Ihr habt nie auf den Eidstab geschworen«, klagte Egwene sie an. Sie stand noch immer vor der Kleidertruhe. Verin blieb auf dem Bett sitzen und trank ihren Tee. Die korpulente Frau trug ein einfaches braunes Kleid mit einem dicken Ledergürtel um die Taille. Bei dem Rock handelte es sich um einen Reitrock, und nach den schmutzigen Stiefeln zu urteilen, die unter dem Saum hervorlugten, war sie eben erst in der Weißen Burg eingetroffen.
»Seid nicht albern.« Verin strich eine Haarlocke zurück, die aus ihrem Knoten entkommen war; das braune Haar war mit grauen Strähnen durchsetzt. »Kind, ich habe den Eidstab gehalten und darauf geschworen, bevor Eure Großmutter geboren wurde.«
»Dann habt Ihr die Eide entfernen lassen«, sagte Egwene. Das war mit dem Eidstab möglich - schließlich hatten Yukiri, Saerin und die anderen ihre Eide entfernt und durch neue ersetzt.
»Nun ja«, sagte Verin auf mütterliche Weise.
»Ich vertraue Euch nicht«, platzte Egwene hervor. »Ich glaube, das habe ich nie.«
»Sehr klug«, sagte Verin und trank von ihrem Tee. Das Aroma dieser Sorte kam Egwene unbekannt vor. » Schließlich gehöre ich der Schwarzen Ajah an.«
Ein Frösteln überkam Egwene, wie ein eiskalter Pfahl, den man ihr in den Rücken und weiter tief in die Brust hineinrammte. Die Schwarze Ajah. Verin gehörte zu den Schwarzen. Beim Licht!
Unwillkürlich griff Egwene nach der Einen Macht. Aber natürlich vereitelte die Spaltwurzel das. Und sie hatte noch selbst vorgeschlagen, dass man sie ihr verabreichte! Beim Licht, hatte sie denn den Verstand verloren? Nach ihrem Sieg war sie so selbstbewusst gewesen, dass ihr gar nicht in den Sinn gekommen war, was passieren konnte, falls sie auf eine Schwarze Schwester stieß. Aber wer konnte sich schon darauf vorbereiten, einer Schwarzen zu begegnen? Eine, die ruhig auf ihrem Bett saß, Tee trank und sie mit diesen Augen betrachtete, die immer schon den Anschein erweckt hatten, viel zu wissend zu sein. Was gab es für eine bessere Tarnung als eine bescheidene Braune, die wegen ihres gedankenverlorenen, gelehrtenhaften Tuns von anderen Schwestern ständig mit Geringschätzung behandelt wurde?
»Ach, dieser Tee schmeckt ja so gut«, sagte Verin. »Wenn Ihr Laras das nächste Mal seht, dankt Ihr doch bitte in meinem Namen dafür. Sie hatte versprochen, noch unverdorbenen zu haben, aber ich habe ihr nicht vertraut. Heutzutage kann man sich nicht mehr auf viel verlassen, nicht wahr?«
»Was, Laras ist eine Schattenfreundin?«, wollte Egwene wissen.
»Beim Licht, nein!«, sagte Verin. »Sie ist vieles, aber keine Schattenfreundin. Da findet Ihr eher einen Weißmantel, der eine Aes Sedai heiratet, als dass sich Laras dem Großen Herrn verschwört. Eine außergewöhnliche Frau. Und wirklich gut darin, den Geschmack von Tee zu beurteilen.«
»Was habt Ihr mit mir vor?«, fragte Egwene und zwang sich zur Ruhe. Hätte Verin sie töten wollen, wäre das schon längst geschehen. Offensichtlich wollte sie sie für etwas benutzen, und das würde Egwene irgendwann eine Gelegenheit geben. Eine Gelegenheit zur Flucht, eine Gelegenheit, das Blatt zu wenden. Beim Licht, das kam zur schlimmstmöglichen Zeit!
»Nun«, sagte Verin, »zuerst werde ich Euch bitten, Euch zu setzen. Ich würde Euch ja Tee anbieten, aber ich bezweifle ehrlich, dass Ihr etwas von dem abhaben wollt, das ich trinke.«
Denk nach, Egwene!, rief sie sich zur Ordnung. Nach Hilfe zu rufen würde sinnlos sein; die Rufe würden sowieso nur Novizinnen hören, da ihre Roten Aufpasserinnen losgelaufen waren. Ausgerechnet jetzt allein zu sein! Sie hätte nie geglaubt, sich einmal nach ihren Kerkerwärterinnen zu sehnen.
Davon abgesehen würde Verin sie zweifellos mit Geweben aus Luft fesseln und knebeln, sollte sie nach Hilfe rufen. Und selbst wenn die Novizinnen sie hörten, würden sie angelaufen kommen, um zu sehen, was denn los war - und das würde sie bloß ebenfalls in Verins Fänge treiben. Also zog Egwene den einzigen Hocker im Zimmer heran und setzte sich. Ihr Hintern protestierte, als er mit dem ungepolsterten Holz in Berührung kam.
Stille kehrte in das kleine Zimmer ein; es war kalt und leblos, weil es vier Tage lang unbewohnt gewesen war. Fieberhaft suchte Egwene nach einem Ausweg.
»Ich beglückwünsche Euch zu dem, was Ihr hier erreicht habt, Egwene«, sagte Verin. »Ich habe ein paar der Dummheiten verfolgt, die zwischen den Ajah-Fraktionen vorgehen, auch wenn ich mich entschied, mich nicht persönlich darin einzumischen. Meine Forschungen fortzuführen und den jungen al’Thor im Auge zu behalten war wichtiger. Er ist ein echter Wilder, das muss ich schon sagen. Ich mache mir Sorgen um den jungen. Ich bin mir nicht sicher, dass er tatsächlich begreift, wie der Große Herr arbeitet. Nicht alles Böse ist so offensichtlich wie … die Auserwählten. Die Verlorenen, wie Ihr sie nennt.«
»Offensichtlich?«, fragte Egwene. »Die Verlorenen?«
»Nun, vergleichsweise.« Verin lächelte und wärmte die Hände an der Tasse. »Die Auserwählten sind wie ein Haufen sich streitender Kinder, jeder versucht am lautesten zu schreien und die Aufmerksamkeit seines Vaters zu erringen. Es ist leicht zu erkennen, was sie wollen: Macht über die anderen Kinder, einen Beweis, dass sie am wichtigsten sind. Ich bin davon überzeugt, dass es weder Intelligenz, Durchtriebenheit oder Fähigkeiten sind, die einen Auserwählten ausmachen auch wenn solche Dinge natürlich wichtig sind. Nein, ich glaube, der Große Herr sucht in seinen größten Anführern vor allem nach Egoismus.«
Egwene runzelte die Stirn. Plauderten sie hier wirklich gemütlich über die Verlorenen? »Warum sollte er gerade nach dieser Eigenschaft suchen?«
»Es macht sie berechenbar. Ein Werkzeug, bei dem man sich darauf verlassen kann, dass es genau wie erwartet handelt, ist viel wertvoller als eines, das man nicht versteht. Vielleicht liegt es auch daran, dass nur die Starken überleben, wenn sie ständig gegeneinander kämpfen. Ich weiß es ehrlich nicht. Die Auserwählten sind vorhersehbar, aber der Große Herr ist das nicht. Selbst nach Jahrzehnten des Studiums kann ich mir nicht sicher sein, was er will oder warum er es will. Ich weiß nur, dass diese Schlacht nicht auf die Weise ausgetragen wird, mit der al’Thor rechnet.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Nicht viel«, erwiderte Verin und schnalzte ärgerlich auf sich selbst mit der Zunge. »Ich fürchte, ich lasse mich ablenken. Wo wir doch so wenig Zeit haben. Ich muss mich wirklich mehr konzentrieren.« Noch immer erschien sie wie die angenehme gelehrte Braune. Egwene war immer davon ausgegangen, dass Schwarze Schwestern … anders sein würden.
»Wie dem auch sei«, fuhr Verin fort. »Wir sprachen davon, was Ihr hier in der Burg getan habt. Ich hatte befürchtet, dass ich Euch bei meinem Eintreffen noch immer mit Euren Freunden draußen rumspielen finde. Stellt Euch mein Erstaunen vor, dass Ihr nicht nur Elaidas Regime infiltriert, sondern auch noch den halben Saal gegen sie gewendet habt. Ihr habt einige meiner Bundesgenossinnen sehr verärgert, das kann ich Euch versichern. Sie sind nicht sehr erfreut.« Verin schüttelte den Kopf, trank einen Schluck Tee.
»Verin, ich …« Egwene hielt inne. »Was ist mit…«
»Ich fürchte, dazu ist keine Zeit.« Verin beugte sich vor. Plötzlich schien sich etwas an ihr zu verändern. Obwohl sie noch immer die gealterte - und zeitweise mütterliche - Frau war, wurde ihre Miene entschlossener. Sie sah Egwene an, und die Intensität in ihrem Blick war erschreckend. War das tatsächlich dieselbe Frau?
»Danke, dass Ihr das weitschweifige Geschnatter einer Frau ertragt«, sagte Verin mit weicherem Tonfall. »Es war so nett, beim Tee miteinander zu plaudern, wenigstens noch dieses eine Mal. Nun, es gibt da einige Dinge, die Ihr wissen müsst. Vor einigen Jahren stand ich vor einer Entscheidung. Ich befand mich in einer Lage, in der ich entweder dem Dunklen König die Treue schwören oder enthüllen musste, dass ich das weder je wollte noch in Zukunft beabsichtigte. Woraufhin man mich hingerichtet hätte.
Vielleicht hätte eine andere einen Ausweg aus dieser Situation gefunden. Viele hätten sich einfach für den Tod entschieden. Ich allerdings betrachtete es als Gelegenheit. Wisst Ihr, man bekommt so selten die Möglichkeit, die Bestie aus dem Inneren ihres Herzens zu studieren, dass man wirklich entdecken kann, was ihr Blut fließen lässt. Dass man entdeckt, wo all die kleinen Adern und Gefäße hinführen. In der Tat eine außerordentliche Erfahrung.«
»Wartet«, sagte Egwene. »Ihr habt Euch der Schwarzen Ajah angeschlossen, um sie zu studieren?«
»Ich habe mich ihr angeschlossen, um meine Haut zu retten«, berichtigte Verin lächelnd. »Ich hänge sehr daran, auch wenn Tomas ständig auf diesen grauen Haaren herumreitet. Wie dem auch sei, nachdem ich mich den Schwarzen angeschlossen hatte, konnte ich das Beste aus der Situation machen, indem ich sie studiere.«
»Tomas. Weiß er, was Ihr getan habt?«
»Er war selbst ein Schattenfreund, Kind«, sagte Verin. »Der nach einem Ausweg suchte. Nun, es gibt aber keinen Ausweg, nachdem der Große Herr erst einmal die Krallen in einen geschlagen hat. Aber es gibt eine Möglichkeit, sich zu wehren, für seine Taten Wiedergutmachung zu üben. Ich bot Tomas diese Möglichkeit an, und ich glaube, er war mir dafür ziemlich dankbar.«
Egwene zögerte, versuchte das alles zu begreifen. Verin war eine Schattenfreundin … und doch wiederum nicht. »Ihr sagt, er ›war‹ Euch ziemlich dankbar?«
Verin antwortete nicht sofort. Sie trank nur den nächsten Schluck Tee. »Die Eide, die man dem Großen Herrn leistet, sind recht spezifisch«, fuhr sie schließlich fort. »Und wenn sie jemandem abgenommen werden, der die Macht lenken kann, sind sie auch sehr bindend. Unmöglich zu brechen. Man kann andere Schattenfreunde verraten, man kann sich gegen die Auserwählten wenden, wenn man das rechtfertigen kann. Der Egoismus muss bewahrt werden. Aber ihn kann man nie verraten. Man kann den Orden nicht an Außenstehende verraten. Aber wie gesagt sind die Eide spezifisch. Sehr spezifisch.« Sie schaute auf und erwiderte Egwenes Blick. »›Ich schwöre, den Großen Herrn nicht zu verraten, meine Geheimnisse zu bewahren bis zur Stunde meines Todes.‹ Das habe ich versprochen. Versteht Ihr?«
Egwene sah auf die dampfende Tasse in Verins Händen. »Gift?«
»Man braucht schon einen ganz besonderen Tee, damit Aspenfäule süß runtergeht«, sagte Verin und nahm den nächsten Schluck. »Vergesst bitte nicht, Laras in meinem Namen zu danken.«
Egwene schloss die Augen. Nynaeve hatte ihr gegenüber einmal Aspenfäule erwähnt; ein Tropfen konnte töten. Es war ein schneller, friedlicher Tod, und oft kam er … innerhalb einer Stunde nach der Einnahme.
»Eine seltsame Lücke in den Eiden«, sagte Verin leise. » Einem zu erlauben, in der letzten Stunde seines Lebens Verrat zu üben. Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob dem Großen Herrn das klar ist? Warum schließt er diese Lücke nicht?«
»Vielleicht betrachtet er sie nicht als bedrohlich«, sagte Egwene und öffnete die Augen wieder. »Welcher Schattenfreund würde sich schon umbringen, um dem Allgemeinwohl zu dienen? So etwas würden seine Anhänger wohl kaum in Betracht ziehen.«
»Da könntet Ihr recht haben.« Verin stellte die Tasse zur Seite. »Es dürfte klug sein, dafür zu sorgen, dass das hier sorgfältig entfernt wird, Kind.«
»Also war es das?« Egwene fröstelte. »Was ist mit Tomas?«
»Wir haben uns voneinander verabschiedet. Er verbringt seine letzte Stunde mit seiner Familie.«
Egwene schüttelte den Kopf. Es erschien ihr so eine Tragödie zu sein. »Ihr seid zu mir gekommen, um zu gestehen und dann als letzten Versuch zur Erlösung Selbstmord zu begehen?«
Verin lachte herzlich. »Erlösung? Ich glaube kaum, dass die so einfach zu verdienen ist. Das Licht allein weiß, dass ich genug getan habe, um eine ganz besondere Art der Erlösung zu brauchen. Aber es war den Preis wert. Das war es. Vielleicht muss ich mir das auch nur einreden.« Sie beugte sich vor und zog unter der zusammengefalteten Decke am Fuß von Egwenes Bett eine kleine Ledertasche hervor. Sie löste bedächtig die Schnallen, dann holte sie zwei Gegenstände hervor: Zwei Bücher, die beide in Leder eingebunden waren. Das eine hatte ein etwas größeres Format, wie ein Nachschlagewerk, aber der rote Einband wies keinen Titel auf. Das andere war ein schmaler blauer Band. Beide Buchdeckel waren vom häufigen Gebrauch abgenutzt.
Verin überreichte sie Egwene. Zögernd nahm sie sie entgegen; der größere Band lag schwer in ihrer rechten Hand, das blaue Buch lag leicht in ihrer linken. Sie runzelte die Stirn und sah Verin an.
»Jede Frau bei den Braunen versucht, etwas Bleibendes zu schaffen«, sagte Verin. »Eine Forschungsarbeit oder eine Studie, die bedeutungsvoll ist. Man macht uns oft den Vorwurf, die Welt um uns herum zu vergessen. Man glaubt, wir würden nur rückwärts schauen. Nun, das stimmt nicht. Sind wir abgelenkt, dann nur, weil wir nach vorn blicken, zu dem, was da kommt. Und die Informationen, das Wissen, das wir sammeln … hinterlassen wir denen. Die anderen Ajahs kümmern sich darum, das Heute zu verbessern; wir sehnen uns danach, das Morgen besser zu machen.«
Egwene legte das blaue Buch zur Seite und schlug zuerst das rote auf. Die Worte waren in der kleinen, effizienten, aber gedrängten Handschrift geschrieben, die sie als Verins erkannte. Keiner der Sätze ergab einen Sinn. Es war reines Kauderwelsch.
»Das kleine Buch ist der Schlüssel«, erklärte Verin. »Es enthält die Verschlüsselung, die ich benutzt habe, um diesen Band zu verfassen. Das rote Buch ist die eigentliche Arbeit. Meine Arbeit. Mein Lebenswerk.«
»Worum geht es?«, fragte Egwene leise, obwohl sie die Antwort zu kennen glaubte.
»Namen, Orte, Erklärungen«, sagte Verin. »Alles, was ich über sie in Erfahrung bringen konnte. Über die Anführer der Schattenfreunde, über die Schwarze Ajah. Die Prophezeiungen, an die sie glauben, die Ziele und Beweggründe der verschiedenen Fraktionen. Ganz hinten steht eine Liste mit jeder Schwarzen Ajah-Schwester, die ich identifizieren konnte.«
Egwene hielt die Luft an. »jede Einzelne von ihnen?«
»Ich bezweifle, dass ich sie alle erwischt habe«, sagte Verin lächelnd. »Aber ich glaube, die Mehrheit habe ich gefunden. Eines kann ich Euch versprechen, Egwene. Ich kann sehr gründlich sein.«
Ehrfurchtsvoll richtete Egwene den Blick auf die Bücher. Unglaublich! Beim Licht, dieser Schatz war größer als der eines jeden Königs. Ein Schatz so kostbar wie das Horn von Valere. Mit Tränen in den Augen schaute sie auf, stellte sich ein unter den Schwarzen verbrachtes Leben vor, bei dem man alles beobachtete, registrierte und für das Allgemeinwohl arbeitete.
»Oh, tut das nicht«, sagte Verin. Sie fing an, blass auszusehen. »Sie haben viele Agenten unter uns, wie die Würmer, die die Frucht aus dem Kern herausfressen. Nun, ich fand, dass es Zeit war, mindestens einen von uns unter ihnen zu haben. Das ist das Leben einer einzigen Frau wert. Nur wenige Menschen hatten je die Gelegenheit, etwas so Nützliches und Wunderbares wie dieses Buch zu erschaffen, das Ihr gerade in Händen haltet. Wir alle wollen die Zukunft verändern, Egwene. Ich glaube, vielleicht könnte ich es schaffen, genau das zu tun.«
Sie holte tief Luft, dann hielt sie sich den Kopf. »O je. Das wirkt aber schnell. Eines muss ich Euch noch sagen. Schlagt bitte das rote Buch auf.«
Egwene gehorchte und fand einen Lederstreifen mit stählernen Gewichten an den Enden. Er war wie ein Lesezeichen, allerdings viel länger, als sie ihr je begegnet waren.
»Wickelt ihn um das Buch«, sagte Verin. »Steckt ihn zwischen zwei beliebige Seiten, dann führt die losen Enden um das Buch.«
Neugierig gehorchte Egwene, legte den Streifen auf eine willkürlich gewählte Seite und schloss das Buch. Dann legte sie das kleinere Buch auf das größere, nahm die beiden Enden des Lesezeichens, die hervorbaumelten, und führte sie zusammen. Die Gewichte passten zusammen. Sie hakte sie ineinander ein.
Und die Bücher verschwanden.
Egwene starrte sie an. Sie konnte sie noch immer in ihren Händen fühlen, aber die Bücher selbst waren unsichtbar.
»Ich fürchte, das funktioniert nur bei Büchern«, sagte Verin und gähnte. »Jemand aus dem Zeitalter der Legenden war anscheinend sehr darum besorgt, sein oder ihr Tagebuch vor anderen zu verbergen.« Sie lächelte schmal, wurde aber immer blasser.
»Ich danke Euch, Verin«, sagte Egwene und löste die Verriegelung wieder. Die Bücher wurden wieder sichtbar. »Ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit…«
»Ich muss zugeben, dass das Gift ein Ersatzplan war«, sagte Verin. »Ich sehne mich nicht nach dem Tod; da gibt es noch immer Dinge, die ich erledigen muss. Glücklicherweise konnte ich dafür sorgen, dass mehrere von ihnen … in Gang gebracht werden, falls ich nicht zurückkehre. Eigentlich wollte ich den Eidstab nehmen und sehen, ob ich damit die Eide an den Großen Herrn entfernen kann. Unglücklicherweise scheint man den Eidstab verlegt zu haben.«
Saerin und die anderen, dachte Egwene. Sie müssen ihn sich wieder genommen haben. »Es tut mir so leid, Verin.«
»Vermutlich hätte es sowieso nicht funktioniert.« Verin legte sich auf das Bett und richtete das Kissen hinter ihrem mit Grau durchzogenen Haar. »Es war ein ganz … besonderer Prozess, dem Großen Herrn diese Eide zu leisten. Ich wünschte, ich hätte noch eine Kleinigkeit für Euch in Erfahrung bringen können. Kind, eine der Auserwählten hält sich in der Burg auf. Es ist Mesaana, da bin ich mir sicher. Ich hatte gehofft, Euch den Namen nennen zu können, hinter dem sie sich versteckt, aber bei beiden Gelegenheiten, bei denen ich mit ihr zusammentraf, war sie so vermummt, dass ich es nicht feststellen konnte. Was ich sah, ist im roten Buch notiert.
Setzt Eure Schritte mit Bedacht. Schlagt vorsichtig zu. Ich überlasse Euch die Entscheidung, ob Ihr sie alle auf einmal entlarvt oder die wichtigsten unter ihnen nacheinander im Geheimen ausschaltet. Vielleicht wollt Ihr ja erst ihre Pläne in Erfahrung bringen, um Gegenmaßnahmen einzuleiten. Ein gutes Verhör könnte vielleicht Licht auf ein paar der Fragen werfen, die ich nicht beantworten konnte. Ach, Ihr seid noch so jung und müsst so viele Entscheidungen treffen.« Sie gähnte und verzog das Gesicht, als sie ein plötzlicher Schmerz durchzuckte.
Egwene stand auf und trat an ihre Seite. »Ich danke Euch, Verin. Ich danke Euch, dass Ihr mich auserwählt habt, diese Last zu tragen.«
Verin lächelte leise. »Ihr habt eine Menge mit den Bruchstücken erreicht, die ich Euch zuvor gab. Das war eine wirklich interessante Situation. Die Amyrlin befahl mir, Euch Informationen zu geben, um die Schwarzen Schwestern zu jagen, die aus der Burg geflohen waren, also musste ich gehorchen, auch wenn die Führung der Schwarzen über den Befehl sehr ärgerlich war. Wisst Ihr, eigentlich sollte ich Euch das Traum-Ter’angreal gar nicht geben. Aber ich hatte immer schon dieses Gefühl, was Euch betraf.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich ein solches Vertrauen verdiene.« Egwene schaute auf die Bücher nieder. »Ein Vertrauen, wie Ihr es gezeigt habt.«
»Unsinn, Kind«, erwiderte Verin, gähnte erneut und schloss die Augen. »Ihr werdet die Amyrlin sein. Da bin ich mir sicher. Und eine Amyrlin sollte gut mit Wissen gewappnet sein. Vor allem das ist die heiligste Pflicht der Braunen - die Welt mit Wissen zu wappnen. Ich bin noch immer eine von ihnen. Das Wort Schwarze Schwester wird meinen Namen für immer brandmarken, aber bitte sorgt dafür, dass sie erfahren, dass meine Seele die einer echten Braunen ist. Sagt ihnen …«
»Das werde ich, Verin«, versprach Egwene. »Aber Eure Seele ist nicht braun. Das sehe ich.«
Verins Lider hoben sich mühsam, und sie erwiderte Egwenes Blick, während sich ihre Stirn in Falten legte.
»Eure Seele ist reines Weiß, Verin«, sagte Egwene leise. »Wie von reinem Licht.«
Verin lächelte, und ihre Augen schlossen sich. Der eigentliche Tod war noch einige Minuten entfernt, aber zuerst trat die Bewusstlosigkeit ein, und sie kam schnell. Egwene saß da und hielt die Hand der Frau. Elaida und der Saal konnten sich um sich selbst kümmern; Egwene hatte ihre Saat gut gesät. Jetzt dort aufzutauchen und Forderungen zu stellen würde nur ihre Autorität überstrapazieren.
Nachdem Verins Puls verklungen war, stellte Egwene die Tasse mit dem vergifteten Tee zur Seite und hielt die Untertasse vor Verins Nase. Auf der funkelnden Oberfläche erschien kein Atemhauch. Es kam ihr herzlos vor, das doppelt zu überprüfen, aber es gab Gifte, die einen tot erscheinen und den Atem verlangsamen lassen konnten, und falls Verin Egwene auf die falschen Schwestern hätte hetzen wollen, wäre das eine wunderbare Methode dazu gewesen. Herzlos in der Tat, und Egwene fühlte sich schrecklich dabei, aber sie war die Amyrlin. Sie tat das, was schwierig war, und zog alle Möglichkeiten in Betracht.
Sicherlich würde keine echte Schwarze Schwester bereit sein zu sterben, nur um so eine falsche Fährte zu legen. In ihrem Herzen vertraute sie Verin, aber ihr Verstand wollte Sicherheit. Sie warf einen Blick auf den einfachen Schreibtisch, wo sie die Bücher abgelegt hatte. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür ohne Vorwarnung, und eine junge Aes Sedai - die erst vor so kurzer Zeit zur Stola erhoben worden war, dass ihr Gesicht noch nicht das alterslose Aussehen angenommen hatte - spähte herein. Turese, eine der Roten Schwestern. Also hatte man endlich jemanden dazu abgestellt, Egwene zu bewachen. Ihre Freiheit war wieder vorbei. Nun, es war sinnlos, sich über das zu ärgern, was hätte sein können. Die Zeit war gut verbracht worden. Sie wünschte sich, Verin wäre eine Woche früher zu ihr gekommen, aber was geschehen war, war geschehen.
Die Rote Schwester betrachtete Verin stirnrunzelnd, und Egwene hob schnell einen Finger an die Lippen und warf der jungen Frau einen finsteren Blick zu. Dann eilte sie zur Tür.
»Sie ist gerade angekommen und wollte mich wegen einer Aufgabe sprechen, die sie mir vor langer Zeit aufgetragen hatte, noch vor der Spaltung der Burg. Manchmal können sie so seltsam beharrlich sein, diese Braunen Schwestern.« Wahre Worte, jedes Einzelne davon.
Turese kommentierte die Bemerkung über die Braunen mit einem Nicken.
»Ich wünschte, sie hätte sich auf ihr eigenes Bett gelegt«, fuhr Egwene fort. »Ich bin mir nicht sicher, was ich jetzt mit ihr machen soll.« Wieder war das die Wahrheit. Egwene musste unbedingt den Eidstab in die Hände bekommen. Bei Gelegenheiten wie diesen erschien lügen viel zu bequem.
»Ihre Reise muss sie ermüdet haben«, sagte Turese leise, aber energisch. »Ihr fügt Euch ihren Wünschen; sie ist eine Aes Sedai, und Ihr seid bloß eine Novizin. Stört sie nicht.«
Und die Rote schloss die Tür. Egwene lächelte zufrieden. Dann fiel ihr Blick auf Verins Leiche, und das Lächeln verblasste. Irgendwann würde sie enthüllen müssen, dass Verin gestorben war. Wie sollte sie das bloß erklären? Nun, ihr würde etwas einfallen. Falls sie in Bedrängnis geriet, würde sie einfach die Wahrheit sagen.
Aber zuerst musste sie einige Zeit mit dem Buch verbringen. Es war durchaus nicht unwahrscheinlich, dass man es ihr abnehmen würde, selbst mit dem Lesezeichen-Ter’angreal. Am besten verstaute sie den Schlüssel getrennt von dem verborgenen Buch. Oder sie vertraute den Schlüssel ihrem Gedächtnis an und vernichtete ihn. Alles wäre leichter zu planen gewesen, hätte sie gewusst, was im Saal geschah! Hatte man Elaida abgesetzt? Lebte Silviana noch, oder hatte man sie hingerichtet?
Im Augenblick konnte sie nur wenig in Erfahrung bringen, da man sie bewachte. Sie würde einfach abwarten müssen. Und lesen.
Die Verschlüsselung erwies sich als ziemlich kompliziert, und die dafür nötigen Anweisungen beanspruchten einen guten Teil des kleineren Buches. Das war sowohl vorteilhaft wie auch frustrierend. Es würde sehr schwer sein, den Schlüssel ohne das Buch zu brechen, andererseits würde es so gut wie unmöglich sein, ihn nur der Erinnerung anzuvertrauen. Das würde Egwene unmöglich bis zum nächsten Morgen schaffen, und dann musste sie Verins wahren Zustand allen enthüllen.
Sie warf einen Blick auf die Frau. Verin sah wirklich so aus, als schliefe sie. Egwene hatte sie bis zum Hals zugedeckt und ihr dann die Schuhe ausgezogen und neben das Bett gestellt, um die Illusion noch zu verstärken. Sie entschloss sich, Verin auf die Seite zu drehen, auch wenn sie sich dabei respektlos vorkam. Die Rote Schwester hatte bereits ein paar Mal ins Zimmer geschaut, und Verin in einer anderen Position zu sehen würde weniger verdächtig erscheinen.
Als sie damit fertig war, betrachtete Egwene ihre Kerze, um die verstrichene Zeit abzuschätzen. Das Zimmer hatte keine Fenster, die gab es in den Novizinnenquartieren nicht. Sie verdrängte die Sehnsucht, die Macht umarmen und eine Lichtkugel erschaffen zu können, bei der sie lesen konnte. Sie würde sich mit der Kerzenflamme begnügen müssen.
Sie vergrub sich in ihre erste Aufgabe: die Entschlüsselung der Namen der Schwarzen Schwestern im hinteren Teil des Buches. Das war sogar noch wichtiger, als sich die Verschlüsselung zu merken. Sie musste wissen, wem sie vertrauen konnte.
Die folgenden Stunden gehörten zu den unbehaglichsten und unangenehmsten ihres Lebens. Einige der Namen waren ihr unbekannt, viele kaum vertraut. Andere gehörten aber Frauen, mit denen sie zusammengearbeitet hatte, die sie respektiert und denen sie sogar vertraut hatte. Sie fluchte, als sie Katerines Namen beinahe ganz oben auf der Liste fand, und zischte überrascht, als Alviarins Namen auftauchte. Von Elza Penfell und Galina Casban hatte sie schon gehört, aber einige der nächsten Namen waren ihr unbekannt.
Bodenlose Übelkeit breitete sich in ihr aus, als sie Sheriams Namen las. Sie hatte die Frau einmal verdächtigt, das stimmte, aber das war während ihrer Zeit als Novizin und dann als Aufgenommene gewesen. Während jener Tage - die Tage, in denen sie mit der Jagd auf die Schwarzen Ajah begonnen hatte - war Liandrins Verrat noch frisch gewesen. Damals hatte sie jeden verdächtigt.
Während des Exils in Salidar hatte Egwene eng mit Sheriam zusammenarbeitet und angefangen, die Frau zu mögen. Aber sie gehörte zu den Schwarzen. Ihre eigene Behüterin der Chroniken war eine Schwarze. Stähle dich, rief sie sich zur Ordnung und las weiter. Sie verarbeitete das Gefühl von Verrat, die Verbitterung und das Bedauern. Sie durfte nicht zulassen, dass sich ihrer Pflicht Gefühle in den Weg stellten.
Die Schwarzen Schwestern waren in jeder Ajah vertreten. Einige waren Sitzende, andere gehörten zu den gänzlich unbedeutenden Aes Sedai, die nur schwach in der Macht waren. Und es gab Hunderte von ihnen, Verins Zählung nach etwas mehr als zweihundert. Einundzwanzig bei den Blauen, achtundzwanzig bei den Braunen, dreißig bei den Grauen, achtunddreißig bei den Grünen, siebzehn bei den Weißen, einundzwanzig bei den Gelben, und unglaubliche achtundvierzig bei den Roten. Aufgeführt waren auch Namen von Aufgenommenen und Novizinnen. Das Buch beschrieb, dass sie vermutlich bereits Schattenfreunde gewesen waren, bevor sie zur Weißen Burg gekommen waren, denn die Schwarze Ajah rekrutierte ausschließlich bei Aes Sedai. Ein Vermerk verwies auf eine vorherige Seite mit einer längeren Erklärung, aber Egwene ging weiter die Liste durch. Sie musste den Namen einer jeden Frau kennen. Sie musste sie wissen.
Es gab Schwarze Schwestern unter den Rebellen und in der Weißen Burg, es gab sie selbst unter jenen, die während der Spaltung nicht in der Burg gewesen waren und sich auf keine Seite geschlagen hatten. Abgesehen von Sheriam bestand die schlimmste Entdeckung auf der Liste in den Namen der Sitzenden sowohl in der Burg wie auch bei den Rebellen. Duhara Basaheen. Velina Behar. Sedore Dajenna. Delana Mosalaine natürlich und auch Talene Minly. Meidani hatte Egwene im Vertrauen erzählt, dass Talene die Angehörige der Schwarzen Ajah war, die Saerin und die anderen entdeckt hatten, aber sie war aus der Burg geflohen.
Moria Karentanis. Sie war Angehörige der Blauen Ajah, eine Frau, die seit über hundert Jahren die Stola trug und für ihre Weisheit und ihre Vernunft bekannt war. Egwene hatte zahllose Male mit ihr gesprochen und von ihrer Erfahrung profitiert; sie war davon ausgegangen, dass sie als Blaue zu ihren verlässlichsten Anhängerinnen gehören würde. Moria war eine von denen gewesen, die Egwene unbedingt zur Amyrlin hatten erheben wollen, und sie hatte sie bei mehreren entscheidenden Gelegenheiten nachdrücklich unterstützt.
Jeder Name war wie ein Dorn, der sich in Egwenes Haut bohrte. Dagdara Finchey, die Egwene einmal Geheilt hatte, als sie sich den Knöchel verstaucht hatte. Zanica, die ihr Unterricht gegeben hatte und so nett erschienen war. Larissa Lyndel. Miyasi, für die sie Nüsse geknackt hatte. Nesita. Nacelle Kayama. Nalaene Forreil, die sich wie Elza Rand verschworen hatte. Birlen Pena. Melvara. Chai Rugan …
Die Liste ging weiter. Weder Romanda noch Lelaine waren Schwarze, was Egwene irgendwie ärgerte. Eine von ihnen oder auch beide in Ketten zu legen wäre so praktisch gewesen. Warum bloß Sheriam und keine der beiden?
Hör auf damit, rief sie sich zur Ordnung. Du benimmst dich nicht rational. Sich zu wünschen, dass gewisse Schwestern Schwarze waren, brachte sie nicht weiter.
Cadsuane stand nicht auf der Liste. Genauso wenig wie Egwenes engste Freundinnen. Damit hatte sie auch nicht gerechnet, aber es fühlte sich trotzdem gut an, die Liste zu beenden, ohne auf einen ihrer Namen zu stoßen. Die Gruppe, die in der Burg die Schwarze Ajah jagte, war auch nicht infiltriert. Außerdem war keiner der Spione dabei, die man in Salidar ausgesandt hatte.
Und Elaidas Name stand auch nicht auf der Liste. An ihrem Ende stand eine Anmerkung, dass Verin Elaida genau unter die Lupe genommen und nach einem Beweis gesucht hatte, dass sie zu den Schwarzen gehörte. Aber Bemerkungen der Schwarzen Schwestern hatten sie zu der Annahme geführt, dass Elaida nicht zu ihnen gehörte. Sie war bloß eine labile Frau, die den Schwarzen manchmal genauso unerträglich war wie dem Rest der Burg.
Leider machte das Sinn. Die Erkenntnis, dass Galina und Alviarin Schwarze waren, hatte Egwene schon vermuten lassen, dass sie Elaidas Name nicht hier finden würde. Das passte eher zu den Schwarzen, jemanden zu wählen, den sie als Amyrlin manipulieren konnten, und dann eine Schwarze Behüterin einzusetzen, die sie unter Kontrolle hielt.
Vermutlich hatten sie Elaida durch Alviarin oder Galina irgendwie unter Druck gesetzt - Galina, die sich laut Verins Anmerkungen zur Anführerin der Roten Ajah gemacht hatte. Sie hatten Elaida bedrängt oder bestochen, ihren Wünschen zu entsprechen, ohne dass die Amyrlin überhaupt mitbekommen hatte, dass sie den Schwarzen diente. Und das half auch Alviarins seltsamen Sturz zu erklären. War sie vielleicht zu weit gegangen? Hatte sie es übertrieben und Elaidas Zorn erregt? Das erschien plausibel, aber genau würde man es erst dann wissen, wenn Elaida aussagte oder Egwene Alviarin verhören lassen konnte. Was sie so schnell wie möglich in die Wege leiten wollte.
Nachdenklich schloss Egwene das rote Buch; die Kerze war beinahe niedergebrannt. Es wurde spät. Vielleicht war es Zeit, darauf zu bestehen, Informationen über die Lage in der Burg zu erhalten.
Aber bevor sie sich entscheiden konnte, wie sie vorgehen sollte, klopfte es an der Tür. Egwene schaute auf, verknotete schnell das Lesezeichen und ließ beide Bücher verschwinden. Anklopfen bedeutete, dass dort keine Rote stand.
»Herein«, rief sie.
Die Tür öffnete sich und enthüllte Nicola mit ihren großen dunkeln Augen und der schlanken Statur, die keine Sekunde lang von Turese aus den Augen gelassen wurde. Die Rote erschien nicht erfreut, dass Egwene eine Besucherin hatte, aber die dampfende Schüssel auf dem Tablett in Nicolas Händen erklärte, warum sie hatte klopfen dürfen.
Nicola machte vor Egwene einen Knicks, und ihr weißes Novizinnengewand bauschte sich. Tureses Miene wurde noch finsterer. Aber Nicola fiel das nicht auf. »Für Verin Sedai«, sagte sie leise und deutete mit dem Kopf zum Bett. »Auf Anordnung der Herrin der Küchen, nachdem sie hörte, wie erschöpft Verin Sedai von ihren Reisen ist.«
Egwene nickte, deutete auf den Tisch und verbarg ihre Aufregung. Nicola kam schnell heran, stellte das Tablett ab und flüsterte leise: »Ich soll fragen, ob Ihr ihr vertraut.« Wieder schaute sie zum Bett.
»Ja«, sagte Egwene und übertönte das Wort, indem sie den Hocker zurückschob. Also wussten ihre Verbündeten noch nichts von Verins Tod. Das war gut; für den Augenblick war das Geheimnis noch gewahrt.
Nicola nickte, dann sagte sie lauter: »Es wäre gut für sie, wenn sie sie isst, solange sie noch warm ist, aber ich überlasse es Euch, ob Ihr sie wecken wollt oder nicht. Man hat mir befohlen, Euch zu warnen, das Essen nicht anzurühren.«
»Das werde ich auch nicht tun, es sei denn, es stellt sich heraus, dass sie es nicht braucht«, erwiderte Egwene und wandte sich ab. Ein paar Augenblicke später schloss sich die Tür wieder hinter Nicola. Egwene wartete ein paar angespannte Minuten, ob Turese wieder hereinschaute und sie kontrollierte, und sie nutzte die Zeit, um sich Gesicht und Hände zu waschen und ein sauberes Kleid anzuziehen. Als sie überzeugt war, nicht gestört zu werden, nahm sie den Löffel und fischte in der Suppe herum. Und tatsächlich fand sie eine kleine Glasröhre mit einem zusammengerollten Stück Papier.
Schlau. Anscheinend hatten ihre Verbündeten von Verins Anwesenheit in Egwenes Zimmer gehört und beschlossen, das als Vorwand zu nehmen, jemanden zu ihr zu schicken. Sie entrollte das Papier, auf dem nur ein Wort stand. »Wartet.«
Sie seufzte, aber es gab nichts, was sie tun konnte. Allerdings wagte sie es nicht, das Buch wieder hervorzuholen und weiterzulesen. Bald vernahm sie Stimmen vor der Tür, die nach einer Auseinandersetzung klangen. Wieder klopfte es.
»Herein«, sagte Egwene neugierig.
Die Tür öffnete sich, und Meidani trat ins Zimmer. Demonstrativ schloss sie die Tür vor Tureses Nase. »Mutter«, sagte sie und machte einen Knicks. Die schlanke Frau trug ein enges graues Kleid, das etwas zu offensichtlich ihre üppigen Brüste betonte. Musste sie am Abend bei Elaida zum Essen erscheinen? »Es tut mir leid, dass ich Euch warten ließ.«
Egwene winkte ab. »Wie seid Ihr an Turese vorbeigekommen?«
»Es ist allgemein bekannt, dass Elaida mich mit … Besuchen favorisiert. Und das Burggesetz besagt, dass man keinem Gefangenen Besucher verbieten darf. Sie konnte eine Schwester nicht daran hindern, eine einfache Novizin zu besuchen, auch wenn sie es versucht hat.«
Egwene nickte, und Meidani sah zu Verin. Sie runzelte die Stirn. Und verlor alle Farbe aus dem Gesicht. Verins Züge waren wächsern und matt geworden, und es war offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. Gut, das Turese sich die »schlafende« Aes Sedai nie genau angesehen hatte.
»Verin Sedai ist tot«, sagte Egwene und behielt die Tür im Auge.
»Mutter?«, fragte Meidani. »Was ist geschehen? Wurdet Ihr angegriffen?«
»Verin Sedai wurde kurz vor unserer Unterhaltung von einem Schattenfreund vergiftet. Sie wusste es und kam, um mir während ihrer letzten Augenblicke wichtige Informationen mitzuteilen.« Es war schier unglaublich, was ein paar wahrheitsgemäße Behauptungen alles verbergen konnten.
»Beim Licht!«, sagte Meidani. »Ein Mord in der Weißen Burg? Wir müssen es jemandem sagen! Holt die Wache und …«
»Man wird sich darum kümmern«, sagte Egwene energisch. »Senkt Eure Stimme, und reißt Euch zusammen. Ich will nicht, dass die Wärterin draußen hört, was wir sagen.«
Meidani wurde blass, dann sah sie Egwene an und fragte sich vermutlich, wie sie so herzlos sein konnte. Gut. Sollte sie die beherrschte, entschlossene Amyrlin sehen. Solange sie nur keine Spur von der Trauer, der Verwirrung und der Unruhe im Inneren mitbekam.
»ja, Mutter.« Meidani machte einen Knicks. »Natürlich. Ich entschuldige mich.«
»Ich vermute, Ihr bringt Neuigkeiten?«
»Ja, Mutter«, sagte Meidani und sammelte ihre Gedanken. »Saerin trug mir auf, Euch zu besuchen. Sie sagte, Ihr wollt sicher über die Geschehnisse des Tages Bescheid wissen.«
»In der Tat«, sagte Egwene und bemühte sich, ihre Ungeduld nicht zu zeigen. Beim Licht, aber darauf war sie schon selbst gekommen. Konnte die Frau nicht auf den Punkt kommen? Es gab Schwarze Ajah, um die man sich kümmern musste!
»Elaida ist noch immer Amyrlin«, berichtete Meidani, »aber nur so gerade eben. Der Saal der Burg trat zusammen und erteilte ihr formell einen Tadel. Sie hielten Elaida vor, dass die Amyrlin kein absoluter Herrscher ist und dass sie nicht damit weitermachen kann, Dekrete auszusprechen und Forderungen zu stellen, ohne die Sitzenden vorher zu konsultieren.«
Egwene nickte. »Keine unerwartete Wendung.« Mehr als nur eine Amyrlin war zur Galionsfigur geworden, weil sie es auf ähnliche Weise übertrieben hatte. Darauf hatte auch Elaida zugesteuert, und es wäre auch zufriedenstellend gewesen, hätten sie es nicht mit dem Ende aller Tage zu tun gehabt. »Welche Buße?«
»Drei Monate«, sagte Meidani. »Einen für das, was sie mit Euch gemacht hat. Zwei für ein Verhalten, das mit ihrer Stellung unvereinbar ist.«
»Interessant«, sagte Egwene nachdenklich.
»Einige verlangten nach mehr, Mutter. Es hatte einen Augenblick lang den Anschein, als würde man sie auf der Stelle stürzen.«
»Ihr habt zugesehen?«, fragte Egwene überrascht.
Meidani nickte. »Elaida bat darum, die Sitzung zu Versiegeln, erhielt aber keine Unterstützung dafür. Ich glaube, dahinter steckte ihre eigene Ajah, Mutter. Alle drei Sitzenden der Roten sind nicht in der Burg. Ich frage mich noch immer, wo Duhara und die anderen hin sind.«
Duhara. Eine Schwarze. Was hat sie vor? Und was ist mit den anderen beiden? Waren sie zusammen, und wenn ja, können auch die anderen beiden Schwarze sein?
Darum würde sie sich später kümmern müssen. »Wie hat Elaida das alles aufgenommen?«
»Sie hat nicht viel dazu gesagt, Mutter. Hauptsächlich hat sie da gesessen und zugesehen. Sie sah nicht sehr erfreut aus; eigentlich hat es mich überrascht, dass sie nicht zu einer Tirade ansetzte.«
»Die Roten«, sagte Egwene. »Wenn sie wirklich die Unterstützung ihrer eigenen Ajah verliert, dann werden sie sie vorher gewarnt haben, nicht noch mehr Unruhe zu stiften.«
»Das war auch Saerins Einschätzung«, erwiderte Meidani. »Sie meinte auch, dass es zum Teil Eurem Drängen, den Sturz der Roten Ajah nicht zuzulassen - was übrigens Novizinnen verbreitet haben, die zufällig zuhörten - zuzuschreiben ist, dass man Elaida nicht sofort abgesetzt hat.«
» Nun, ich hätte nichts dagegen, wenn man sie absetzt. Ich wollte nur nicht, dass man die ganze Ajah auflöst. Dennoch könnte das gut so sein. Elaidas Sturz ist nicht auf eine Weise eingetreten, die die Burg mit in den Abgrund reißt.« Allerdings hätte Egwene diese zuvor geäußerten Worte möglicherweise zurückgenommen, wäre das möglich gewesen. Keinesfalls wollte sie den Eindruck erwecken, dass ausgerechnet sie Elaida unterstützte. »Ich nehme an, Silvianas Urteil wurde aufgehoben?«
»Nicht ganz, Mutter. Sie steht unter Arrest, bis der Saal entschieden hat, was man mit ihr machen soll. Sie trotzt der Amyrlin noch immer auf eine sehr öffentliche Weise, und es ist die Rede von einer Buße.«
Egwene runzelte die Stirn. Das roch nach einem Kompromiss; vermutlich hatte sich Elaida zuvor mit dem Oberhaupt der Roten Ajah getroffen - wer auch immer das nach Galinas Verschwinden war - und die Einzelheiten ausgeheckt. Silviana würde immer noch bestraft werden, wenn auch nicht so hart, aber Elaida würde sich dem Willen des Saals beugen. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass Elaida auf wackligem Boden stand, aber noch immer Forderungen stellen konnte. Ihre Unterstützung in ihrer eigenen Ajah war nicht so völlig geschwunden, wie Egwene gehofft hatte.
Trotzdem war das eine glückliche Wendung. Silviana würde leben, und man würde Egwene anscheinend erlauben, wieder zu ihrem Leben als »Novizin« zurückzukehren. Die Sitzenden waren mit Elaida unzufrieden genug, um sie zu rügen. Blieb Egwene noch etwas Zeit, würde sie es schaffen, die Frau absetzen zu lassen und die Burg wieder zu vereinen, da war sie sich sicher. Aber konnte sie es auch wagen, sich diese Zeit zu nehmen?
Sie schaute zu dem Tisch hinüber, wo die kostbaren Bücher vor allen Blicken verborgen lagen. Wenn sie mit aller Härte gegen die Schwarze Ajah vorging, würde das eine Schlacht herbeiführen? Würde sie die Burg noch mehr destabilisieren? Und war es überhaupt realistisch, darauf hoffen zu können, auf diese Weise gegen sie alle vorgehen zu können? Sie brauchte Zeit, um über alles nachzudenken. Und im Augenblick bedeutete das, in der Burg zu bleiben und gegen Elaida zu arbeiten. Und unglücklicherweise bedeutete das auch, die meisten der Schwarzen Schwestern nicht zu behelligen.
Aber nicht alle. »Meidani«, sagte Egwene. »Ich will, dass Ihr den anderen Bericht erstattet. Sie müssen Alviarin unter Arrest stellen und sie der Prüfung mit dem Eidstab unterwerfen. Sagt ihnen, sie sollen jedes vertretbare Risiko eingehen, um das zu bewerkstelligen.«
»Alviarin, Mutter? Warum sie?«
»Sie ist eine Schwarze«, erwiderte Egwene, und ihr drehte sich der Magen um. »Und gehört zum oberen Führungsstab ihrer Organisation in der Burg. Um mir diese Information zu bringen, ist Verin gestorben.«
Meidani wurde blass. »Mutter, seid Ihr sicher?«
»Ich bin zuversichtlich, was Verins Vertrauenswürdigkeit angeht«, sagte Egwene. »Aber es wäre ratsam, die anderen Alviarins Eide entfernen und dann ersetzen zu lassen, um sie dann zu fragen, ob sie eine Schwarze ist. jede Frau sollte diese Chance erhalten, um sich zu beweisen, ganz egal, wie die Beweise gegen sie aussehen. Ich nehme an, Ihr habt den Eidstab?«
»Ja«, sagte Meidani. »Wir brauchten ihn, um Nicolas Vertrauenswürdigkeit zu ergründen; die anderen wollten einige Aufgenommene und Novizinnen einspannen, da sie Botschaften überbringen können, wo es den Schwestern versagt ist.«
Bedachte man die Zwistigkeiten der Ajahs, war das vernünftig. »Warum gerade sie?«
»Weil sie sooft vor den anderen über Euch spricht, Mutter«, sagte Meidani. »Es ist allgemein bekannt, dass sie eine Eurer größten Fürsprecherinnen unter den Novizinnen ist.«
Es war seltsam, das über eine Frau zu hören, die sie im Grunde genommen verraten hatte, aber bei Licht betrachtet konnte man das Mädchen dafür eigentlich nicht verantwortlich machen.
»Natürlich haben sie sie nicht alle Drei Eide schwören lassen«, fuhr Meidani fort. »Sie ist keine Aes Sedai. Aber sie hat den Eid gegen das Lügen abgelegt und bewiesen, dass sie keine Schattenfreundin ist. Danach haben sie sie wieder von dem Eid entbunden.«
»Und was ist mit Euch, Meidani?«, wollte Egwene wissen. »Hat man Euch von dem vierten Eid entbunden?«
Die Frau lächelte, »fa, Mutter. Danke.«
Egwene nickte. »Dann geht. Richtet meine Botschaft aus. Alviarin muss gefangen genommen werden.« Ihr Blick fiel auf Verins Leichnam. »Ich fürchte, ich muss Euch bitten, sie auch mitzunehmen. Es wird besser sein, wenn sie verschwindet, als dass ich ihren Tod in meinem Zimmer erklären muss.«
»Aber …«
»Benutzt ein Wegetor«, sagte Egwene. »Gleitet, wenn Ihr diesen Ort hier nicht gut genug kennt.«
Meidani nickte und umarmte die Quelle.
»Webt zuerst etwas anderes«, sagte Egwene nachdenklich. »Ganz egal, was; etwas, wofür man viel Macht braucht. Vielleicht eines der hundert Gewebe, die man für die Prüfung zur Aes Sedai braucht.«
Meidani runzelte die Stirn, tat aber wie geheißen und webte etwa sehr Kompliziertes, für das viel Macht erforderlich war. Kurz, nachdem sie begonnen hatte, schob Turese misstrauisch den Kopf ins Zimmer. Das Gewebe blockierte glücklicherweise ihre Sicht auf Verins Gesicht, aber sie konzentrierte sich ohnehin nicht auf die »schlafende« Braune. Sie konzentrierte sich auf das Gewebe und wollte etwas sagen.
»Sie demonstriert mir einige Gewebe, die ich wissen muss, wenn ich die Prüfung zur Aes Sedai mache«, schnitt ihr Egwene das Wort ab. »Ist das verboten?«
Turese sah sie an, aber dann zog sie sich wieder zurück und schloss die Tür.
»Das sollte sie daran hindern, die Nase reinzustecken und die Gewebe für die Wegetore zu sehen«, erklärte Egwene. »Schnell jetzt. Nehmt den Leichnam. Wenn Turese wieder reinschaut, werde ich ihr die Wahrheit sagen - dass Ihr und Verin durch ein Tor gegangen seid.«
Meidani betrachtete die Tote. »Aber was sollen wir mit ihr machen?«
»Was auch immer angemessen erscheint«, erwiderte Egwene leicht ungehalten. »Das überlasse ich Euch. Ich habe nicht die Zeit, mich jetzt darum zu kümmern. Und nehmt diese Tasse da mit; der Tee ist vergiftet. Entsorgt ihn vorsichtig.«
Egwene überprüfte die flackernde Kerze; sie war beinahe bis auf den Tisch niedergebrannt. Meidani seufzte leise, dann erschuf sie ein Wegetor. Gewebe aus Luft beförderten Verins Leiche durch die Öffnung, und Egwene sah ihr mit einem Stich des Bedauerns nach. Die Frau hatte Besseres verdient. Eines Tages würde man bekannt machen, was sie durchlitten und alles erreicht hatte. Aber bis dahin würde noch einige Zeit vergehen.
Sobald Meidani mit der Leiche und dem Tee verschwunden war, entzündete Egwene eine neue Kerze und legte sich aufs Bett, wobei sie sich bemühte, nicht an das zu denken, was hier eben noch gelegen hatte. Sie entspannte sich und dachte an Siuan. Die Frau würde bald schlafen gehen. Man musste sie vor Sheriam und den anderen warnen.
Egwene öffnete die Augen im Tel’aran’rhiod. Sie befand sich in ihrem Zimmer, oder zumindest in dessen Traumversion. Das Bett war gemacht, die Tür geschlossen. Sie verwandelte ihr Kleid in ein kostbares grünes Gewand, wie es einer Amyrlin geziemte, dann bewegte sie sich in den Frühlingsgarten der Burg. Siuan war noch nicht da, aber vermutlich war es noch etwas zu früh für ihr Treffen.
Hier konnte zumindest keiner den Unrat sehen, der sich in der Stadt auftürmte, oder das Verderben, das an den Wurzeln der Ajah-Einheit nagte. Die Gärtner der Burg waren wie eine Naturgewalt, pflanzten, kultivierten und ernteten, während Amyrlin kamen und gingen. Der Frühlingsgarten war kleiner als die meisten anderen Gärten der Burg, er war ein dreieckiges Stück Land zwischen zwei Mauern. In einer anderen Stadt hätte man es vielleicht als Absteilfläche benutzt oder einfach mit Steinen gefüllt. Aber in der Weißen Burg wären beide Möglichkeiten unangebracht gewesen.
Die Lösung war ein kleiner Garten voller Gewächse, die im Schatten gediehen. Hortensien wuchsen die Mauern hinauf. Herzblumen waren in Reihen gepflanzt, und ihre winzigen rosafarbenen Blüten hingen von den Blättern. Linden und andere kleine Bäume säumten die ein Dreieck bildenden Mauern und stießen an einer Stelle aneinander.
Egwene ging die Baumreihen ab, während sie wartete, und dachte darüber nach, dass Sheriam eine Schwarze war. Bei wie vielen Dingen hatte diese Frau ihre Hand im Spiel gehabt? Während Siuans Herrschaft als Amyrlin war sie jahrelang die Oberin der Novizinnen gewesen. Hatte sie ihre Position dazu ausgenutzt, andere Schwestern zu bedrängen oder vielleicht sogar die Seiten wechseln zu lassen? War möglicherweise sie für den Angriff des Grauen Mannes vor so langer Zeit verantwortlich gewesen?
Sheriam hatte zu der Gruppe gehört, die Mat Geheilt hatte. Sicherlich hatte sie bei einem Zirkel mit so vielen anderen Frauen nichts Bösartiges anrichten können - aber nun war alles verdächtig, woran diese Frau beteiligt gewesen war. Und das war so vieles! Sheriam hatte vor Egwenes Aufstieg zur Macht zu denen gehört, die in Salidar das Sagen gehabt hatten. Was hatte sie da alles angerichtet, was hatte sie alles an den Schatten verraten?
Hatte sie über Elaidas Plan, Siuan abzusetzen, Bescheid gewusst? Galina und Alviarin waren Schwarze, und sie waren zwei der hauptsächlichen Anstifter gewesen, also erschien es wahrscheinlich, dass man andere Schwarze gewarnt hatte. Hatten der Auszug der Hälfte der Burg, die Versammlung in Salidar und die dann folgende Zeit voller langwieriger Debatten zu einem Plan des Dunklen Königs gehört? Und was war mit Egwenes Aufstieg zur Macht? An wie vielen Fäden des Schattens hatte sie gezupft, ohne sich dessen bewusst zu sein?
Das ist völlig sinnlos, sagte sie sich energisch. Schlag nicht diesen Weg ein. Auch ohne Verins Bücher hatte Egwene den Verdacht gehabt, dass die Spaltung der Weißen Burg das Werk des Dunklen Königs gewesen war. Natürlich würde es ihn erfreut haben, dass sich die Aes Sedai in zwei Lager teilten, statt sich hinter einem Anführer zu vereinen.
Aber irgendwie war es jetzt … persönlicher. Egwene kam sich beschmutzt vor, als hätte man sie hereingelegt. Einen Augenblick lang kam sie sich wie der Bauerntrampel vor, für den sie so viele hielten. Wenn Elaida eine Marionette der Schwarzen gewesen war, dann sie erst recht. Beim Licht! Was musste der Dunkle König doch gelacht haben, als er die beiden rivalisierenden Amyrlin sah, von denen jede eine seiner loyalen Handlanger an der Seite hatte, die sie dann gegeneinander aufhetzten.
Selbst nach Jahrzehnten des Studiums kann ich mir nicht sicher sein, was er will oder warum er es will, hatte Verin gesagt. Wer vermochte schon zu sagen, ob der Dunkle König überhaupt lachen konnte.
Egwene fröstelte. Wie auch immer sein Plan aussah, sie würde ihn bekämpfen. Ihm widerstehen. Ihm ins Auge spucken, selbst wenn er gewann, genau wie es die Aiel sagten.
»Nun, das ist ein toller Anblick«, sagte Siuan.
Egwene fuhr herum und erkannte zerknirscht, dass sie nicht länger das Gewand einer Amyrlin trug, sondern die vollständige Rüstung eines Soldaten, der in die Schlacht ritt. In der Hand hielt sie zwei Aielspeere.
Sie verbannte Rüstung und Schwert mit einem Gedanken und holte das Kleid zurück. »Siuan«, sagte sie kurz angebunden. »Ihr werdet einen Stuhl brauchen. Es ist etwas geschehen. «
Siuan runzelte die Stirn. »Was denn?«
»Zuerst einmal, Sheriam und Moria sind Schwarze Ajah.«
»Was?«, rief Siuan. »Was soll denn dieser Unsinn?« Sie erstarrte. »Mutter«, fügte sie verspätet hinzu.
»Das ist kein Unsinn«, sagte Egwene. »Ich fürchte, es ist die Wahrheit. Es gibt noch andere, aber ihre Namen werde ich Euch später geben. Wir können sie noch nicht in Gewahrsam nehmen. Ich brauche Zeit, um zu planen und nachzudenken, vielleicht einen Abend. Wir werden bald zuschlagen. Aber bis dahin will ich, dass Sheriam und Moria beobachtet werden. Haltet Euch nicht allein in ihrer Nähe auf.«
Siuan schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie sicher seid Ihr Euch, Egwene?«
»Sicher genug«, erwiderte Egwene. »Behaltet sie im Auge, Siuan, und denkt darüber nach, was man unternehmen kann. Ich werde Eure Vorschläge hören wollen. Wir müssen eine Möglichkeit finden, sie unauffällig festzusetzen, und dann dem Saal beweisen, dass unser Tun gerechtfertigt war.«
»Das könnte gefährlich werden.« Siuan rieb sich das Kinn. »Ich hoffe, Ihr wisst, was Ihr da tut, Mutter.« Sie betonte das letzte Wort.
»Wenn ich mich irre, dann ist das meine Verantwortung«, sagte Egwene. »Aber das glaube ich nicht. Wie ich bereits sagte, es hat sich vieles getan.«
Siuan neigte den Kopf. »Seid Ihr noch immer eine Gefangene?«
»Nicht genau. Elaida hat …« Egwene hielt inne und runzelte die Stirn. Etwas stimmte nicht. »Egwene?«, fragte Siuan besorgt.
»Ich …«, setzte Egwene an und erschauderte dann. Etwas zog an ihrem Verstand und vernebelte ihn. Etwas … zog sie zurück. Tel’aran’rhiod verschwand, und Egwene schlug die Augen in ihrem Zimmer auf, wo Nicola hektisch an ihrem Arm rüttelte. »Mutter«, rief sie. »Mutter!«
Das Mädchen hatte eine blutige Schramme auf der Wange. Egwene setzte sich ruckartig auf, und in diesem Augenblick erbebte die ganze Weiße Burg wie durch eine Explosion. Nicola griff fester zu und schrie vor Angst auf.
»Was ist hier los?«, verlangte Egwene zu wissen.
»Es ist die Schattenbrut!«, rief Nicola. »Am Himmel, Schlangen, die Feuer und Gewebe der Einen Macht schleudern! Sie vernichten uns! Oh, Mutter. Tarmon Gai’don ist da!«
Einen Augenblick lang verspürte Egwene eine tiefe, beinahe unkontrollierbare Panik. Tarmon Gai’don! Die Letzte Schlacht!
In der Ferne hörte sie Schreie, gefolgt von den Rufen von Soldaten oder Behütern. Nein … nein, sie musste sich konzentrieren! Schlangen am Himmel. Schlangen, die die Eine Macht lenkten … oder mit Reitern, die die Eine Macht lenkten. Egwene warf die Decke zur Seite und sprang auf die Füße.
Das war nicht Tarmon Gai’don, aber es war beinahe genauso schlimm. Die Seanchaner griffen die Weiße Burg an, genau wie sie es Geträumt hatte.
Und sie konnte nicht einmal genug Macht lenken, um eine Kerze zu entzünden, geschweige denn, um sich zu wehren.