Wir kennen die Namen der Frauen nicht, die sich in Graendals Palast befanden, sagte Lews Therin. Wir können sie nicht zu der Liste hinzufügen.
Rand versuchte den Verrückten zu ignorieren. Was sich als unmöglich erwies. Lews Therin fuhr fort.
Wie sollen wir die Liste fortführen, wenn wir die Namen nicht kennen! Im Krieg haben wir die Föchter ermittelt, die gefallen sind. Wir haben jede Einzelne von ihnen gefunden! Die Liste ist ungenau! Ich kann nicht damit fortfahren!
Das ist nicht deine Liste!, knurrte Rand. Sie gehört mir, Lews Therin. MIR!
Nein!, regte sich der Verrückte auf. Wer bist du? Sie gehört mir! Ich habe sie gemacht. Ich kann damit nicht mehr weitermachen, weilsie tot sind. Oh, beim Licht! Baalsfeuer? Warum haben wir nur Baalsfeuer benutzt! Ich habe versprochen, dass ich das nie wieder tun würde …
Rand kniff die Augen zusammen und hielt Tai’daishars Zügel fest. Das Schlachtross suchte sich auf der Straße seinen Weg, die Hufe trafen das festgetrampelte Erdreich.
Was ist aus uns geworden?, flüsterte Lews Therin. Wir werden es wieder tun, nicht wahr? Sie alle töten. Jeden, den wir geliebt haben. Wieder und wieder und …
»Wieder und wieder«, flüsterte Rand. »Es spielt keine Rolle, solange nur die Welt überlebt. Sie haben mich schon früher verflucht, haben mich beim Drachenberg und bei meinem Namen verflucht, aber sie haben überlebt. Wir sind hier, zum Kampf bereit. Wieder und wieder.«
»Rand?«, fragte Min.
Er öffnete die Augen. Sie ritt auf ihrer braunen Stute neben Tai’daishar. Er durfte nicht zulassen, dass sie oder einer der anderen bemerkte, wie er die Kontrolle verlor. Sie durften nicht wissen, wie kurz er vor dem Zusammenbruch stand.
Wir kennen so viele Namen nicht, flüsterte Lews Therin. So viele, die durch unsere Hand gestorben sind.
Und dabei war das erst der Anfang.
»Mir geht es gut, Min«, sagte er. »Ich habe nur nachgedacht. «
»Über diese Menschen?«, fragte Min. Die hölzernen Gehwege von Bandar Eban waren mit Menschen gefüllt. Die Farbe ihrer Kleidung konnte Rand nicht länger erkennen, so abgetragen war sie. Die prächtigen Stoffe wiesen Risse auf, es gab dünne Flicken, Schmutz und Flecken. Buchstäblich jedermann in Bandar Eban war auf der Flucht. Sie beobachteten ihn mit gehetzten Blicken.
Wenn er zuvor ein Königreich erobert hatte, hatte er es in einem besseren Zustand als vor seiner Ankunft zurückgelassen. Er hatte Verlorene beseitigt, die als Tyrannen herrschten, hatte Kriegen und Belagerungen ein Ende bereitet. Er hatte marodierende Shaido zurückgedrängt, hatte Lebensmittel gebracht und für Stabilität gesorgt. Jede Nation, die er vernichtet hatte, hatte er im Grunde genommen gleichzeitig gerettet.
Arad Doman war anders. Er hatte Lebensmittel gebracht - aber diese Lebensmittel hatten nur noch mehr Flüchtlinge angelockt und damit seine Vorräte belastet. Er war nicht nur darin gescheitert, ihnen Frieden mit den Seanchanern zu verschaffen, er hatte ihr einziges Heer in Beschlag genommen und es zur Bewachung der Grenzlande abgestellt. Das Meer war noch immer nicht sicher. Die kleine Kaiserin von Seanchan hatte ihm nicht vertraut. Sie würde mit ihren Angriffen fortfahren, sie vielleicht sogar verdoppeln.
Die Domani würden von den Hufen des Krieges niedergetrampelt werden, zermalmt zwischen heranstürmenden Trollocs im Norden und Seanchanern im Süden. Und er verließ sie einfach.
Irgendwie war das den Einwohnern klar geworden, und es fiel Rand ausgesprochen schwer, sie anzusehen. Ihre hungrigen Blicke klagten ihn an: warum Hoffnung bringen und sie dann vertrocknen lassen wie ein frisch gegrabener Brunnen während einer Dürre? Warum uns zwingen, dich als Herrscher zu akzeptieren, nur um uns dann im Stich zu lassen?
Flinn und Naeff waren vorausgeritten; er konnte ihre schwarzen Mäntel sehen, wie sie auf ihren Pferden saßen und zusahen, wie Rands Prozession sich dem Stadtplatz näherte. An ihren hohen Kragen funkelten die Anstecknadeln. Der Springbrunnen auf dem Platz ergoss sich noch immer über funkelnde Kupferpferde, die aus kupfernen Wellen sprangen. Welche von diesen stummen Domani polierten noch immer den Brunnen, obwohl kein König herrschte und die Hälfte des Kaufmannsrats verschollen war?
Rands Aiel hatten nicht genug von den Mitgliedern aufspüren können, um eine Mehrheit bilden zu können. Er vermutete, dass Graendal genug von ihnen getötet oder gefangen genommen hatte, um zu verhindern, dass jemals ein neuer König gewählt werden konnte. Waren die Mitglieder des Kaufmannsrats hübsch genug gewesen, hatten sie zweifellos die Ränge ihrer Schoßtiere verstärkt - was bedeutete, dass Rand sie getötet hatte.
Ah, sagte Lews Therin. Namen, die ich der Liste hinzufügen kann. Ja …
Bashere ritt heran; er sah nachdenklich aus. »Euer Wille ist geschehen«, sagte er.
»Lady Chadmar?«, fragte Rand.
»Wurde in ihr Haus zurückgebracht«, sagte Bashere. »Das Gleiche haben wir mit den anderen vier Mitgliedern des Kaufmannsrats gemacht, die die Aiel in der Nähe der Stadt untergebracht hatten.«
»Sie wissen, was sie zu tun haben?«
»Ja.« Bashere seufzte. »Aber ich glaube nicht, dass sie es tun werden. Wenn Ihr mich fragt, werden sie sofort nach unserer Abreise aus der Stadt flüchten wie Diebe aus dem Gefängnis, sobald die Wärter verschwunden sind.«
Rand antwortete nicht darauf. Er hatte befohlen, dass der Kaufmannsrat neue Mitglieder erwählte und dann einen König suchte. Aber vermutlich hatte Bashere recht. Es gab bereits die ersten Berichte aus anderen Städten entlang der Küste, wo Rand seinen Aiel den Rückzug befohlen hatte. Die Verantwortlichen verschwanden und flohen, bevor die Seanchaner ihre befürchteten Angriffe durchführten.
Als Königreich war Arad Doman erledigt. Es würde bald zusammenbrechen wie ein Tisch, auf dem man zu viel abgeladen hatte. Das ist nicht mein Problem, dachte Rand und vermied es, die Leute anzusehen. Ich habe getan, was ich konnte.
Das entsprach nicht der Wahrheit. Zwar hatte er den Domani helfen wollen, aber die wahren Gründe für sein Kommen war der Wunsch gewesen, sich mit den Seanchanern zu einigen, herauszufinden, was mit dem König geschehen war, und Graendal aufzuspüren. Ganz zu schweigen davon, so viel von den Grenzlanden zu sichern, wie er nur konnte.
»Was gibt es Neues von Ituralde?«, fragte er.
»Ich fürchte, nichts Gutes«, sagte Bashere grimmig. »Er hatte ein paar Scharmützel mit den Trollocs, aber das wusstet Ihr ja bereits. Das Schattengezücht zieht sich immer schnell zurück, aber er warnte, dass sich dort etwas versammelt. Seine Späher haben Anzeichen einer Streitmacht entdeckt, die groß genug ist, um ihn zu überrennen. Falls sich die Trollocs dort zusammenrotten, dann versammeln sie sich garantiert auch an anderen Orten. Vor allem am Tarwin-Pass.«
Verflucht sollen diese Grenzländer seinl, dachte Rand. Ich werde etwas wegen ihnen unternehmen müssen. Bald. Er erreichte den Platz, zügelte Tai’daishar und nickte Flinn und Naeff zu.
Auf sein Signal hin öffnete jeder von ihnen auf dem Stadtplatz ein großes Wegetor. Rand hatte direkt von Lady Chadmars Anwesen aufbrechen wollen, aber so hätte sich nur ein Dieb davongestohlen, heute hier und morgen fort. Er würde diese Menschen zumindest sehen lassen, dass er ging und man sie sich selbst überließ.
Sie drängten sich auf den Bürgersteigen, es waren beinahe genauso viel wie bei seiner Ankunft in der Stadt. Falls möglich waren sie noch stummer, als sie seinerzeit gewesen waren. Frauen in eng anliegenden Gewändern, Männer in bunten Mänteln und Spitzenmanschetten. Viele hatten nicht die kupferne Hautfarbe der Domani. Mit dem Versprechen auf Nahrung hatte Rand so viele in die Stadt gelockt.
Zeit zu gehen. Er ritt auf eines der Wegetore zu, aber da rief eine Stimme: »Lord Drache!«
Die Stimme war leicht zu hören, da die Menge so still war. Rand drehte sich auf seinen Sattel um und hielt nach dem Rufer Ausschau. Das war ein drahtiger Mann in einem roten Mantel, der an der Taille zugeknöpft war und sich zur Brust hin zu einem V öffnete, um das darunter getragene Rüschenhemd zu zeigen. Seine goldenen Ohrringe funkelten, als er sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnte. Die Aiel fingen ihn ab, aber Rand erkannte ihn als einen der Hafenmeister. Er gab den Aiel ein Zeichen, den Mann - er hieß Iralin - durchzulassen.
Iralin eilte auf Tai’daishar zu. Für einen Domani war er uncharakteristisch glatt rasiert, und seine Augen waren vom Schlafmangel gerötet.
»Mein Lord Drache«, sagte der Mann mit gedämpfter Stimme, als er neben Rands Pferd stand. »Die Nahrung! Sie ist verdorben!«
»Welche Nahrung?«, fragte Rand.
»Alles«, erwiderte der Mann mit angespannter Stimme. »Jedes Fass, jeder Sack, alles in unseren Lagerhäusern und auf den Schiffen des Meervolks. Mein Lord! Es ist nicht nur voller Getreidekäfer. Es ist schwarz und bitter geworden, und man wird krank davon, wenn man es isst!«
»Alles?«, wiederholte Rand fassungslos.
»Alles«, sagte Iralin leise. »Aberhunderte von Fässern. Das geschah plötzlich, in einem Augenblick. In dem einen Moment war alles in Ordnung, im nächsten … Mein Lord, so viele Leute sind in die Stadt gekommen, weil sie hörten, dass wir Nahrung haben! letzt haben wir nichts. Was sollen wir tun?«
Rand schloss die Augen. »Mein Lord?«, fragte Iralin.
Rand öffnete die Augen und trieb Tai’daishar an. Er ließ den Hafenmeister mit offen stehendem Mund hinter sich stehen und passierte das Wegetor. Er konnte nichts tun. Er würde nichts mehr tun.
Die kommende Hungersnot verdrängte er aus seinen Gedanken. Es war schlimm, wie leicht ihm das fiel.
Bandar Eban verschwand, die viel zu stummen Menschen verschwanden. In dem Augenblick, in dem er durch das Wegetor ritt, brach die dort wartende Menge in lauten Jubel aus. Der Kontrast war so unerwartet, dass Rand Tai’daishar wie benommen zügelte.
Vor ihm breitete sich Tear aus. Das war eine der großen Städte, die sich über ein breites Gebiet ausbreitete, und das Wegetor öffnete sich direkt auf Feasters Lauf, einen der Hauptplätze der Stadt. Eine kurze Reihe Asha’man salutierten, indem sie die Faust zur Brust führten. Rand hatte sie früher am Morgen losgeschickt, um die Stadt auf seine Ankunft vorzubereiten und den Platz für Wegetore zu räumen.
Die Menschen jubelten weiter. Tausende hatten sich versammelt, und auf Dutzenden Stangen wehte das Banner des Lichts. Die Bewunderung traf Rand wie eine Welle des Tadels. Eine solche Verehrung verdiente er nicht. Nicht nach dem, was er in Arad Doman getan hatte.
Ich muss weitergehen, dachte er und trieb Tai’daishar wieder an. Hier lief sein Pferd auf Pflastersteinen und nicht auf vom Regen durchfeuchteten Erdboden. Bandar Eban war eine große Stadt, aber mit Tear konnte es sich nicht vergleichen. Straßen schlängelten sich durch die Landschaft und wurden von Gebäuden gesäumt, die Landbewohner als dicht zusammengedrängt bezeichnet hätten, die für Tairener aber ganz normal waren. Auf vielen der mit Schiefer oder Schindeln gedeckten Dächer hockten Männer und Jungen in der Hoffnung, einen besseren Blick auf den Lord Drachen erhaschen zu können. Der hier verwendete Stein war etwas heller als in Bandar Eban, und er stellte das bevorzugte Baumaterial dar. Vielleicht lag das an der Festung, die sich hoch über der Stadt erhob. Der Stein von Tear, wie man sie nannte. Das noch immer eindrucksvolle Relikt eines vergangenen Zeitalters.
Rand ritt im Schritttempo, Bashere und Min in seiner unmittelbaren Nähe. Die Menge brüllte. So laut. In der Nähe fing der Wind zwei wehende Fahnen und ließ sie sich ineinander verheddern. Die Männer, die sie im vorderen Teil der Menge hochhielten, senkten sie und versuchten, sie freizubekommen, aber sie hatten sich fest verknotet. Rand passierte sie, ohne ihnen große Aufmerksamkeit zu schenken. Längst verspürte er keine Überraschung mehr darüber, was seine Natur als Ta’veren alles bewirkte.
Überraschend fand er dann allerdings doch die Anwesenheit von so vielen Fremden in der Menge. Das war an sich nicht ungewöhnlich; Tear hieß alle willkommen, die aus dem Osten Gewürze und Seide brachten, oder Porzellan vom Meer, Getreide oder Tabak aus dem Norden, und Geschichten von allen Orten. Allerdings war Rand nicht verborgen geblieben, dass ihm Ortsfremde bei seinen Besuchen nur wenig Beachtung schenkten - ganz egal, um welche Stadt es sich handelte. Das traf sogar dann zu, wenn diese Fremden aus Ländern kamen, die er erobert hatte. Hielt er sich in Cairhien auf, schwärmten die Cairhiener für ihn - war er aber in Illian, mieden ihn die Cairhiener. Vielleicht gefiel es ihnen ja nicht besonders, dass es sich bei ihrem Herrscher und dem Herrscher ihres Feindes um ein und denselben Mann handelte.
Hier hatte er allerdings keine Mühe, die Ausländer zu zählen: da war Meervolk mit seiner dunklen Haut und der locker sitzenden, hellen Kleidung; da waren Murandianer mit ihren gewachsten Schnurrbärten und den langen Mänteln; da waren bärtige Illianer mit hochgeschlagenem Kragen; da waren blasse Cairhiener mit Streifen auf der Kleidung. Und es waren Männer und Frauen in schlichter andoranischer Wolle vertreten. Von den Ausländern jubelten deutlich weniger als bei den Einheimischen, aber sie waren da und sahen aufmerksam zu. Bashere musterte die Menge.
»Die Leute scheinen überrascht zu sein«, sagte Rand, ohne es eigentlich zu wollen.
»Ihr wart eine Weile weg.« Bashere strich sich nachdenklich den Schnurrbart. »Zweifellos schwirrten die Gerüchte schneller als jeder Pfeil, und viele Wirte haben Geschichten von Eurem Tod oder Verschwinden genährt, um die Gäste zur nächsten Runde zu ermuntern.«
»Beim Licht! Ich scheine die Hälfte meines Lebens damit verbringen zu müssen, irgendwelche Gerüchte aus der Welt zu schaffen. Wann hört das endlich auf?«
Bashere lachte. »Sollte es Euch einmal gelingen, Gerüchte zu verhindern, dann steige ich vom Pferd und reite auf einer Ziege! Ha! Und ich werde Angehöriger des Meervolks.«
Rand verstummte. Noch immer strömte sein Gefolge durch die Wegetore. Als die Saldaeaner Tear betraten, hielten sie fast alle die Lanzen gerader und ließen die Pferde tänzeln. Die Aes Sedai würden sich nicht dabei erwischen lassen, sich übertrieben stolz zu gebärden, aber ihre alterslosen Gesichter betrachteten die Menschenmenge auf eine besonders gütige Weise. Und die Schritte der Aiel waren etwas weniger misstrauisch und ihre Mienen nicht ganz so angespannt wie sonst, der Jubel schien ihnen angenehmer zu sein als die stumm anklagenden Blicke der Domani.
Bashere und Rand traten zur Seite, und Min schloss sich ihnen schweigend an. Sie wirkte abgelenkt. Nynaeve und Cadsuane hatten sich nicht im Herrenhaus befunden, als Rand seine Abreise verkündete. Was führten sie wohl im Schilde? Er bezweifelte, dass sie zusammen unterwegs waren; diese Frauen ertrugen ja kaum, gemeinsam in einem Zimmer sein zu müssen. Aber wie dem auch sei, sie würden davon erfahren, dass er weitergezogen war, und sie würden ihn finden. Von diesem Augenblick an würde er leicht zu finden sein. Kein Versteckspiel mehr in Häusern im Wald. Keine Reisen ohne Gefolge mehr. Nicht, wo Lan und seine Malkieri zum Tarwin-Pass ritten. Dafür hatte er einfach keine Zeit mehr.
Bashere betrachtete die offenen Wegetore, durch die lautlos die Aiel kamen. Diese Art der Reise wurde ihnen zusehends vertrauter.
»Werdet Ihr es Ituralde sagen?«, fragte Bashere schließlich. »Euer Rückzug?«
»Er wird davon erfahren«, sagte Rand. »Seine Boten hatten den Befehl, die Berichte nach Bandar Eban zu bringen. Sie werden bald entdeckt haben, dass ich nicht mehr dort bin.«
»Und wenn er die Grenzlande verlässt, um seinen Krieg gegen die Seanchaner fortzuführen?«
»Dann wird er die Seanchaner langsamer machen«, meinte Rand. »Und sie davon abhalten, mir in die Fersen zu beißen. So wird er auch von Nutzen sein.«
Bashere sah ihn nur an.
»Was erwartet Ihr denn von mir, Bashere?«, fragte Rand leise. Dieser Blick war eine Herausforderung, wenn auch eine subtile, aber er würde nicht darauf reagieren. Sein Zorn blieb zu Eis erstarrt.
Bashere seufzte. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann. »Das Ganze ist ein schreckliches Durcheinander, und ich sehe auch keinen Ausweg. Mit den Seanchanern im Rücken in den Krieg ziehen … eine schlechtere Ausgangsposition kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.«
»Ich weiß«, erwiderte Rand und ließ den Blick über die Stadt schweifen. »Wenn das hier alles vorbei ist, wird Tear ihnen gehören, vielleicht auch Illian. Soll man mich doch zu Asche verbrennen, wir dürften Glück haben, wenn sie nicht alles bis nach Andor erobern, solange wir ihnen den Rücken zuwenden.«
»Aber …«
»Wir müssen davon ausgehen, dass Ituralde seinen Posten aufgibt, sobald er von meinem Scheitern hört. Das bedeutet, dass unser nächster Zug nur das Heer der Grenzländer sein kann. Welche Beschwerden Eure Landsmänner auch immer an mich haben, wir müssen sie schnell regeln. Ich habe nur wenig Geduld für Männer, die ihre Pflichten im Stich lassen.«
Haben wir das getan?, fragte Lews Therin. Wen haben wir im Stich gelassen?
Ruhe!, knurrte Rand. Kümmere dich um deine Tränen und lass mich in Ruhe, du verrückter Spinner!
Bashere lehnte sich nachdenklich auf seinem Sattel zurück. Falls er der Meinung war, dass Rand die Domani im Stich ließ, sagte er es nicht. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich vermag nicht zu sagen, was Tenobia eigentlich will. Vielleicht ist sie einfach nur wütend, dass ich mich Euch angeschlossen habe; aber es könnte sich auch um etwas ausgesprochen Schwieriges handeln, zum Beispiel um die Forderung, dass Ihr Euch dem Willen der Grenzländer-Monarchen unterwerft. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was sie und die anderen ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt von der Großen Fäule wegbringt. «
»Das werden wir bald herausfinden«, sagte Rand. »Ich will, dass Ihr ein paar Asha’man nehmt und in Erfahrung bringt, wo Tenobia und die anderen lagern. Vielleicht entdecken wir ja, dass sie diese Narrenparade endlich aufgegeben haben und wieder auf dem Weg dorthin sind, wo sie hingehören.«
»Also gut«, sagte Bashere. »Wartet, bis ich meine Männer untergebracht habe, dann reise ich ab.«
Rand nickte knapp, dann wendete er sein Pferd und setzte sich wieder in Bewegung. Die Menschen, die zu beiden Seiten der Straße aufgereiht waren, jubelten ihm zu. Bei seinem letzten Besuch in Tear hatte er sich verkleidet, was auch immer ihm das genutzt hatte, jeder, der die Zeichen zu lesen verstand, würde gewusst haben, dass er in der Stadt war. Ungewöhnliche Ereignisse - sich verknotende Fahnen, Männer, die von Dächern stürzten und ohne eine Schramme landeten - waren erst der Anfang. Sein Einfluss als Ta’veren schien mächtiger zu werden und ständig größer werdende Verzerrungen zu verursachen. Und gefährlichere.
Während seines letzten Besuchs war Tear von Rebellen belagert gewesen, aber die Stadt selbst hatte nicht darunter gelitten. Tear war viel zu sehr mit seinem Handel beschäftigt, um sich von etwas so Simplen wie einer Belagerung stören zu lassen. Die meisten Menschen hatten einfach mit ihrem Tagewerk weitergemacht und die Rebellen kaum zur Kenntnis genommen. Adlige konnten ihre Spielchen spielen, solange sie ehrlichen Leuten damit nicht in die Quere kamen.
Außerdem hatte ohnehin jedermann gewusst, dass der Stein die Stellung halten würde, so wie eigentlich immer. Das Schnelle Reisen hatte ihn ja möglicherweise überflüssig gemacht, aber für Invasoren ohne Zugang zu der Einen Macht war der Stein buchstäblich uneinnehmbar. Für sich allein genommen war er massiver als so manche Stadt - ein gewaltiges Areal aus Mauern, Türmen und Befestigungen ohne eine einzige Fuge im Mauerwerk. Er enthielt Schmieden, Lagerhäuser, Tausende Verteidiger und sein eigenes befestigtes Dock.
Und nichts davon würde gegen ein Heer von Seanchanern mit ihren Damane und Raken von Nutzen sein.
Die Menschenmengen säumten die Straße zur Schwelle des Steins, dem großen offenen Platz, der den Stein auf drei Seiten umgab. Das ist ein Schlachtfeld, sagte Lews Therin.
Hier bejubelte eine andere Menge Rand. Die Tore des Steins standen geöffnet, und ein Begrüßungskomitee erwartete ihn. Darlin, einst ein Hochlord und jetzt der König von Tear, saß auf einem Schimmel. Der Tairener war mindestens einen Kopf kleiner als Rand und hatte einen kurzen schwarzen Bart und kurz geschnittenes Haar. Seine große Nase verhinderte, dass man ihn als hübsch bezeichnen konnte, aber Rand hatte festgestellt, dass er einen scharfen Verstand und viel Sinn für Ehre hatte. Schließlich war Darlin von Anfang an gegen Rand gewesen, statt sich jenen anzuschließen, die ihn nicht schnell genug hatten anbeten können. Ein Mann, dessen Gefolgschaft schwer zu gewinnen war, war oft jemand, dessen Gefolgschaft man sich auch dann sicher sein konnte, wenn man ihn aus den Augen ließ.
Darlin verneigte sich vor Rand. Neben dem König saß Dobraine auf einem braunen Wallach; der Cairhiener trug einen blauen Mantel und weiße Hosen. Seine Miene war ausdruckslos, obwohl Rand vermutete, dass er noch immer eingeschnappt war, weil er Arad Doman so überstürzt hatte verlassen müssen.
Vor der Mauer hatten Reihen aus den Verteidigern des Steins Aufstellung genommen. Sie hielten die gezogenen Schwerter, und ihre Brustpanzer und Helme waren so lange poliert worden, bis sie beinahe leuchteten. Die Puffärmel waren schwarz und golden gestreift, und über den Männern wehte das Banner von Tear, ein rotes und gelbes Feld mit drei silbernen Halbmonden. Der Platz direkt hinter dem Tor barst förmlich vor Soldaten, viele in den Farben der Verteidiger, aber viele auch ohne Uniform und nur mit roten und goldenen Armbändern versehen. Das würden die neuen Rekruten sein, die Rand Darlin befohlen hatte anzuwerben.
Es war ein Schauspiel, das Ehrfurcht erwecken sollte. Oder den Stolz eines Mannes streicheln. Rand hielt Tai’daishar vor Darlin an. Unglücklicherweise wurde der König von dem Pfau Weiramon begleitet, dessen Pferd direkt hinter Darlin stand. Weiramon war so dumm, dass Rand ihm eigentlich keine Arbeit unbeaufsichtigt überlassen hätte, ganz zu schweigen von dem Kommando über eine Abteilung Soldaten. Sicher, der kleingewachsene Mann war tapfer, aber vermutlich nur deshalb, weil er nicht schlau genug war, um Gefahren einschätzen zu können. Wie immer sah Weiramon wie ein Narr aus, weil er einfach nicht darauf verzichten konnte, sich wie ein Geck anzuziehen; sein Bart war gewachst, das Haar sorgfältig arrangiert, um die beginnende Glatze zu verbergen, und seine Kleidung war teuer - Mantel und Hosen hatten den Schnitt einer Felduniform, aber kein Mann würde in so kostbaren Sachen in die Schlacht reiten. Abgesehen von Weiramon.
Ich mag ihn, dachte Lews Therin.
Rand zuckte zusammen. Du kannst doch keinen leiden!
Er ist ehrlich, erwiderte Lews Therin und musste lachen. Jedenfalls ehrlicher als ich! Kein Mann ist aus freien Stücken ein Narr, aber er entscheidet sich dafür, loyal zu sein. Wir könnten es schlimmer treffen, als diesen Mann in unserem Gefolge zu haben.
Rand sparte sich eine Erwiderung. Mit dem Verrückten war jede Debatte sinnlos. Lews Therins Entscheidungen stützten sich nur selten auf rationale Gründe. Wenigstens summte er nicht wieder über eine hübsche Frau. Das konnte sehr störend sein.
Darlin und Dobraine verneigten sich vor Rand, Weiramon machte es ihnen nach. Natürlich hatte der König noch andere Begleiter. Lady Caraline war selbstverständlich anwesend; die schlanke Cairhienerin war so schön, wie Rand sie in Erinnerung hatte. Auf ihrer Stirn hing ein weißer Opal, dessen Goldkette mit ihrem dunklen Haar verwoben war. Rand musste sich zwingen wegzusehen. Sie hatte einfach zu große Ähnlichkeit mit ihrer Cousine Moiraine. Und Lews Therin fing unweigerlich an, die Namen der Liste zu zitieren, Moiraine an erster Stelle.
Rand stählte sich und hörte dem Toten in seinem Hinterkopf zu, während er den Rest der Gruppe musterte. Sämtliche noch verbliebenen Hochlords und Ladys von Tear waren da - auf ihren Pferden. Die einfältig lächelnde Anaiyella saß neben Weiramon auf ihrem Braunen. Trug sie tatsächlich ein Taschentüchlein mit seinen Farben? Rand hätte sie für etwas anspruchsvoller gehalten. Torean trug ein Lächeln auf dem feisten Gesicht. Bedauerlich, dass er noch lebte, wo so viele bessere Männer unter den Hochlords gestorben waren. Simaan, Estanda, Tedosian, Hearne waren da - sie alle waren gegen Rand gewesen und hatten die Belagerung des Steins angeführt. Jetzt neigten sie vor ihm das Haupt.
Alanna war auch da. Rand ignorierte sie. Sie war unglücklich, das verriet ihm ihr Bund. Und das geschah ihr auch recht.
»Mein Lord Drache«, sagte Darlin und richtete sich wieder auf. »Danke, dass Ihr Lord Dobraine geschickt habt, um Eure Wünsche auszurichten.« Seine Stimme verriet seinen Unmut. Er hatte sich beeilt, ein Heer aufzustellen, weil Rand darauf gedrungen hatte, und dann hatte Rand ihn gezwungen, wochenlang tatenlos herumzusitzen. Nun, die Männer würden die verlängerte Ausbildung noch zu schätzen wissen.
»Das Heer steht bereit«, fuhr Darlin zögernd fort. »Wir sind bereit zum Aufbruch nach Arad Doman.«
Rand nickte. Ursprünglich war es seine Absicht gewesen, Darlin in Arad Doman aufzustellen, damit er Aiel und Asha’man an anderen Orten einsetzen konnte. Er drehte sich um und betrachtete die Menge, verstand nun gedankenverloren, warum so viele Ausländer darunter waren. Die meisten Einheimischen waren für das Heer rekrutiert worden und standen jetzt zu Reihen aufgestellt im Stein.
Vielleicht waren die Menschen auf dem Platz und in den Straßen gar nicht gekommen, um Rands Ankunft zu bejubeln. Vielleicht glaubten sie, sie würden ihr zum Sieg abrückendes Heer verabschieden.
»Ihr habt gute Arbeit geleistet, König Darlin«, sagte Rand. »Es ist auch Zeit, dass jemand in Tear lernt, Befehlen zu gehorchen. Ich weiß, dass Eure Männer ungeduldig sind, aber sie werden noch etwas länger warten müssen. Macht im Stein Platz für mich, und quartiert Basheres Soldaten und die Aiel ein.«
Darlins Verwirrung steigerte sich. »Gut. Werden wir also nicht in Arad Doman gebraucht?«
»Was Arad Doman braucht, das kann ihm keiner geben«, sagte Rand. »Eure Streitkräfte werden mich begleiten.«
»Natürlich, mein Lord. Und … wo marschieren wir hin?«
»Zum Shayol Ghul.«