8 Saubere Hemden

Hafenmeisterhimmel, so nannte man das. Diese grauen Wolken, die die Sonne launisch und mürrisch verdeckten. Vielleicht hatten die anderen im Lager vor Tar Valon diese hartnäckigen Wolken noch nicht bemerkt, aber Siuan waren sie keinesfalls entgangen. Das wären sie keinem Seemann. Nicht dunkel genug, um einen Sturm zu versprechen, aber auch nicht hell genug für glatte Wogen.

Ein solcher Himmel war mehrdeutig. Man konnte in See stechen und bekam weder einen Tropfen Regen noch den Hauch eines Sturmwinds zu Gesicht. Oder man fand sich ohne große Vorwarnung mitten in einer Sturmböe wieder. Sie war hinterhältig, diese Wolkendecke.

Die meisten Häfen berechneten jedem dort vertäuten Schiff ein Tagesgeld, aber an Sturmtagen, an denen kein Fischer etwas fangen würde, wurde die Gebühr entweder halbiert oder ganz ausgesetzt. Doch an solchen Tagen, an denen es unheilverkündende Wolken, aber keinen Beweis für einen Sturm gab, nahmen die Hafenmeister einen vollen Tagessatz. Und ein Fischer musste sich entscheiden. Blieb er im Hafen und wartete, oder lief er aus, um die Hafengebühr zu verdienen. An den meisten dieser Tage kam kein Sturm. Die meisten dieser Tage waren sicher.

Aber kam es an einem solchen Tag doch zu einem Sturm, dann waren sie oft sehr schlimm. Viele der schrecklichsten Stürme in der Geschichte waren einem Hafenmeisterhimmel entsprungen. Darum hatten manche Fischer auch noch einen anderen Namen für solche Wolken. Sie nannten sie Löwenfischschleier. Und es war schon Tage her, dass der Himmel einen anderen Anblick geboten hatte. Siuan fröstelte und zog ihre Stola enger. Es war ein böses Zeichen.

Sie bezweifelte, dass heute viele Fischer ausgefahren waren.

»Siuan?«, fragte Lelaine ärgerlich. »Beeilt Euch. Und ich will nichts mehr von diesem abergläubischen Unsinn über den Himmel hören. Wirklich nicht.« Die hochgewachsene Aes Sedai ging weiter.

Abergläubisch?, dachte Siuan indigniert. Eintausend Generationen Wissen ist kein Aberglaube. Es ist gesunder Menschenverstand! Aber sie sagte nichts und eilte hinter Lelaine her. Um sie herum machte das Lager mit den Egwene loyalen Aes Sedai mit seinen täglichen Aktivitäten weiter, so verlässlich wie ein Uhrwerk. Wenn es eine Sache gab, in der Aes Sedai gut waren, dann darin, Ordnung zu schaffen. Zelte waren in Gruppen aufgestellt, nach Ajah, als wollte man den Grundriss der Weißen Burg imitieren. Es gab nur wenige Männer, und die meisten von ihnen - Soldaten, die etwas für Gareth Brynes Heer zu erledigen hatten oder Pferdeknechte - beeilten sich mit ihren Pflichten. Sie wurden bei weitem von der Zahl arbeitender Frauen übertroffen, von denen einige so weit gegangen waren, die Flamme von Tar Valon auf Röcke oder Oberteil zu sticken.

Eine der wenigen Absonderlichkeiten an diesem Dorf - wenn man einmal die Tatsache ignorierte, dass es statt Zimmer Zelte und statt gefliester Gänge Bürgersteige aus Holz gab - war die Anzahl an Novizinnen. Es gab Hunderte von ihnen. Tatsächlich musste ihre Zahl mittlerweile die Tausend überschritten haben, viel mehr, als die Burg seit langem aufgenommen hatte. Sobald die Aes Sedai wieder vereint waren, würde man Novizinnenquartiere öffnen müssen, die seit Jahrzehnten versiegelt waren. Vielleicht würde man sogar die zweite Küche brauchen.

Diese Novizinnen eilten in Gruppen sogenannter Familien umher, und die meisten Aes Sedai versuchten sie zu ignorieren. Viele taten es aus Gewohnheit; wer schenkte schon Novizinnen Beachtung? Aber andere taten es aus Unmut. Ihrer Meinung nach sollten Frauen, die alt genug waren, um Mütter und Großmütter zu sein - und tatsächlich waren viele auch schon Mütter und Großmütter - nicht mehr ins Novizinnenbuch eingetragen werden. Aber was sollte man machen? Egwene al'Vere, der Amyrlin-Sitz, hatte es beschlossen.

Siuan konnte bei einigen der vorbeigehenden Aes Sedai noch immer so etwas wie ungläubige Überraschung spüren. Eigentlich hatte man Egwene sorgfältig kontrollieren wollen. Was war nur schiefgegangen? Wann war ihnen die Amyrlin entglitten? Siuan hätte diese Mienen selbstzufriedener genießen können, hätte sie sich nicht solche Sorgen wegen Egwenes Gefangenschaft in der Weißen Burg gemacht. Es war in der Tat ein Löwenfischschleier. Das Potenzial für einen großen Erfolg, aber auch für eine verheerende Katastrophe. Sie eilte hinter Lelaine her.

»Wie ist der Status der Verhandlungen?«, fragte Lelaine, ohne Siuan anzusehen.

Du könntest ja mal selbst zu einer Sitzung gehen und es herausfinden, dachte Siuan. Aber Lelaine wollte als Macherin gesehen werden und nicht als Fußvolk. Und Siuan in aller Öffentlichkeit danach zu fragen war ebenfalls ein kalkulierter Zug. Siuan war als eine von Egwenes Vertrauten bekannt, und in gewisser Weise haftete ihr noch immer ein Hauch von Skandal an, da sie einst selbst die Amyrlin gewesen war. Nicht die Dinge waren wichtig, die sie zu Lelaine sagte, sondern gesehen zu werden, wie sie sie sagte - das verstärkte den Einfluss der Frau im Lager.

»Sie verlaufen nicht gut, Lelaine«, sagte sie. »Elaidas Botschafter versprechen nicht das Mindeste und scheinen jedes Mal beleidigt, wenn wir wichtige Themen anschneiden, so wie die Wiedereinsetzung der Blauen Ajah. Ich bezweifle, dass sie wirklich von Elaida autorisiert wurden, bindende Vereinbarungen zu treffen.«

»Hm«, sagte Lelaine nachdenklich und nickte einer Gruppe Novizinnen zu. Sie machten alle einen Knicks. Gerissenerweise hatte Lelaine angefangen, sich ausgesprochen enthusiastisch über die neuen Novizinnen zu äußern.

Romandas Ablehnung war allgemein bekannt; jetzt, da Egwene weg war, ließ sie immer wieder durchblicken, dass man sich nach der Versöhnung ganz schnell um diesen »Unsinn« mit den alten Novizinnen kümmern würde. Allerdings erkannten immer mehr Schwestern Egwenes Weisheit. Die neuen Novizinnen brachten große Kräfte mit, und man würde nicht wenige von ihnen in dem Moment, in dem die Weiße Burg wieder vereint war, zu Aufgenommenen erheben. Und so hatte Lelaine kürzlich eine weitere Übereinstimmung mit Egwene erzielt, indem sie anbot, diese Frauen stillschweigend zu akzeptieren.

Siuan musterte die weitergehende Familie. Sie hatten vor Lelaine beinahe genauso schnell und ehrerbietig einen Knicks gemacht, wie sie es vor der Amyrlin getan hätten. Langsam offenbarte sich, dass Lelaine nach Monaten des Patts den Kampf mit Romanda um die Vorherrschaft gewann.

Und das stellte ein gravierendes Problem dar.

Es war nicht so, dass Siuan Lelaine nicht mochte. Die Frau war fähig, hatte einen starken Willen und konnte Entscheidungen treffen. Einst waren sie sogar befreundet gewesen, obwohl sich ihre Beziehung mit Siuans neuer Position drastisch verändert hatte.

Ja, man konnte sagen, dass sie Lelaine mochte. Aber sie vertraute ihr nicht, und vor allen Dingen wollte sie sie nicht als Amyrlin haben. In einer anderen Ära hätte Lelaine dieser Position durchaus Ehre gemacht. Aber diese Welt brauchte Egwene, und Siuan konnte sich nicht leisten, dass diese Frau den Platz der rechtmäßigen Amyrlin übernahm. Egal, ob sie befreundet waren oder nicht. Und sie musste sichergehen, dass Lelaine nichts tat, um Egwenes Rückkehr zu verhindern.

»Nun, wir werden im Saal über diese Verhandlungen diskutieren müssen«, sagte Lelaine. »Die Amyrlin will, dass sie fortgesetzt werden, also können wir sie nicht abbrechen. Aber es muss eine Möglichkeit geben, sie effektiver zu gestalten. Die Wünsche der Amyrlin müssen erfüllt werden, findet Ihr nicht auch?«

»Zweifellos«, sagte Siuan tonlos.

Lelaine musterte sie misstrauisch, und Siuan ärgerte sich, dass sie sich ihre Gefühle hatte anmerken lassen. Lelaine musste glauben, dass sie auf ihrer Seite stand. »Es tut mir leid, Lelaine. Diese Frau macht mich so wütend. Warum lässt Elaida diese Gespräche zu, wenn sie keinen Schritt zurückweicht?«

Lelaine nickte. »Ja. Aber wer weiß schon, warum Elaida etwas tut? Die Berichte der Amyrlin weisen darauf hin, dass Elaidas Führung in der Burg bestenfalls ... unberechenbar ist.«

Siuan nickte stumm. Glücklicherweise schien Lelaine keinen Verdacht zu hegen, dass sie nicht loyal war. Oder es war ihr egal. Es war erstaunlich, für wie harmlos die Frau sie hielt, seit ihre Kräfte so reduziert waren.

Schwach zu sein war eine neue Erfahrung. Von ihren Anfangstagen in der Weißen Burg war Schwestern Siuans Stärke und ihr scharfer Verstand aufgefallen. Bald hatte man getuschelt, dass sie irgendwann die Amyrlin werden würde - manchmal hatte es den Anschein gehabt, dass sie das Muster selbst auf den Stuhl gedrängt hatte. Auch wenn ihr schneller Aufstieg zur Amyrlin trotz ihrer Jugend viele überrascht hatte, konnte sie das von sich selbst nicht behaupten. Nahm man Tintenfisch als Köder, durfte es einen nicht überraschen, wenn man Vipernfische fing. Zum Aalfang benutzte man etwas ganz anderes.

Als sie Geheilt worden war, war die reduzierte Macht eine Enttäuschung gewesen. Aber das änderte sich. Ja, es machte einen wütend, so vielen unterlegen zu sein und von niemandem respektiert zu werden. Aber weil sie schwächer in der Macht war, schienen viele anzunehmen, dass auch ihre politischen Fertigkeiten gelitten hatten! Hatten die Menschen wirklich ein so schlechtes Gedächtnis? Sie fand ihren neuen Status unter den Aes Sedai befreiend.

»Ja«, sagte Lelaine, als sie einer weiteren Gruppe Novizinnen zunickte. »Ich halte die Zeit für gekommen, Botschafter in die Königreiche zu schicken, die al'Thor nicht erobert hat. Wir sitzen zwar nicht in der Weißen Burg, aber das ist kein Grund, unsere politische Führungsrolle in der Welt aufzugeben.«

»Ja, Lelaine«, pflichtete Siuan bei. »Aber glaubt Ihr nicht, dass sich Romanda dagegen aussprechen wird?«

»Warum sollte sie?«, meinte Lelaine abschätzig. »Das ergäbe doch keinen Sinn.«

»Wenig von dem, was Romanda tut, ergibt Sinn«, sagte Siuan. »Ich glaube, sie ist nur anderer Meinung, um Euch zu widersprechen. Aber ich habe gesehen, wie sie Anfang der Woche mit Maralenda plauderte.«

Lelaine runzelte die Stirn. Maralenda war eine entfernte Kusine der Trakands.

Siuan unterdrückte ein Lächeln. Es war schon erstaunlich, wie viel man erreichen konnte, wenn einen die Leute für unbedeutend hielten. Wie viele Frauen hatte sie für unbedeutend gehalten, nur weil sie scheinbar über keine Macht verfügten? Wie oft war sie manipuliert worden, so wie sie jetzt Lelaine manipulierte?

»Ich kümmere mich darum«, sagte Lelaine. Es spielte keine Rolle, was sie entdeckte; solange sie damit beschäftigt war, sich um Romanda zu sorgen, würde sie nicht so viel Zeit damit verbringen können, Egwene die Macht zu stehlen.

Egwene. Die Amyrlin musste sich beeilen und mit ihren Plänen in der Weißen Burg zu einem Ende kommen. Was sollte es bringen, Elaida zu unterminieren, wenn die Aes Sedai draußen zerfielen, weil Egwene sie nicht im Auge behielt? Siuan konnte Romanda und Lelaine nicht mehr lange beschäftigt halten, vor allem jetzt, da Lelaine definitiv im Vorteil war. Beim Licht! An manchen Tagen hatte sie das Gefühl, sie würde versuchen, mit lebenden Hechten zu jonglieren.

Sie sah hinter dem Hafenmeisterhimmel nach dem Sonnenstand. Es war später Nachmittag. »Fischscheiße«, murmelte sie. »Lelaine, ich muss los.«

»Ihr habt wohl Wäsche? Von Eurem rohen General?«

»Er ist kein Rohling«, fauchte Siuan und verfluchte sich dann. Sie würde ihren Vorteil verschenken, wenn sie weiterhin die anfauchte, die sich ihr überlegen fühlten.

Lelaine lächelte; ein Funkeln lag in ihren Augen, als wüsste sie etwas Besonderes. Eine unerträgliche Frau. Freundin oder nicht, Siuan hatte nicht übel Lust, dieses Lächeln ...

Nein. »Ich muss mich entschuldigen, Lelaine«, zwang sie sich zu sagen. »Es macht mich wütend, wenn ich daran denke, was dieser Mann von mir verlangt.«

»Ja«, sagte Lelaine und verzog die Lippen. »Ich habe darüber nachgedacht, Siuan. Die Amyrlin mag ja zugelassen haben, dass Bryne eine Schwester schikaniert, aber ich nicht. Ihr gehört jetzt zu meinem Gefolge.«

Zu deinem Gefolge?, dachte Siuan. Eigentlich sollte ich dich doch bloß bis Egwenes Rückkehr unterstützen.

»Ja«, sagte Lelaine nachdenklich. »Es ist wohl an der Zeit, Eure Knechtschaft bei Bryne zu beenden. Ich werde Eure Schuld auslösen, Siuan.«

»Meine Schuld auslösen?« Siuan verspürte einen Moment der Panik. »Ist das klug? Nicht dass ich etwas dagegen hätte, von diesem Mann befreit zu sein, natürlich nicht, aber meine Position verschafft mir viele nützliche Gelegenheiten, seine Pläne zu belauschen.«

»Er hat Pläne?«, fragte Lelaine stirnrunzelnd.

Siuan zuckte innerlich zusammen. Das Letzte, was sie wollte, war irgendwelche Verfehlungen von Brynes Seite anzudeuten. Beim Licht, der Mann war gewissenhaft genug, um Behüter nachlässig in der Erfüllung ihrer Eide aussehen zu lassen.

Eigentlich hätte sie Lelaine dieser albernen Knechtschaft einfach ein Ende bereiten lassen sollen, aber der Gedanke drehte ihr den Magen um. Bryne war bereits enttäuscht, weil sie vor Monaten ihren Schwur ihm gegenüber gebrochen hatte. Nun ja, wirklich gebrochen hatte sie diesen Schwur ja eigentlich nicht - sie hatte nur den Beginn ihrer Dienstzeit verschoben. Aber sollte mal jemand versuchen, den sturen Narren von dieser Tatsache zu überzeugen!

Wenn sie jetzt den einfachen Ausweg nahm, was würde er dann von ihr denken? Er würde glauben, gewonnen zu haben, dass sie einfach ihr Wort nicht halten konnte. Auf keinen Fall würde sie das zulassen.

Davon abgesehen würde sie sich nicht ausgerechnet von Lelaine befreien lassen. Das würde ihre Schuld einfach nur von Bryne auf Lelaine verlagern. Die Aes Sedai würde sich auf viel subtilere Weise bezahlen lassen, aber jede Münze würde auf die eine oder andere Weise bezahlt werden, und wenn die Währung stillschweigend vorausgesetzte Loyalität war.

»Lelaine«, sagte sie leise, »ich verdächtige den guten General keineswegs. Aber er kontrolliert unsere Armeen. Kann man wirklich darauf vertrauen, dass er unbeaufsichtigt das Nötige tut?«

Lelaine schnaubte. »Ich bin mir nicht sicher, ob man überhaupt einem Mann ohne Anweisungen vertrauen kann.«

»Gewiss, ich hasse es, ihm die Wäsche zu machen«, sagte Siuan. Nun, das stimmte. Selbst wenn das ganze Gold von Tar Valon sie nicht davon abhalten würde, es zu tun. »Aber wenn mich die Pflicht in seiner Nähe hält, mit einem aufmerksamen Ohr ...«

»Ja«, sagte Lelaine und nickte langsam. »Ja, ich sehe ein, dass Ihr recht habt. Euer Opfer werde ich nicht vergessen, Siuan. Also gut, Ihr dürft gehen.«

Lelaine wandte sich ab und schaute auf ihre Hand, als würde sie sich nach etwas sehnen. Vielleicht nach dem Tag, an dem sie - als Amyrlin - ihren Großen Schlangenring zum Kuss hinhalten konnte, wenn sie von einer anderen Schwester Abschied nahm. Beim Licht, Egwene musste bald zurückkehren. Lebende Hechte! Verfluchte lebende Hechte!

Siuan begab sich zum Rand des Aes Sedai-Lagers. Brynes Armee umgab die Aes Sedai in einem großen Kreis, aber sie befand sich auf der anderen Seite des Kreises. Bis zu seinem Kommandoposten war es eine gute halbe Stunde Fußmarsch. Glücklicherweise fand sie einen Kutscher, der durch ein Wegetor gelieferte Vorräte zur Armee transportierte. Der kleine ergraute Mann erklärte sich sofort einverstanden, sie auf den Steckrüben mitfahren zu lassen, obwohl er verwirrt schien, warum sie kein Pferd nahm, wie es ihr als Aes Sedai zustand. Nun, es war nicht so weit, und eine Fahrt auf Gemüse war bedeutend weniger würdelos, als gezwungen zu sein, auf einem Pferderücken durchgeschüttelt zu werden. Falls sich Gareth Bryne über ihre Verspätung beschweren wollte, dann würde er etwas zu hören bekommen, und wie!

Sie lehnte sich gegen einen Sack Steckrüben und ließ die vom braunen Rock verhüllten Beine über den Karrenrand baumeln. Als der Karren eine leichte Anhöhe hinaufrollte, konnte sie das ganze Lager sehen - mit seinen weißen Zelten und der stadtähnlichen Organisation. Vom Heer wurde es mit seinen kleineren Zelten in geraden Reihen umringt, das wiederum von dem wachsenden Ring des Trosses umgeben wurde.

Die Landschaft dahinter war braun; der Schnee schmolz, aber der Frühling wollte kein richtiges Wachstum bringen. Überall war das Land mit dichten Büschen versehen; Schatten in Tälern und sich windende Rauchschwaden aus Kaminen deuteten auf ferne Dörfer hin. Es war überraschend, wie vertraut und willkommen sich dieses grasige Land anfühlte. Als sie die Weiße Burg das erste Mal betreten hatte, war sie fest davon überzeugt gewesen, dieses Binnenland niemals lieben zu können.

Jetzt hatte sie einen größeren Teil ihres Lebens in Tar Valon verbracht als in Tear. Manchmal fiel es schwer, sich noch an das Mädchen zu erinnern, das Netze geflickt hatte und mit seinem Vater früh am Morgen zum Fischfang aufgebrochen war. Sie war etwas anderes geworden, eine Frau, die mit Geheimnissen statt mit Fischen handelte.

Geheimnisse, diese mächtigen dominierenden Geheimnisse. Sie waren ihr Leben geworden. Es hatte keine Liebe gegeben, abgesehen von ein paar jugendlichen Tändeleien. Keine Zeit für Verwirrungen der Gefühle, kaum Raum für Freundschaften. Sie hatte sich allein auf eine Sache konzentriert: finde den Wiedergeborenen Drachen. Hilf ihm, führe ihn und hoffe, dass du ihn kontrollieren kannst.

Moiraine hatte bei diesem Unternehmen den Tod gefunden, aber wenigstens hatte sie zuvor die Welt sehen können. Siuan hingegen war alt geworden - im Geist, vielleicht auch im Körper -, eingesperrt in der Burg, wo sie ihre Strippen zog und die Welt in die richtige Richtung drängte. Sie hatte einige gute Dinge erreicht. Die Zeit würde erweisen, ob diese Bemühungen ausgereicht hatten.

Sie bereute ihr Leben nicht. Aber in diesem Augenblick, in dem sie die Heereszelte passierte und Spurrillen den Karren durchschüttelten und klappern ließen wie trockene Fischgräten in einem Topf, beneidete sie Moiraine. Wie oft hatte sie sich die Mühe gemacht, aus dem Fenster zu sehen und die wunderschöne grüne Landschaft zu betrachten, bevor alles krank geworden war? Sie und Moiraine hatten so verzweifelt darum gekämpft, diese Welt zu retten, aber sie selbst hatten sich nichts mehr bewahrt, das ihnen Freude bereitete.

Vielleicht war es ja ein Fehler gewesen, bei den Blauen zu bleiben, im Gegensatz zu Leane, die ihre Dämpfung und die Heilung zum Anlass genommen hatte, zu der Grünen Ajah zu wechseln. Nein, dachte sie, während der Karren ratterte und nach bitteren Rüben roch. Nein, ich konzentriere mich noch immer darauf, diese verfluchte Welt zu retten. Für sie würde es keinen Wechsel zu den Grünen geben. Obwohl ... wenn sie an Bryne dachte, wünschte sie sich, die Blauen würden in gewissen Dingen mehr den Grünen ähneln.

Siuan die Amyrlin hatte keine Zeit für Beziehungen gehabt, aber was war mit Siuan der Gefolgsfrau? Leute mit unauffälligen Manipulationen zu führen bedurfte wesentlich mehr Kunstfertigkeit, als sie mit der Macht des Amyrlin-Sitzes herumzustoßen, und es war viel erfüllender. Darüber hinaus fehlte dabei die erdrückende Verantwortung, die sie während ihrer Jahre als Anführerin der Weißen Burg verspürt hatte. Gab es in ihrem Leben vielleicht auch noch Platz für ein paar weitere Veränderungen?

Der Karren erreichte das andere Ende des Heerlagers, und sie schüttelte den Kopf über die eigene Dummheit, als sie heruntersprang und dann dem Kutscher dankend zunickte. War sie etwa ein Mädchen, kaum alt genug für die erste ganztägige Fangfahrt? Es war völlig sinnlos, auf diese Weise an Bryne zu denken. Zumindest im Augenblick. Es gab zu viel zu tun.

Siuan ging an der Lagergrenze vorbei, die Zelte zu ihrer Linken. Langsam wurde es dunkel, und Laternen, die kostbarstes Öl verbrannten, beleuchteten kümmerliche Bretterhütten und Zelte zu ihrer Rechten. Voraus auf der Heerseite erhob sich eine kleine, runde Palisade. Sie schloss nicht das ganze Heer ein - tatsächlich war sie nur groß genug für mehrere Dutzend Offizierszelte und einige größere Kommandozelte. Im Notfall sollte sie als Befestigung dienen, sollte aber immer ein Operationszentrum sein - Bryne hielt viel davon, das größere Lager durch eine physische Barriere von dem Ort zu trennen, an dem er sich mit seinen Offizieren besprach. Bei der Unruhe in dem zivilen Lager und einem zu sichernden Umkreis von dieser Länge würde es Spionen sonst zu leicht gemacht, sich seinen Zelten zu nähern.

Die Palisade war erst zu drei Vierteln fertiggestellt, aber die Arbeit ging rasch voran. Vielleicht würde er sich entscheiden, das ganze Heer einzuzäunen, sollte die Belagerung lange genug andauern. Im Augenblick war Bryne der Meinung, dass der kleine befestigte Kommandoposten den Soldaten nicht nur Sicherheit einflößen, sondern ihnen auch Autorität vermittelten würde.

Die acht Fuß hohen Pfähle erhoben sich spitz in den Himmel, eine Reihe von Wächtern, die Seite an Seite standen. Während einer Belagerung hatte man meistens viele Leute für derartige Arbeiten übrig. Die Wächter am Palisadentor wussten, dass sie Siuan passieren lassen sollten, und sie eilte zu Brynes Zelt. Sie hatte Wäsche zu erledigen, aber das meiste davon würde vermutlich bis zum nächsten Morgen warten müssen. Nach Einbruch der Dunkelheit sollte sie Egwene im Tel'aran'rhiod treffen, und der Sonnenuntergang verblasste bereits.

Wie gewöhnlich brannte in Brynes Zelt nur ein kleines Licht. Wo andere Leute ihr Öl verschwendeten, geizte er. Die meisten seiner Männer lebten besser als er. Dieser Narr. Sie betrat das Zelt, ohne sich vorher anzukündigen. Wenn er dumm genug war, sich umzuziehen, ohne vorher hinter die Trennwand zu gehen, dann hatte er Pech gehabt, wenn man ihm dabei zusah.

Er saß an seinem Schreibtisch und arbeitete beim Licht einer einsamen Kerze. Anscheinend las er Späherberichte.

Siuan schnaubte und ließ die Zeltplane hinter sich zufallen. Keine einzige Laterne! Dieser Mann! »Ihr werdet Euch noch die Augen verderben, wenn Ihr bei diesem Licht lest, Gareth Bryne!«

»Den größten Teil meines Lebens habe ich beim Licht einer Kerze gelesen, Siuan«, erwiderte er und drehte ein Blatt um, ohne aufzuschauen. »Und ich muss Euch sagen, dass meine Augen noch genauso gut sind wie als Junge.«

»Ach?«, sagte Siuan. »Dann konntet Ihr also schon damals schlecht sehen?«

Bryne grinste, las aber weiter. Siuan schnaubte vernehmlich, damit er es auch hörte. Dann webte sie eine Lichtkugel und ließ sie über seinem Tisch schweben. Dieser dumme Mann. Sie würde nicht zulassen, dass er so blind wurde, dass er in der Schlacht bei einem Angriff fiel, den er nicht sehen konnte. Nachdem sie das Licht neben seinem Kopf platziert hatte, begab sie sich zu der Wäscheleine, die sie quer durch die Mitte des Zeltes gespannt hatte, und nahm die Wäsche ab. Er hatte sich nicht darüber beschwert, dass sie die Wäsche in seinem Zelt trocknete, und hatte sie auch nicht abgenommen. Das war enttäuschend. Sie hatte damit gerechnet, deswegen von ihm gerügt zu werden.

»Heute ist eine Frau aus dem Lager da draußen auf mich zugekommen«, sagte Bryne, schob den Stuhl ein Stück zur Seite und nahm einen weiteren Blätterstapel. »Sie hat mir einen Waschdienst angeboten. Die Frau organisiert eine Gruppe Wäscherinnen im Lager, und sie hat behauptet, sie könnte meine Wäsche schneller und effizienter als eine einzelne, abgelenkte Dienerin erledigen.«

Siuan erstarrte, dann warf sie einen Seitenblick auf Bryne, der seine Papiere durchsah. Sein energisches Kinn wurde auf der linken Seite von dem gleichmäßigen weißen Licht ihrer Kugel beleuchtet und rechts von dem flackernden orangen Kerzenlicht. Manche Männer schwächte das Alter, andere sahen müde oder ungepflegt aus. Bryne hingegen war distinguiert, wie eine von einem Meisterbildhauer gefertigte Säule, die dann den Elementen überlassen worden war. Das Alter hatte weder seine Leistung noch seine Stärke mindern können. Es hatte ihm einfach Charakter verliehen, seine Schläfen mit Silber bestäubt und Fältchen der Erfahrung in sein Gesicht eingeprägt.

»Und was habt Ihr dieser Frau gesagt?«, wollte sie wissen.

Bryne legte ein Blatt zur Seite. »Ich habe ihr gesagt, dass ich mit meiner Wäsche zufrieden bin.« Er schaute zu ihr hoch. »Ich muss sagen, Siuan, dass ich überrascht bin. Ich hatte immer angenommen, dass eine Aes Sedai nur wenig von dieser Arbeit verstehen würde, aber meine Uniformen wiesen nur selten eine solch perfekte Kombination aus Steifheit und Bequemlichkeit auf. Man muss Euch loben.«

Sie wandte sich von ihm ab und verbarg ihr Erröten. Dieser dumme Mann! Sie hatte Könige dazu gebracht, vor ihr zu knien! Sie hatte die Aes Sedai manipuliert und auf die Erlösung der Menschheit hingearbeitet! Und er machte ihr Komplimente wegen ihrer Arbeit als Wäscherin?

Das Problem war nur, dass es ein ehrliches und bedeutsames Kompliment war, wenn es von ihm kam. Er schaute nicht auf Wäscherinnen herab oder auf Botenjungen. Er behandelte alle gleich. In Gareth Brynes Augen gewann eine Person nicht an Bedeutung, weil sie ein König oder eine Königin war; man gewann an Bedeutung, weil man Versprechen einhielt und seine Pflicht tat. Für ihn war ein Kompliment wegen gut gemachter Wäsche genauso bedeutungsvoll wie ein Orden, den man einem Soldaten verlieh, weil er vor dem Feind nicht zurückgewichen war.

Sie schaute wieder zu ihm hin. Er betrachtete sie noch immer. Dieser Dummkopf! Eilig nahm sie das nächste Hemd ab und machte sich daran, es zusammenzufalten.

»Ihr habt mir nie plausibel erklärt, warum Ihr Euren Eid gebrochen habt«, sagte er dann.

Siuan stockte der Atem; sie schaute auf die Zeltwand, auf die Schatten der noch immer hängenden Wäsche. »Ich war der Meinung, Ihr hättet es verstanden«, sagte sie dann und faltete weiter. »Ich hatte wichtige Informationen für die Aes Sedai in Salidar. Außerdem konnte ich Logain ja wohl schlecht frei herumlaufen lassen, oder? Ich musste ihn finden und nach Salidar schaffen.«

»Das sind Ausreden«, sagte Bryne. »Oh, ich weiß, dass sie alle der Wahrheit entsprechen. Aber Ihr seid eine Aes Sedai. Ihr könnt vier Tatsachen in den Raum stellen und damit die echte Wahrheit so verbergen, wie es ein anderer nur mit Lügen könnte.«

»Wollt Ihr etwa behaupten, ich wäre eine Lügnerin?«, verlangte sie zu wissen.

»Nein«, sagte er. »Nur eine Eidbrecherin.«

Sie riss die Augen auf. Jetzt würde sie ihm aber derart die Meinung sagen, dass ...

Sie zögerte. Er beobachtete sie, in den Schein der beiden Lichtquellen getaucht, mit einem nachdenklichen Ausdruck in den Augen. Reserviert, aber nicht vorwurfsvoll. »Wisst Ihr, diese Frage hat mich hergetrieben«, sagte er. »Darum habe ich Euch so weit gejagt. Darum habe ich mich schließlich den rebellischen Aes Sedai verschworen, obwohl ich keine Lust hatte, mich in einen weiteren Krieg vor Tar Valon verstricken zu lassen. Das tat ich alles nur, weil ich es verstehen musste. Ich musste es wissen. Warum? Warum hat die Frau mit diesen Augen, diesen leidenschaftlichen, unvergesslichen Augen, ihren Eid gebrochen?«

»Ich habe Euch gesagt, dass ich zurückkehren und diesen Eid erfüllen würde«, beharrte Siuan, wandte sich von ihm ab und schlug ein Hemd aus, um es von seinen Falten zu befreien.

»Wieder eine Ausrede«, sagte er leise. »Eine weitere Antwort einer Aes Sedai. Werde ich je die Wahrheit von Euch erfahren, Siuan Sanche? Hat das jemals jemand getan?« Er seufzte, und sie hörte Papier rascheln; der feine Luftzug seiner Bewegungen ließ die Kerze flackern, als er sich wieder seinen Berichten zuwandte.

»Als ich in der Weißen Burg noch Aufgenommene war«, sagte Siuan leise, »war ich eine von vier Personen, die anwesend waren, als eine Vorhersage die unmittelbar bevorstehende Geburt des Wiedergeborenen Drachen an den Hängen des Drachenberges verkündete.«

Das Rascheln verstummte schlagartig.

»Eine dieser Personen«, fuhr Siuan fort, »starb auf der Stelle. Eine andere starb kurz darauf. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie - es war die Amyrlin höchstpersönlich - von der Schwarzen Ajah ermordet wurde. Ja, sie existiert. Solltet Ihr jemanden verraten, dass ich diese Tatsache zugab, werde ich Euch die Zunge herausreißen.

Wie dem auch sei, vor ihrem Tod schickte die Amyrlin Aes Sedai auf die Jagd nach dem Drachen. Diese Frauen verschwanden, eine nach der anderen. Die Schwarzen müssen Tamra gefoltert haben, um ihre Namen zu erfahren, bevor sie sie töteten. Sie würde diese Namen nicht so ohne Weiteres verraten haben. Manchmal fröstelt es mich noch immer, wenn ich daran denke, was sie durchgemacht haben muss.

Bald gab es nur noch uns beide, die Bescheid wussten. Moiraine und mich. Es war nicht vorgesehen, dass wir die Vorhersage hörten. Wir waren bloß Aufgenommene, die sich zufällig in dem Zimmer aufhielten. Ich glaube, Tamra muss es irgendwie geschafft haben, den Schwarzen unsere Namen vorzuenthalten, denn hätte sie das nicht, wären wir zweifellos wie die anderen ermordet worden.

Damit waren wir nur noch zu zweit. Die einzigen Personen auf der ganzen Welt, die wussten, was kommen würde. Wenigstens dienten diese einzigen Personen dem Licht. Und so tat ich, was ich tun musste, Gareth Bryne. Ich widmete mein Leben der Vorbereitung für das Kommen des Drachen. Ich schwor, uns durch die Letzte Schlacht zu bringen. Alles Nötige zu tun, ganz egal, was es auch war, um die Last zu schultern, die man mir auferlegt hatte. Es gab nur eine einzige Person, von der ich wusste, dass ich ihr vertrauen kann, und jetzt ist sie tot.«

Siuan wandte sich um und erwiderte seinen Blick. Ein Windstoß ließ die Wände erbeben und die Kerze flackern, aber Bryne saß still da und betrachtete sie.

»Ihr versteht also, Gareth Bryne«, sagte sie, »dass ich die Erfüllung meines Eides Euch gegenüber verschieben musste, weil es bereits andere Eide gab. Ich habe geschworen, diese Sache bis zum Ende durchzustehen, und der Drache hat noch nicht sein Schicksal am Shayol Ghul erfüllt. Eide müssen ihrer Bedeutung nach erfüllt werden. Als ich den Schwur vor Euch ablegte, da habe ich nicht versprochen, Euch sofort zu dienen. Was diesen Punkt angeht, war ich absichtlich sehr sorgfältig. Ihr werdet es das Wortspiel einer Aes Sedai nennen. Ich würde es anders bezeichnen.«

»Und wie?«

»Alles zu tun, was nötig ist, um Euch, Euer Land und Euer Volk zu beschützen, Gareth Bryne. Ihr macht mich für den Verlust einer Scheune und von ein paar Kühen verantwortlich. Nun, dann schlage ich vor, dass Ihr an den Preis denkt, den Euer Volk bezahlen wird, sollte der Wiedergeborene Drache scheitern. Manchmal muss man einen Preis zahlen, damit eine wichtigere Pflicht erfüllt werden kann. Ein Soldat sollte das verstehen.«

»Ihr hättet mir das sagen sollen«, sagte er und erwiderte noch immer ihren Blick. »Ihr hättet mir erklären sollen, wer Ihr seid.«

»Was denn?«, fragte Siuan. »Hättet Ihr mir geglaubt?«

Er zögerte.

»Davon abgesehen habe ich Euch nicht vertraut«, sagte sie offen. »Unser vorheriges Treffen war nicht besonders ... einvernehmlich, wenn ich mich richtig erinnere. Hätte ich dieses Risiko eingehen sollen, Gareth Bryne, bei einem Mann, den ich nicht kannte? Hätte ich ihm Geheimnisse anvertrauen sollen, die allein mir bekannt sind, Geheimnisse, die man an die neue Amyrlin weitergeben musste? Hätte ich selbst einen Augenblick erübrigen sollen, als man der ganzen Welt die Henkersschlinge umlegte?«

Sie hielt seinem Blick stand, verlangte eine Antwort.

»Nein«, gestand er schließlich ein. »Soll man mich zu Asche verbrennen, Siuan, aber nein. Ihr hättet nicht warten sollen. Ihr hättet diesen Eid überhaupt nicht ablegen sollen!«

»Und Ihr hättet etwas besser zuhören sollen«, sagte sie und brach den Blickkontakt mit einem Schnauben. »Solltet Ihr in der Zukunft jemanden durch einen Eid in Euren Dienst nehmen, dann schlage ich vor, dass Ihr den Zeitrahmen für diesen Dienst sorgfältiger formuliert.«

Bryne grunzte, und Siuan riss das letzte Hemd von der Wäscheleine, schüttelte es und warf einen verschwommenen Schatten auf die Zeltwand.

»Nun«, sagte Bryne, »ich hatte mir ohnehin vorgenommen, Euch nur so lange zur Arbeit zu verpflichten, wie ich brauche, um diese Antwort zu erhalten. Jetzt weiß ich Bescheid. Ich würde sagen, dass ...«

»Halt!«, fauchte Siuan, fuhr auf dem Absatz herum und zeigte mit dem Finger auf ihn.

»Aber ...«

»Sprecht es nicht aus!«, drohte sie. »Ich kneble Euch und lasse Euch bis morgen bei Sonnenuntergang in der Luft hängen. Glaubt nicht, ich würde es nicht tun.«

Bryne saß stumm da.

»Ich bin noch nicht mit Euch fertig, Gareth Bryne.« Sie schlug das Hemd in ihrer Hand aus, faltete es. »Ich werde Euch sagen, wenn ich es bin.«

»Beim Licht, Frau«, murmelte er beinahe unhörbar. »Hätte ich gewusst, dass Ihr eine Aes Sedai seid, bevor ich Euch nach Salidar verfolgte ... hätte ich gewusst, was ich da tue ...«

»Was dann?«, wollte sie wissen. »Hättet Ihr mich nicht gejagt?«

»Natürlich hätte ich das«, sagte er entrüstet. »Nur wäre ich dann vorsichtiger gewesen und vielleicht besser vorbereitet. Ich ging mit einem Hasenmesser auf Wildschweinjagd statt mit einem Speer!«

Siuan legte das zusammengefaltete Hemd auf die anderen, dann hob sie den Stapel auf. Sie sah ihn leidend an. »Ich werde mich bemühen, so zu tun, als hättet Ihr mich nicht gerade mit einem Wildschwein verglichen, Bryne. Seid doch bitte etwas vorsichtiger mit Euren Worten. Andernfalls habt Ihr plötzlich keine Dienerin mehr und müsst diese Frauen aus dem Lager Eure Wäsche machen lassen.«

Er sah sie verwirrt an. Dann lachte er. Sie scheiterte darin, ihr eigenes Grinsen zu unterdrücken. Nun, nach diesem Gespräch würde er wissen, wer in dieser Beziehung die Hosen anhatte.

Aber ... beim Licht! Warum hatte sie ihm das mit der Vorhersage erzählt? Das hatte sie so gut wie niemandem erzählt! Als sie die Hemden in seine Truhe packte, warf sie ihm einen Blick zu. Er schüttelte noch immer kichernd den Kopf.

Wenn andere Eide mich nicht länger binden, dachte sie. Wenn ich sicher bin, dass der Wiedergeborene Drache das tut, was er tun soll, vielleicht wird dann Zeit übrig sein. Ausnahmsweise fange ich tatsächlich an, mich darauf zu freuen, diese Sache hinter mir zu lassen. Wie bemerkenswert.

»Ihr solltet zu Bett gehen, Siuan«, sagte er.

»Es ist noch früh.«

»Ja, aber die Sonne geht unter. An jedem dritten Tag begebt Ihr Euch ungewöhnlich früh zu Bett und tragt dabei diesen seltsamen Ring, den Ihr zwischen den Kissen Eurer Pritsche versteckt habt.« Er wandte sich wieder seinen Papieren zu. »Bitte grüßt die Amyrlin höflich von mir.«

Mit offen stehenden Mund drehte sie sich zu ihm um. Er konnte nicht über Tel'aran'rhiod Bescheid wissen, oder doch? Sie erwischte ihn dabei, wie er zufrieden lächelte. Nun, vielleicht wusste er nichts von Tel'aran'rhiod, aber er war offensichtlich darauf gekommen, dass der Ring und ihr Zeitplan etwas mit der Verständigung mit Egwene zu tun hatte. Schlau. Er betrachtete sie über den Blattrand, als sie vorbeiging, und in seinen Augen lag ein Funkeln.

»Unerträglicher Mann«, murmelte sie, setzte sich auf die Pritsche und ließ ihre Lichtkugel erlöschen. Dann fischte sie verlegen das Ring-Ter'angreal heraus, hängte es sich um den Hals, wandte ihm den Rücken zu und legte sich hin, versuchte gezielt einzuschlafen. Sie sorgte dafür, jeden dritten Tag in aller Frühe aufzustehen, damit sie abends auch müde war. Sie wünschte sich, genauso mühelos einschlafen zu können wie Egwene.

Unerträglicher ... unerträglicher Mann! Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen, um es ihm heimzuzahlen. Mäuse zwischen den Laken. Das wäre nicht schlecht.

So lag sie viel zu lange da, aber schließlich überredete sie sich zum Schlaf, und die Aussicht auf eine angemessene Rache ließ sie leise lächeln. Beim Erwachen im Tel'aran'rhiod trug sie nichts außer einem skandalös kurzen Unterhemd. Mit einem leisen Aufschrei ersetzte sie es sofort mit einem gezielten Gedanken durch ein grünes Kleid. Grün? Warum Grün? Sie machte es blau. Beim Licht! Wieso konnte Egwene die Dinge im Tel'aran'rhiod stets so gut kontrollieren, während sie kaum verhindern konnte, dass sich ihre Kleidung bei jedem müßigen Gedanken veränderte? Es musste etwas mit der Tatsache zu tun haben, dass sie diese minderwertige Ter'angreal-Kopie trug, die nicht so gut wie das Original funktionierte und sie in den Augen anderer substanzlos erscheinen ließ.

Siuan stand in der Mitte des Aes Sedai-Lagers, umgeben von Zelten. Die Eingangsbahnen flatterten ununterbrochen auf und zu. Ein wütender und doch seltsam stummer Sturm erschütterte den Himmel. Seltsam, aber Dinge waren oft seltsam im Tel'aran'rhiod. Sie schloss die Augen und versetzte sich mit reiner Willenskraft in das Arbeitszimmer der Oberin der Novizinnen in der Weißen Burg. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie da. Ein kleiner, holzgetäfelter Raum mit einem stabilen Schreibtisch und einem Tisch für die Prügelstrafe.

Zu gern hätte sie den Originalring gehabt, aber der wurde von den Sitzenden sorgfältig behütet. Für diesen kleinen Fang hätte sie dankbar sein sollen, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Genauso gut hätte sie auch keinen der Ringe haben können. Die Sitzenden glaubten, dass Leane diesen Ring bei ihrer Gefangennahme dabeigehabt hatte.

Ging es Leane gut? Jeden Augenblick konnte die falsche Amyrlin ihre Hinrichtung anordnen. Siuan wusste genau, wie boshaft Elaida sein konnte; noch immer durchfuhr sie ein Stich der Trauer, wenn sie an den armen Alric dachte. Hatte Elaida auch nur einen Funken Schuld verspürt, weil sie einen Behüter kaltblütig ermordet hatte, bevor die Frau, die sie gestürzt hatte, vollständig ihres Amtes enthoben worden war?

»Ein Schwert, Siuan?«, fragte Egwene plötzlich. »Das ist originell.«

Siuan entdeckte schockiert, dass sie ein blutiges Schwert hielt, vermutlich für Elaidas Herz beabsichtigt. Sie ließ es verschwinden, dann musterte sie Egwene. Das Mädchen sah wie eine Amyrlin aus, trug ein prächtiges goldenes Gewand, das braune Haar mit einem aufwendigen Perlengeschmeide geschmückt. Noch war ihr Gesicht nicht alterslos, aber Egwene wurde bereits sehr gut in der ruhigen Gelassenheit einer Aes Sedai. Tatsächlich schien sie darin seit ihrer Gefangennahme sogar beträchtlich besser geworden zu sein.

»Ihr seht gut aus, Mutter«, sagte Siuan.

»Danke«, erwiderte Egwene mit einem schmalen Lächeln. In Siuans Nähe verriet sie mehr über sich als bei anderen. Sie wussten beide, wie sehr sie auf ihren Unterricht angewiesen gewesen war, um so weit zu kommen.

Obwohl sie es vermutlich auch so geschafft hätte, musste Siuan zugeben. Nur nicht so schnell.

Egwene blickte sich in dem Raum um, dann verzog sie leicht das Gesicht. »Ich weiß, ich habe diesen Ort vorgeschlagen, aber in letzter Zeit habe ich genug von diesem Zimmer gesehen. Ich treffe Euch im Speisesaal der Novizinnen.« Sie verschwand.

Eine seltsame Wahl, aber dort würden sich kaum unerwünschte Ohren verbergen. Siuan und Egwene waren nicht die Einzigen, die Tel'aran'rhiod für verstohlene Begegnungen benutzten. Siuan schloss die Augen - eigentlich war das unnötig, aber es schien ihr zu helfen - und stellte sich den Speisesaal der Novizinnen vor, mit seinen Bankreihen und den schmucklosen Wänden. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie da, genau wie Egwene. Die Amyrlin setzte sich, und ein majestätisch gepolsterter Stuhl erschien hinter ihr und fing sie anmutig auf. Siuan fehlte das nötige Selbstvertrauen, etwas so Kompliziertes zu versuchen; sie nahm einfach auf einer der Bänke Platz.

»Ich finde, wir sollten uns öfter treffen, Mutter«, sagte sie und trommelte mit den Fingern auf den Tisch, während sie ihre Gedanken ordnete.

»Ach?«, meinte Egwene und setzte sich etwas aufrechter hin. »Ist etwas geschehen?«

»Sogar vieles, und ich fürchte, einiges davon riecht so streng wie der Fang der letzten Woche.«

»Erzählt.«

»Eine der Verlorenen war in unserem Lager«, sagte Siuan. Darüber hatte sie nicht so oft nachdenken wollen. Das Wissen ließ sie frösteln.

»Gab es Tote?«, erkundigte sich Egwene mit ruhiger Stimme, obwohl ihre Augen aus Stahl zu bestehen schienen.

»Nein, das Licht sei gesegnet! Nur die, von denen Ihr bereits wisst. Romanda hat die Verbindung herausgefunden. Egwene, diese Kreatur lebte einige Zeit verborgen unter uns.«

»Wer war es?«

»Delana Mosalaine«, sagte Siuan. »Oder ihre Dienerin, Halima. Eher Halima, denn ich kenne Delana seit langer Zeit.« Egwenes Augen weiteten sich kaum merklich. Halima hatte Egwene bedient. Egwene war von einer der Verlorenen berührt worden. Sie nahm die Neuigkeit gut auf. Wie eine Amyrlin.

»Aber Anaiya wurde von einem Mann getötet«, sagte Egwene. »Waren diese Morde anders?«

»Nein. Anaiya wurde nicht von einem Mann ermordet, sondern von einer Frau, die Saidin lenkte. Es muss so gewesen sein - nur so ergibt es einen Sinn.«

Egwene nickte langsam. Alles war möglich, wenn der Dunkle König seine Hand im Spiel hatte. Siuan lächelte zufrieden und stolz. Dieses Mädchen lernte, eine Amyrlin zu sein. Beim Licht, sie war die Amyrlin!

»Es gibt noch mehr?«

»Nicht, was dieses Thema angeht. Leider sind sie uns entkommen. An dem Tag verschwunden, an dem wir sie entdeckten.«

»Ich frage mich, was sie wohl gewarnt hat.«

»Nun, das hat mit einem der anderen Dinge zu tun, die ich Euch erzählen muss.« Siuan holte tief Luft. Das Schlimmste war ausgesprochen, aber das Nächste würde nicht einfacher zu verdauen sein. »An diesem Tag gab es eine Zusammenkunft im Saal, an der Delana teilnahm. Bei diesem Treffen verkündete ein Asha'man, er könnte einen Mann im Lager die Macht lenken spüren. Wir glauben, das hat sie alarmiert. Erst nach Delanas Flucht haben wir die Verbindung erkannt. Dieser Asha'man hat uns auch gesagt, dass sein Kamerad einer Frau begegnete, die Saidin lenken konnte.«

»Und warum war ein Asha'man im Lager?«, fragte Egwene kühl.

»Er war ein Gesandter«, erklärte Siuan. »Vom Wiedergeborenen Drachen. Mutter, es hat den Anschein, dass einige der Männer, die al'Thor folgen, Aes Sedai den Behüterbund aufgezwungen haben.«

Egwene blinzelte einmal. »Ja, gerüchtweise habe ich davon gehört. Ich hatte gehofft, dass diese Gerüchte übertrieben wären. Hat dieser Asha'man verraten, wer Rand die Erlaubnis gegeben hat, eine solche Abscheulichkeit zu begehen?«

Siuan verzog das Gesicht. »Er ist der Wiedergeborene Drache. Ich glaube nicht, dass er der Meinung ist, eine Erlaubnis zu brauchen. Aber zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass er anscheinend davon keine Ahnung hatte. Die Frauen, mit denen sich seine Männer verbunden haben, wurden von Elaida ausgesandt, die Schwarze Burg zu vernichten.«

»Ja.« Endlich zeigte Egwene den Hauch eines Gefühls. »Also stimmen die Gerüchte. Stimmen tatsächlich.« Ihr schönes Gewand behielt seine Form, aber die Farbe wandelte sich in ein dunkles Braun, das an die Kleidung der Aiel erinnerte. Egwene schien es nicht zu bemerken. »Hören Elaidas Katastrophen denn niemals auf?«

Siuan schüttelte nur den Kopf. »Man hat uns für die Frauen, mit denen sich al'Thors Männer verbunden haben, siebenundvierzig Asha'man zum Bund angeboten, sozusagen als Entschädigung. Kaum ein gerechter Handel, aber der Saal hat das Angebot trotzdem angenommen.«

»Was auch richtig war. Wir werden uns später mit dem Unsinn des Wiedergeborenen Drachen auseinandersetzen müssen. Vielleicht haben seine Männer ohne seinen direkten Befehl gehandelt, aber Rand muss dafür die Verantwortung übernehmen. Männer - die Frauen den Bund aufzwingen!«

»Sie behaupten, Saidin sei gereinigt«, fuhr Siuan fort.

Egwene hob eine Braue, widersprach aber nicht. »Ja, ich glaube, das könnte eine durchaus vorstellbare Möglichkeit sein. Natürlich werden wir da noch eine zusätzliche Bestätigung brauchen. Aber der Makel kam, als alles gewonnen erschien; warum sollte er nicht verschwinden, wenn anscheinend alles dem reinen Wahnsinn zum Opfer fällt?«

»Auf diese Weise habe ich es noch gar nicht gesehen«, sagte Siuan. »Nun, was sollen wir tun, Mutter?«

»Soll sich der Saal darum kümmern. Anscheinend hat er die Sache im Griff.«

»Er hätte sie besser im Griff, wärt Ihr wieder da, Mutter.«

»Das wird irgendwann geschehen«, sagte Egwene. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Finger auf ihrem Schoß, sah irgendwie viel älter aus, als ihr Gesicht hätte vermuten lassen. »Für den Moment liegt meine Arbeit hier. Ihr werdet dafür sorgen müssen, dass der Saal das tut, was er soll. Ich setze großes Vertrauen in Euch.«

»Und ich weiß es zu schätzen, Mutter«, sagte Siuan und ließ sich ihre Frustrationen nicht anmerken. »Aber ich verliere die Kontrolle über sie. Lelaine hat angefangen, sich als zweite Amyrlin in Position zu bringen - und sie tut es, indem sie vorgibt, Euch zu unterstützen. Ihr ist bewusst geworden, dass es ihr nützt, in Eurem Namen zu handeln.«

Egwene schürzte die Lippen. »Ich hätte gedacht, dass Romanda sich den Vorteil zunutze macht, wenn man bedenkt, dass sie die Verlorene entdeckt hat.«

»Sie ist wohl davon überzeugt, im Vorteil zu sein«, sagte Siuan, »aber sie hat sich zu lange in ihrem Sieg gesonnt. Lelaine ist mit großen Anstrengungen zur hingebungsvollsten Dienerin der Amyrlin geworden, die es je gegeben hat. Wenn man sie sprechen hört, könnte man glauben, ihr beide wärt die engsten Vertrauten gewesen! Sie hat mich zu ihrer Gefolgsfrau gemacht, und bei jeder Zusammenkunft des Saals heißt es nur ›Egwene wollte dies!‹ und ›Erinnert euch an das, was Egwene sagte, als wir das taten‹.«

»Schlau.«

»Sogar brillant.« Siuan seufzte. »Aber wir wussten ja, dass eine von ihnen irgendwann die andere aus dem Weg räumen wird. Ich hetzte sie immer auf Romanda, aber ich weiß nicht, wie lange ich sie noch ablenken kann.«

»Tut Euer Bestes. Aber macht Euch keine Sorgen, wenn sich Lelaine nicht mehr ablenken lässt.«

Siuan runzelte die Stirn. »Aber sie verdrängt Euch von Eurem Platz!«

»Indem sie darauf aufbaut.« Egwene lächelte. Sie bemerkte, dass sich ihr Kleid braun verfärbt hatte und wechselte einen Herzschlag später zum Original zurück, ohne die Unterhaltung zu unterbrechen. »Lelaines Spiel wird nur dann Erfolg haben, wenn ich nicht zurückkehre. Sie benutzt mich als Quelle der Autorität. Bei meiner Rückkehr bleibt ihr gar keine andere Wahl, als meine Führung zu akzeptieren. Ihre ganzen Bemühungen laufen darauf hinaus, mich aufzubauen.«

»Und falls Ihr nicht zurückkehrt, Mutter?«, fragte Siuan leise.

»Dann wird es für die Aes Sedai besser sein, eine starke Anführerin zu haben«, sagte Egwene. »Falls sich Lelaine diese Stärke gesichert hat, dann soll es eben so sein.«

»Wisst Ihr, sie hat gute Gründe, dafür zu sorgen, dass Ihr nicht zurückkehrt«, meinte Siuan. »Bestenfalls wettet sie gegen Euch.«

»Nun, das kann man ihr kaum zum Vorwurf machen.« Egwene erlaubte sich für einen kurzen Moment, eine Grimasse zu schneiden. »Wäre ich draußen, wäre ich auch versucht, gegen mich zu wetten. Ihr müsst einfach mit ihr fertig werden, Siuan. Ich darf mich jetzt nicht ablenken lassen. Nicht, wo ich hier ein so großes Potenzial für den Erfolg sehe, nicht, wo ein Versagen einen so großen Preis kosten würde.«

Siuan kannte diesen sturen Ausdruck. Heute Nacht würde man Egwene nicht überreden können. Sie würde es einfach bei ihrer nächsten Begegnung erneut versuchen müssen.

Das alles - die Säuberung, die Asha'man, der Zerfall der Burg - ließ sie unbehaglich frösteln. Obwohl sie sich den größten Teil ihres Lebens auf diese Tage vorbereitet hatte, erschütterte es sie trotzdem, dass sie schließlich da waren. »Die Letzte Schlacht kommt tatsächlich«, sagte sie, hauptsächlich zu sich selbst.

»Das tut sie«, erwiderte Egwene ernst.

»Und ich muss ihr mit einem Bruchteil meiner früheren Macht entgegentreten.« Siuan verzog das Gesicht.

»Nun, vielleicht können wir Euch ja ein Angreal besorgen, sobald die Burg wieder vereint ist«, meinte Egwene. »Wir werden alles nehmen, was uns zur Verfügung steht, wenn wir gegen den Schatten reiten.«

Siuan lächelte. »Das wäre nett, ist aber nicht nötig. Vermutlich lamentiere ich nur aus Gewohnheit. Tatsächlich lerne ich gerade, mit meiner ... neuen Situation zurechtzukommen. Sie ist gar nicht so schwer zu ertragen, jetzt, da ich einige Vorteile darin entdeckt habe.«

Egwene runzelte die Stirn, als versuchte sie sich vorzustellen, welche Vorteile verringerte Macht haben könnte. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Elayne hat mir gegenüber einmal einen Raum in der Burg erwähnt, der mit Artefakten der Macht gefüllt ist. Ich nehme an, es gibt ihn wirklich?«

»Natürlich«, sagte Siuan. »Der Kellerlagerraum. Auf der zweiten Kelleretage, auf der nordöstlichen Seite. Ein kleiner Raum mit einer einfachen Holztür, aber Ihr könnt ihn nicht verfehlen. Er ist auf dem Gang der einzige, der verschlossen ist.«

Egwene nickte nachdenklich. »Nun, ich kann Elaida nicht mit roher Gewalt besiegen. Aber das ist gut zu wissen. Gibt es noch weitere bemerkenswerte Dinge zu berichten?«

»Im Augenblick nicht, Mutter«, sagte Siuan.

»Dann kehrt zurück und schlaft etwas.« Egwene zögerte. »Und das nächste Mal treffen wir uns in zwei Tagen. Hier im Speisesaal, obwohl wir uns vielleicht besser in der Stadt treffen sollten. Diesem Ort vertraue ich nicht. Wenn es eine Verlorene in unserem Lager gab, verwette ich die halbe Schenke meines Vaters, dass auch eine in der Weißen Burg spioniert.«

Siuan nickte. »Gut.« Sie schloss die Augen und erwachte gleich darauf blinzelnd in Brynes Zelt. Die Kerze war erloschen, und sie konnte Bryne auf seiner Pritsche auf der anderen Zeltseite leise atmen hören. Sie setzte sich auf und sah zu ihm hinüber, obwohl es viel zu dunkel war, um mehr als Schatten zu erkennen. Nach dem Gespräch über Verlorene und Asha'man beruhigte sie die Anwesenheit des standhaften Generals seltsamerweise.

Gibt es noch weitere bemerkenswerte Dinge zu berichten, Egwene?, dachte sie träge und stand auf, um ihr Kleid hinter dem Wandschirm gegen ihr Nachthemd auszutauschen. Ich glaube, ich könnte mich verliebt haben. Ist das bemerkenswert genug? Ihr erschien das seltsamer, als dass man den Makel entfernt hatte oder dass eine Frau Saidin lenkte.

Kopfschüttelnd schob sie das Traum-Ter'angreal zurück in sein Versteck, dann schlüpfte sie wieder unter die Decke.

Auf die Mäuse würde sie verzichten. Zumindest dieses eine Mal.

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