Rodel Ituralde paffte leise seine Pfeife; Rauchfahnen schlängelten sich in die Höhe, umkreisten einander, sammelten sich an der Decke und drangen dann durch die Dachspalten der primitiven Hütte. Alter hatte die Wandbalken sich verziehen lassen und Schlitze gebildet, durch die man nach draußen sehen konnte. Das graue Holz war voller Sprünge und splitterte. In der Ecke brannte ein Kohlenbecken, Wind fuhr durch die Ritzen in der Wand. Manchmal sann Ituralde darüber nach, ob dieser Wind wohl das ganze Gebäude umpusten konnte.
Er saß auf einem Hocker, auf dem Tisch vor ihm lagen mehrere Karten ausgebreitet. An der Ecke beschwerte sein Tabaksbeutel ein zerknittertes Papier. Das kleine Rechteck war verwittert und wies zahllose Falten auf, weil er es in der Innentasche seines Mantels getragen hatte.
»Und?«, fragte Rajabi. Er trug Entschlossenheit zur Schau und hatte einen dicken Hals, braune Augen, eine breite Nase und ein feistes Kinn. Mittlerweile war er völlig kahl und hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit einem großen Felsbrocken. In gewisser Weise verhielt er sich auch oft so. Ihn in Schwung zu bringen konnte viel Arbeit erfordern, aber sobald er einmal in Bewegung war, ließ er sich so gut wie nicht mehr aufhalten. Er hatte zu den Ersten gehört, die sich Ituralde angeschlossen hatten, obwohl er nur kurz zuvor im Begriff gestanden hatte, gegen den König zu rebellieren.
Seit Ituraldes Sieg vor Darluna waren fast zwei Wochen vergangen. Für diesen Sieg hat er sich weit aus dem Fenster gelehnt. Vielleicht sogar zu weit. Ah, Alsalam, dachte er. Ich hoffe, das alles war es wert, alter Freund. Ich hoffe, du bist nicht einfach nur verrückt geworden. Rajabi mag ja ein Felsen sein, aber die Seanchaner sind eine Lawine, und sie stürzen donnernd auf uns herab.
»Was jetzt?«, fragte Rajabi.
»Wir warten«, erwiderte Ituralde. Beim Licht, wie er das Warten hasste. »Dann kämpfen wir. Oder wir ergreifen erneut die Flucht. Ich habe mich da noch nicht entschieden.«
»Die Taraboner ...«
»Werden nicht kommen.«
»Sie haben es versprochen!«
»Das haben sie.« Ituralde war selbst zu ihnen gegangen, hatte sie aufgerüttelt, hatte sie gebeten, ein letztes Mal gegen die Seanchaner zu kämpfen. Ihr Jubel war laut gewesen, aber sie hatten sich nicht gerade beeilt, ihm Taten folgen zu lassen. Und sie würden sich auch jetzt nicht beeilen. Mittlerweile hatte er sie ein halbes Dutzend Mal dazu gebracht, »ein letztes Mal« zu kämpfen. Sie konnten erkennen, wo dieser Krieg hinführte, und er konnte sich nicht länger auf sie verlassen. Falls das überhaupt jemals der Fall gewesen war.
»Verdammte Feiglinge«, grummelte Rajabi. »Dann soll sie das Licht verbrennen! Machen wir es eben allein. Es wäre nicht das erste Mal.«
Ituralde nahm einen langen, nachdenklichen Zug aus der Pfeife. Er hatte sich endlich dazu entschlossen, den Tabak von den Zwei Flüssen zu nehmen. Diese Pfeife war sein letzter Vorrat; er hatte diese letzte Portion seit Monaten verwahrt. Guter Geschmack. Der beste, den es gab.
Er studierte wieder die Karten, hielt eine kleinere hoch. Er hätte bessere gebrauchen können, das stand fest. »Dieser neue seanchanische General befiehlt über dreihunderttausend Mann, mit gut zweihundert Damane.«
»Wir haben schon zuvor größere Heere geschlagen. Denkt doch nur an Darluna! Ihr habt sie zerschmettert, Rodel!«
Und dazu hatte er sämtliches Geschick und Glück gebraucht, das ihm zur Verfügung stand. Und dennoch hatte er über die Hälfte seiner Männer verloren. Jetzt humpelte er vor dieser zweiten größeren seanchanischen Streitmacht davon.
Dieses Mal begingen sie keine Fehler mehr. Die Seanchaner verließen sich nicht allein auf ihre Raken. Seine Männer hatten mehrere Späher erwischt, die zu Fuß unterwegs waren, und das bedeutete, dass ihnen Dutzende entgangen waren. Dieses Mal kannten die Seanchaner Ituraldes tatsächliche Mannzahl und seinen tatsächlichen Standort.
Seine Feinde ließen sich nicht länger lenken und locken; stattdessen jagten sie nun ihn gnadenlos und wichen seinen Fallen aus. Ursprünglich hatte er sich immer tiefer nach Arad Doman zurückziehen wollen. Das wäre für seine Streitkräfte ein Vorteil gewesen und hätte die Nachschublinien der Seanchaner übermäßig gedehnt. Das hätte er schätzungsweise noch weitere vier oder fünf Monate aufrechterhalten können. Aber diese Pläne waren jetzt hinfällig; sie waren gemacht worden, bevor er entdeckt hatte, dass eine verfluchte Aielhorde in Arad Doman herumlief. Wollte man den Berichten glauben - und Berichte über Aiel waren oft übertrieben, also war er sich nicht sicher, wie viel er davon tatsächlich glauben sollte -, dann hielten bis zu einhunderttausend von ihnen große Teile des Nordens, Bandar Eban eingeschlossen.
Einhunderttausend Aiel. Das entsprach in etwa zweihunderttausend Domani-Soldaten. Vielleicht mehr. Er konnte sich noch gut an den Blutigen Schnee vor zwanzig Jahren erinnern, als es den Anschein gehabt hatte, dass er für jeden niedergemachten Aiel zehn Männer verloren hatte.
Er kam sich wie in einer Falle vor, wie eine zwischen zwei Steine geklemmte Walnuss. Er hatte es gerade eben so geschafft, sich an diesen Ort zurückzuziehen, dieses verlassene Stedding. Das würde ihm einen Vorteil gegen die Seanchaner verschaffen. Aber nur einen kleinen. Die Seanchaner hatten eine sechsmal größere Streitmacht als er, und der unerfahrenste seiner Kommandanten wusste, dass ein Kampf bei diesem Kräfteverhältnis Selbstmord bedeutete.
»Habt Ihr jemals einem Meisterjongleur zugesehen, Rajabi?«, fragte er und studierte die Karte.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie der bullige Mann die Stirn runzelte. »Ich habe Gaukler gesehen, die ...«
»Nein, kein Gaukler, ein Meister.«
Rajabi schüttelte den Kopf.
Ituralde paffte nachdenklich, bevor er weitersprach. »Ich schon, ist lange her. Er war der Hofbarde von Caemlyn. Ein agiler Bursche, mit einem Humor, der besser in einen Gemeinschaftsraum gepasst hätte, wenn man seine Auszeichnungen bedachte. Barden jonglieren nicht oft; aber dieser Bursche hatte nichts gegen diese Bitte. Wie ich mitbekommen habe, hat er gern jongliert, um die junge Tochter-Erbin zu erfreuen.«
Er nahm die Pfeife aus dem Mund, stopfte den Tabak fester.
»Rodel«, sagte Rajabi. »Die Seanchaner ...«
Ituralde hielt einen Finger in die Höhe und handwerkte an seiner Pfeife herum, bevor er weitersprach. »Der Barde fing mit drei Kugeln an. Dann fragte er uns, ob wir glaubten, dass er noch eine schaffte. Wir feuerten ihn natürlich an. Er nahm vier, dann fünf, dann sechs. Mit jeder hinzugefügten Kugel wurde unser Beifall lauter, und immer wieder fragte er uns, ob wir glaubten, dass er noch eine weitere hinzufügen könne. Natürlich sagten wir Ja.
Sieben, acht, neun. Bald hatte er zehn Kugeln in der Luft, die ein so kompliziertes Muster beschrieben, dass ich ihnen nicht mehr folgen konnte. Er musste sich anstrengen, um das durchzuhalten; er griff immer schneller zu, um Kugeln zu erwischen, die er beinahe verfehlte. Er hatte sich viel zu sehr in seiner Konzentration verloren, um uns zu fragen, ob er noch eine hinzufügen sollte, aber das Publikum verlangte es. Elf! Nimm elf! Und sein Assistent warf eine weitere Kugel in diesen Schlamassel.«
Ituralde paffte.
»Er hat sie fallen gelassen?«
Ituralde schüttelte den Kopf. »Die letzte Kugel war eigentlich keine richtige Kugel. Es war eine Art Illuminatortrick; auf der halben Strecke zum Barden blitzte sie auf und verwandelte sich in Rauch. Als sich unsere Sicht klärte, war der Barde verschwunden, und zehn Kugeln lagen sauber aufgereiht am Boden. Als ich mich umsah, saß er mit dem Rest der Gäste an einem Tisch, trank einen Becher Wein und flirtete mit Lord Finndals Frau.«
Der arme Rajabi sah nun völlig verwirrt aus. Er liebte seine Antworten einfach und geradeheraus. Für gewöhnlich tat Ituralde das auch, aber die letzten Tage - mit ihrem unnatürlich bewölkten Himmel und der Atmosphäre ständigen Zwielichts - hatten ihn philosophisch gemacht.
Er griff nach vorn und zog das alte, zusammengefaltete Stück Papier unter seinem Tabaksbeutel hervor. Er gab es Rajabi.
»›Führt einen harten Schlag gegen die Seanchaner‹«, las Rajabi. »›Drängt sie zurück, zwingt sie auf ihre Schiffe und zurück über ihren verdammten Ozean. Ich verlasse mich auf Euch, alter Freund. König Alsalam.‹« Rajabi senkte den Brief. »Ich weiß von seinen Befehlen, Rodel. Nicht seinetwegen habe ich mitgemacht. Ich bin wegen Euch gekommen.«
»Ja, aber ich kämpfe wegen ihm«, sagte Ituralde. Er war ein Mann des Königs; das würde er immer sein. Er stand auf, klopfte die Pfeife aus und zermahlte die glühende Asche mit dem Stiefelabsatz. Dann legte er die Pfeife weg, nahm Rajabi den Brief ab und ging zur Tür.
Er musste eine Entscheidung treffen. Bleiben und kämpfen oder an einen schlechteren Ort flüchten, aber dadurch etwas Zeit gewinnen?
Die Hütte ächzte, und der Wind schüttelte die Bäume, als Ituralde in den bewölkten Morgen hinaustrat. Die Hütte war natürlich nicht von Ogiern erbaut. Dafür war sie zu hinfällig. Dieses Stedding war schon vor langer Zeit aufgegeben worden. Seine Männer lagerten zwischen den Bäumen. Kaum der beste Ort für ein Kriegslager, aber Suppe machte man mit den Gewürzen, die einem zur Verfügung standen. Das Stedding war viel zu nützlich, um daran vorbeizuziehen. Ein anderer Mann wäre vielleicht in eine Stadt geflohen und hätte sich hinter ihren Mauern versteckt, aber zwischen diesen Bäumen war die Eine Macht nutzlos. Die seanchanischen Damane ihrer Kräfte zu berauben war besser als jede Mauer, ganz egal, wie hoch sie auch sein mochte.
Wir müssen bleiben, dachte Ituralde und sah seinen Männern bei der Arbeit zu, wie sie Gräben schaufelten und eine Palisade errichteten. Der Gedanke, in einem Stedding Bäume zu fällen, war ihm verhasst. In seinem Leben hatte er einige Ogier kennengelernt, und er respektierte sie. Diese gewaltigen Eichen bewahrten vielleicht noch etwas von der Kraft der Ogier, die hier gelebt hatten. Sie zu fällen war ein Verbrechen. Aber man tat, was man tun musste. Die Flucht würde ihm vielleicht noch mehr Zeit erkaufen, aber genauso gut konnte sie ihn auch Zeit kosten. Er hatte noch ein paar Tage, bevor die Seanchaner zuschlagen würden. Falls es ihm gelang, sich hier gut einzugraben, konnte er sie vielleicht zu einer Belagerung zwingen. Das Stedding würde sie zögern lassen, und der Wald wäre ein Vorteil für seine kleinere Streitmacht.
Er hasste es, sich einsperren zu lassen. Das war vermutlich der Grund, warum er so lange darüber nachgedacht hatte, obwohl er tief im Inneren doch genau wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war, mit dem Weglaufen aufzuhören. Die Seanchaner hatten ihn endlich gestellt.
Er ging weiter die Ränge entlang, nickte den arbeitenden Männern zu, ließ sich sehen. Er verfügte noch über vierzigtausend Soldaten, was ein Wunder war, wenn man bedachte, wogegen sie angetreten waren. Eigentlich hätten diese Männer mit gutem Grund desertieren sollen. Aber sie hatten erlebt, wie er eine unmögliche Schlacht nach der anderen gewonnen hatte, wie er unter immer lauterem Applaus eine Kugel nach der anderen in die Luft geworfen hatte. Sie hielten ihn für unaufhaltsam. Sie hatten nicht begriffen, dass, wenn man immer mehr Kugeln in die Luft warf, nicht nur die Vorstellung immer spektakulärer wurde.
Das Scheitern am Ende wurde ebenfalls spektakulärer.
Ituralde behielt seine finsteren Gedanken für sich, als er und Rajabi durch das Waldlager gingen und die Palisade begutachteten. Sie machte gute Fortschritte, die Männer stemmten dicke Baumstämme in frisch gegrabene Löcher. Nach seiner Inspektion nickte er. »Rajabi, wir bleiben. Sagt es weiter.«
»Einige der anderen sind der Meinung, dass hier zu bleiben den sicheren Tod bedeutet«, erwiderte Rajabi.
»Sie irren sich.«
»Aber ...«
»Nichts ist sicher, Rajabi«, sagte Ituralde. »Füllt die Bäume innerhalb der Palisade mit Bogenschützen; die werden fast genauso effektiv wie Türme sein. Wir müssen da draußen ein Schlachtfeld bauen. Fällt so viele Bäume um die Palisade herum wie möglich, dann macht innerhalb der Mauer aus den Baumstämmen Barrikaden, eine zweite Rückzugsmöglichkeit. Die halten wir. Vielleicht irre ich mich ja mit diesen Tarabonern, vielleicht reiten sie uns ja zu Hilfe. Vielleicht hat der König auch irgendwo ein Heer verborgen, das uns verteidigt. Blut und Asche, vielleicht wehren wir sie hier auch allein ab. Wir werden ja sehen, wie es ihnen gefällt, ohne ihre Damane kämpfen zu müssen. Wir werden überleben.«
Rajabi straffte sich sichtlich, wurde selbstsicherer. Das waren die Worte, die er erwartet hatte, wie Ituralde nur zu genau wusste. Genau wie die anderen vertraute auch Rajabi dem kleinen Wolf. Sie glaubten einfach nicht, dass er scheitern konnte.
Ituralde wusste es besser. Aber wenn man schon sterben musste, dann tat man es mit Würde. Der junge Ituralde hatte oft von Kriegen geträumt, vom Ruhm der Schlacht. Der alte Ituralde wusste, dass es so etwas wie Ruhm in einer Schlacht nicht gab. Aber es gab Ehre.
»Mein Lord Ituralde«, rief ein Läufer und eilte an der unvollendeten Palisadenwand vorbei. Er war noch ein Knabe, jung genug, dass ihn die Seanchaner möglicherweise am Leben ließen. Im anderen Fall hätte Ituralde ihn und andere in seinem Alter fortgeschickt.
»Ja?«, fragte er. Rajabi stand wie ein kleiner Berg an seiner Seite.
»Ein Mann«, sagte der Junge keuchend. »Er sagt, er sei gekommen, um Euch zu sehen.«
»Ein Seanchaner?«, bellte Rajabi.
Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein. Aber er ist gut angezogen.«
Also der Bote eines Lords. Domani, vielleicht auch ein tarabonischer Renegat. Wer auch immer er war, er konnte die Situation wohl kaum schlimmer machen. »Und er kam allein?«
»Ja, Herr.«
Tapferer Mann. »Dann bring ihn her.«
»Wo wollt Ihr ihn empfangen, mein Lord?«
»Was denn?«, fauchte Ituralde. »Hältst du mich für einen noblen Kaufmann mit einem Palast? Das Feld hier wird ausreichen. Hol ihn, aber lass dir dabei Zeit. Und sorge dafür, dass er vernünftig bewacht wird.«
Der Junge nickte und rannte los. Ituralde winkte ein paar Soldaten herbei und schickte sie im Eiltempo los, um Wakeda und die anderen Offiziere zu holen. Shimron war tot, vom Feuerball einer Damane zu Asche verbrannt. Das war wirklich bedauerlich. Ituralde hätte ihn vielen anderen Offizieren vorgezogen.
Die meisten Offiziere trafen vor dem Fremden ein. Der schlaksige Ankaer. Der einäugige Wakeda, der abgesehen davon ein ansehnlicher Mann hätte sein können. Der stämmige Melarned. Der junge Lidrin, der nach dem Tod seines Vaters Ituralde auch weiterhin folgte.
»Was höre ich da?«, fragte Wakeda und verschränkte die Arme. »Wir bleiben in dieser Todesfalle? Rodel, wir haben nicht die nötigen Truppen, um Widerstand zu leisten. Wenn sie kommen, sitzen wir hier fest.«
»Da habt Ihr recht«, sagte Ituralde schlicht.
Wakeda sah die anderen an, dann wieder Ituralde. Die ehrliche Antwort hatte ihm etwas Wind aus den Segeln genommen. »Nun ... warum fliehen wir dann nicht?« Er plusterte sich viel seltener auf als noch vor Monaten, als Ituralde mit seinem Feldzug angefangen hatte.
»Von mir bekommt Ihr weder Zucker noch Lügen«, sagte Ituralde und fixierte sie einen nach dem anderen. »Wir sind in einer schlimmen Lage. Aber würden wir flüchten, wären wir in einer noch schlechteren Lage. Es gibt keine Löcher mehr, in denen wir uns verkriechen könnten. Diese Bäume werden ein Vorteil für uns sein, und wir können uns eingraben. Das Stedding wird die Damane ihrer Kräfte berauben, und das allein ist es schon wert hierzubleiben. Wir kämpfen hier.«
Ankaer nickte; er schien den Ernst der Situation zu verstehen. »Wir müssen ihm vertrauen, Wakeda. Bis jetzt hat er uns gut geführt.«
Wakeda nickte. »Das schon, glaube ich.«
Verdammte Narren. Vor vier Monaten hätte ihn die Hälfte auf der Stelle umgebracht, weil er dem König treu geblieben war. Jetzt glaubten sie, er könne das Unmögliche vollbringen. Eigentlich schade; er hatte schon angefangen zu glauben, er könnte sie wieder auf Alsalams Seite bringen. »Also gut«, sagte er und zeigte auf verschiedene Stellen ihrer Befestigung. »Wir werden Folgendes tun, um die schwächeren Punkte zu stärken. Ich will ...«
Er verstummte, als er eine Gruppe über die Lichtung auf sich zukommen sah. Von einer Abteilung Soldaten begleitet, eskortierte der Botenjunge einen Mann in Rot und Gold.
Etwas an dem Neuankömmling zog Ituraldes Blick an. Vielleicht war es die Größe; der junge Mann war so groß wie ein Aiel, und das helle Haar ähnelte ihnen auch. Aber kein Aiel hätte einen so kostbaren roten Mantel mit goldenen Stickereien getragen. Ein Schwert hing an seiner Seite, und etwas an der Art, wie der Fremde ging, verriet Ituralde, dass er auch damit umzugehen verstand. Er bewegte sich mit energischen, entschlossenen Schritten, als betrachtete er die Soldaten um ihn herum als Ehrenwache. Also ein Lord, und zwar einer, der zu befehlen gewohnt war. Warum war er persönlich gekommen, statt einen Boten zu schicken?
Der junge Lord blieb ein kurzes Stück vor Ituralde und seinen Generälen stehen, musterte sie nacheinander, und konzentrierte sich dann auf Ituralde. »Rodel Ituralde?«, fragte er. Was für ein Akzent war das? Andoranisch?
»Ja«, sagte Ituralde vorsichtig.
Der junge Mann nickte. »Basheres Beschreibung war akkurat. Anscheinend lasst Ihr Euch hier einsperren. Erwartet Ihr allen Ernstes, gegen die seanchanische Armee bestehen zu können? Sie ist Euch zahlenmäßig mehrfach überlegen, und Eure tarabonischen Verbündeten scheinen es nicht ... eilig zu haben, Euch bei Eurer Verteidigung zu helfen.«
Wer auch immer er war, er verfügte über Intelligenz. »Ich bin es nicht gewohnt, meine Verteidigung mit Fremden zu diskutieren.« Ituralde musterte den jungen Lord. Er war durchtrainiert - schlank und hart, auch wenn das mit dem Mantel nur schwer zu sehen war. Er favorisierte seine rechte Hand, und bei näherem Hinsehen bemerkte Ituralde, dass die linke Hand fehlte. Beide Unterarme wiesen eine seltsame rote und goldene Tätowierung auf.
Diese Augen. Das waren die Augen von jemandem, der schon zahllose Male den Tod gesehen hatte. Nicht nur ein junger Lord. Ein junger General. Ituralde kniff die Augen zusammen. »Wer seid Ihr?«
Der Fremde erwiderte seinen Blick. »Ich bin Rand al'Thor, der Wiedergeborene Drache. Und ich brauche Euch. Euch und Eure Armee.«
Mehrere der Männer um Ituralde fluchten, und Ituralde sah sie an. Wakeda staunte fassungslos, Rajabi war überrascht, der junge Lidrin offen ungläubig.
Ituralde richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Neuankömmling. Der Wiedergeborene Drache? Dieser junge Bursche? Vermutlich war das durchaus möglich. Die meisten Gerüchte stimmten darin überein, dass der Wiedergeborene Drache ein junger Mann mit rotem Haar war. Andererseits behaupteten die Gerüchte auch, dass er zehn Fuß groß war und seine Augen im Zwielicht leuchteten. Und dann waren da diese Geschichten über ihn, wie er am Himmel über Falme erschienen war. Blut und Asche, Ituralde vermochte nicht einmal zu sagen, ob er überhaupt daran glaubte, dass der Drache wiedergeboren worden war!
»Ich habe keine Zeit, hier herumzudebattieren«, sagte der Fremde mit regloser Miene. Er erschien ... älter, als er aussah. Es schien ihn nicht zu stören, dass er von bewaffneten Soldaten umgeben war. Tatsächlich hätte dieser einsame Auftritt wie ... eine närrische Tat erscheinen müssen. Stattdessen machte er Ituralde nachdenklich. Nur jemand wie der Wiedergeborene Drache konnte auf diese Weise in ein Kriegslager gehen, völlig allein und auf sich gestellt, und erwarten, dass man ihm gehorchte.
Und sollte man ihn doch zu Asche verbrennen, wenn diese Tatsache allein Ituralde nicht schon veranlassen wollte, ihm zu glauben. Entweder war dieser Mann derjenige, für den er sich ausgab, oder er war völlig irrsinnig.
»Wenn wir das Stedding verlassen, beweise ich, dass ich die Macht lenken kann«, sagte der junge Fremde. »Das sollte für etwas zählen. Lasst mir etwas Zeit, und ich bringe zehntausend Aiel und mehrere Aes Sedai her, die alle beschwören werden, dass ich derjenige bin, der ich zu sein behaupte.«
Die Gerüchte behaupteten auch, dass die Aiel dem Wiedergeborenen Drachen folgten. Die Männer um Ituralde husteten und sahen sich unbehaglich um. Viele von ihnen waren Drachenverschworene gewesen, bevor sie zu Ituralde gekommen waren. Mit den richtigen Worten konnte dieser Rand al'Thor - oder wer auch immer er wirklich war - möglicherweise Ituraldes Gefolgsleute gegeneinander aufhetzen.
»Selbst wenn wir einmal annehmen, dass ich Euch glaube«, wählte Ituralde vorsichtig seine Worte, »wüsste ich nicht, dass das eine Rolle spielt. Ich habe einen Krieg zu führen, und ich nehme an, dass Euch andere Angelegenheiten beschäftigen.«
»Ihr seid meine Angelegenheit«, sagte al'Thor mit einem so harten Blick, dass sich seine Augen in Ituraldes Schädel zu bohren und darin nach Dingen zu suchen schienen, die ihm nützlich waren. »Ihr müsst mit den Seanchanern Frieden schließen. Dieser Krieg bringt uns nichts. Ich will Euch oben in den Grenzländern; ich kann keine Männer erübrigen, um die Große Fäule zu bewachen, und die Grenzländer haben ihre Pflichten im Stich gelassen.«
»Ich habe meine Befehle«, sagte Ituralde und schüttelte den Kopf. Moment mal. Er würde nicht tun, was dieser Jüngling da befahl, so als hätte er keine Befehle. Andererseits ... diese Augen. Alsalam hatte solche Augen gehabt, als sie beide noch jünger gewesen waren. Augen, die Gehorsam verlangten.
»Eure Befehle«, sagte al'Thor. »Kommen sie vom König? Werft Ihr Euch darum den Seanchanern auf diese Weise entgegen?«
Ituralde nickte.
»Ich habe von Euch gehört, Rodel Ituralde«, sagte al'Thor. »Männer, denen ich vertraue, Männer, die ich respektiere, vertrauen und respektieren Euch. Statt zu flüchten und Euch zu verstecken, grabt Ihr Euch hier ein, um eine Schlacht zu kämpfen, von der Ihr wisst, dass sie Euch umbringen wird. Alles nur aus Loyalität zu Eurem König. Das ist sehr lobenswert. Aber der Zeitpunkt ist gekommen, sich abzuwenden und eine Schlacht zu schlagen, die etwas bedeutet. Die alles bedeutet. Kommt mit mir, und ich gebe Euch den Thron von Arad Doman.«
Ituralde sah scharf auf. »Ihr lobt meine Loyalität und erwartet von mir im nächsten Atemzug, meinen eigenen König zu stürzen?«
»Euer König ist tot«, sagte al'Thor. »Entweder das, oder sein Verstand ist wie Wachs zerschmolzen. Ich gelange immer stärker zu der Überzeugung, dass Graendal ihn in ihrer Gewalt hat. In dem Chaos in diesem Land erkenne ich ihre Handschrift. Welche Befehle Ihr auch immer erhalten habt, vermutlich kommen sie von ihr. Ich konnte nur noch nicht ergründen, warum sie will, dass Ihr die Seanchaner bekämpft.«
Ituralde schnaubte. »Ihr sprecht von einer der Verlorenen, als wäre sie Euer Gast zum Essen gewesen.«
Al'Thor erwiderte ungerührt seinen Blick. »Ich erinnere mich an jeden von ihnen - ihre Gesichter, ihre Manierismen, wie sie sprechen und handeln -, als würde ich sie seit tausend Jahren kennen. Manchmal erinnere ich mich besser an sie als an meine eigene Kindheit. Ich bin der Wiedergeborene Drache.«
Ituralde blinzelte. Soll man mich zu Asche verbrennen, dachte er. Ich glaube ihm. Verdammte Asche! »Lasst uns ... lasst uns Euren Beweis sehen.«
Natürlich gab es Proteste, hauptsächlich von Lidrin, der es für zu gefährlich hielt. Die anderen waren erschüttert. Hier stand der Mann, dem sie sich verschworen hatten, ohne ihn jemals kennenzulernen. Da schien eine ... Macht von al'Thor auszugehen, die Ituralde zwang, das Verlangte zu tun. Nun, zuerst würde er Beweise sehen wollen.
Sie schickten Boten los, die Pferde für den Ritt aus dem Stedding holten, aber al'Thor sprach, als wäre Ituralde bereits sein Mann. »Vielleicht lebt Alsalam«, sagte al'Thor, während sie warteten. »Wenn dem so ist, kann ich verstehen, dass Ihr seinen Thron nicht wollt. Würde Euch Amadicia gefallen? Ich werde dort einen Herrscher brauchen, der die Seanchaner im Auge behält. Dort kämpfen jetzt die Weißmäntel; ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Streit vor der Letzten Schlacht noch beenden kann.«
Die Letzte Schlacht! Beim Licht! »Ich werde ihn nicht nehmen, wenn Ihr den König dort ermordet«, sagte Ituralde. »Falls die Weißmäntel ihn bereits getötet haben oder die Seanchaner, nun, dann vielleicht.«
Ein König! Was redete er denn da? Verflucht. Warte wenigstens, bis du den Beweis gesehen hast, bevor du dich bereit erklärst, Throne anzunehmen! Da war etwas an diesem Mann, so wie er über Ereignisse wie die Letzte Schlacht sprach - Ereignisse, die die Menschheit seit Tausenden von Jahren fürchtete -, als wären sie Posten auf dem täglichen Lagerbericht.
Soldaten kamen mit den Pferden, und Ituralde saß auf, genau wie al'Thor, Wakeda, Rajabi, Ankaer, Melarned, Lidrin und ein halbes Dutzend niedrigerer Offiziere.
»Ich habe eine große Zahl Aiel in Euer Land gebracht«, sagte al'Thor, als sie losritten. »Ursprünglich hatte ich gehofft, mit ihnen die Ordnung wiederherstellen zu können, aber sie brauchen länger als gedacht. Ich will die Mitglieder des Kaufmannsrats in Sicherheit bringen; vielleicht kann ich die Stabilität der Gegend verbessern, sobald ich sie in der Hand habe. Wie denkt Ihr darüber?«
Ituralde wusste nicht, was er denken sollte. Den Kaufmannsrat in Sicherheit bringen? Das klang, als wollte man sie entführen. Auf was hatte er sich da eingelassen? Dann ertappte er sich bei den Worten: »Das könnte funktionieren. Beim Licht, wenn man alles bedenkt, ist das vermutlich der beste Plan.«
Al'Thor nickte und sah nach vorn, als sie die Palisade passierten und auf den Pfad zum Rand des Stedding kamen. »Die Grenzlande muss ich sowieso sichern. Ich kümmere mich um Eure Heimat. Soll man diese Grenzländer doch verbrennen! Was haben sie vor? Nein. Nein, noch nicht. Sie können warten. Nein, er schafft das. Er kann sie halten. Ich schicke ihn zusammen mit den Asha'man.« Plötzlich wandte sich al'Thor wieder Ituralde zu. »Was könntet Ihr ausrichten, gäbe ich Euch hundert Männer, die die Macht lenken können?«
»Verrückte?«
»Nein, die meisten von ihnen sind stabil«, sagte al'Thor, der anscheinend nicht beleidigt war. »Welcher Wahnsinn sich auch immer manifestierte, bevor ich den Makel beseitigte, er ist noch immer da - die Entfernung des Makels konnte sie nicht heilen. Aber nur wenige waren so schlecht dran. Und sie werden nicht kränker, jetzt, da Saidin sauber ist.«
Saidin? Sauber? Hätte er seine eigenen Männer, die die Macht lenken konnten ... In gewisser Weise seine eigenen Damane. Ituralde kratzte sich am Kinn. Die Einfälle kamen schnell - aber ein General musste schnell reagieren können. »Ich könnte sie gut gebrauchen«, sagte er. »Sogar sehr gut.«
»Ausgezeichnet«, sagte al'Thor. Sie hatten das Stedding verlassen, die Luft fühlte sich anders an. »Ihr müsst ein großes Land überwachen, aber viele der Machtlenker, die ich Euch geben werde, können Wegetore weben.«
»Wegetore?«, fragte Ituralde.
Al'Thor sah ihn an, dann schien er die Zähne zusammenzubeißen, schloss die Augen, zitterte am ganzen Leib, als wäre ihm übel. Ituralde war plötzlich alarmiert, legte die Hand auf sein Schwert. Gift? War der Mann verwundet?
Aber nein, al'Thor öffnete die Augen, und in ihren Tiefen schien Ekstase zu lodern. Er drehte sich um, schwenkte die Hand, und ein greller Lichtstreifen zerschnitt vor ihm die Luft. Die Männer um Ituralde fluchten, wichen zurück. Es war eine Sache, wenn ein Mann behauptete, die Macht lenken zu können; aber es dann mit den eigenen Augen direkt vor sich zu sehen!
»Das ist ein Wegetor«, sagte al'Thor, als sich der Lichtbalken drehte und ein großes schwarzes Loch in der Luft öffnete. »Ein Asha'man, der stark genug ist, kann ein Wegetor erschaffen, das groß genug ist, um Wagen durchzufahren. Man kann fast überall schnell hinreisen, manchmal augenblicklich, es hängt von den Umständen ab. Mit ein paar ausgebildeten Asha'man könnte Eure Armee morgens in Caemlyn frühstücken und ein paar Stunden später in Tanchico zu Mittag essen.«
Ituralde rieb sich das Kinn. »Nun ja, das wäre ein Anblick. Wirklich ein Anblick.« Wenn dieser Mann die Wahrheit sagte und diese Wegetore wirklich funktionierten ... »Damit könnte ich Tarabon von den Seanchanern säubern, vielleicht sogar das ganze Land!«
»Nein«, fauchte al'Thor. »Wir werden mit ihnen Frieden schließen. Nach dem zu urteilen, was meine Späher mir berichten, wird es schwer genug, sie zu einer Vereinbarung zu bringen, ohne ihnen Euren Kopf zu versprechen. Ich werde sie nicht noch weiter reizen. Wir haben keine Zeit mehr für Streit. Wir müssen uns um wichtigere Dinge kümmern.«
»Nichts ist wichtiger als meine Heimat«, erwiderte Ituralde. »Selbst wenn diese Befehle gefälscht sein sollten, ich kenne Alsalam. Er würde mir zustimmen. Wir werden keine fremden Truppen in Arad Doman dulden.«
»Dann ein Versprechen«, sagte al'Thor. »Ich werde dafür sorgen, dass die Seanchaner Arad Doman verlassen. Das verspreche ich Euch. Aber wir drängen sie nicht noch weiter zurück. Dafür geht Ihr in die Grenzlande und beschützt sie gegen eine Invasion. Haltet die Trollocs auf, wenn sie kommen, und leiht mir ein paar Eurer Offiziere, die uns dabei helfen, Arad Doman zu sichern. Man wird leichter Ordnung schaffen können, wenn das Volk sieht, dass seine eigenen Lords mit mir zusammenarbeiten.«
Ituralde dachte nach, obwohl er seine Antwort bereits kannte. Dieses Wegetor konnte seine Männer aus dieser Todesfalle wegzaubern. Mit Aiel auf seiner Seite und dem Wiedergeborenen Drachen als Verbündetem hatte er wirklich eine Chance, Arad Doman zu sichern. Ein ehrenhafter Tod war eine gute Sache. Aber die Möglichkeit, ehrenvoll weiterzukämpfen ... das war ein viel kostbarerer Preis.
»Einverstanden«, sagte Ituralde und streckte die Hand aus.
Al'Thor ergriff sie. »Geht und brecht das Lager ab. Bei Einbruch der Nacht seid Ihr in Saldaea.«