41 Eine Quelle der Macht

Da soll mir doch einer ein Taschentuch ums Gesicht wickeln und mich Aiel schimpfen«, sagte einer von Brynes Soldaten und kniete sich im Bug des schmalen Bootes neben den General. »Es gibt es tatsächlich.«

Gawyn hockte im Bug seines eigenen Bootes; das dunkle Wasser klatschte leise gegen die Bootswände. Sie hatten dreizehn Boote gebraucht, um alle unterzubringen, und waren leise und mühelos aufgebrochen - oder hatten es endlich tun können, nachdem Siuan Sanche mit ihrer Inspektion der Boote fertig war und entschieden hatte, dass sie flusstauglich waren. Zumindest so gerade eben.

Jedes Gefährt trug eine einzelne, abgeschirmte Laterne. Gawyn konnte die anderen Boote, die über das schwarze Wasser glitten, kaum ausmachen; die Soldaten ruderten sie in beinahe völliger Stille, während sie sie an die steinerne Uferbefestigung an Tar Valons südwestlicher Seite lenkten. Die Lichtblitze am Himmel lenkten ihn ab, und Gawyn ertappte sich dauernd dabei, nach oben zu schauen, wo kalte weiße Lichtblitze oder blutrotes Feuer kurz schlangenähnliche Bestien beleuchteten.

Die Weiße Burg selbst schien zu brennen. Flammen zeichneten ihre weißen und roten Umrisse als beängstigende Silhouette an den Himmel. Dichter Rauch quoll den nächtlichen Wolken entgegen; in vielen Fenstern des Turms loderte Feuer, und ein greller Schein in Höhe des Erdgeschosses ließ erahnen, dass die Anbauten und Bäume ebenfalls brannten. Die Soldaten holten die Ruder ein, als sich Gawyns Boot neben das von Bryne schob. Sie glitten unter den Rand uralten Mauerwerks, das über den Fluss ragte. Es blockierte Gawyns Blick auf die wilde Schlacht - obwohl er noch immer das ständige Grollen hören konnte oder wie gelegentlich Gesteinssplitter fernem Regen gleich in die Tiefe auf das Straßenpflaster prasselte.

Gawyn hob die Laterne, schob die Blende einen Spalt zur Seite und riskierte einen schmalen Lichtstreifen. Mit dieser Beleuchtung konnte er sehen, was Brynes Soldat eben bemerkt hatte. Die Insel von Tar Valon wurde von Molen umgeben, die die Ogier errichtet hatten und Teil des ursprünglichen Bauplans der Stadt gewesen waren; sie verhinderten die Erosion der Insel. Wie die meisten Ogierbauten waren auch diese Molen wunderschön. An dieser Stelle wölbte sich zerbrechlich wirkender Stein vier oder sechs Fuß über dem Wasser nach vorn und bildete einen Rand, der wie die weiße Spitze einer zerbrechenden Welle aussah. Im sanften Schein der Laterne war die Unterseite dieser Steine so realistisch, dass nur schwer zu sagen war, wo der Stein endete und der Fluss begann.

Eine dieser künstlichen Wogen verbarg eine Spalte, die selbst aus dieser Nähe beinahe nicht zu sehen war. Brynes Soldaten steuerten das Boot in die schmale Lücke, die zu beiden Seiten und oben von Steinen umgeben war. Siuans Boot war das nächste, und Gawyn bedeutete seinen Ruderern, sich ihr anzuschließen. Die Lücke verwandelte sich in einen ausgesprochen schmalen Tunnel, und Gawyn sorgte für mehr Licht, genau wie es Bryne und Siuan vor ihm getan hatten. Die bewachsenen Steine waren an den Seiten mit dunklen Wassermalen versehen. Dieser Durchgang musste in vielen Jahren völlig unter Wasser liegen.

»Vermutlich hat man das für die Arbeiter gebaut«, sagte Bryne, seine leise Stimme hallte in dem feuchten Tunnel. Selbst die Bewegungen der Ruder im Wasser wurden verstärkt, genau wie das ferne Schwappen des Flusses. »Um das Mauerwerk zu warten.«

»Mir ist völlig egal, warum sie es gebaut haben«, sagte Siuan. »Ich bin bloß froh, dass es ihn gibt. Und völlig entsetzt, dass ich darüber nicht Bescheid wusste. Eine der Stärken von Tar Valon war stets, dass seine Brücken es sicher machten. Man kann darüber Buch führen, wer kommt und wer geht.«

Bryne schnaubte leise, was den Tunnel entlang hallte. »In einer Stadt dieser Größe kann man niemals alles kontrollieren, Siuan. In gewisser Weise geben einem diese Brücken ein falsches Gefühl von Sicherheit. Gewiss, für ein angreifendes Heer ist diese Stadt uneinnehmbar - aber solch ein Ort kann trotzdem über ein Dutzend Löcher verfügen, die groß genug sind, um Fliegen einzulassen.«

Siuan verstummte. Gawyn beruhigte sich und atmete gleichmäßig. Wenigstens tat er jetzt endlich etwas, um Egwene zu helfen. Das hatte viel länger gedauert, als ihm recht war. Beim Licht, hoffentlich kam er noch rechtzeitig genug!

Eine ferne Explosion ließ den Tunnel erbeben. Gawyn blickte über die Schulter zu den anderen zehn Booten, in denen sich nervöse Soldaten drängten. Sie glitten direkt in eine Kampfzone, in der beide Seiten stärker als sie waren, beide Seiten keinen Grund hatten, sie zu mögen, und beide Seiten die Eine Macht lenken konnten. Man brauchte schon ganz besondere Männer, um dieser Kräfteverteilung in die Augen zu starren.

»Hier.« Bryne hob sich als Umriss von dem Lichtschein ab. Mit einem Handsignal ließ er die Reihe der Boote anhalten. Rechts hatte sich der Tunnel geöffnet, dort wartete ein steinerner Sims, von dem ein paar Stufen nach oben führten. Der Tunnel selbst ging noch weiter.

Bryne stand auf und trat auf den Sims, machte das Boot an einem Haken fest. Die Soldaten folgten ihm. Jeder von ihnen trug ein kleines braunes Päckchen. Worum handelte es sich dabei? Gawyn hatte gar nicht bemerkt, dass sie diese Päckchen in die Boote luden. Als der letzte Soldat ausgestiegen war, stieß er das Gefährt nach vorn und gab sein Tau an einen Soldaten in Siuans Boot weiter. Während die Reihe weiterging, band jeder sein Boot an das vorherige. Der letzte Mann würde sein Boot an der Anlegestelle vertäuen, und es würde sie alle verankern.

Gawyn trat auf den Sims, als er an der Reihe war, und eilte die Stufen hinauf, die zu einer kleinen Gasse führten. Dieser Eingang war vermutlich schon seit langer Zeit in Vergessenheit geraten, ausgenommen bei einigen wenigen Bettlern, denen er als Unterschlupf diente. Mehrere Soldaten fesselten bereits am Gassenende eine kleine Gruppe solcher Männer. Gawyn verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Bettler waren dazu prädestiniert, Geheimnisse jedem zu verkaufen, der bereit war, zuzuhören, und die Nachricht von hundert Soldaten, die sich in die Stadt schlichen, würde der Burgwache Gold wert sein.

Bryne stand zusammen mit Siuan an der Gassenmündung und überprüfte die Straße. Gawyn gesellte sich mit der Hand am Schwertgriff zu ihnen. Die Straßen waren leer. Zweifellos verbargen sich die Bürger in ihren Häusern und beteten vermutlich darum, dass der Angriff bald vorbei sein würde.

Die Soldaten sammelten sich in der Gasse. Leise befahl Bryne einer Abteilung von zehn Mann, die Boote zu bewachen. Dann öffnete der Rest von ihnen die weich aussehenden Päckchen, die Gawyn vorhin aufgefallen waren, und holten zusammengefaltete weiße Wappenröcke hervor. Sie zogen sie über die Köpfe und banden sie an der Taille fest, jeder zeigte die Flamme von Tar Valon.

Gawyn stieß einen leisen Pfiff aus, während Siuan die Hände in die Hüften stemmte und verärgert aussah. »Wo habt Ihr denn die her?«

»Ich habe sie von den Frauen im Tross machen lassen«, erklärte Bryne. »Es ist immer ratsam, ein paar feindliche Uniformen zu haben.«

Siuan verschränkte die Arme. »Das ist einfach nicht richtig. Der Dienst in der Burgwache ist eine heilige Pflicht. Sie …«

»Sie sind der Feind, Siuan«, sagte Bryne streng. »Zumindest für den Augenblick. Ihr seid nicht mehr die Amyrlin.«

Sie warf ihm einen bösen Blick zu, hielt aber den Mund.

Bryne musterte die Soldaten, dann nickte er zufrieden. »Aus der Nähe wird das keinen täuschen, aber aus der Ferne reicht das. Raus auf die Straße und zu Reihen aufgestellt. Eilt auf die Burg zu, als wolltet ihr schnell in die Schlacht eingreifen. Siuan, eine Lichtkugel oder zwei würden bei der Tarnung helfen - wenn die, die uns sehen, eine Aes Sedai an der Spitze entdecken, werden sie eher glauben, was wir ihnen vorgaukeln wollen.«

Sie schnaubte, erfüllte die Bitte aber und erschuf zwei Lichtkugeln, die sie zu beiden Seiten ihres Kopfes schweben ließ. Bryne gab den Befehl, und die ganze Gruppe strömte aus der Gasse und formierte sich zu den verlangten Reihen. Gawyn, Bryne und Siuan nahmen Positionen an der Spitze ein - Gawyn und der General ein paar Schritte vor Siuan, als wären sie ihre Behüter -, und im Laufschritt eilten sie los.

Alles zusammengenommen war es eine gute Illusion. Auf den ersten Blick hätte Gawyn die Verkleidung akzeptiert. Was konnte es Natürlicheres geben als eine Abteilung der Burgwache, die zum Ort des Angriffs marschiert, angeführt von einer Aes Sedai und ihren Behütern? Auf jeden Fall war es besser als der Versuch, einhundert Männer ungesehen durch irgendwelche Gassen durch die Stadt schleichen zu lassen.

Als sie sich dem Burggelände näherten, betraten sie einen Albtraum. Die dichten Rauchschwaden reflektierten roten Feuerschein und hüllten die ganze Burg in einen blutroten Dunst. Löcher und Furchen verunstalteten die Mauern des einst so majestätischen Gebäudes; aus mehreren Öffnungen loderten Flammen. Raken beherrschten den Himmel und umrundeten den Turm wie Möwen, die auf dem Meer einen toten Wal umkreisen. Schreie und Rufe durchdrangen die Luft, und der dichte beißende Rauch kratzte in Gawyns Hals.

Brynes Männer wurden langsamer, je näher sie kamen. Bei dem Kampf schien es zwei Schlachtfelder zu geben. Am Fuß des Turms mit den beiden angebauten Flügeln flammten ständig Lichtblitze auf. Das Gelände war übersät mit Toten und Verletzten. Und weit oben ungefähr in der Turmmitte spuckten mehrere Risse im Mauerwerk Feuerbälle und Lichtblitze gegen die Angreifer. Der Rest des Turms erschien stumm und tot, obwohl in den Korridoren sicherlich gekämpft wurde.

Vor einem der Eisentore der Weißen Burg kam die Gruppe zum Stehen. Die Tore standen weit offen und waren unbewacht. Das erschien unheilvoll. »Und jetzt?«, fragte Gawyn flüsternd.

»Wir finden Egwene«, antwortete Siuan. »Wir fangen im Erdgeschoss an, dann begeben wir uns in die Kelleretagen. Sie war heute irgendwo dort unten eingesperrt, und das sollte der erste Ort sein, an dem wir nachsehen.«


Steinsplitter lösten sich von der Decke und regneten auf den Tisch, als der nächste Treffer die Weiße Burg erschütterte. Saerin fluchte und wischte das Geröll weg, dann entrollte sie ein Pergament und beschwerte seine Ecken mit ein paar Fliesentrümmern.

In dem Raum um sie herum herrschte blankes Chaos. Sie befanden sich im Erdgeschoss, im vorderen Versammlungsraum, einem großen rechteckigen Gemach am Übergang zwischen Ostflügel und Turm. Angehörige der Burgwache schoben Tische aus dem Weg, um Platz für die Gruppen zu machen, die den Raum passierten. Aes Sedai schauten misstrauisch aus den Fenstern und beobachteten den Himmel. Behüter wanderten wie eingesperrte Tiere umher. Was sollten sie gegen fliegende Bestien tun? Hier waren sie am besten aufgehoben, als Beschützer des Kommandopostens. Sofern man den Raum so bezeichnen wollte. Saerin war gerade erst eingetroffen.

Eine Grüne Schwester rauschte auf sie zu. Moradri war eine Mayenerin mit langen Gliedmaßen und dunkler Haut, und sie wurde von zwei ansehnlichen Behütern begleitet, bei denen es sich ebenfalls um Mayener handelte. Gerüchten zufolge waren die beiden ihre Brüder, die zur Weißen Burg gekommen waren, um ihre Schwester zu beschützen; allerdings äußerte sich Moradri nie zu diesem Thema.

»Wie viele?«, verlangte Saerin zu wissen.

»Im Erdgeschoss mindestens siebenundvierzig Schwestern«, berichtete Moradri. »Von allen Ajahs. Genauer konnte ich sie nicht zählen, denn sie kämpfen in kleinen Gruppen. Ich habe ihnen gesagt, dass wir hier einen zentralen Kommandoposten einrichten. Die meisten schienen es für eine gute Idee zu halten, obwohl viele zu müde, zu entsetzt oder einfach zu fassungslos waren, um mit mehr als einem Nicken reagieren zu können.«

»Tragt ihre Positionen auf diesem Plan hier ein«, sagte Saerin. »Habt Ihr Elaida gefunden?« Moradri schüttelte den Kopf.

»Verdammt«, murmelte Saerin, als das Bauwerk erneut erbebte. »Was ist mit den Sitzenden der Grünen?«

»Ich konnte keine von ihnen finden«, sagte Moradri und warf einen Blick über die Schulter, offensichtlich begierig, sich wieder den Kämpfenden anzuschließen.

»Schade. Schließlich bezeichnen sie sich gern als die Kampf-Ajah. Nun, also bleibt es mir überlassen, diesen Kampf zu organisieren.«

Moradri zuckte mit den Schultern. »Sieht so aus.« Wieder schaute sie zurück.

Saerin musterte die Grüne Schwester, dann tippte sie auf den Plan. »Zeichnet die Positionen ein, Moradri. Ihr könnt gleich wieder kämpfen, aber im Moment ist Euer Wissen wichtiger. «

Die Grüne seufzte, dann fing sie aber an, schnell Markierungen zu zeichnen. Während sie damit beschäftigt war, sah Saerin erfreut, dass Hauptmann Chubain eintrat. Für seine mehr als vierzig Winter sah der Mann noch jugendlich aus; in seinem schwarzen Haar war keine graue Strähne zu finden. Manche Männer neigten dazu, sich wegen seines zu guten Aussehens abschätzig über seine Fähigkeiten zu äußern; Saerin hatte von den Demütigungen gehört, die sein Schwert diesen Männern für ihre Beleidigungen erteilt hatte.

»Ah, gut«, sagte sie. »Endlich klappt einmal etwas. Hauptmann, kommt doch bitte zu mir.«

Er hinkte heran, schonte sein linkes Bein. Der weiße Wappenrock über dem Kettenhemd war angesengt; sein Gesicht war rußverschmiert. »Saerin Sedai«, sagte er und verneigte sich.

»Ihr seid verwundet.«

»Angesichts der Ehre eines solches Kampfes eine bedeutungslose Wunde, Aes Sedai.«

»Lasst Euch trotzdem Heilen«, befahl sie. »Es wäre lächerlich, wenn unser Hauptmann der Wache wegen einer bedeutungslosem Wunde den Tod riskiert. Wenn sie Euch kurz stolpern lässt, könnten wir Euch verlieren.«

Der Mann trat näher an sie heran und senkte die Stimme. »Saerin Sedai, in diesem Kampf ist die Burgwache so gut wie nutzlos. Da die Seanchaner diese … grauenhaften Frauen benutzen, kommen wir nur selten an sie heran, bevor wir in Stücke gerissen oder zu Asche verbrannt werden.«

»Dann müsst Ihr eben Eure Taktik ändern, Hauptmann«, sagte Saerin entschlossen. Beim Licht, was für eine Katastrophe! »Befehlt den Männern, sie sollen Bogen nehmen. Geht nicht das Risiko ein, den Machtlenkern des Feindes zu nahe zu kommen. Schießt aus der Ferne. Ein einziger Pfeil könnte diese Schlacht zu unseren Gunsten wenden; zahlenmäßig sind wir ihren Soldaten auf groteske Weise überlegen.«

»Ja, Aes Sedai.«

»Es ist einfache Logik, wie eine Weiße vermutlich sagen würde. Hauptmann, unsere wichtigste Aufgabe liegt darin, einen zentralen Befehlsposten einzurichten. Aes Sedai und Soldaten huschen unabhängig voneinander umher, verhalten sich wie von Wölfen gejagte Ratten. Wir müssen gemeinsam handeln.«

Die Verlegenheit, die an ihr nagte, brachte sie nicht zur Sprache. Seit Jahrhunderten beeinflussten Aes Sedai Könige und Kriege, aber jetzt, da ihre Zuflucht angegriffen wurde, hatten sie sich in ihrer Verteidigung als völlig überfordert erwiesen. Egwene hatte recht, dachte sie. Nicht nur, was die Vorhersage dieses Angriffs angeht, sondern mit ihren Vorwürfen hinsichtlich der tiefen Gräben zwischen uns. Saerin brauchte keine Berichte von Moradri oder Spähern, um zu wissen, dass jede Ajah in dieser Schlacht für sich allein kämpfte.

»Hauptmann«, sagte sie. »Moradri Sedai markiert Kämpfe auf einem Lageplan. Fragt sie, welche Ajah in jeder Gruppe vertreten ist; sie hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis und wird Euch die Einzelheiten nennen. Schickt in meinem Namen Läufer zu jeder Gruppe von Gelben oder Braunen Schwestern. Sagt ihnen, sie sollen sich hier zum Rapport melden.

Dann schickt Ihr Läufer zu den anderen Gruppen und unterrichtet sie darüber, dass wir ihnen jeweils eine Braune oder Gelbe Schwester zum Heilen schicken. Hier wird es ebenfalls eine Gruppe Schwestern zum Heilen geben, jeder Verwundete hat sich sofort hier einzufinden.«

Er salutierte.

»Ach ja«, fügte sie noch hinzu. »Und schickt jemanden nach draußen, der die wichtigsten Durchbrüche oben im Turm meldet. Wir müssen wissen, an welchen Stellen der Angriff am heftigsten tobt.«

»Aes Sedai…«, sagte er. »Das Außengelände ist gefährlich. Diese Flieger am Himmel schießen auf alles, was sich bewegt. «

»Dann schickt eben Männer, die gut daran sind, sich zu tarnen«, knurrte sie.

»Ja, Aes Sedai. Wir …«

»Das ist eine Katastrophe!«, brüllte da eine wütende Stimme.

Vier Rote Schwestern stürmten in den Raum. Notasha trug ein weißes Kleid mit Blutflecken an der linken Seite; aber wenn es ihr Blut war, war sie bereits Geheilt worden. Katerines langes schwarzes Haar war zerzaust und voller Steinsplitter. Die Kleider der anderen beiden Frauen wiesen Risse auf; ihre Gesichter waren mit Asche verschmutzt.

»Wie können sie es wagen, diesen Ort anzugreifen!«, fuhr Katerine fort. Soldaten machten ihr schnell den Weg frei, und mehrere weniger einflussreiche Schwestern, die sich aufgrund Saerins Befehl hier eingefunden hatten, fanden plötzlich in den Zimmerecken wichtige Dinge zu tun. In der Ferne dröhnten Explosionen wie bei einem Feuerwerk der Illuminatoren.

»Sie wagen es, weil sie offensichtlich die Mittel und das Verlangen danach haben«, erwiderte Saerin, schluckte ihre Verärgerung herunter und behielt ihre ruhige Fassade bei. Auch wenn es ihr schwerfiel. »Bis jetzt hat sich der Angriff als erstaunlich effektiv erwiesen.«

»Nun, ich übernehme hier jetzt den Befehl«, knurrte Katerine. »Wir müssen die Burg durchsuchen und jeden Einzelnen von ihnen ausschalten!«

»Ihr werdet den Befehl nicht übernehmen«, erwiderte Saerin energisch. Diese unerträgliche Frau! Ganz ruhig, sie musste ruhig bleiben. »Und wir werden auch nicht in die Offensive gehen.«

»Und Ihr wollt mich davon abhalten?«, fauchte Katerine, und der Schein Saidars hüllte ihre Gestalt wie ein brennendes Licht ein. »Eine Braune?«

Saerin hob eine Braue. »Seit wann hat die Oberin der Novizinnen einen höheren Rang als eine Sitzende des Saals, Katerine?«

»Ich …«

»Egwene al’Vere hat das hier Vorhergesagt«, sagte Saerin und verzog das Gesicht. »Wir können also davon ausgehen, dass die anderen Dinge, die sie uns über die Seanchaner erzählt hat, ebenfalls der Wahrheit entsprechen. Die Seanchaner ergreifen Frauen, die die Macht lenken können, und benutzen sie als Waffe. Sie haben keine Bodentruppen mitgebracht; es wäre sowieso so gut wie unmöglich gewesen, so weit durch feindliches Gebiet zu marschieren. Das bedeutet, dass das hier ein Raubzug ist, bei dem so viele Schwestern wie möglich entführt werden sollen.

Für einen Raubzug zieht sich der Kampf bereits in die Länge, vielleicht glauben sie, sich Zeit lassen zu können, weil wir uns so erbärmlich schlecht verteidigt haben. Wie dem auch sei, wir müssen eine vereinte Front bilden und uns behaupten. Sobald sie auf größeren Widerstand stoßen, werden sie sich zurückziehen. Davon abgesehen sind wir nicht in der Position, die ›Burg zu durchsuchen‹ und sie zu vertreiben.«

Katerine zögerte, dachte nach. Draußen ertönte wieder eine Explosion.

»Wo kommen die bloß immer noch her?«, rief Saerin wütend. »Haben sie nicht bereits genug Löcher geschlagen?«

»Das war nicht auf den Turm gezielt, Saerin Sedai!«, meldete einer der Soldaten an den Türen zum Garten.

Er hat recht, erkannte Saerin. Der Turm hat nicht gebebt. Davor das Mal auch nicht. »Worauf schießen sie? Auf die Menschen hier unten?«

»Nein, Aes Sedai«, sagte der Mann. »Ich glaube, das war ein Blitz aus dem Inneren des Turms, von einer der oberen Etagen, auf eine der fliegenden Kreaturen gezielt.«

»Nun, dann wehrt sich wenigstens irgendjemand«, sagte Saerin. »Wo kam das her?«

»Ich habe es nicht sehen können«, sagte der Soldat, der noch immer den Himmel beobachtete. »Beim Licht, da ist es wieder! Und schon wieder!« Der Rauch am Himmel reflektierte roten und gelben Lichtschein, der den Garten durch die Türen und Fenster kaum wahrnehmbar kurz erhellte. Raken schrien ihren Schmerz hinaus.

»Saerin Sedai!«, sagte Hauptmann Chubain und wandte sich von einer Gruppe verwundeter Soldaten ab. Saerin hatte sie gar nicht eintreten sehen; Katerine hatte sie zu sehr abgelenkt. »Diese Männer hier kommen von den oberen Ebenen. Anscheinend gibt es dort einen zweiten Sammelpunkt zur Verteidigung, der sehr erfolgreich ist. Die Seanchaner brechen ihren Angriff unten ab, um sich darauf zu konzentrieren.«

»Wo?«, fragte Saerin begierig. »Wo genau?«

»Im Zweiundzwanzigsten, Aes Sedai. Das nordöstliche Viertel.«

»Was?«, rief Katerine aus. »Das Quartier der Braunen Ajah?«

Nein. Dort hatte es sich früher befunden. Durch die Verschiebung der Burgkorridore handelte es sich bei diesem Teil des Turms nun um … »Das Novizinnenquartier 1«, sagte Saerin. Das erschien noch lächerlicher zu sein. »Wie in aller Welt …« Sie verstummte, und ihre Augen weiteten sich leicht. »Egwene.«


Vor ihrem inneren Auge schien jeder Seanchaner, den sie tötete, Renna zu sein. Egwene stand an einem großen Loch im Turm der Weißen Burg, und als wollte er ihren Zorn unterstreichen, riss der Wind mit lautem Heulen an ihrem weißen Kleid und zerrte an ihrem Haar.

Ihre Wut war nicht außer Kontrolle geraten. Sie war kalt und konzentriert. Die Weiße Burg brannte. Das hatte sie Vorhergesehen, das hatte sie Geträumt, aber die Realität war viel schlimmer, als sie je befürchtet hatte. Hätte sich Elaida auf diesen Angriff vorbereitet, wäre der Schaden bedeutend geringer ausgefallen. Aber es war sinnlos, sich nach dem zu sehnen, was man versäumt hatte.

Stattdessen konzentrierte sie ihren Zorn - den Zorn der Gerechtigkeit, die Wut der Amyrlin. Schoss einen To’raken nach dem anderen aus der Luft. Sie waren bedeutend weniger beweglich als ihre kleinen Cousins. Mittlerweile musste sie ein Dutzend von ihnen getötet haben, und ihre Taten zogen die Aufmerksamkeit der Angreifer auf sich. Unten wurde der Angriff abgebrochen, der Überfall konzentrierte sich auf Egwene. Die Novizinnen kämpften auf den Treppen gegen seanchanische Abteilungen und zwangen sie zurück. To’raken rasten mit schlagenden Flügeln um den Turm herum und versuchten Egwene mit Abschirmungen oder Feuerbällen auszuschalten. Kleinere Raken schossen durch die Luft, Armbrustmänner auf ihren Rücken feuerten ihre Bolzen auf sie ab.

Aber sie war eine Quelle der Macht, gezogen aus den Tiefen des geriffelten Zepters in ihren Händen, gelenkt durch eine Gruppe aus Novizinnen und Aufgenommenen, die sich hinter ihr in einem Zimmer versteckten und mit ihr zu einem Zirkel verbunden waren. Egwene war Teil des Feuers, das die Weiße Burg verbrannte und den Himmel mit seinen Flammen bluten ließ, die Luft mit seinem Qualm beschmutzte. Beinahe schien sie nicht aus Fleisch und Blut zu bestehen, sondern aus reiner Macht, und sie richtete über jene, die es gewagt hatten, den Krieg zur Weißen Burg zu tragen. Blitze zuckten vom Himmel, die Wolken waren in Aufruhr. Feuer schoss aus ihren Händen.

Vielleicht hätte sie fürchten sollen, die Drei Eide zu brechen. Aber das tat sie nicht. Das war ein Kampf, der ausgetragen werden musste, und es verlangte sie auch nicht nach Tod - auch wenn ihr Zorn auf die Sul’dam dem vielleicht sehr nahe kam. Die Soldaten und Damane waren unglückliche Opfer.

Die Weiße Burg, das geheiligte Refugium der Aes Sedai, wurde angegriffen. Sie alle waren in Gefahr, eine Gefahr schlimmer als der Tod. Diese silbernen Kragen waren viel schlimmer. Egwene verteidigte sich und jede Frau in der Burg.

Sie würde den Rückzug der Seanchaner erzwingen.

Eine Abschirmung nach der anderen versuchte Egwene von der Quelle zu trennen, aber sie waren wie Kinderhände, die den tobenden Strom eines Wasserfalls aufhalten wollten. Bei so viel Macht hätte sie nur ein vollständiger Zirkel aufhalten können, und die Seanchaner benutzten keine Zirkel; das verhinderten die Adam.

Die Angreifer bereiteten Gewebe vor, um sie zu töten, aber jedes Mal schlug Egwene zuerst zu, wehrte die Feuerkugeln entweder durch einen Luftstoß ab oder tötete einfach den To’raken, der die Frauen trug, die sie töten wollten.

Ein paar der Bestien waren bereits mit Gefangenen in der Nacht verschwunden. Egwene hatte jede vom Himmel geholt, die sie hatte erwischen können, aber an diesem Überfall hatten so viele To’raken teilgenommen. Einige würden entkommen. Schwestern würden in Gefangenschaft geraten.

In ihren beiden Händen formten sich Feuerbälle, die eine weitere angreifende Bestie vom Himmel fegte. Ja, einige würden entkommen. Aber sie würden teuer dafür bezahlen. Das war ein weiteres Ziel. Sie musste dafür sorgen, dass sie die Burg nie wieder angreifen würden.

Dieser Überfall musste sie teuer zu stehen kommen.


»Bryne! Über Euch!«

Gareth warf sich zur Seite, rollte sich grunzend ab, weil sich ihm der Harnisch in Seiten und Bauch bohrte, als er auf das Pflaster aufschlug. Etwas Gewaltiges raste genau über ihn durch die Luft, gefolgt von einem donnernden Aufschlag. Er kam auf einem Knie hoch und entdeckte einen brennenden Raken, der sich dort, wo er eben noch gestanden hatte, über den Boden wälzte. Sein Reiter - der bereits durch den Feuerball gestorben war, den seine Kreatur getötet hatte - flog wie eine Stoffpuppe zu Boden. Der qualmende Rafcen-Kadaver prallte gegen die Burgmauer und blieb dort liegen. Der Reiter blieb liegen, wo er gelandet war, und sein Helm schepperte irgendwo in die Dunkelheit hinein. Der Leiche fehlte ein Stiefel.

Bryne kam auf die Beine und zog das Gürtelmesser - sein Schwert hatte er bei seinem Sprung fallen gelassen. Er fuhr herum, suchte nach Gefahren. Davon gab es genug. Große und kleine Raken schossen aus dem Himmel herab, obwohl die meisten von ihnen auf den oberen Teil des Turms konzentriert waren. Die Grünflächen vor der Weißen Burg waren mit Trümmern und Leichen übersät, die alle schrecklich verkrümmt aussahen. Brynes Männer kämpften gegen eine Abteilung seanchanischer Soldaten; die Invasoren mit den Insekten nachgeahmten Rüstungen waren vor wenigen Augenblicken aus der Burg gestürmt. Liefen die Seanchaner vor etwas weg, oder suchten sie bloß nach einem Kampf? Es waren mindestens dreißig Mann.

Oder waren die Soldaten auf diesen Hof gekommen, um wieder eingesammelt zu werden? Nun, auf jeden Fall waren sie auf die unerwartete Streitmacht aus Brynes Männer gestoßen. Unter ihnen befanden sich keine Machtlenker, wofür man dem Licht danken musste.

Brynes Männer hätten bei ihrer Übermacht von zwei zu eins leichtes Spiel haben müssen. Unglücklicherweise schleuderten einige der größeren Raken am Himmel Steine und Feuerbälle auf die Männer im Hof. Und die Seanchaner kämpften gut. Sogar sehr gut.

Bryne rief seinen Männern zu, die Stellung zu halten, und sah sich nach seinem Schwert um. Gawyn - der eben die Warnung gerufen hatte - stand in der Nähe und duellierte sich mit zwei Seanchanern gleichzeitig. Hatte der Junge keinen Verstand? Gawyns Streitmacht hatte die Überhand. Er hätte einen Schwertgefährten an der Seite haben müssen. Er …

Mit einer anmutigen Bewegung tötete Gawyn beide Seanchaner. War das Lotus schließt seine Blüte gewesen? Noch nie zuvor hatte Bryne diese Figur so effektiv gegen zwei Männer gleichzeitig ausgeführt gesehen. Gawyn wischte seine Waffe als Teil der traditionellen letzten Bewegung ab, dann schob er sie in die Scheide, trat Brynes Schwert vom Boden in die Luft und fing es auf. Auf alles gefasst hielt er es. Brynes Reihe hielt trotz der Angriffe von oben stand. Gawyn nickte Bryne zu und winkte ihn mit dem Schwert heran.

Stahl traf auf Stahl und hallte laut über den Hof, Schatten wurden über das versengte Gras geworfen, angestrahlt von den Flammen in der Höhe. Bryne nahm sein Schwert entgegen, und Gawyn zog wieder die eigene Klinge. »Seht«, sagte er und zeigte mit dem Schwert nach oben.

Bryne kniff die Augen zusammen. In der Nähe eines Lochs in einer der oberen Etagen ballten sich die Aktivitäten. Er holte sein Fernglas hervor und verließ sich darauf, dass Gawyn ihn warnen würde, sollte sich eine Gefahr nähern.

»Beim Licht …«, flüsterte er dann und konzentrierte sich auf die Mauerlücke. Eine einsame Gestalt in Weiß stand in der geschlagenen Bresche. Sie war zu weit weg, um ihr Gesicht erkennen zu können, selbst mit dem Fernglas, aber wer auch immer sie war, sie richtete beträchtlichen Schaden unter den Seanchanern an. Feuer glühte zwischen den Händen ihrer erhobenen Arme, das brennende Licht warf Schatten auf die Turmmauer um sie herum. Im stetigen Rhythmus lösten sich Blitze von ihr und pflückten Raken vom Himmel.

Bryne hob das Fernglas höher und fuhr die ganze Länge des Turms ab, suchte nach anderen Zeichen des Widerstands. Auf dem flachen runden Dach gab es Aktivitäten. Das war so weit entfernt, dass er es kaum ausmachen konnte. Es hatte den Anschein, als würden Pfähle in die Luft gestemmt, auf die dann Raken hinunterstürzten und … Was? Jedes Mal, wenn einer der Raken im Sturzflug vorbeiraste, zerrte er etwas hinter sich her.

Gefangene, erkannte Bryne mit einem Schaudern. Sie bringen die gefangenen Aes Sedai aufs Dach, fesseln sie mit Seilen, dann schnappen sich die Raken diese Seile und ziehen die Frauen in die Luft. Beim Licht! Er konnte einen Blick auf eine der verschleppten Frauen erhaschen. Es hatte den Anschein, als hätte man ihr einen Sack über den Kopf gezogen.

»Wir müssen in die Burg hinein«, sagte Gawyn. »Dieser Kampf ist nur ein Ablenkungsmanöver.«

»Dem stimme ich zu«, erwiderte Bryne und senkte das Fernglas. Er warf einen Blick zur Hofseite, wo Siuan während des Kampfes hatte warten wollen. Zeit, sie einzusammeln und …

Sie war verschwunden. Bryne verspürte einen Stich des Entsetzens, gefolgt von blanker Panik. Wo war sie? Wenn sich diese Frau hatte umbringen lassen …

Aber nein. Er konnte sie in der Burg spüren. Sie war unverletzt. Dieser Bund war eine so wunderbare Sache, aber er hatte sich noch nicht im Mindesten daran gewöhnt. Ihm hätte auffallen müssen, dass sie gegangen war! Er musterte seine Soldaten. Die Seanchaner hatten sich gut geschlagen, aber nun wurden sie sichtbar dezimiert. Ihre Reihe gab nach, und sie verteilten sich in alle Richtungen, und Bryne bellte seinen Männern den Befehl zu, sie nicht zu verfolgen.

»Erste und zweite Abteilung, schnell die Verwundeten einsammeln«, rief er. »Tragt sie zur Hofseite. Die, die gehen können, sollen sich auf direktem Weg zu den Booten begeben.« Er zog eine Grimasse. »Die, die nicht mehr gehen können, werden auf die Aes Sedai warten müssen, die sie Heilen werden.« Die Soldaten nickten. Die Schwerverletzten würde man dem Feind überlassen müssen, aber man hatte alle vor der Mission auf diese Möglichkeit hingewiesen. Die Amyrlin zurückzuholen war wichtiger als alles andere.

Einige Männer würden während der Wartezeit an ihren Wunden sterben. Daran konnte er nichts ändern. Die meisten von ihnen würden hoffentlich von den Aes Sedai der Weißen Burg Geheilt werden. Natürlich würde man sie danach in den Kerker sperren, aber es gab keine andere Möglichkeit. Diese Truppe musste in Bewegung bleiben, und es war keine Zeit, die Verwundeten auf Bahren zu tragen.

»Dritte und vierte Abteilung«, fing er an und verstummte dann. Eine vertraute Gestalt im blauen Rock rauschte aus der Burg und zerrte ein Mädchen in Weiß hinter sich her. Natürlich sah Siuan mittlerweile kaum älter als das Mädchen aus. Manchmal hatte Bryne Probleme damit, sie mit der strengen Frau in Einklang zu bringen, die er vor Jahren kennengelernt hatte.

Von einer Woge der Erleichterung erfasst, ging er ihr entgegen. »Wer ist das?«, wollte er wissen. »Wo seid ihr gewesen?«

Siuan schnalzte nur mit der Zunge, befahl der Novizin, dort stehen zu bleiben, und nahm Bryne zur Seite, um leise mit ihm zu sprechen. »Eure Soldaten waren beschäftigt, und ich hielt es für eine gute Gelegenheit, um Informationen zu beschaffen. Und ich muss sagen, dass wir noch an Eurer Einstellung arbeiten müssen, Gareth Bryne. Es gehört sich nicht für einen Behüter, so mit seiner Aes Sedai zu sprechen.«

»Darüber mache ich mir dann Sorgen, wenn Ihr anfangt, Euch zu benehmen, als hättet Ihr einen Funken Verstand in Eurem Kopf, Frau. Und wenn Ihr den Seanchanern in die Arme gelaufen wäret?«

»Dann wäre ich in Gefahr gewesen«, erwiderte sie mit in die Hüften gestemmten Händen. »Das wäre nicht das erste Mal. Ich konnte nicht riskieren, dass mich andere Aes Sedai zusammen mit Euch oder Euren Soldaten sahen. So einfache Verkleidungen werden keine Schwester täuschen.«

»Und wenn man Euch erkannt hätte? Siuan, diese Leute wollten Euch hinrichten!«

Sie schnaubte. »Mit diesem Gesicht würde mich nicht einmal mehr Moiraine erkennen. Die Frauen in der Burg werden nur eine junge Aes Sedai sehen, die irgendwie vertraut erscheint. Außerdem bin ich niemandem begegnet. Nur diesem Kind hier.« Sie warf der Novizin einen Blick zu. Das Mädchen hatte kurzes schwarzes Haar und starrte entsetzt zu der Schlacht am Himmel hoch. »Hashala, kommt her«, rief Siuan.

Die Novizin eilte herbei.

»Erzählt diesem Mann, was Ihr mir verraten habt«, befahl Siuan.

»Ja, Aes Sedai«, sagte die Novizin mit einem nervösen Knicks. Brynes Soldaten bildeten eine Ehrenwache um Siuan, und Gawyn stellte sich neben den General. Die junge Frau schaute immer wieder in den todbringenden Himmel.

»Die Amyrlin, Egwene al’Vere«, sagte sie mit bebender Stimme. »Sie wurde früher am Tag aus ihrer Zelle entlassen und durfte in das Novizinnenquartier zurückkehren. Ich war unten in der Küche, als der Angriff begann, also weiß ich nicht, was mit ihr passiert ist. Aber vermutlich ist sie oben irgendwo auf der einundzwanzigsten oder zweiundzwanzigsten Ebene. Dort befinden sich jetzt die Novizinnenzimmer.« Sie verzog das Gesicht. »Das Innere der Burg ist heutzutage ein schreckliches Durcheinander. Nichts ist da, wo es sein sollte.«

Siuan erwiderte Brynes Blick. »Man hat Egwene hohe Dosen Spaltwurzel verabreicht. Sie wird kaum in der Lage sein, die Macht zu lenken.«

»Wir müssen sie finden!«, stieß Gawyn hervor.

»Offensichtlich«, sagte Bryne und rieb sich das Kinn. »Darum sind wir ja hier. Also gehen wir wohl nach oben statt nach unten.«

»Ihr seid gekommen, um sie zu retten, nicht wahr?« Die Novizin klang eifrig.

Bryne musterte sie. Kind, ich wünschte, du hättest das nicht erkannt. Er hasste die Vorstellung, eine einfache Novizin in diesem Chaos gefesselt zurücklassen zu müssen. Aber sie durften nicht riskieren, dass sie losrannte und die Aes Sedai der Weißen Burg warnte.

»Ich will mit Euch gehen«, sagte das Mädchen flehend. »Ich stehe loyal zu der Amyrlin. Der echten Amyrlin. Das gilt für die meisten von uns.«

Bryne hob eine Braue und sah Siuan an.

»Soll sie mitkommen«, sagte die Aes Sedai. »Das ist ohnehin die einfachere Lösung.« Sie fing an, dem Mädchen weitere Fragen zu stellen.

Bryne schaute zur Seite, als einer seiner Hauptmänner, ein Mann namens Vestas, auf ihn zutrat. »Mein Lord«, raunte Vestas drängend. »Wir haben zwölf Männer verloren. Weitere fünfzehn sind verwundet, können aber noch gehen und sind zu den Booten unterwegs. Sechs sind zu schlimm verletzt, um sie begleiten zu können.« Vestas zögerte. »Drei Männer werden die nächste Stunde nicht überleben, mein Lord.«

Bryne biss die Zähne zusammen. »Wir brechen auf.«

»Ich fühle diesen Schmerz, Bryne«, sagte Siuan und wandte sich ihm wieder zu. »Was ist los?«

»Wir haben keine Zeit. Die Amyrlin …«

»Kann noch einen Augenblick warten. Worum geht es?«

»Drei Männer«, sagte er. »Ich muss drei meiner Männer sterbend zurücklassen.«

»Nicht, wenn ich sie Heile«, erwiderte Siuan. »Bringt mich zu ihnen.«

Bryne gab seinen Widerstand auf, auch wenn er einen Blick gen Himmel warf. Mehrere Raken waren auf dem Burggelände gelandet und stellten undeutliche, von den Flammen beleuchtete Schemen dar. Die flüchtenden Seanchaner sammelten sich um sie.

Das waren die Truppen für den Bodenangriff, dachte er. Sie ziehen sich wahrhaftig zurück. Der Überfall endet.

Was bedeutete, dass sie keine Zeit mehr hatten. Nach dem Abzug der Seanchaner würde sofort wieder Ordnung in die Weiße Burg einkehren. Sie mussten Egwene finden! Und sollte das Licht dafür sorgen, dass sie nicht in Gefangenschaft geraten war.

Aber wenn Siuan die Soldaten Heilen wollte, dann war das ihre Entscheidung. Er hoffte bloß, dass diese drei Leben der Amyrlin am Ende nicht das Leben kostete.

Vestas hatte die drei Soldaten ein wenig abseits unter einem großen Baum zurückgelassen. Bryne nahm eine Abteilung Soldaten mit und überließ es Gawyn, den Rest der Männer zu organisieren. Er folgte Siuan. Sie kniete bereits neben dem ersten Verletzten. Ihr Geschick im Heilen war nicht groß; da hatte sie Bryne bereits vorgewarnt. Aber vielleicht konnte sie ja den Zustand der drei Männer so stabilisieren, dass sie lange genug bis zu ihrer Entdeckung und Gefangennahme durch die Weiße Burg überleben würden.

Sie arbeitete schnell, und Bryne entdeckte, dass sie wirklich übertrieben hatte. Sie schien beim Heilen durchaus anständige Arbeit zu leisten. Dennoch benötigte das Zeit. Bryne ließ die Blicke über den Hof schweifen und spürte, wie seine Nervosität wuchs. Aus den oberen Etagen wurden noch immer Feuerbälle geschleudert, aber in den unteren Etagen und auf dem Gelände herrschte Ruhe. Die einzigen Laute kamen von den stöhnenden Verwundeten und dem Prasseln der Flammen.

Beim Licht, dachte er und betrachtete die Trümmer, ließ den Blick über das Erdgeschoss der Burg gleiten. Das Dach des Ostflügels und die Seitenmauer waren eingestürzt, überall in dem Gebäude flackerten Flammen. Der Hof war voller Steintrümmer und tiefer Narben. Dichter, stinkender Rauch hing in der Luft. Würden die Ogier bereit sein, zurückzukehren und dieses prächtige Bauwerk zu reparieren? Würde es jemals wieder wie früher sein, oder war dieses scheinbar für alle Ewigkeit errichtete Monument in dieser Nacht gefallen? Verspürte er Stolz, weil er Zeuge des Untergangs geworden war, oder doch Trauer?

In der Dunkelheit neben dem Baum bewegte sich ein Schatten.

Bryne handelte, ohne nachzudenken. Drei Dinge kamen in ihm zusammen: Jahre der Übung im Schwertkampf, ein Leben erworbener Schlachtfeldreflexe und eine neue, vom Bund verstärkte Aufmerksamkeit. Alles kam in einer Bewegung zusammen. Einen Herzschlag später hatte sein Schwert die Scheide verlassen, und er vollzog Der letzte Biss der Schwarzlanze, rammte die Klinge direkt in den Hals einer dunklen Gestalt.

Alle standen wie erstarrt. Siuan sah entsetzt von dem Mann auf, den sie gerade Heilte. Brynes Schwert befand sich direkt über ihrer Schulter und endete im Hals eines seanchanischen Soldaten in schwarzer Rüstung. Lautlos ließ der Mann ein mit hässlichen Sägezähnen versehenes Kurzschwert fallen, dessen Klinge mit einer öligen Flüssigkeit überzogen war. Mit zuckenden Fingern griff er nach Brynes Schwert, als wollte er es herausziehen. Einen Augenblick lang packte er Brynes Arm.

Dann rutschte der Mann rückwärts von Brynes Klinge und sackte zu Boden. Er bäumte sich einmal auf und flüsterte etwas, das trotz des Blubberns in seinem blutenden Hals deutlich zu verstehen war. »Marath … damane …«

»Soll das Licht mich doch verbrennen!«, keuchte Siuan und hob eine Hand an die Brust. »Was war das?«

»Er ist nicht wie die anderen gekleidet«, sagte Bryne und schüttelte den Kopf. »Seine Rüstung ist anders. Irgendeine Art von Meuchelmörder.«

»Beim Licht«, sagte Siuan. »Ich habe ihn nicht einmal gesehen! Er schien beinahe ein Teil der Dunkelheit selbst zu sein!«

Meuchelmörder. Sie schienen immer gleich auszusehen, ganz egal, welcher Kultur sie angehörten. Bryne schob das Schwert zurück in die Scheide. Das war das erste Mal, dass er Der Letzte Biss der Schwarzlanze im Kampf benutzt hatte. Es war eine einfache Figur, die nur für eines gedacht war: Schnelligkeit. Die Klinge ziehen und in den Hals stechen, und das alles in einer flüssigen Bewegung. Verfehlte man, starb man für gewöhnlich.

»Ihr habt mir das Leben gerettet«, sagte Siuan und schaute zu Bryne hoch. Ihr Gesicht lag größtenteils im Schatten verborgen. »Beim Meer der Mitternacht«, sagte sie, »das verfluchte Mädchen hat recht behalten.«

»Wer?«, fragte Bryne und suchte die Dunkelheit misstrauisch nach weiteren Attentätern ab. Er winkte, und seine Männer öffneten ihre Laternen verlegen ein Stück weiter. Der Angriff war so schnell erfolgt, dass sie sich kaum gerührt hatten. Hätte Bryne nicht über die Schnelligkeit des Behüterbundes verfügt…

»Min«, sagte Siuan müde. Das Heilen schien sie eine Menge Kraft gekostet zu haben. »Sie sagte, ich müsste in Eurer Nähe bleiben.« Sie hielt inne. »Wärt Ihr nicht heute Nacht mitgekommen, wäre ich gestorben.«

»Nun«, sagte Bryne. »Ich bin Euer Behüter. Ich vermute einmal, das wird nicht das einzige Mal bleiben, dass ich Euch rette.« Warum war es plötzlich so warm geworden?

»Ja«, sagte Siuan und stand auf. »Aber dieses Mal ist es anders. Min sagte, dass ich sterbe und … Nein, wartet. So hat Min das nicht ausgedrückt. Sie sagte, dass, sollte ich nicht in Eurer Nähe bleiben, wir beide sterben werden.«

»Was meint Ihr …«, sagte Bryne und wandte sich ihr zu.

» Pst!«, machte Siuan und legte die Hände um seinen Kopf. Er verspürte ein seltsames Kribbeln. Wandte sie die Macht bei ihm an? Was geschah denn hier? Dann erkannte er das Gefühl - wie Eis in seinen Adern! Sie Heilte ihn. Aber warum? Er war nicht verwundet.

Siuan ließ ihn los, dann schwankte sie plötzlich und sah tief erschöpft aus. Er packte sie und hielt sie fest, aber sie schüttelte den Kopf und richtete sich wieder auf. »Hier«, sagte sie, ergriff seinen Schwertarm und drehte ihn um, bis sein Handgelenk zu sehen war. Dort steckte eine winzige schwarze Nadel in der Haut. Sie riss sie heraus. Bryne verspürte ein Frösteln, das nichts mit dem Heilen zu tun hatte.

»Gift?«, fragte er mit einem Blick auf den Toten. »Als er nach meinem Arm griff, war das kein normaler Todeskrampf.«

»Vermutlich war da ein Betäubungsmittel dabei«, murmelte Siuan und ließ sich von ihm dabei helfen, sich auf den Boden zu setzen. Sie warf die Nadel weg, und plötzlich explodierte sie in einer Flamme. Das Gift löste sich in der Hitze ihrer gelenkten Macht auf.

Bryne fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Seine Stirn war schweißbedeckt. » Habt Ihr es … Geheilt?«

Siuan nickte. »Es war überraschend einfach; es war nur wenig in Eurem Körper. Aber es hätte Euch trotzdem getötet. Wenn Ihr Min das nächste Mal seht, solltet Ihr ihr danken. Sie hat gerade uns beiden das Leben gerettet.«

»Aber wäre ich nicht mitgekommen, wäre ich nicht vergiftet worden!«

»Versucht nicht, einer Vorhersage oder Sicht mit Logik zu begegnen«, sagte Siuan mit einer Grimasse. »Ihr lebt, ich lebe. Ich schlage vor, wir belassen es dabei. Geht es Euch gut genug, um weitermachen zu können?«

»Spielt das eine Rolle?«, fragte Bryne. »Ich lasse Euch bestimmt nicht allein weitergehen.«

»Dann los.« Siuan holte tief Luft und kämpfte sich auf die Füße. Diese Pause war bei weitem nicht lange genug gewesen, aber er sprach sie nicht darauf an. »Eure drei Soldaten überleben die Nacht. Ich habe für sie getan, was ich konnte.«

Egwene saß erschöpft auf einem Schutthaufen und starrte aus dem Loch in der Weißen Burg, betrachtete die in der Tiefe brennenden Feuer. Dort bewegten sich Gestalten, und ein Feuer nach dem anderen erlosch. Wer auch immer die Gegenwehr organisiert hatte, war geistesgegenwärtig genug, um zu erkennen, dass die Brände sich als genauso gefährlich wie die Seanchaner erweisen konnten. Aber ein paar Schwestern, die Luft oder Wasser webten, konnten die Flammen schnell ersticken und die Weiße Burg erhalten. Zumindest das, was noch davon übrig war.

Egwene schloss die Augen und lehnte sich zurück, stützte sich gegen die Überreste einer Wand, spürte eine frische Brise auf der Haut. Die Seanchaner waren weg, die letzten To’raken verschwanden in der Nacht. In diesem Augenblick, als Egwene sie flüchten sah, erkannte sie, wie sehr sie und die armen Novizinnen, durch die sie die Macht gezogen hatte, sich verausgabt hatten. Sie ließ sie gehen mit dem Befehl, sich sofort schlafen zu legen. Die anderen Frauen, die sie um sich geschart hatte, kümmerten sich um die Verwundeten oder die Brände auf den oberen Ebenen.

Egwene wollte helfen. Zumindest ein Teil von ihr. Ein Funken. Aber beim Licht, wie müde sie war! Sie konnte nicht einmal mehr ein Rinnsaal der Macht lenken, nicht einmal mithilfe des Sa’angreals. Sie war an die Grenzen dessen gegangen, was ihr möglich war. Aber jetzt war sie so ausgelaugt, dass sie nicht mehr dazu fähig sein würde, die Quelle zu umarmen.

Sie hatte gekämpft. Sie war wunderbar und zerstörerisch gewesen, die Amyrlin der Vergeltung und des Zorns, eine Grüne Ajah bis ins Mark. Und trotzdem stand die Burg in Flammen. Und trotzdem waren mehr To’raken entkommen als vernichtet worden. Wenigstens war unter denen, die sie um sich geschart hatte, die Zahl der Verwundeten ermutigend gering. Nur drei Novizinnen und eine Aes Sedai getötet, während sie zehn Damane eingesammelt und Dutzende Soldaten getötet hatten. Aber was war mit den anderen Etagen? In dieser Schlacht würde die Weiße Burg nicht vorn liegen.

Die Weiße Burg war gebrochen, jetzt auch in der Substanz wie an Geist. Für den Wiederaufbau würde sie eine starke Anführerin brauchen. Die nächsten Tage würden von entscheidender Bedeutung sein. Der Gedanke an die Arbeit, die sie leisten musste, war mehr als erschöpfend.

Sie hatte viele beschützt. Sie hatte Widerstand geleistet und gekämpft. Aber dieser Tag würde trotzdem als eine der größten Katastrophen in der Geschichte der Aes Sedai eingehen.

Daran darf ich jetzt nicht denken, sagte sie sich. Ich muss mich auf das konzentrieren, was zu tun ist, um die Dinge zu reparieren …

Gleich würde sie aufstehen. Sie würde die Novizinnen und Aes Sedai anführen, während sie aufräumten und die Schäden einschätzten. Sie würde stark und fähig sein. Die anderen würden in Versuchung sein, sich der Verzweiflung hinzugeben, und sie musste ein leuchtendes Vorbild sein. Für sie.

Aber ein paar Minuten konnte sie sich gönnen. Sie brauchte nur noch eine kurze Ruhepause …

Kaum bekam sie mit, dass sie jemand aufhob. Mühsam schlug sie die Augen auf und war trotz ihres betäubten Verstandes erstaunt, von Gawyn Trakand getragen zu werden. Seine Stirn war mit getrocknetem Blut verschmiert, aber seine Miene war entschlossen. »Ich habe dich, Egwene«, sagte er und schaute auf sie herunter. »Ich beschütze dich.«

Oh, dachte sie und schloss wieder die Augen. Schön. So ein angenehmer Traum. Sie lächelte.

Moment. Nein. Das war nicht richtig. Sie sollte die Burg doch nicht verlassen. Sie wollte protestieren, konnte aber nicht einmal mehr richtig murmeln.

»Fischscheiße«, hörte sie Siuan Sanche sagen. »Was haben sie ihr angetan?«

»Ist sie verletzt?« Eine andere Stimme. Gareth Bryne.

Nein, dachte Egwene benommen. Nein, ihr müsst mich loslassen. Ich kann nicht gehen. Nicht jetzt…

»Sie haben sie einfach hier zurückgelassen, Siuan«, sagte Gawyn. Es war so schön, seine Stimme zu hören. »Schutzlos in einem Korridor! Jeder hätte sich an sie heranmachen können. Was, wenn die Seanchaner sie entdeckt hätten?«

Ich habe sie vernichtet, dachte sie mit einem Lächeln, und die Gedanken entglitten ihr. Ich war eine flammenerfüllte Kriegerin, eine vom Horn gerufene Heldin. Sie werden nicht wagen, mir noch einmal gegenüberzutreten. Um ein Haar wäre sie eingeschlafen, aber Gawyns Schritte hielten sie wach. So gerade eben.

»Ha!« Undeutlich vernahm sie Siuans Stimme. »Was ist das? Beim Licht, Egwene! Wo habt Ihr das denn her? Das ist das Mächtigste in der ganzen Burg!«

»Was ist es, Siuan?«, fragte Brynes Stimme.

»Unser Weg nach draußen«, sagte Siuan undeutlich. Egwene spürte etwas. Macht wurde gelenkt. Viel Macht. »Ihr habt mich gebeten, Euch und Eure Männer auf dem Hof hinten rauszuschmuggeln? Nun, hiermit bin ich stark genug zum Reisen. Sammeln wir die Soldaten an den Booten ein und kehren zurück ins Lager.«

Nein!, dachte Egwene und krallte sich einen Weg durch ihre Müdigkeit, zwang die Augen auf. Ich gewinne, begreift ihr das denn nicht? Wenn ich mich jetzt als Anführerin zur Verfügung stelle, wo man die Trümmer wegräumt, werden sie mich bestimmt als Amyrlin akzeptieren! Ich muss hier bleiben! Ich muss …

Gawyn trug sie durch das Wegetor und ließ die Gänge der Weißen Burg hinter sich zurück.


Schließlich gestattete sich Saerin, sich hinzusetzen. Der Versammlungssaal, der ihr Kommandoposten geworden war, war ebenfalls ein Raum für das Heilen der Verwundeten geworden. Gelbe und Braune Schwestern schritten die Reihen der Soldaten, Diener und anderen Schwestern ab und konzentrierten sich auf die schlimmsten Fälle zuerst. Es gab eine erschreckende Zahl an Toten, einschließlich bislang zwanzig Aes Sedai. Aber die Seanchaner waren abgezogen, genau wie Saerin es vorhergesagt hatte. Dafür musste man dem Licht danken.

Saerin selbst saß auf einem Hocker in der nordwestlichsten Ecke des Raumes unter einem schönen Gemälde von Tear im Frühling und nahm Berichte entgegen. Die Verwundeten stöhnten, und der ganze Raum roch nach Blut und Heiltalles, das man bei den Wunden benutzte, die kein sofortiges Heilen erforderten. Außerdem roch es nach Rauch. Der war in dieser Nacht allgegenwärtig. Immer mehr Soldaten kamen und überreichten Berichte über Schäden und Opfer. Saerin wollte sie nicht mehr lesen, aber es war besser, als dem Stöhnen zuhören zu müssen. Wo beim Licht steckte nur Elaida?

Niemand hatte die Amyrlin während der Schlacht gesehen, aber der größte Teil der oberen Turmebenen war von den unteren Ebenen abgeschnitten gewesen. Hoffentlich konnten Amyrlin und Saal bald zusammentreten, um eine starke Führung während der Krise zu demonstrieren.

Saerin nahm den nächsten Bericht entgegen, dann runzelte sie die Stirn, nachdem sie ihn gelesen hatte. Von den über sechzig Novizinnen in Egwenes Gruppe waren nur drei gestorben? Und nur eine Schwester von den mehr als vierzig Aes Sedai, die sie um sich geschart hatte? Zehn seanchanische Machtlenkerinnen gefangen, über dreißig Raken vom Himmel geschossen? Beim Licht! Damit verglichen erschienen ihre Bemühungen regelrecht stümperhaft. Und das war die Frau, von der Elaida auch weiterhin darauf beharrte, dass sie nichts weiter als eine Novizin war?

»Saerin Sedai?«, sagte eine Männerstimme.

»Hm?«, fragte sie gedankenverloren.

»Ihr solltet hören, was diese Aufgenommene zu sagen hat.«

Saerin schaute auf und wurde sich bewusst, dass die Stimme Hauptmann Chubain gehörte. Er hatte die Hand auf die Schulter einer jungen Aufgenommenen aus Arafell mit blauen Augen und rundem Gesicht gelegt. Wie war noch einmal ihr Name? Genau, Mair. Das arme Kind sah mitgenommen aus. Ihr Gesicht wies etliche Schnitte auf sowie Abschürfungen, die sicherlich zu blauen Flecken werden würden. Ihr Aufgenommenengewand war am Ärmel und an der Schulter eingerissen.

»Kind?« Saerin entging nicht Chubains besorgte Miene. Was war los?

»Saerin Sedai«, flüsterte das Mädchen, machte einen Knicks und verzog sofort schmerzlich das Gesicht. »Ich …«

»Heraus damit, Kind«, verlangte Saerin. »Das ist nicht die richtige Nacht, um Dinge in die Länge zu ziehen.«

Mair schaute zu Boden. »Es ist die Amyrlin, Saerin Sedai. Elaida Sedai. Ich diente ihr heute Abend, nahm Diktate für sie auf. Und …«

»Und was?« Saerin verspürte ein stetig wachsendes Frösteln.

Das Mädchen fing an zu weinen. »Die ganze Wand stürzte ein, Saerin Sedai. Die Trümmer begruben mich; ich glaube, man hielt mich für tot. Ich konnte nichts tun! Es tut mir leid!«

Das Licht gebe, dass das nicht wahr ist!, dachte Saerin. Sie kann unmöglich sagen, was ich glaube, dass sie sagt. Oder doch?


Elaida erwachte mit einem sehr seltsamen Gefühl. Warum bewegte sich ihr Bett? Es schlängelte sich, wogte. So rhythmisch. Und dieser Wind! Hatte Carlya das Fenster offen gelassen? Wenn j a, würde die Magd Schläge bekommen. Sie war gewarnt worden. Sie war …

Das war nicht ihr Bett. Elaida öffnete die Augen und schaute auf eine Hunderte von Fuß unter ihr liegende dunkle Landschaft. Sie war auf den Rücken einer seltsamen Bestie gefesselt. Sie konnte sich nicht bewegen. Warum konnte sie sich nicht bewegen? Sie griff nach der Quelle, verspürte aber einen plötzlichen scharfen Schmerz, als peitschten unvermittelt tausend Ruten jeden Zoll ihres Körpers.

Benommen griff sie nach oben und berührte den Kragen um ihren Hals. Neben ihr ritt eine dunkle Gestalt auf dem Sattel; das Gesicht der Frau wurde von keiner Laterne erhellt, aber aus einem unerfindlichen Grund konnte Elaida sie fühlen. Eine undeutliche Erinnerung stieg in ihr auf, wie sie an ein Seil gebunden in der Luft gebaumelt und dabei immer wieder das Bewusstsein verloren hatte. Wann hatte man sie nach oben gezogen? Was geschah hier bloß?

Ein Flüstern kam aus der Nacht. »Ich werde diesen kleinen Fehler verzeihen. Du bist solange eine Marath’damane gewesen, da muss man mit schlechten Angewohnheiten rechnen. Aber ohne Erlaubnis wirst du niemals mehr nach der Quelle greifen. Hast du verstanden?«

»Macht mich sofort los!«, brüllte Elaida.

Der Schmerz kehrte zehnfach zurück, seine Intensität ließ Elaida würgen und sich übergeben. Ihr Mageninhalt sprühte über die Seite der Kreatur und regnete auf den tief unter ihr befindlichen Boden.

»Aber, aber«, sagte die Stimme so geduldig wie eine Frau, die mit einem Kleinkind sprach. »Du musst lernen. Dein Name ist Suffa. Und Suffa wird eine gute Damane sein. Ja, das wird sie. Eine sehr, sehr gute Damane.«

Wieder schrie Elaida auf, und dieses Mal hörte sie nicht auf, als der Schmerz kam. Sie schrie in eine gleichgültige Nacht hinein.

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