein Fluss war. Im Osten befand sich ein winziger Flecken in dem Fluss, der an ein in der Strömung stecken gebliebenes Blatt erinnerte. Tar Valon.

Rand setzte sich. Der Schnee gab ächzend unter seinem Gewicht nach. Er stellte den Zugangsschlüssel vor sich in einer Schneewehe ab und webte Luft und Feuer, um sich warm zu halten.

Dann stemmte er die Ellbogen auf die Knie und stützte den Kopf auf die Hand, um die kleine Statue des Mannes mit der Kugel anzustarren.

Um nachzudenken.

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