Nynaeve stand auf der imposanten Stadtmauer von Bandar Eban und betrachtete die dunkle Stadt. Die Mauer befand sich auf der landeinwärts gerichteten Seite, aber Bandar Eban war auf einem Hang errichtet, also konnte sie über die Stadt hinweg zum Ozean sehen. Nebel quoll über das nächtliche Wasser und hing über der Oberfläche, die an einen schwarzen Spiegel erinnerte; er erschien wie ein Abbild der Wolken am Himmel. Diese Wolken schimmerten mit einem geisterhaften Licht, das von einem Mond kam, den Nynaeve nicht sehen konnte.
Der Nebel erreichte die Stadt nicht; das tat er nur selten. Brodelnd hing er über dem Ozean. Wie der Geist eines Waldbrandes, den eine unsichtbare Barriere aufgehalten hatte.
Noch immer konnte sie den Sturm im Norden fühlen. Er forderte sie auf, durch die Straßen zu reiten und Warnungen zu rufen. Flieht in die Keller! Lagert Nahrungsmittel, denn eine Katastrophe wird kommen! Unglücklicherweise würde es bei diesem Sturm nicht damit getan sein, die Mauern zu verstärken. Er war von einer ganz anderen Sorte.
Meeresnebel war oft der Vorbote von Winden, und in dieser Nacht war es nicht anders. Nynaeve zog die Stola enger um die Schultern und roch Salzwasser in der Luft. Es vermischte sich mit den Gerüchen einer überbevölkerten Stadt. Abwasser, dicht zusammengedrängte Körper, Ruß und Rauch von Feuern und Kaminen. Sie vermisste die Zwei Flüsse. Der Wind im Winter war immer kalt gewesen, aber auch stets frisch. Bandar Ebans Wind fühlte sich immer leicht abgenutzt an.
In den Zwei Flüssen würde nie wieder Platz für sie sein. Das wusste sie, auch wenn es sie schmerzte. Sie war jetzt eine Aes Sedai; das war es, zu dem sie geworden war, das ihr wichtiger war als einst die Stellung als Dorfseherin. Mit der Einen Macht konnte sie Menschen auf eine Weise Heilen, die noch immer wie ein Wunder erschien. Und mit der Autorität der Weißen Burg im Rücken war sie eines der mächtigsten Individuen auf der Welt, dem lediglich andere Schwestern und ein paar Monarchen gleichkamen.
Und was die Monarchen anging, so war sie selbst mit einem König verheiratet. Lan mochte ja kein Königreich haben, aber er war ein König. Zumindest für sie. Das Leben in den Zwei Flüssen würde ihm nicht gefallen. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, würde es ihr auch nicht gefallen. Das einfache Leben, das einst alles gewesen war, das sie sich hatte vorstellen können, würde jetzt langweilig und unbefriedigend erscheinen.
Trotzdem fiel es schwer, nicht wehmütig zu sein, vor allem, wenn man den nächtlichen Nebel betrachtete.
»Da«, sagte Merise mit einem Hauch Anspannung in der Stimme. Zusammen mit Cadsuane und Corele schaute sie in die andere Richtung - nicht nach Südwesten über die Stadt zum Ozean, sondern nach Osten. Nynaeve hätte sich beinahe geweigert, die Gruppe zu begleiten, denn sie war eigentlich ziemlich davon überzeugt, dass Cadsuane nicht zuletzt sie für ihr Exil verantwortlich machte. Aber die Aussicht, die Geister zu sehen, war zu verführerisch gewesen.
Nynaeve wandte sich von der Stadt ab und gesellte sich zu den anderen. Corele sah sie an, aber Merise und Cadsuane ignorierten sie. Das kam ihr durchaus entgegen. Auch wenn es sie noch immer ärgerte, dass Corele von der Gelben Ajah sie einfach nicht akzeptieren wollte. Corele war freundlich und mitfühlend, aber auch nicht bereit einzugestehen, dass Nynaeve ebenfalls zu den Gelben gehörte. Nun, die Frau würde ihre Meinung ändern müssen, sobald Egwene die Weiße Burg für sich gesichert hatte.
Nynaeve spähte durch die Zinnen auf der Mauer und musterte die dunkle Landschaft außerhalb der Stadt. Nur mühsam konnte sie die Reste der Baracken ausmachen, die sich noch bis vor kurzem gegen die Stadtmauern gedrängt hatten. Die Gefahren auf dem Land - manche davon durchaus real, andere auch einfach nur Übertreibungen - hatten dafür gesorgt, dass die Flüchtlinge in die Stadt drängten. Sich mit ihnen und den von ihnen mitgebrachten Krankheiten und Hunger auseinanderzusetzen, beanspruchte noch immer viel von Rands Zeit.
Jenseits der niedergetrampelten Flüchtlingsstadt gab es nur Büsche, verkümmerte Bäume und schattenhafte Reste von zerbrochenem Holz, möglicherweise Wagenräder. Die Felder in der Nähe lagen karg da. Man hatte sie gepflügt und die Saat ausgebracht, trotzdem rührte sich dort nichts. Beim Licht! Warum wuchs Getreide nicht mehr? Wo würden sie diesen Winter nur Nahrung finden?
Aber im Augenblick hielt sie nicht danach Ausschau. Was war es, das Merise gesehen hatte? Wo …
Dann sah sie es. Wie ein paar Schwaden aus Ozeannebel fuhr eine winzige Stelle aus glühendem Licht über den Boden. Sie wuchs und wallte wie eine winzige Sturmwolke, schimmerte mit einem perligen Licht, das den Wolken am Himmel nicht unähnlich war. Sie zog sich zu den Umrissen eines gehenden Mannes zusammen. Dann lösten sich aus dem luminiszenten Nebel weitere Gestalten. Wenige Augenblicke später bewegte sich eine ganze glühende Prozession wie in einem Trauermarsch über den dunklen Boden.
Nynaeve verspürte ein Frösteln, dann rief sie sich zur Ordnung. Möglicherweise waren es ja tatsächlich die Geister der Toten, aber auf diese Distanz bildeten sie keine Gefahr. Trotzdem konnte sie ihre Gänsehaut nicht ungeschehen machen.
Die Prozession war zu weit weg, um viele Einzelheiten erkennen zu können. Sie setzte sich aus Männern und Frauen zusammen, die glühende Kleider trugen, die so flossen und wallten wie die Banner in der Stadt. Die Erscheinungen wiesen keine Farbe auf und waren einfach nur bleich, ganz im Gegensatz zu den meisten der Geister, die in letzter Zeit erschienen waren.
Die hier bestanden nur aus dem seltsamen, jenseitigen Licht. Mehrere Gestalten in der Gruppe - die mittlerweile aus ungefähr zweihundert Personen bestand - trugen ein großes Objekt. Eine Art Sänfte? Oder … nein. Es war ein Sarg. Handelte es sich also um eine Begräbnisprozession aus der Vergangenheit? Was war mit diesen Menschen geschehen, und was hatte sie in die Welt der Lebenden zurückgeholt?
Gerüchte in der Stadt besagten, dass die Prozession das erste Mal in der Nacht nach Rands Ankunft in Bandar Eban erschienen war. Das hatten die Mauerwächter, die es am besten wissen mussten, Nynaeve unbehaglich bestätigt.
»Ich weiß wirklich nicht, warum man darum so viel Aufhebens macht«, sagte Merise mit ihrem tarabonischen Akzent und verschränkte die Arme. »Geister - daran sind wir doch alle mittlerweile gewöhnt, oder nicht? Wenigstens lassen die hier keine Menschen schmelzen oder in Flammen ausbrechen.«
Berichte hatten darauf hingewiesen, dass die »Zwischenfälle« immer häufiger vorkamen. Allein in den letzten paar Tagen war Nynaeve drei glaubwürdigen Berichten über Leute nachgegangen, aus deren Haut sich Insekten den Weg frei gegraben hatten, um sie auf diese Weise zu töten. Dann war da noch der Mann gewesen, den man morgens in ein Stück Holzkohle verwandelt in seinem Bett gefunden hatte. Die Laken waren nicht einmal angesengt gewesen. Sie hatte die Leiche selbst gesehen.
Diese Zwischenfälle wurden nicht von den Geistern verursacht, aber man hatte angefangen, die Erscheinungen dafür verantwortlich zu machen. Was vermutlich immer noch besser war, als es Rand anzulasten.
»Dieses Warten in der Stadt ist nervenaufreibend«, fuhr Merise fort.
»Unser Aufenthalt in dieser Stadt scheint keine Ergebnisse zu bringen«, stimmte Corele ihr zu. »Wir sollten weiterreisen. Ihr habt gehört, dass er verkündet, dass die Letzte Schlacht bald beginnt.«
Nynaeve verspürte einen Stich der Sorge für Lan, dann Zorn auf Rand. Er glaubte noch immer, seine Feinde verwirren zu können, wenn er zu der gleichen Zeit angriff, in der Lan seinen Angriff auf den Tarwin-Pass durchführte. Lans Angriff konnte sehr wohl der Beginn der Letzten Schlacht sein. Warum wollte Rand dann keine Truppen abkommandieren, um ihm zu helfen?
»Ja«, sagte Cadsuane nachdenklich, »möglicherweise hat er da recht.« Warum hatte sie immer die Kapuze hochgeschlagen? Rand war offensichtlich nicht in der Nähe.
»Dann haben wir alle einen noch wichtigeren Grund, um weiterzureisen«, sagte Merise streng. »Rand al’Thor ist ein Narr! Und Arad Doman ist irrelevant. Ob König oder nicht, was spielt das für eine Rolle?«
Nynaeve schnaubte. »Die Seanchaner sind nicht irrelevant. Sollen wir zur Großen Fäule marschieren und unsere Königreiche allen Eroberern öffnen?«
Merise reagierte nicht. Corele lächelte und zuckte mit den Schultern, dann warf sie einen Blick zu Damer Flinn, der mit verschränkten Armen an der Mauer lehnte. Die lässige Haltung des älteren Mannes verriet, dass für ihn eine Geisterprozession nichts Ungewöhnliches darstellte. Und in diesen Zeiten mochte er da durchaus recht haben.
Nynaeve schaute wieder zu der Prozession, die die Stadtmauer umrundete. Die anderen Aes Sedai führten ihre Unterhaltung fort, Merise und Corele nutzten die Gelegenheit, ihr Missfallen über Rand auf unterschiedliche Weise kundzutun - die eine mürrisch, die andere freundlich.
Das entfachte in Nynaeve den Wunsch, ihn zu verteidigen. Auch wenn er in letzter Zeit schwierig und unberechenbar gewesen war, hatte er in Arad Doman wichtige Arbeit zu erledigen. Das Treffen mit den Seanchanern in Falme stand unmittelbar bevor. Davon abgesehen hatte er allen Grund, sich Sorgen um die Besetzung des domanischen Throns zu machen. Und was war, wenn sich Graendal tatsächlich hier aufhielt, wie er anzunehmen schien? Die anderen glaubten, er würde sich da irren, aber er hatte in beinahe jedem anderen Königreich Verlorene aufgespürt. Warum nicht auch in Arad Doman? Ein verschwundener König, ein Land, in dem es vor Chaos, Dürre und Krieg brodelte? Diese Dinge klangen genau nach dem Ärger, den man in der Nähe eines der Verlorenen entdecken würde.
Die anderen unterhielten sich weiter. Nynaeve wollte gehen, aber dann bemerkte sie, dass Cadsuane sie beobachtete. Sie zögerte und wandte sich der vermummten Frau zu. Cadsuanes Gesicht war im Fackelschein kaum zu erkennen, aber Nynaeve sah in den Schatten eine Grimasse, als wäre sie über Merises und Coreles Klagen wenig erfreut. Einen Augenblick lang starrten sie sich an, dann schenkte ihr Cadsuane ein knappes Nicken. Die alte Aes Sedai drehte sich um und setzte sich in Bewegung, mitten in einer von Merises Tiraden über Rand.
Die anderen Aes Sedai beeilten sich, sie einzuholen. Was hatte denn dieser Blick zu bedeuten? Cadsuane hatte die Angewohnheit, andere Aes Sedai so zu behandeln, als wären sie weniger Respekt als ein beliebiges Maultier wert. Als wären sie in ihren Augen nur Kinder.
Andererseits, zog man in Betracht, wie sich viele Aes Sedai in letzter Zeit verhalten hatten …
Stirnrunzelnd ging Nynaeve in die andere Richtung und nickte den Mauerwächtern zu. Cadsuanes Nicken würde kaum ein Zeichen des Respekts gewesen sein. Dafür war die Frau viel zu selbstgerecht und arrogant.
Was sollte sie bloß mit Rand machen? Er lehnte ihre Hilfe ab - und die eines jeden anderen -, aber das war nichts Neues. Er war genauso stur wie ein Schafhirte in den Zwei Flüssen, und sein Vater war beinahe genauso schlimm gewesen. Aber das hatte Nynaeve die Dorfseherin nie aufgehalten, also würde es Nynaeve die Aes Sedai erst recht nicht aufhalten. Sie hatte Coplins und Congars niedergerungen; sie konnte das Gleiche bei Rand al’Thor schaffen. Sie verspürte nicht übel Lust, zu seinem neuen »Palast« zu gehen und ihm gehörig die Meinung zu sagen.
Nur … Rand al’Thor war kein Coplin oder Congar. Sture Leute in den Zwei Flüssen hatten nicht Rands seltsam bedrohliche Aura gehabt.
Gefährliche Männer waren nichts Neues für sie. Ihr geliebter Lan war so gefährlich wie ein Wolf auf der Jagd und konnte ebenso kratzbürstig sein, selbst wenn er gut darin war, es vor den meisten Leuten zu verbergen. Aber so bedrohlich und einschüchternd Lan auch sein konnte, er würde sich eher die Hand abhacken, als sie gegen sie zu erheben.
Rand war da anders. Nynaeve erreichte die Treppe, die von der Mauer in die Stadt führte, und stieg sie hinunter, winkte ab, als einer der Wächter vorschlug, sie zu eskortieren. Es war Nacht, und es trieben sich viele Flüchtlinge herum, aber sie war alles andere als hilflos. Allerdings akzeptierte sie von einem anderen Wächter eine Laterne. Mit der Einen Macht Licht zu machen würde den Passanten Unbehagen bereiten.
Rand. Einst hätte sie ihn genauso sanft wie Lan gehalten. Seine Hingabe, Frauen zu beschützen, war in ihrer Unschuld schon beinahe lächerlich gewesen. Diesen Rand gab es nicht mehr. Nynaeve sah wieder den Augenblick vor sich, in dem er Cadsuane verbannt hatte. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass er sie tatsächlich umbringen würde, sollte er jemals wieder ihr Gesicht sehen, und an diesen Augenblick zu denken bereitete ihr noch immer eine Gänsehaut. Sicherlich hatte sie sich das nur eingebildet, aber in diesem Moment schien es in dem Raum dunkler geworden zu sein, als hätte eine Wolke die Sonne verhüllt.
Rand al’Thor war unberechenbar geworden. Sein wütender Gefühlsausbruch ein paar Tage zuvor ihr gegenüber war nur ein weiteres Beispiel gewesen. Natürlich würde er sie nie ins Exil schicken oder bedrohen, ganz egal, was er auch gesagt hatte. So versteinert war er nicht. Oder doch?
Sie schritt von der letzten Steinstufe auf den hölzernen Bürgersteig, der vom Schlamm des Abendverkehrs beschmutzt war. Zu beiden Seiten der Straße drängten sich Menschen. Ladeneingänge und Gassen boten Schutz vor dem Wind.
In der Ferne irgendwo zwischen Flüchtlingen hustete ein Kind. Nynaeve erstarrte, dann hörte sie das Husten erneut. Es klang sehr tief. Vor sich hinmurmelnd überquerte sie die Straße, dann bahnte sie sich einen Weg durch die Flüchtlinge und hob die Laterne, um eine Gruppe müder Leute nach der anderen anzuleuchten. Viele wiesen die kupferfarbene Haut der Domani auf, aber es waren auch viele Taraboner dabei. Und waren das … Saldaeaner? Das kam unerwartet.
Die meisten Flüchtlinge lagen auf zerlumpten Decken, neben sich ihre dürftigen Habseligkeiten. Hier ein Topf, dort eine Decke. Ein kleines Mädchen hielt eine Stoffpuppe, die einst bestimmt hübsch gewesen war, der nun aber ein Arm fehlte. Zweifellos war Rand effektiv darin, Länder zu unterwerfen, aber seine Königreiche brauchten mehr als Lebensmittelzuteilungen. Sie brauchten Stabilität, und sie brauchten etwas - jemand -, an den sie glauben konnten. Rand wurde zusehends schlechter darin, beides anzubieten.
Wo war das Husten hergekommen? Nur wenige der Flüchtlinge sprachen mit ihr, und sie antworteten nur zögernd auf ihre Fragen. Als sie den Jungen endlich fand, war sie mehr als nur etwas verärgert. Seine Eltern hatten ihre Betten zwischen zwei Holzgeschäften aufgeschlagen, und als Nynaeve näher kam, stand der Vater auf, um sich ihr entgegenzustellen. Er war ein verwahrloster Domani mit einem schwarzen struppigen Vollbart, der einst möglicherweise nach der herrschenden Mode gestutzt gewesen war. Er trug keinen Mantel, und das Hemd bestand fast nur noch aus Lumpen.
Nynaeve starrte ihn mit einem Blick nieder, den sie lange vor ihren Tagen als Aes Sedai gelernt hatte. Ehrlich, Männer konnten so dumm sein! Sein Sohn lag vermutlich im Sterben, und doch stellte er sich einer der wenigen Personen in dieser Stadt entgegen, die helfen konnte. Seine Ehefrau hatte mehr Verstand, wie es gewöhnlich der Fall war. Sie legte ihm eine Hand auf das Bein, was ihn zu Boden schauen ließ. Schließlich wandte er sich leise vor sich hinmurmelnd ab.
Die Züge der Frau waren unter all dem Schmutz in ihrem Gesicht nur schlecht zu sehen. Tränen hatten Rinnsale hineingegraben; offensichtlich hatte sie ein paar schlimme Nächte hinter sich.
Nynaeve kniete nieder, den hinter ihr aufragenden Vater ignorierend, und schlug die Decke vom Gesicht des Kindes in den Armen der Frau. Es war bleich und ausgezehrt, und seine Augen schienen durch sie hindurchzusehen.
»Wie lange hustet der Junge schon?«, fragte Nynaeve und zog ein paar Päckchen mit Kräutern aus dem Beutel an ihrer Seite. Sie hatte nicht viel dabei, aber es würde reichen müssen.
»Eine Woche jetzt, Lady«, erwiderte die Frau.
Nynaeve schnalzte ärgerlich mit der Zunge und zeigte auf einen Kupferbecher. »Macht den voll«, fauchte sie den Vater an. »Ihr habt Glück, dass der Junge bis jetzt überlebt hat; ohne Hilfe würde er die Nacht vermutlich nicht überstehen.«
Trotz seines ursprünglichen Zögerns beeilte sich der Vater, ihr zu gehorchen. Er füllte den Becher aus einem Fass in der Nähe. Sooft wie es hier regnete, litten sie wenigstens nicht unter Wassermangel.
Nynaeve nahm den Becher entgegen und mischte Acem und Fieberwurz hinein, dann webte sie Feuer und erhitzte das Wasser. Es fing an zu dampfen, und der Vater murmelte wieder etwas. Nynaeve schüttelte den Kopf; angeblich sollten die Domani recht pragmatisch sein, wenn es um den Gebrauch der Einen Macht ging. Die Unruhe in der Stadt musste ihnen wirklich zu schaffen machen.
»Trink das «, sagte sie zu dem Jungen und benutzte alle Fünf Mächte für ein kompliziertes Heilgewebe, das sie ganz instinktiv benutzte. Ihre Fähigkeiten hatten einige der anderen Aes Sedai staunen lassen, hatten ihr aber von anderen nur Verachtung eingebracht. Aber ihre Methoden funktionierten, selbst wenn sie nicht erklären konnte, wie sie tat, was sie da tat. Das war einer der Segen und der Flüche, wenn man eine Wilde war; sie konnte instinktiv Dinge tun, die andere Aes Sedai kaum erlernen konnten. Aber es fiel ihr ungeheuer schwer, manche der schlechten Eigenschaften abzulegen, die sie sich angewöhnt hatte.
Auch wenn der funge benommen war, reagierte er doch auf den Becher, der an seine Lippen gedrückt wurde. Ihr Heilgewebe lag auf ihm, während er trank, und er versteifte sich und atmete scharf ein. Die Kräuter waren eigentlich unnötig, aber sie würden ihm helfen, nach dem rigorosen Heilen die nötigen Kräfte zu finden. Nynaeve hatte die Gewohnheit abgelegt, das Heilen immer mit Kräutern zu unterstützen, aber sie war nach wie vor der Meinung, dass es seinen Platz hatte.
Der Vater kniete sich bedrohlich nieder, aber Nynaeve drückte ihm die Fingerspitzen gegen die Brust und zwang ihn zurück. »Lasst dem Kind Luft.«
Der Junge blinzelte, und sie konnte sehen, wie sich sein Blick klärte. Er zitterte schwach. Nynaeve unterzog ihn einer Tiefenschau, um feststellen zu können, wie gut das Heilen gewirkt hatte. »Das Fieber ist gebrochen«, sagte sie mit einem Nicken, stand auf und ließ die Eine Macht los. »Er wird in den nächsten paar Tagen gut essen müssen; ich werde den Hafenmeistern eure Beschreibung geben, und ihr werdet zusätzliche Rationen bekommen. Verkauft das Essen nicht, sonst werde ich es herausfinden, und das wird mich sehr böse machen. Habt ihr verstanden?«
Die Frau schaute beschämt zu Boden. »Wir würden niemals …«
»Ich halte nichts mehr für unmöglich«, sagte Nynaeve. »Auf jeden Fall sollte er leben, wenn ihr das tut, was ich euch gesagt habe. Gebt ihm heute Nacht den Rest dieser Lösung, schlückchenweise, wenn es sein muss. Sollte das Fieber zurückkehren, bringt ihn zu mir in den Palast des Drachen.«
»Ja, meine Lady«, sagte die Frau, während sich ihr Mann hinkniete, ihr den Jungen abnahm und lächelte.
Nynaeve ergriff ihre Laterne und erhob sich.
»Lady«, sagte die Frau. »Danke.«
Nynaeve wandte sich ihr wieder zu. »Ihr hättet ihn schon vor Tagen zu mir bringen müssen. Mir ist egal, welchen abergläubischen Unsinn die Leute verbreiten, die Aes Sedai sind nicht euer Feind. Wenn ihr Kranke kennt, dann ermuntert sie, uns zu besuchen.«
Die Frau nickte, und der Ehemann erschien eingeschüchtert. Nynaeve verließ die Gasse, passierte Menschen, die sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Entsetzen ansahen. Narren! Sie würden ihre eigenen Kinder eher sterben lassen, als sie zum Heilen zu bringen?
Wieder auf der Hauptstraße beruhigte sie sich. Die Ablenkung hatte wirklich nicht viel von ihrer Zeit beansprucht, und zumindest heute Nacht war Zeit etwas, das sie zur Genüge hatte. Sie hatte nicht viel Glück mit Rand. Ihr einziger Trost war, dass Cadsuane als seine Ratgeberin grandios gescheitert war.
Wie ging man mit einer Kreatur wie dem Wiedergeborenen Drachen um? Nynaeve wusste, dass der alte Rand dort irgendwo drinnen war, ganz tief verborgen. Er war nur einfach so oft geschlagen und getreten worden, dass er sich verbarg und diese unbarmherzige Version herrschen ließ. So sehr sie es auch hasste, das zugeben zu müssen, aber ihn herumzustoßen würde nicht funktionieren. Doch wie sollte sie ihn dazu bringen, das zu tun, was er sollte, wo er doch viel zu starrköpfig war, um auf normale Andeutungen zu reagieren?
Nynaeve blieb stehen. Das Laternenlicht erhellte die leere Straße vor ihr. Es gab eine Person, die es geschafft hatte, mit Rand zu arbeiten und ihn gleichzeitig vieles zu lehren. Es war nicht Cadsuane gewesen und auch keine der Aes Sedai, die versucht hatten, ihn gefangen zu nehmen, hereinzulegen oder herumzustoßen.
Es war Moiraine gewesen.
Nynaeve ging weiter. Während der letzten Monate ihres Lebens hatte die Blaue Rand fast schon umgarnt. Damit er sie als Beraterin akzeptierte, hatte sie eingewilligt, seinen Befehlen zu gehorchen und ihn nur dann zu beraten, wenn man sie darum bat. Aber was hatte man davon, einen Rat nur dann zu bekommen, wenn er gerade erwünscht war? Man musste vor allem mit dem Rat konfrontiert werden, den man nicht hören wollte!
Aber Moiraine hatte Erfolg gehabt. Dank ihres Einflusses hatte Rand angefangen, seine Aversion gegenüber den Aes Sedai zu überwinden. Es war zweifelhaft, ob es Cadsuane je geschafft hätte, seine Beraterin zu werden, hätte er Moiraine nicht irgendwann akzeptiert.
Nun, sie würde ihm jedenfalls nicht auf die gleiche Weise gegenübertreten, ganz egal, wie viele großspurige Titel er auch hatte. Aber sie konnte aus Moiraines Erfolg lernen. Vielleicht hatte Rand ihr ja zugehört, weil ihm ihre Unterwürfigkeit geschmeichelt hatte, vielleicht war er einfach auch nur Leute leid gewesen, die ihn herumstießen. Es gab so viele, die ihn zu kontrollieren versuchten. Sie mussten ihn ärgern, und sie erschwerten Nynaeves Arbeit beträchtlich, da sie die Einzige war, auf die er tatsächlich hören musste.
Betrachtete er sie vielleicht einfach nur als eine weitere dieser bedeutungslosen Strippenzieher? Das traute sie ihm durchaus zu.
Sie würde ihm zeigen müssen, dass sie dasselbe Ziel verfolgten. Sie wollte ihm nicht sagen, was er zu tun hatte; sie wollte einfach nur, dass er aufhörte, sich wie ein Narr zu benehmen. Und darüber hinaus wollte sie, dass ihm nichts geschah. Und es hätte ihr gefallen, wenn er ein Führer gewesen wäre, den die Leute respektierten und nicht fürchteten. Er schien einfach nicht einsehen zu wollen, dass er auf dem besten Weg war, ein Tyrann zu werden.
Im Grunde unterschied sich die Aufgabe eines Königs gar nicht so sehr vom Posten des Bürgermeisters in den Zwei Flüssen. Der Bürgermeister musste respektiert und gemocht werden. Die Seherin und der Frauenkreis konnten die schwierigen Dinge erledigen, so wie jene zu bestrafen, die ihre Grenzen überschritten. Aber der Bürgermeister musste geliebt werden. Das führte zu einer sicheren und höflichen Stadt.
Aber wie sollte man Rand das begreiflich machen? Zwingen konnte sie ihn nicht; sie musste ihn auf eine andere Weise dazu bringen, ihr zuzuhören. Langsam nahm ein Plan in ihrem Kopf Gestalt an. Als sie das Herrenhaus erreichte, wusste sie ungefähr, was sie zu tun hatte.
Das Tor zu dem Anwesen wurde von Saldaeanern bewacht, die Aiel zogen es vor, in Rands unmittelbarer Nähe zu bleiben und die Zimmer und Gänge des Hauses zu bewachen. Haster Nalmat, der Wachoffizier, verneigte sich vor Nynaeve, als sie herankam; manche Leute wussten eben noch, wie man eine Aes Sedai zu behandeln hatte. Das Gelände jenseits des Tores war gepflegt. Nynaeves Laterne warf seltsame Schatten auf das Gras, als das Licht durch die Gewächse schimmerte, die man in die Form exotischer Tiere geschnitten hatte. Die Schatten bewegten sich in Übereinstimmung mit der Laterne, und die Phantomgestalten zogen sich in die Länge und verschmolzen mit der Dunkelheit der Nacht um sie herum. Wie Schattenflüsse.
Vor dem Haus stand eine größere Gruppe saldaeanischer Soldaten, weitaus mehr als nötig. Wann immer Männer Wache hielten, gesellten sich meistens ihre Freunde zu ihnen, zweifellos um zu klatschen. Nynaeve ging auf die Gruppe zu, was etliche der Männer dazu brachte, sich nicht länger faul gegen die Säulen des Aufgangs zu lehnen.
»Wer von euch hat im Moment dienstfrei?«
Und tatsächlich hoben drei der neun Soldaten die Hände und sahen irgendwie peinlich berührt aus.
»Ausgezeichnet«, sagte Nynaeve und drückte einem von ihnen die Laterne in die Hand. »Ihr drei, ihr kommt mit mir.« Sie betrat das Haus, und die Soldaten eilten hinter ihr her.
Es war schon spät - die Geisterprozession erschien erst um Mitternacht - und im Haus schlief alles. Der kostbare Kronleuchter in der Eingangshalle war gelöscht worden, und es war dunkel. Nynaeve vertraute ihrer Erinnerung, wählte eine Richtung und ging los. Die weiß gestrichenen Wände waren hier genauso makellos wie in den anderen Teilen des Hauses, allerdings wiesen sie keine Verzierungen auf. Ihr Instinkt erwies sich als korrekt, da sie bald zu einem kleinen Anrichtezimmer kam, in dem die Dienerschaft die Speisen vorbereitete, bevor man sie im Esszimmer auftischte. Der Korridor führte zu einem der Wohnzimmer des Herrenhauses, ein weiterer Korridor führte zurück zur Küche. Der Raum war mit einem großen stabilen Holztisch und ein paar Stühlen möbliert. Eine Gruppe von Männern in grünen Mänteln und weißen Leinenhemden und dicken Arbeitshosen - die Dienstbotenkleidung von Haus Milisair - hatte sie in Beschlag genommen und würfelte.
Sie schauten entsetzt auf, als Nynaeve den Raum betrat; einer der Männer sprang tatsächlich auf die Füße und kippte seinen Stuhl um. Er riss den Hut vom Kopf - ein schiefes braunes Teil, das sich nicht einmal Mat zu tragen getraut hätte - und sah aus wie ein Kind, das man dabei erwischt hatte, wie es vor dem Essen den Finger in den Kuchen bohrte.
Nynaeve war egal, was sie machten. Sie hatte ein paar Diener gefunden, und daraufkam es an. »Ich muss mit der Dosun sprechen«, sagte sie und benutzte die örtliche Bezeichnung für die Haushofmeisterin. »Holt sie.«
Hinter ihr betraten die Soldaten den Raum. Es waren alles Saldaeaner, und auch wenn sie etwas einfältig wirkten, gingen sie doch mit dem selbstbewussten Gang von Männern, die sich vorzüglich im Kampf auskannten. Nynaeve bezweifelte, dass diese einfachen Diener noch weiterer Einschüchterung als durch eine Aes Sedai bedurften, aber vermutlich würden sich die Soldaten später als nützlich erweisen.
»Die Dosun?«, fragte der Mann mit dem Hut schließlich. »Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht lieber den Quartiermeister sehen wollt oder …«
»Die Dosun«, sagte Nynaeve. »Holt sie mir jetzt. Lasst ihr Zeit, sich etwas überzuwerfen, aber mehr auch nicht.« Sie zeigte auf einen der Soldaten. »Ihr begleitet ihn. Sorgt dafür, dass er mit niemandem spricht oder der Frau Gelegenheit gibt zu flüchten.«
»Flüchten?«, kreischte der Diener förmlich auf. »Warum sollte Loral das tun? Was hat sie denn getan, meine Lady?«
»Nichts. Hoffe ich. Geht!«
Die beiden Männer - der eine ein Diener, der andere ein Soldat - eilten los, und die restlichen drei Bediensteten blieben unbehaglich am Tisch sitzen. Nynaeve verschränkte die Arme unter den Brüsten und überdachte ihren Plan. Rand war zu dem Schluss gekommen, dass seine Jagd nach dem König der Domani mit dem Tod des Boten in eine Sackgasse geraten war. Nynaeve war sich da nicht so sicher. Daran hatten noch andere mitgewirkt, und ein paar an den richtigen Stellen gestellte Fragen würden möglicherweise sehr aufschlussreich sein.
Es war unwahrscheinlich, dass die Dosun etwas falsch gemacht hatte. Aber Nynaeve wollte nicht, dass der losgeschickte Diener unterwegs möglicherweise jemanden traf und alles brühwarm erzählte; es war besser, ihn etwas zu erschrecken und den Soldaten dafür sorgen zu lassen, dass er den Mund hielt. Und vor allem sich beeilte.
Ihre Voraussicht zahlte sich aus. Nur wenige Minuten später eilte der Diener in den Raum und zerrte eine zerzauste ältere Frau im blauen Morgenmantel hinter sich her. Graues Haar lugte unter einem hastig umgebundenen roten Kopftuch hervor, und ihr alterndes Domani-Gesicht war schneeweiß vor Nervosität. Nynaeve fühlte sich schuldig. Wie sich diese Frau jetzt fühlen musste, wo sie ein entsetzter Diener mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und behauptet hatte, dass eine Aes Sedai sie auf der Stelle sehen wollte.
Der Soldat folgte ihnen und bezog Posten neben der Tür. Er war untersetzt, hatte krumme Beine und trug einen dieser langen saldaeanischen Schnurrbarte. Die anderen beiden lungerten neben der Tür herum, durch die Nynaeve eingetreten war, und ihre lässige Haltung diente nur dazu, die in dem Raum herrschende Anspannung noch zu steigern. Anscheinend hatten sie eine leise Ahnung, was Nynaeve vorhatte.
»Frieden, gute Frau«, sagte Nynaeve und deutete mit dem Kopf auf den Tisch. »Ihr dürft Euch setzen. Ihr anderen begebt euch zur Haustür und bleibt dort. Sprecht mit niemandem. «
Die vier Bediensteten brauchten keine weitere Ermunterung. Nynaeve befahl einem der Soldaten, ihnen zu folgen und dafür zu sorgen, dass sie auch das taten, was man ihnen befohlen hatte. Die späte Stunde war ein Vorteil für sie; da so viele Diener und Rands Gefolge schliefen, konnte sie ihre Untersuchung durchführen, ohne die zu alarmieren, die möglicherweise schuldig waren.
Der Abzug der Bediensteten machte die Dosun nur noch nervöser. Nynaeve setzte sich auf einen der verwaisten Stühle. In ihrer Hast hatten die Männer ihre Würfel zurückgelassen, aber ihre Münzen hatten sie natürlich mitgenommen. Der Raum wurde von einer kleinen Lampe erhellt, die mit offener Flamme auf dem Fenstersims brannte. Der Saldaeaner hatte die Laterne mitgenommen, als er den Bediensteten folgte.
»Euer Name ist Loral, ist das richtig?«, fragte Nynaeve.
Die Dosun nickte misstrauisch.
»Ihr wisst, dass Aes Sedai nicht lügen?«
Die Haushofmeisterin nickte wieder. Die meisten Aes Sedai konnten nicht lügen, allerdings war Nynaeve durchaus dazu in der Lage, da sie nicht auf den Eidstab geschworen hatte. Nicht zuletzt deshalb hatte sie in den Augen der anderen einen geringeren Status. Was einfach nicht richtig war. Der Eidstab war nur eine Formalität. Leute aus den Zwei Flüssen brauchten kein Ter’angreal, damit sie ehrlich waren. »Dann werdet Ihr mir glauben, wenn ich Euch versichere, dass ich nicht glaube, dass Ihr etwas Falsches gemacht habt. Ich brauche nur Eure Hilfe.«
Die Frau schien sich etwas zu entspannen. »Worum geht es, Nynaeve Sedai?«
»Erfahrungsgemäß weiß die Haushofmeisterin mehr über das, was im Haus vor sich geht, als das Gesinde oder gar die Besitzer. Arbeitet Ihr hier schon lange?«
»Ich diene der Familie Chadmar seit drei Generationen«, verkündete die alte Frau nicht mit geringem Stolz. »Und ich hatte gehofft, noch einer weiteren zu dienen, wäre die Herrin nicht …« Die Frau verstummte. Rand hatte »die Herrin« in ihren eigenen Kerker gesperrt. Das beeinträchtigte die Wahrscheinlichkeit, dass es je noch eine weitere Generation zum Dienen geben würde.
»Ja, nun«, sagte Nynaeve und überbrückte das unbehagliche Schweigen. »Die unglücklichen Umstände mit Eurer Herrin sind ein Teil meiner Aufgabe an diesem Abend.«
»Nynaeve Sedai«, sagte die Frau mit wachsendem Eifer, »glaubt Ihr, Ihr könntet für ihre Freiheit sorgen? Dass sie wieder in die Gunst des Lord Drachen aufgenommen wird?«
»Vielleicht.« Zweifelhaft, fügte Nynaeve in Gedanken hinzu, aber alles ist möglich. »Meine Aktivitäten heute Nacht könnten helfen. Habt Ihr diesen Boten gesehen, den, den Eure Herrin eingesperrt hat?«
»Den vom König?«, fragte Loral. »Ich habe nie mit ihm gesprochen, Aes Sedai, aber ich habe ihn gesehen. Ein großer, hübscher Bursche, für einen Domani seltsamerweise völlig glatt rasiert. Ich bin ihm im Korridor begegnet. Hatte eines der hübschesten Gesichter, das ich je bei einem Mann sah.«
»Und dann?«, fragte Nynaeve.
»Nun, er ging direkt zu Lady Chadmar, und dann …« Loral verstummte. »Nynaeve Sedai, ich will meine Herrin nicht noch in größere Schwierigkeiten bringen …«
»Er wurde zur Befragung geschickt«, sagte Nynaeve knapp. »Für solchen Unsinn habe ich keine Zeit, Loral. Ich bin nicht hier, um Beweise gegen Eure Herrin zu suchen, und es ist mir auch ziemlich egal, wem Eure Loyalität gehört. Hier stehen viel größere Dinge auf dem Spiel. Beantwortet meine Frage.«
»Ja, Lady«, sagte Loral und wurde wieder blass. »Natürlich wissen wir alle, was passiert ist. Es erschien nicht richtig, einen Mann des Königs auf diese Weise zum Befrager zu schicken. Vor allem nicht diesen Mann. Eine echte Schande, ein so schönes Gesicht zu verunstalten.«
»Wisst Ihr, wo der Kerker und der Befrager sind?« Loral zögerte, dann nickte sie widerstrebend. Gut. Dann hatte sie nicht vor, Informationen zurückzuhalten.
»Dann lasst uns gehen«, sagte Nynaeve und stand auf. »Meine Lady?«
»Zum Kerker. Ich nehme nicht an, dass er irgendwo auf dem Gelände ist, nicht, wenn Milisair Chadmar so vorsichtig war, wie ich glaube.«
»Er ist ein Stück entfernt, in Möwenfest«, sagte Loral. »Ihr wollt heute Nacht dahin?«
»Ja«, sagte Nynaeve, dann zögerte sie. »Es sei denn, ich entscheide mich, den Befrager bei sich zu Hause zu besuchen.«
»Es ist derselbe Ort, meine Lady.«
»Ausgezeichnet. Kommt.«
Loral blieb keine Wahl. Nynaeve erlaubte ihr, in ihr Zimmer zurückzukehren und sich anzuziehen - bewacht von einem Soldaten.
Kurze Zeit später führten Nynaeve und ihre Soldaten die Dosun und die vier Bediensteten - sie sollten niemand warnen können - aus dem Haus. Alle fünf sahen nicht sehr erfreut aus. Vermutlich glaubten sie die abergläubischen Gerüchte, dass die Nacht nicht sicher war. Nynaeve wusste es besser. Möglicherweise war die Nacht tatsächlich nicht sicher, aber das war nicht schlimmer als sonst auch. Vielleicht war es sogar sicherer. Waren weniger Leute unterwegs, dann verringerte sich auch die Möglichkeit, dass jemandem Dornen aus der Haut wuchsen oder er anfing zu brennen oder sonst ganz zufällig auf schreckliche Weise starb.
Sie verließen das Anwesen. Nynaeve schritt energisch aus und hoffte, den anderen durch ihre Gegenwart ihre Nervosität nehmen zu können. Sie nickte den Soldaten am Tor zu und schlug dann die Richtung ein, in die Loral zeigte. Ihre Schritte hallten von dem Bürgersteig, und die nächtliche Wolkendecke glühte leicht im Mondschein.
Nynaeve gestattete sich nicht den Luxus, ihren Plan zu hinterfragen. Sie hatte sich für einen Kurs entschieden, und bis jetzt lief alles ausgezeichnet. Sicher, möglicherweise würde es Rands Zorn erregen, dass sie Soldaten abkommandierte und Ärger machte. Aber manchmal musste man das Wasser in einem trüben Regenfass aufwühlen, wenn man sehen wollte, was sich auf seinem Grund befand. Alles war viel zu zufällig. Milisair Chadmar hatte den Boten vor Monaten gefangen genommen, aber er war erst gestorben, kurz bevor Rand ihn sehen wollte. Er war die einzige Person in der Stadt, die eine Ahnung hatte, wo sich der König aufhielt.
Es gab Zufälle. Wenn zwei Bauern sich stritten und eine ihrer Kühe in der Nacht starb, dann konnte das durchaus ein Zufall sein. Und manchmal enthüllten ein paar Nachforschungen das genaue Gegenteil.
Loral führte die Gruppe direkt ins Möwenfest, was man auch als Möwenbezirk bezeichnete; ein Stadtteil, in dessen Nähe die Fischer den Abfall ihres Fangs wegwarfen. Wie die meisten vernünftigen Leute hatte Nynaeve diesen Teil der Stadt gemieden, und ihre Nase erinnerte sie j etzt an den Grund. Fischinnereien stellten ja vielleicht ausgezeichneten Dünger dar, aber Nynaeve konnte die Komposthaufen schon mehrere Straßen zuvor riechen. Selbst die Flüchtlinge mieden diese dunkle Gegend.
Es war ein relativ langer Weg - verständlicherweise befand sich das Reichenviertel weit von Möwenfest entfernt. Nynaeve ignorierte die im Schatten liegenden Gassen und Gebäude, auch wenn ihr Gefolge sich unbehaglich um sie scharte; natürlich abgesehen von den Soldaten. Die Saldaeaner legten stattdessen die Hand auf die Krummschwerter und bemühten sich, in alle Richtungen gleichzeitig zu sehen.
Nynaeve wünschte sich, sie hätte Neuigkeiten aus der Weißen Burg erhalten. Wie lange war es her, dass sie etwas von Egwene und den anderen gehört hatte? Sie kam sich blind vor. Natürlich war es ihr eigener Fehler, weil sie darauf bestanden hatte, Rand zu begleiten, jemand hatte ihn im Auge behalten müssen, aber das bedeutete, alle anderen aus der Sicht zu verlieren. War die Burg noch immer entzweit? War Egwene noch immer die Amyrlin? Was man sich so auf der Straße erzählte, war wenig hilfreich. Für jedes Gerücht, das an ihre Ohren gedrungen war, gab es zwei weitere, die das genaue Gegenteil berichteten. Die Weiße Burg kämpfte gegeneinander. Nein, sie kämpfte gegen die Asha’man. Nein, die Seanchaner hatten die Aes Sedai vernichtet. Oder der Wiedergeborene Drache. Nein, diese Gerüchte waren alles Lügen, die die Burg verbreitete, um ihre Feinde aus der Deckung zu locken.
Man erfuhr nur sehr wenig über Elaida oder Egwene, obwohl Andeutungen über zwei Amyrlin die Runde machten. Das war problematisch. Keine Gruppe Aes Sedai würde gern die Neuigkeit über eine zweite Amyrlin verbreiten. Geschichten über Streit unter den Aes Sedai würde am Ende nur ihnen allen schaden.
Schließlich blieb Loral stehen. Die vier Bediensteten drängten sich mit besorgten Mienen hinter sie. Nynaeve sah die Haushofmeisterin an. »Nun?«
»Dort, Lady.« Die Frau zeigte mit einem knochigen Finger auf das Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
»Der Kerzenmacher?«, fragte Nynaeve. Loral nickte.
Nynaeve winkte einen der krummbeinigen Saldaeaner heran. »Ihr bewacht die Leute hier und sorgt dafür, dass sie keinen Ärger bekommen. Die anderen kommen mit mir.«
Sie betrat die Straße, aber als sie keine Schritte hörte, drehte sie sich stirnrunzelnd um. Die drei Wächter standen in einer Gruppe und sahen die eine Laterne an, verfluchten sich vermutlich, weil keiner daran gedacht hatte, noch eine mitzunehmen.
»Ach, um des Lichts willen«, fauchte Nynaeve, hob die Hand und umarmte die Quelle. Sie webte eine Lichtkugel über den Fingern, die den Boden um sie herum in eine kühle, gleichmäßige Helligkeit tauchte. »Lasst die Laterne da.«
Die beiden Saldaeaner eilten hinter ihr her. Vor der Tür des Kerzenmachers blieb sie stehen und webte ein Schutzgewebe gegen Lauscher, das sie um sich selbst, die Tür und die beiden Soldaten legte.
»Wie heißt Ihr?«, fragte sie den einen Mann.
»Triben, meine Lady.« Er hatte ein Raubvogelgesicht mit einem kurz getrimmtem Schnurrbart und einer Narbe auf der Stirn. »Das ist Lurts«, sagte er dann und zeigte auf seinen Kameraden, ein wahrer Hüne von einem Kerl, von dem Nynaeve überrascht gewesen war, dass er die Uniform eines Kavalleristen trug.
»Also gut, Triben. Tretet die Tür ein.«
Triben stellte keine Fragen; er hob einfach den Stiefel und trat zu. Der Rahmen gab mühelos nach, die Tür krachte nach innen, aber wenn Nynaeve ihr Schutzgewebe richtig platziert hatte, würde das keiner im Haus hören. Sie warf einen schnellen Blick hinein. Es roch nach Wachs und Parfüm, der Holzboden war mit Flecken übersät. Abgelöstes Wachs hinterließ oft Flecken.
»Schnell«, sagte sie zu den Soldaten und löste das Schutzgewebe auf, behielt aber die Lichtkugel. »Lurts, geht zur Rückseite des Ladens und behaltet die Gasse im Auge; seht zu, dass niemand entkommt. Triben, Ihr begleitet mich.«
Für einen Mann von seiner Größe bewegte sich Lurts überraschend flink und nahm seine Position im hinteren Teil des Ladens ein. Nynaeves Licht enthüllte Fässer mit Wachs zum Kerzenziehen und einen Stapel verbrannter Stumpen in der Ecke, die man für Pfennige ankaufte, um sie einzuschmelzen. Rechts gab es eine Treppe. Ein kleiner Alkoven an der Vorderseite enthielt Kerzen in verschiedener Form und Größe, von den handelsüblichen weißen Langkerzen bis zu parfümierten und verzierten rechteckigen Kerzen. Falls sich Loral mit diesem Ort geirrt hatte …
Aber jede gute Geheimoperation würde eine gute Tarnung haben. Nynaeve eilte die Treppe hinauf, das Holz knarrte unter ihrem Gewicht. Das Gebäude war schmal. In der ersten Etage fanden sie und Triben zwei Räume. Eine Tür stand einen Spaltbreit geöffnet, also dämpfte Nynaeve ihre Lichtkugel und webte ein Schutzgewebe gegen Lauscher. Dann drang sie ein, gefolgt von dem falkengesichtigen Soldaten, der das Schwert aus der Scheide zog.
In dem Raum befand sich nur eine Person, ein übergewichtiger Mann schlief auf einer Matratze auf dem Boden. Nynaeve webte ein paar Stränge Luft und fesselte ihn geschickt. Er riss die Augen auf und öffnete den Mund, um zu schreien, aber sie stopfte ihm Luft zwischen die Lippen und knebelte ihn.
Dann drehte sie sich zu Triben um und verknüpfte ihre Gewebe. Sie ließen den gefesselten Mann zurück, der gegen die unsichtbaren Bänder ankämpfte, und begaben sich zu der anderen Tür. Nynaeve webte ein weiteres Gewebe gegen Lauscher in den Raum hinein, bevor sie eintrat, und das war auch gut so - die beiden jüngeren Männer, die sich hier aufhielten, reagierten viel schneller. Einer schoss in die Höhe und stieß einen Schrei aus, gerade als Triben herbeieilte. Triben versetzte ihm einen Schlag in den Magen und nahm ihm die Luft.
Nynaeve fesselte ihn mit Luft, dann machte sie das Gleiche bei dem anderen jungen Mann, der sich verschlafen von seinem Bett erhob. Sie zog die beiden zu sich heran, ließ ihr Licht heller brennen und hängte die Gefangenen dann ein Stück in die Luft. Beide waren Domani, mit dunklen Haaren und groben Gesichtern, mit schmalen Schnurrbärten über den Lippen. Sie trugen nur Lendentücher. Eigentlich sahen sie zu alt aus, um Lehrlinge zu sein.
»Ich glaube, wir sind hier richtig, Nynaeve Sedai«, sagte Triben, ging um die Männer herum und stellte sich wieder an ihre Seite.
Sie hob eine Braue.
»Das sind keine Kerzenmacherlehrlinge«, fuhr der Soldat fort. Er schob den Säbel zurück in die Scheide. »Schwielen an den Handflächen, aber keine Verbrennungen? Muskulöse Arme? Und sie sind viel zu alt. Der Linke hat die Nase mindestens einmal gebrochen bekommen.«
Sie sah genauer hin. Triben hatte recht. Das hätte ich sehen müssen. Immerhin war ihr das Alter aufgefallen. »Bei welchem sollte ich den Knebel lösen, was meint Ihr?«, sagte sie beiläufig, »und welchen sollte ich töten?«
Beide Männer fingen mit weit aufgerissenen Augen an, sich zu winden. Sie hätten wissen müssen, dass keine Aes Sedai jemals so etwas tat. Tatsächlich hätte sie so etwas eigentlich nicht einmal andeuten dürfen, aber private Kerkerwärter wie diese hier fachten stets ihre Wut an.
»Der Linke scheint unbedingt reden zu wollen, Lady«, sagte Triben. »Vielleicht wird er Euch ja sagen, was Ihr wissen wollt.«
Sie nickte und löste den Knebel des Mannes. Er fing sofort an zu reden. »Ich tue, was auch immer Ihr sagt! Bitte füllt meinen Bauch nicht mit Insekten! Ich habe nichts Falsches getan, das versichere ich Euch, ich …«
Sie stopfte den Luftknebel wieder hinein.
»Zu viel Gejammer«, meinte sie. »Vielleicht weiß der andere ja, wann man zuhören und wann man sprechen muss.« Sie löste den Knebel.
Der Mann blieb in der Luft hängen, offensichtlich vor Angst erstarrt, aber er sagte nichts. Die Eine Macht konnte selbst den gewissenlosesten Mörder einschüchtern.
»Wo geht es zum Kerker?«
Der Mann sah aus, als wäre ihm übel, dabei hatte er sich vermutlich bereits gedacht, dass sie in den Kerker wollte. Es war nur wenig wahrscheinlich, dass eine Aes Sedai nach Mitternacht in das Geschäft einbrach, weil man ihr eine schlechte Kerze verkauft hatte.
»Eine Falltür«, sagte der Mann, »unter dem Teppich vorn im Laden.«
»Ausgezeichnet«, sagte Nynaeve. Sie verschnürte die Gewebe, die die Hände der Männer fesselten, dann erneuerte sie bei dem, der gesprochen hatte, den Knebel. Aber sie ließ sie nicht in der Luft hängen - sie hatte keine Lust, sie hinter sich herzuziehen -, sondern ließ sie auf ihren eigenen Füßen gehen.
Triben holte den übergewichtigen Mann aus dem Nebenzimmer, dann trieb Nynaeve die drei Kerle vor sich her die Treppe hinunter. Unten behielt der muskulöse Lurts aufmerksam die Hintergasse im Auge. Vor ihm saß ein Junge auf dem Boden, und Nynaeves Lichtkugel beleuchtete einen furchterfüllten Domani mit ungewöhnlich hellem Haar und von Verbrennungen übersäten Händen.
»Das ist nun wirklich ein Kerzenmacherlehrling«, meinte Triben und kratzte sich an der Stirnnarbe. »Vermutlich lassen sie ihn hier im Laden die Arbeit erledigen.«
»Er schlief unter den Decken dort.« Lurts deutete auf ein schattenhaftes Bündel in der Ecke, als er sich zu Nynaeve gesellte. »Wollte zur Vordertür hinaus, nachdem Ihr die Treppe hinauf wart.«
»Bringt ihn her«, sagte Nynaeve. Ein paar Schritte entfernt zog Triben den Teppich zur Seite und stocherte mit dem Schwert in den Bohlenspalten herum, bis er auf etwas stieß - vermutlich Angeln. Nach ein paar vorsichtigen Versuchen bekam er die Falltür auf. Eine Leiter führte nach unten in die Finsternis.
Nynaeve trat vor, aber Triben hob die Hand. »Lord Bashere würde mich an meinen eigenen Steigbügeln aufhängen lassen, ließe ich Euch zuerst gehen, Lady«, sagte er. »Wer weiß schon, was dort unten ist.« Er sprang in das Loch, rutschte die Leiter mit einer Hand hinunter, das Schwert in der anderen. Dumpf landete er auf dem Boden. Nynaeve verdrehte die Augen. Männer! Sie bedeutete Lurts, auf die Kerkerwärter aufzupassen, dann löste sie die Fesseln der Männer, damit sie nach unten steigen konnten. Sie schenkte jedem von ihnen einen strengen Blick, dann stieg sie ohne Tribens lächerliches Gehabe die Leiter hinunter und überließ es Lurts, die Kerkerwärter nach unten zu treiben.
Sie hob die Lichtkugel und musterte den Keller. Die Wände waren aus Stein, was ihr ein gewisses Unbehagen wegen des Gewichts des über ihnen befindlichen Hauses nahm. Der Boden war aus festgestampfter Erde, und in der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Holztür. Triben lauschte daran.
Sie nickte, und er zog sie auf und warf sich eifrig hindurch. Die Saldaeaner schienen von den Aiel schlechte Angewohnheiten zu übernehmen. Nynaeve folgte ihm und bereitete ein paar Luftgewebe vor, nur für alle Fälle. Hinter ihr fingen die mürrischen Kerkerwärter an, die Leiter hinunterzuklettern, gefolgt von Lurts.
In dem anderen Raum gab es nicht viel zu sehen. Zwei Zellen mit dicken Holztüren, einen Tisch mit ein paar Hockern und eine große Holztruhe. Nynaeve schickte ihre Lichtkugel in die Ecke, als Triben die Truhe untersuchte. Er hob den Deckel, legte die Stirn in Falten und holte mehrere funkelnde Messer hervor. Hilfswerkzeuge zur Befragung. Nynaeve fröstelte. Sie schaute die Kerkerwärter hinter ihr finster an.
Sie löste den Knebel bei dem, der gesprochen hatte. »Die Schlüssel?«
»Unten in der Truhe«, sagte der Schläger. Der übergewichtige Kerkerwärter - zweifellos der Anführer, da er ein eigenes Zimmer gehabt hatte - warf ihm einen wütenden Blick zu. Nynaeve stemmte ihn ruckartig in die Luft. »Provoziert mich nicht«, knurrte sie. »Die Nacht ist viel zu weit fortgeschritten, als dass vernünftige Leute noch wach wären.«
Sie nickte Triben zu, und er holte die Schlüssel hervor und öffnete die Zellentüren. Die erste Zelle war leer; in der zweiten befand sich eine mitgenommene Frau, die noch immer ein kostbares Domani-Kleid trug, auch wenn es beschmutzt war. Lady Chadmar war verdreckt und abgerissen, und sie kauerte an der Wand. Sie schien nicht einmal richtig mitzubekommen, dass die Tür offen stand. Nynaeve roch den ersten Hauch eines Gestanks, der bis zu diesem Augenblick von dem Geruch verfaulenden Fisches überdeckt gewesen war. Menschliche Exkremente und ein ungewaschener Körper. Vermutlich war das einer der Gründe dafür gewesen, den Kerker hier in Möwenfest unterzubringen.
Als Nynaeve sah, wie man die Frau behandelte, atmete sie scharf ein. Wie konnte Rand das erlauben? Sicher, die Frau hatte das Gleiche anderen angetan, aber das berechtigte ihn nicht, auf ihr Niveau zu sinken.
Sie gab Triben das Zeichen, die Tür zu schließen, dann setzte sie sich auf einen der Hocker und betrachtete die drei Kerkerwärter. Lurts bewachte den Ausgang und behielt den armen Lehrling im Auge. Der übergewichtige Kerkermeister hing noch immer in der Luft.
Sie brauchte Informationen. Natürlich hätte sie Rand auch um die Erlaubnis bitten können, das Gefängnis am Morgen zu besuchen, aber dann hätte sie riskiert, dass diese Männer vorher von dem Besuch erfahren hätten. Sie verließ sich auf Überraschung und Einschüchterung, um das zu enthüllen, was verborgen geblieben war.
»Also«, sagte sie. »Ich werde jetzt ein paar Fragen stellen. Ihr werdet mir sie beantworten. Ich weiß noch nicht genau, was ich mit euch machen werde, also ist es besser, wenn ihr mir gegenüber ehrlich seid.«
Die beiden Wärter schauten zu dem anderen Mann hoch, der an unsichtbaren Geweben aus Luft unter der Decke schwebte. Sie nickten.
»Der Mann, den man euch brachte. Der Bote des Königs. Wann kam er?«
»Vor zwei Monaten«, sagte einer der Männer - der mit dem großen Kinn und der gebrochenen Nase. »Kam in einem Sack mit Kerzenstummeln aus Lady Chadmars Haus, genau wie alle Gefangenen.«
»Eure Befehle?«
»Ihn festzuhalten«, sagte der andere Wärter. »Ihn am Leben zu halten. Wir wussten nicht viel, äh, Lady Aes Sedai. jorgin ist derjenige, der sich um die Befragungen kümmert.«
Sie schaute zu dem Fetten hoch. »Du bist jorgin?«
Er nickte zögernd.
»Und wie lauteten deine Befehle?«
Jorgin schwieg.
Nynaeve seufzte. »Hör zu. Ich bin Aes Sedai und an mein Wort gebunden. Wenn du mir sagst, was ich wissen will, sorge ich dafür, dass man dich nicht verdächtigt, mit seinem Tod zu tun zu haben. Ihr drei seid dem Drachen völlig egal, sonst würdet ihr längst nicht mehr diesen … Ort betreiben.«
»Wenn wir reden, sind wir frei?«, fragte der Dicke. »Euer Wort?«
Nynaeve schaute sich gereizt in dem kleinen Raum um. Sie hatten Lady Chadmar in die Dunkelheit gesperrt, und die Tür war mit Stoff bedeckt, um Schreie zu dämpfen. Die Zelle würde finster, stickig und eng sein: Männer, die an einem solchen Ort arbeiteten, verdienten kaum zu leben, geschweige denn ihre Freiheit.
Aber hier ging es um ein viel größeres Leiden. »Ja«, sagte Nynaeve voller Bitterkeit. »Und ihr wisst genau, dass das etwas Besseres ist, als ihr verdient.«
Jorgin zögerte, dann nickte er. »Lasst mich herunter, Aes Sedai, und ich beantworte Eure Fragen.«
Sie tat es. Dem Mann war das sicherlich nicht bewusst, aber sie hatte keine große Autorität, auf die sie sich berufen konnte; sie würde sich nicht zu seinen Methoden erniedrigen, um Antworten zu bekommen, und sie handelte ohne Rands Wissen. Möglicherweise würde der Drache gar nicht freundlich reagieren, wenn er ihre Herumschnüffelei entdeckte - es sei denn, sie hatte Neuigkeiten für ihn.
Jorgin sagte zu dem Schläger mit der gebrochenen Nase: »Mort, hol mir einen Hocker.«
Mort sah Nynaeve um Erlaubnis bittend an, die sie mit einem knappen Nicken gewährte. Nachdem Jorgin seine Masse auf dem Hocker platziert hatte, beugte er sich mit verschränkten Händen vor. Er ähnelte einem Käfer, den man auf die Seite gedreht hatte.
»Ich weiß nicht, was Ihr eigentlich von mir wollt«, sagte er dann. »Ihr scheint doch bereits alles zu wissen. Ihr wisst über meine Einrichtung Bescheid und über die Leute, die hier eingesperrt waren. Was gibt es da sonst noch?«
Einrichtung? So konnte man das auch nennen. »Das ist meine Sache«, erwiderte Nynaeve und schenkte ihm einen Blick, der, wie sie hoffte, deutlich machte, dass man die Interessen der Aes Sedai nie infrage stellte. »Verrate mir, wie ist der Bote gestorben?«
»Würdelos«, erwiderte forgin. »Wie alle Männer, meiner Erfahrung nach.«
»Werde genauer, oder du hängst wieder in der Luft.«
»Vor ein paar Tagen öffnete ich die Zellentür, um ihm was zu Essen zu bringen. Er war tot.«
»Und wie lange war es her, dass du ihm das letzte Mal etwas gebracht hattest?«
Jorgin schnaubte. »Ich lasse meine Gäste nicht verhungern, Lady Aes Sedai. Ich … ermuntere sie bloß, mit ihrem Wissen freigebig zu sein.«
»Und wie sehr hast du den Boten ermuntert?«
»Nicht genug, um ihn umzubringen«, wehrte der Kerkermeister ab.
»Oh, bitte«, sagte Nynaeve. »Der Mann ist Monate in deinem Kerker, angeblich die ganze Zeit gesund. Dann stirbt er plötzlich einen Tag, bevor er dem Wiedergeborenen Drachen vorgeführt werden soll? Ich habe dir bereits Straffreiheit versprochen. Sag mir, wer dich bestochen hat, damit du ihn umbringst, und ich sorge für deinen Schutz.«
Der Kerkermeister schüttelte den Kopf. »Ich sage Euch, er ist einfach gestorben. So was kommt eben vor.«
»Ich bin deine Spielchen leid.«
»Das ist kein Spiel, verdammt«, knurrte Jorgin. »Glaubt Ihr, ein Mann käme weit in meinem Handwerk, wenn bekannt wäre, dass man ihn bestechen kann, damit er einen seiner Gäste umbringt? Ihr könntet ihm nicht weiter trauen als einem verlogenen Aiel!«
Sie ließ die letzte Bemerkung durchgehen, auch wenn man einem solchen Mann niemals »trauen« konnte.
»Das war sowieso nicht die Art von Gefangenen, die man umbringt«, fuhr Jorgin fort. »Jeder will wissen, wo der König ist. Warum also den Einzigen töten, der es vielleicht weiß? Der Mann war gutes Geld wert.«
»Also ist er nicht tot«, vermutete Nynaeve. »An wen hast du ihn verkauft?«
»Oh, er ist schon tot«, sagte der Kerkermeister mit einem Kichern. »Hätte ich ihn verkauft, hätte ich das nicht lange überlebt. In meinem Handwerk lernt man solche Dinge schnell.«
Nynaeve wandte sich den anderen Männern zu. »Lügt er? Hundert Goldmark für den von euch, der mir den Beweis bringt, dass er das tut.«
Mort sah seinen Anführer an, dann verzog er das Gesicht. »Für hundert Goldmark würde ich Euch meine Mutter verkaufen, Lady. Verflucht, das würde ich. Aber Jorgin sagt die Wahrheit. Er war mausetot. Die Männer des Drachen haben es nachgeprüft, als sie uns die Lady brachten.«
Also hatte Rand diese Möglichkeit in Betracht gezogen. Aber sie hatte noch immer keinen Beweis, dass diese Männer die Wahrheit sagten. Falls es etwas zu verbergen gab, hatten sie sich große Mühe gegeben, es tief zu vergraben. Sie entschied sich, einen anderen Weg einzuschlagen.
»Was habt ihr also über den Aufenthaltsort des Königs entdeckt?«
Jorgin seufzte bloß. »Wie ich bereits den Männern des Lord Drachen gesagt habe und davor Lady Chadmar, bevor sie selbst im Kerker landete: der Mann wusste etwas, wollte es aber nicht sagen.«
»Kommt schon«, sagte Nynaeve und warf einen Blick auf die Truhe mit den scharfen Gegenständen. Sie musste schnell wieder wegsehen, bevor sie deswegen in Wut geriet.» Ein Mann mit deinem … Geschick? Und du konntest nicht eine einzige Information aus ihm herausholen?«
»Soll mich der Dunkle König holen, wenn ich lüge!« Der Kerkermeister errötete, als wäre das für ihn eine Sache des Stolzes. »Noch nie habe ich erlebt, dass sich ein Mann derart widersetzt! Eine hübsche halbe Portion wie der hätte eigentlich von selbst zusammenbrechen müssen. Aber das tat er nicht. Er sprach über alles, nur nicht über die Dinge, die wir wollten!«Jorgin beugte sich vor. »Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, Lady. Soll man mich zu Asche verbrennen, aber ich habe keine Ahnung. Es war, als hätte irgendeine … Macht Gewalt über seine Zunge. Es war, als könnte er nicht sprechen. Selbst wenn er es gewollt hätte!«
Die beiden Schläger murmelten etwas und sahen dabei irgendwie unbehaglich aus. Anscheinend hatten ihre Fragen einen Nerv getroffen.
»Also habt ihr ihm zu sehr zugesetzt«, vermutete sie. »Daran ist er gestorben.«
»Nein, Frau!«, knurrte der Kerkermeister. »Blut und verdammte Asche! Ich habe ihn nicht getötet! Manchmal sterben Leute einfach.«
Leider fing sie an, ihm zu glauben. Jorgin war ein widerwärtiger Mann, der es verdient hätte, ein Jahrzehnt unter Aufsicht einer Dorfseherin hart zu schuften. Aber er log nicht.
So viel also zu ihren hochfliegenden Plänen. Seufzend stand sie auf und wurde sich dabei bewusst, wie müde sie doch war. Beim Licht! Aller Wahrscheinlichkeit nach würde dieses Unternehmen Rand eher explodieren lassen als ihn dazu zu bringen, sich ihrem Rat anzuvertrauen. Sie musste ins Herrenhaus zurückkehren und etwas schlafen. Vielleicht würde ihr am Morgen ein besserer Weg einfallen, Rand zu zeigen, dass sie auf seiner Seite war.
Sie bedeutete den Soldaten, den Kerkermeister und seine Helfer wieder nach oben zu bringen. Danach webte sie Luft und schloss damit Milisair Chadmars Zellentür. Sie würde sich darum kümmern, dass man die Haftbedingungen der Frau verbesserte. Ob sie nun ein verabscheuungswürdiger Mensch war oder nicht, diese Behandlung hatte sie nicht verdient. Rand würde das verstehen müssen, wenn sie es ihm erklärte. Tatsächlich sah Milisair aus, als würde sie krank! Gedankenverloren ging sie zu dem Sehschlitz in der Zellentür, dann webte sie aus Geist eine Tiefenschau, um sich zu vergewissern, dass die Frau nicht krank war.
Nynaeve hatte noch nicht richtig mit der Tiefenschau begönnen, als sie auch schon erstarrte. Sie hatte damit gerechnet, dass Milisairs Körper durch Erschöpfung geschwächt war. Sie hatte damit gerechnet, Krankheiten zu finden, vielleicht Hunger.
Aber sie hatte nicht damit gerechnet, Gift zu finden.
Fluchend riss sie die Zellentür auf und eilte hinein. Ja, die Tiefenschau zeigte es ihr ganz genau. Tarchrottblätter. Nynaeve hatte sie selbst schon einmal einem Hund gegeben, den man einschläfern musste. Es war eine gewöhnliche Pflanze, die sehr bitter schmeckte. Wegen dieses unangenehmen Geschmacks nicht das beste aller Gifte, und man musste es zu sich nehmen.
Ja, das war ein schlechtes Gift - es sei denn, die Person, die man vergiftete, war bereits eine Gefangene und hatte keine Wahl, als das zu essen, was man ihr vorsetzte. Nynaeve fing an zu Heilen, verwebte alle fünf Mächte und erstickte das Gift und stärkte den Körper. Es handelte sich um eine relativ einfache Heilung, da Tarchrottblätter nicht besonders stark waren. Man musste entweder eine Menge davon nehmen - so wie sie damals bei dem Hund -, oder man musste es mehrmals verabreichen, damit es Wirkung zeigte. Aber wenn man es langsam verabreichte, würde es so aussehen, als würde die Person auf ganz natürliche Weise sterben.
Sobald Milisair in Sicherheit war, stürmte Nynaeve aus der Zelle. »Halt«, brüllte sie den Männern nach. »Jorgin!«
Lurts drehte sich überrascht um. Er packte den Kerkermeister am Arm und riss ihn herum.
»Wer kümmert sich um das Essen der Gefangenen?«, verlangte Nynaeve zu wissen und ging auf ihn zu.
»Das Essen?« Jorgin sah sie verwirrt an. »Das ist Kerbs Aufgabe. Warum?«
»Kerb?«
»Der Junge«, sagte Jorgin. »Niemand Wichtiges. Ein Lehrling, den wir vor ein paar Monaten unter den Flüchtlingen fanden. Eigentlich hatten wir da Glück - unser letzter Lehrling ist weggelaufen, und er kannte sich im Handwerk schon …«
Nynaeve brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen, von plötzlicher Aufregung erfüllt. » Der Junge! Wo ist er?«
»Der war gerade noch hier …«, sagte Lurts und schaute nach oben. »Ging mit…«
Oben ertönten auf einmal hastige Bewegungen. Nynaeve fluchte, rief Triben zu, sich den Jungen zu schnappen. Sie bahnte sich den Weg an den Männern vorbei und stieg die Leiter hinauf, sprang in den Laden, gefolgt von ihrer Lichtkugel. Die beiden Schläger standen geduckt in der Mitte des Raumes und sahen verwirrt aus, bewacht von Triben mit seinem gezückten Schwert. Der Soldat sah Nynaeve fragend an.
»Der Junge!«, stieß sie hervor.
Triben schaute zur Ladentür. Sie stand offen. Nynaeve webte Stränge aus Luft und stürmte auf die Straße hinaus.
Kerb wurde mitten auf der Straße von den vier Bediensteten festgehalten, die sie aus dem Haus mitgenommen hatte. Als sie den Bürgersteig verließ, zerrten die Männer den sich wild wehrenden Jungen auf die Füße. Der letzte Saldaeaner stand mit gezogenem Schwert neben der Tür, als wäre er herbeigeeilt, um zu sehen, ob sie in Gefahr schwebte.
»Er kam aus der Tür geschossen, Aes Sedai«, sagte einer der Diener, »als wäre der Dunkle König selbst hinter ihm her. Euer Soldat lief herüber, um zu sehen, ob Ihr in Gefahr seid, aber wir hielten es für besser, den Jungen festzuhalten, bevor er weglaufen konnte. Nur für alle Fälle.«
Nynaeve stieß die angehaltene Luft aus, um sich zu beruhigen. »Das habt ihr gut gemacht«, sagte sie. Der Junge wehrte sich noch immer schwach. »Das habt ihr in der Tat sehr gut gemacht.«