»Ein Sturm zieht auf«, sagte Nynaeve und schaute aus dem Fenster des Herrenhauses.
»Ja«, erwiderte Daigian von ihrem Stuhl am Kamin, ohne auch nur einen Blick aus dem Fenster zu werfen. »Da könntet Ihr recht haben, meine Liebe. Ich schwöre, es hat den Anschein, als wäre es schon seit Wochen bewölkt!«
»Es ist nur eine Woche«, sagte Nynaeve und hielt ihren langen dunklen Zopf mit einer Hand. Sie starrte die Frau an. »Seit über zehn Tagen habe ich keinen Flecken klaren Himmel mehr gesehen.«
Daigian runzelte die Stirn. Die Weiße Ajah war rundlich und üppig gebaut. Wie Moiraine vor langer Zeit trug sie einen kleinen Edelstein auf der Stirn, obwohl es bei ihr passenderweise ein weißer Mondstein war. Anscheinend hatte diese Tradition etwas damit zu tun, eine Adelige aus Cairhien zu sein, genau wie die vier farbigen Schlitze, die die Frau an ihrem Kleid trug.
»Zehn Tage, sagt Ihr?«, meinte Daigian. »Seid Ihr sicher?«
Nynaeve war sich sicher. Sie achtete auf das Wetter, das war eine der Pflichten der Dorfseherin. Jetzt war sie Aes Sedai, aber das bedeutete nicht, dass sie aufhörte, das zu sein, was sie war. In ihrem Hinterkopf war das Wetter stets präsent. Das Flüstern des Windes verriet ihr Regen, Sonne oder Schnee.
Aber in letzter Zeit hatte dieses Gefühl keine Ähnlichkeit mehr mit einem Flüstern. Es glich eher fernen Rufen, die lauter wurden. Oder wie Wellen, die noch immer weit im Norden gegeneinander schlugen, aber immer schwerer zu ignorieren waren.
»Nun«, sagte Daigian, »das ist doch bestimmt nicht das erste Mal in der Geschichte, an der es zehn Tage lang bewölkt war!«
Nynaeve schüttelte den Kopf und zog an ihrem Zopf. »Es ist nicht normal«, sagte sie. »Und der bewölkte Himmel ist nicht der Sturm, von dem ich spreche. Er liegt noch in der Ferne, aber er kommt näher. Und er wird schrecklich sein. Schrecklicher als alle, die ich je erlebt habe. Viel schrecklicher.«
»Nun, dann werden wir uns mit ihm befassen, wenn er da ist«, erwiderte Daigian, klang aber etwas unbehaglich. »Setzt Ihr Euch wieder, damit wir fortfahren können?«
Nynaeve sah die mollige Aes Sedai an. Daigian war ausgesprochen schwach in der Macht. Möglicherweise sogar die schwächste Aes Sedai, der sie je begegnet war. Und damit hätte Nynaeve die Führung übernehmen können, wenn man den traditionellen - wenn auch unausgesprochenen - Regeln folgte.
Unglücklicherweise war ihre Position noch immer fragwürdig. Egwene hatte sie per Dekret zur Stola erhoben, genau wie sie es bei Elayne gemacht hatte. Es hatte keine Prüfung gegeben, und sie hatte auch nicht auf den Eidstab geschworen. Für die Allgemeinheit machte sie das zu keiner richtigen Aes Sedai - das galt sogar für diejenigen, die Egwene als die wahre Amyrlin akzeptierten. Sie war keine Aufgenommene mehr, aber auch keine gleichwertige Schwester.
Die Schwestern in Cadsuanes Gefolge waren darin besonders schlimm, da sie sich öffentlich weder für die Weiße Burg noch für die Rebellen ausgesprochen hatten. Und die Rand verschworenen Schwestern waren noch schlimmer; die meisten standen noch immer treu zur Weißen Burg und fanden nichts dabei, sowohl Elaida wie auch Rand zu unterstützen. Nynaeve fragte sich immer noch, was sich Rand wohl dabei gedacht hatte, Schwestern einen Treueid ablegen zu lassen. Diesen Fehler hatte sie ihm bereits bei mehreren Gelegenheiten genau erklärt, sogar ziemlich rational, aber sich mit Rand zu unterhalten war im Moment so, als würde man mit einem Stein sprechen. Nur weniger effektiv und wesentlich nervenaufreibender.
Daigian wartete noch immer darauf, dass sie sich setzte. Sie tat es, statt einen Kampf der Willenskräfte zu provozieren. Daigian litt noch immer unter dem Verlust ihres Behüters Eben, einem Asha'man, der beim Kampf mit den Verlorenen gefallen war. Nynaeve hatte diesen Kampf in völliger Konzentration versunken damit verbracht, Rand mit gewaltigen Mengen an Saidar zu versorgen, das er dann verweben konnte.
Noch immer konnte sie die Eindrücke nicht vergessen, die das Sammeln von so viel Macht hinterlassen hatte: die überbewältigende Freude, die Ehrfurcht gebietende Euphorie, die Kraft und das Gefühl von schierem Leben. Es hatte ihr Angst eingejagt. Sie war froh, dass das Ter'angreal, mit dessen Hilfe sie diese Macht berührt hatte, zerstört worden war.
Aber das männliche Ter'angreal war noch immer intakt: der Zugangsschlüssel zu einem mächtigen Sa'angreal. Soweit sie wusste, hatte Rand Cadsuane nicht dazu überreden können, es ihm zurückzugeben. Und das war auch genau richtig so. Kein Mensch, nicht einmal der Wiedergeborene Drache, sollte so viel von der Einen Macht lenken können. Die Dinge, die man versucht sein könnte zu tun ...
Sie hatte Rand gesagt, er müsse den Zugangsschlüssel einfach vergessen. Als würde man mit einem Stein reden. Einem großen, rothaarigen, eisengesichtigen Wollkopf von einem Stein. Sie räusperte sich. Das veranlasste Daigian, eine Braue zu heben. Die Frau war recht gut darin, ihre Trauer zu kontrollieren, obwohl Nynaeve - deren Zimmer genau neben Daigians lag - sie jede Nacht leise weinen hörte. Es war nicht leicht, seinen Behüter zu verlieren.
Lan ...
Nein, es war besser, im Moment nicht an ihn zu denken. Lan würde es gut gehen. Nur am Ende seiner Reise der Tausenden von Meilen würde er in Gefahr sein. Erst dann würde er sich auf den Schatten werfen wie ein einsamer Pfeil, den man gegen eine Mauer schoss ...
Nein!, rief sie sich zur Ordnung. Er wird nicht allein sein. Dafür habe ich gesorgt.
»Also gut«, sagte sie und zwang sich zur Konzentration. »Lasst uns fortfahren.« Hier ging es nicht darum, sich Daigian unterzuordnen. Sie tat der Frau nur einen Gefallen, lenkte sie von ihrer Trauer ab. So hatte es zumindest Corele erklärt. Auf keinen Fall hatte sie etwas von diesem Treffen. Sie musste nichts beweisen. Sie war eine Aes Sedai, ganz egal, was die anderen dachten oder andeuteten.
Das war alles nur ein Vorwand, um Daigian zu helfen. Das war es. Nichts weiter.
»Hier ist das einundachtzigste Gewebe«, sagte die Weiße. Der Schein Saidars hüllte sie ein, und sie lenkte die Macht, erschuf ein sehr kompliziertes Gewebe aus Feuer, Luft und Geist. Kompliziert, aber nutzlos. Das Gewebe erschuf drei brennende Feuerkreise in der Luft, die mit einem unnatürlichen Licht glühten, aber welchen Sinn hatte das? Nynaeve wusste bereits, wie man Feuerbälle und Leuchtkugeln herstellte; warum Zeit mit dem Erlernen von Geweben verschwenden, die lediglich wiederholten, was sie bereits wusste, nur auf viel kompliziertere Art und Weise? Und warum hatte jeder Ring eine etwas andere Färbung?
Nynaeve schwenkte gleichgültig die Hand und wiederholte das Gewebe exakt. »Ehrlich«, meinte sie dann, »das scheint das Sinnloseste von dem ganzen Haufen zu sein! Was für einen Zweck sollen es denn erfüllen?«
Daigian schürzte die Lippen. Sie sagte nichts, aber Nynaeve wusste ganz genau, dass sie der Ansicht war, dass das ihrer Schülerin alles viel schwerer hätte fallen müssen. Schließlich sagte sie: »Man darf Euch nicht viel über die Prüfung verraten. Ich kann nur sagen, dass Ihr diese Gewebe exakt wiederholen müsst, und zwar unter extremen Ablenkungen. Ihr werdet es verstehen, wenn der Augenblick gekommen ist.«
»Das bezweifle ich«, sagte Nynaeve tonlos und kopierte das Gewebe weitere drei Male, während sie sprach. »Weil, wie ich Euch bereits schon ein Dutzend Mal gesagt habe, ich die Prüfung wohl nicht machen werde. Ich bin bereits eine Aes Sedai.«
»Aber natürlich seid Ihr das, meine Liebe.«
Nynaeve drückte die Lippen zusammen. Das war keine gute Idee gewesen. Als sie Corele darauf angesprochen hatte - angeblich war sie Mitglied derselben Ajah wie Nynaeve -, hatte sich die Frau schlichtweg geweigert, sie als Gleichgestellte anzuerkennen. Sie war sehr höflich gewesen, wie es meistens Coreles Art war, aber die Bedeutung war klar gewesen. Sie war mitfühlend erschienen. Mitfühlend! Als würde Nynaeve ihr Mitgefühl brauchen. Corele war der Ansicht gewesen, dass es Nynaeves Glaubwürdigkeit stärken würde, wenn sie die einhundert Gewebe kannte, die jede Aufgenommene für die Prüfung zur Aes Sedai lernen musste.
Dummerweise brachte das Nynaeve in eine Situation, in der sie im Grunde wieder wie eine Schülerin behandelt wurde. Sie sah ja ein, warum es von Nutzen war, die einhundert Gewebe zu kennen - sie hatte viel zu wenig Zeit gehabt, sie zu studieren, und buchstäblich jede Schwester kannte sie. Aber indem sie sich mit dem Unterricht einverstanden erklärte, hatte sie nicht andeuten wollen, dass sie sich selbst als Schülerin sah!
Sie griff nach ihrem Zopf und bremste sich. Die Art und Weise, wie sie ihre Gefühle sichtlich zum Ausdruck brachte, trug ebenfalls dazu bei, wie sie von den anderen Aes Sedai behandelt wurde. Hätte sie doch nur dieses alterslose Gesicht! Pah!
Daigians nächstes Gewebe verursachte ein lautes Ploppen in der Luft, und wieder war es unnötig kompliziert. Nynaeve kopierte es, ohne groß darüber nachzudenken, und vertraute es zugleich ihrer Erinnerung an.
Daigian starrte das Gewebe einen Augenblick lang an, einen nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht.
»Was?«, fragte Nynaeve gereizt.
»Hm? Oh, nichts. Ich ... es ist nur ... als ich dieses Gewebe das letzte Mal erschuf, benutzte ich es, um ... ich ... egal.«
Eben. Ihr Behüter war jung gewesen, fünfzehn oder sechzehn, und sie hatte ihn sehr gemocht. Eben und Daigian hatten Spiele gespielt, wie ein Junge und seine ältere Schwester und weniger wie Aes Sedai und Behüter.
Ein Junge, der gerade mal sechzehn war, dachte Nynaeve, tot. Muss Rand sie denn so jung rekrutieren?
Daigians Miene erstarrte, sie konnte ihre Gefühle viel besser verbergen, als Nynaeve das je geschafft hätte.
Möge das Licht dafür sorgen, dass ich nie in die gleiche Situation gerate, dachte sie. Jedenfalls nicht für viele, viele Jahre. Noch war Lan nicht ihr Behüter, aber sie wollte ihn so schnell wie möglich dazu machen. Schließlich war er schon ihr Ehemann. Es ärgerte sie noch immer, dass Myrelle den Bund übernommen hatte.
»Ich könnte vielleicht helfen, Daigian«, sagte sie, beugte sich vor und legte der Frau die Hand aufs Knie. »Wenn ich vielleicht eine Heilung versuche ...«
»Nein«, sagte Daigian kurz angebunden.
»Aber ...«
»Ich bezweifle, dass Ihr helfen könnt.«
»Alles kann Geheilt werden«, beharrte Nynaeve stur, »selbst wenn wir noch nicht wissen, wie es geht. Alles bis auf den Tod.«
»Und was würdet Ihr tun, meine Liebe?«
Nynaeve fragte sich, ob sie sie absichtlich nicht mit dem Namen anredete, oder ob das ein unbewusster Nebeneffekt ihrer Beziehung war. »Kind« konnte sie nicht sagen, wie sie es bei einer richtigen Aufgenommenen getan hätte, sie aber Nynaeve zu nennen hätte möglicherweise Gleichheit impliziert.
»Ich könnte etwas tun«, sagte sie. »Was Euch dort quält, das muss eine Wirkung des Bundes sein, also hat es etwas mit der Einen Macht zu tun. Wenn die Macht Euch Schmerzen bereitet, kann die Macht den Schmerz auch wieder nehmen.«
»Und warum sollte ich das wollen?«, fragte Daigian, nun wieder völlig beherrscht.
»Nun ... nun, weil es Schmerzen sind. Es tut weh.«
»Das sollte es auch«, sagte Daigian. »Eben ist tot. Würdet Ihr Euren Schmerz vergessen wollen, wenn Ihr Euren Hünen verlieren solltet? Eure Gefühle für ihn wegschneiden lassen wie ein verdorbenes Stück Fleisch in einem ansonsten einwandfreien Braten?«
Nynaeve öffnete den Mund, hielt dann aber inne. Würde sie? Das war nicht so einfach - ihre Gefühle für Lan waren echt und wurden nicht durch einen Behüterbund verursacht. Er war ihr Ehemann, und sie liebte ihn. Daigian war sehr besitzergreifend gewesen, was ihren Behüter anging, aber es war die Zuneigung einer Tante für ihren Lieblingsneffen gewesen. Es war nicht das Gleiche.
Aber würde sie wollen, dass man ihr diesen Schmerz nahm? Sie machte den Mund wieder zu, als sie die Ehre in Daigians Worten erkannte. »Ich verstehe. Es tut mir leid.«
»Das ist nicht nötig, meine Liebe«, fuhr Daigian fort. »Die Logik, die dahintersteckt, erscheint mir oft ganz einfach, aber ich fürchte, die anderen akzeptieren das nicht. Tatsächlich könnte man argumentieren, dass die Logik des Problems vom Augenblick und vom Individuum abhängt. Soll ich Euch das nächste Gewebe zeigen?«
»Ja, bitte«, sagte Nynaeve und runzelte die Stirn. Sie selbst war so stark in der Macht - eine der stärksten auf der ganzen Welt -, dass sie meistens nur wenig über ihre Fähigkeiten nachdachte. So wie ein sehr großer Mann kaum auf die Größe seiner Mitmenschen achtete; alle anderen waren kleiner als er, also spielte der Größenunterschied keine große Rolle.
Wie würde es wohl sein, ihr Gegenüber zu sein, diese Frau, die länger als sonst jemand in der jüngeren Vergangenheit Aufgenommene gewesen war? Eine Frau, die die Stola nur mit Mühe und Not errungen hatte, und das auch nur, weil man ein Auge zugedrückt hatte, wie manche munkelten? Daigian musste allen anderen Aes Sedai ihre Ehrerbietung zeigen. Begegneten sich zwei Schwestern, war Daigian immer die Unbedeutendere. Trafen sich mehr als zwei Schwestern, servierte Daigian den Tee. Immer erwartete man vor ihr, vor den mächtigeren Schwestern zu kriechen. Nun gut, so weit ging es vielleicht nicht, sie war Aes Sedai, trotzdem ...
»An diesem System stimmt etwas nicht, Daigian«, sagte Nynaeve gedankenverloren.
»Mit der Prüfung? Es erscheint angemessen, dass es irgendeine Art Prüfung gibt, um das Können festzustellen, und schwierige Gewebe unter großem Druck auszuführen erscheint mir als vernünftige Vorgehensweise, um das zu erreichen.«
»Das meinte ich nicht«, sagte Nynaeve. »Ich spreche von dem System, das festlegt, wie wir behandelt werden. Von einander.«
Daigian errötete. Es galt als unschicklich, die Stärke einer anderen anzusprechen, ganz egal auf welche Weise. Aber Nynaeve war noch nie besonders gut darin gewesen, die Erwartungen anderer Leute zu erfüllen. Vor allem, wenn sie alberne Dinge erwarteten. »Da sitzt Ihr nun, wisst genauso viel wie jede andere Aes Sedai, sogar mehr als die meisten, würde ich wetten, und in dem Moment, in dem eine Aufgenommene die Schürze gegen die Stola eintauscht, habt Ihr nach ihrer Pfeife zu tanzen.«
Daigian errötete noch stärker. »Wir sollten fortfahren.«
Es war einfach nicht richtig. Aber Nynaeve ließ das Thema fallen. Sie war bereits schon einmal in diese besondere Schlangengrube getappt, als sie den Kusinen beigebracht hatte, sich gegenüber den Aes Sedai zu behaupten. Und es hatte nicht lange gedauert, da hatten sie sich dann auch ihr widersetzt, was nun wirklich nicht ihre Absicht gewesen war. Sie war sich nicht sicher, ob sie bei den Aes Sedai eine ähnliche Rebellion in Gang setzen wollte.
Sie versuchte sich wieder auf den Nachhilfeunterricht zu konzentrieren, aber die Vorahnung des unmittelbar bevorstehenden Sturms ließ sie ständig zum Fenster sehen. Das Zimmer befand sich im ersten Stock und bot einen guten Ausblick auf das Lager. Es war reiner Zufall, dass sie Cadsuane sah; dieser graue Haarknoten mit den so unschuldig aussehenden Ter'angrealen war selbst aus der Ferne unverkennbar. Die Frau überquerte den Hof, Corele an ihrer Seite, in einem ordentlichen Tempo.
Was hat sie vor?, fragte sich Nynaeve. Cadsuanes Tempo machte sie verdächtig. Was war geschehen? Hatte es mit Rand zu tun? Wenn es dieser Mann schon wieder geschafft hatte, sich zu verletzen ...
»Entschuldigt mich, Daigian«, sagte sie und stand auf. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich mich um etwas kümmern muss.«
»Oh. Nun, natürlich, Nynaeve. Wir können ja zu einem anderen Zeitpunkt weitermachen.«
Erst als Nynaeve aus der Tür und die Treppe hinuntergeeilt war, wurde ihr bewusst, dass Daigian tatsächlich ihren Namen benutzt hatte. Sie lächelte, als sie den Rasen betrat.
Aiel waren im Lager. Für sich genommen war das nicht ungewöhnlich; Rand benutzte oft eine Abteilung Töchter als Leibwache. Aber diese Aiel waren Männer im hellbraunen Cadin'sor und mit Speeren an der Seite. Eine nicht unbedeutende Anzahl trug Stirnbinden mit Rands Symbol.
Darum hatte es Cadsuane so eilig gehabt; wenn die Clanhäuptlinge der Aiel eingetroffen waren, würde Rand sie sehen wollen. Nynaeve schritt über den Rasen - der keine große Ähnlichkeit mehr mit einem Rasen hatte - und war empört. Rand hatte nicht nach ihr geschickt. Vermutlich nicht, weil er sie nicht dabeihaben wollte, sondern weil er einfach zu stur war, daran zu denken. Wiedergeborener Drache oder nicht, dem Mann kam es nur selten in den Sinn, seine Pläne mit anderen zu teilen. Man hätte annehmen sollen, dass er mittlerweile erkannt hätte, wie wichtig es war, einen Rat von jemandem zu bekommen, der etwas mehr Erfahrung als er hatte. Wie oft war er wegen seiner Unbesonnenheit entführt, verletzt oder eingesperrt worden?
In diesem Lager mochte sich ja jedermann vor ihm verbeugen oder einen Narren an ihm gefressen haben, aber sie wusste, dass er im Grunde nichts anderes als ein Schafhirte aus Emondsfelde war. Er brockte sich noch immer auf die gleiche Weise Ärger ein wie als Junge, wenn er und Mat Streiche ausgeheckt hatten. Nur dass er jetzt nicht mehr die Dorfmädchen in Aufregung versetzte, sondern ganze Nationen ins Chaos stürzen konnte.
An der nördlichen Seite des Rasens - direkt gegenüber vom Haus, in der Nähe des Erdwalls - bauten die Aiel ihr Lager auf, komplett mit braunen Zelten. Sie stellten sie anders als die Saldaeaner auf; statt gerader Reihen zogen die Aiel kleine Gruppen vor, organisiert nach den Gemeinschaften. Einige von Basheres Männern riefen vorbeigehenden Aiel Grüße zu, aber keiner machte Anstalten, ihnen zu helfen. Aiel konnten ein kratzbürstiger Haufen sein, und auch wenn Nynaeve die Saldaeaner bei weitem weniger irrational als manch andere fand, blieben es doch Grenzländer. Scharmützel mit den Aiel waren früher Alltag für sie gewesen, und der Aiel-Krieg selbst war noch lange nicht vergessen. Im Augenblick kämpften sie alle auf derselben Seite, aber das hielt die Saldaeaner nicht davon ab, etwas aufmerksamer zu sein, jetzt, da die Aiel in großer Anzahl eingetroffen waren.
Sie hielt nach Rand oder ihr bekannten Aiel Ausschau. Sie bezweifelte, dass Aviendha dabei sein würde; sie würde in Cairhien Elayne helfen, sich den Thron von Andor zu sichern. Tatsächlich fühlte sie sich noch immer etwas schuldig, dass sie sie verlassen hatte, aber jemand hatte Rand dabei helfen müssen, Saidin zu reinigen. Das gehörte nun wirklich nicht zu den Dingen, die man ihn allein machen ließ. Wo steckte er bloß?
Nynaeve blieb an der Grenze zwischen den Saldaeanern und dem neuen Aiel-Lager stehen. Soldaten mit Lanzen nickten ihr respektvoll zu. Aiel in Braun und Grün glitten mit Bewegungen so geschmeidig wie Wasser über das Gras. Frauen in Blau und Grün trugen Wäsche von dem Bach neben dem Herrenhaus. Kiefern bebten im Wind. Im Lager herrschte ein Betrieb wie auf dem Dorfplatz zu Bel Tine. In welche Richtung war Cadsuane nur gegangen?
Sie spürte, wie im Nordosten die Macht gelenkt wurde. Lächelnd setzte sie sich energisch und mit rauschendem gelben Rock in Bewegung. Die Machtlenkerinnen würden entweder Aes Sedai oder Weise Frauen sein. Bald sah sie ein größeres Aielzelt an der Ecke des Rasens. Sie ging direkt darauf zu, und ihr Blick - oder vielleicht ihr Ruf - sorgte dafür, dass ihr die saldaeanischen Soldaten den Weg frei machten. Die Töchter, die den Eingang bewachten, versuchten nicht, sie aufzuhalten.
Rand trug Schwarz und Rot. Er blätterte auf einem stabilen Holztisch Karten durch, den linken Arm auf dem Rücken gehalten. Bashere stand neben ihm, nickte und studierte eine kleine Karte, die er vor sich hielt.
Als sie eintrat, schaute Rand auf. Wann hatte er angefangen, so sehr einem Behüter zu ähneln, dieser schnelle abschätzende Blick? Diese Augen, die jede Drohung erkannten, diese Anspannung, als würde er jeden Moment einen Angriff erwarten? Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass ihn diese Frau aus den Zwei Flüssen holt, dachte sie. Was hat das nur aus ihm gemacht!
Ihre törichten Gedanken ließen sie sofort die Stirn runzeln. Wäre Rand in den Zwei Flüssen geblieben, hätte er den Verstand verloren und sie vielleicht alle vernichtet - immer natürlich unter der Voraussetzung, dass das nicht die Trollocs, die Blassen oder die Verlorenen selbst vorher erledigt hätten. Wäre Moiraine nicht zu Rand gekommen, wäre er jetzt tot. Und mit ihm wäre das Licht und die Hoffnung der Welt erloschen. Es fiel ihr einfach nur schwer, die alten Vorurteile abzustreifen.
»Ah, Nynaeve«, sagte Rand, entspannte sich und wandte sich wieder den Karten zu. Er bedeutete Bashere, sich eine genauer anzusehen, dann drehte er sich wieder zu ihr um. »Ich wollte gerade nach dir schicken. Rhuarc und Bael sind hier.«
Nynaeve hob eine Braue und verschränkte die Arme. »Ach?«, fragte sie tonlos. »Und ich hatte schon angenommen, dass die ganzen Aiel im Lager bedeuten, dass wir von den Shaido angegriffen werden.«
Seine Miene verhärtete sich bei ihrem Tonfall, und seine Augen funkelten ... gefährlich. Aber dann hellten sich seine Züge wieder auf, und er schüttelte den Kopf, als wollte er ihn klarbekommen. Etwas von dem alten Rand - der Rand, der ein unschuldiger Schafhirte gewesen war - schien zurückzukehren. »Ja, das wäre dir natürlich aufgefallen«, sagte er. »Ich bin froh, dass du da bist. Wir fangen an, sobald die Clanhäuptlinge zurückkehren. Ich habe darauf bestanden, dass sie erst ihre Leute unterbringen, bevor wir reden.«
Er bedeutete ihr Platz zu nehmen; Kissen lagen auf dem Boden, Stühle gab es keine. Aiel hielten nichts davon, und Rand würde wollen, dass sie sich wohlfühlten. Sie betrachtete ihn, überrascht, wie angespannt ihre eigenen Nerven waren. Er war nur ein wollköpfiger Dorfbewohner, ganz egal, wie viel Einfluss er nun auch hatte. Das war er.
Aber sie konnte diesen Ausdruck in seinen Augen nicht vergessen, diesen aufblitzenden Zorn. Es hieß, dass die Krone viele Männer zum Schlechteren veränderte. Sie wollte dafür sorgen, dass das nicht mit Rand al'Thor geschah, aber welche Möglichkeiten blieben ihr, sollte er plötzlich entscheiden, sie in den Kerker zu werfen? Aber das würde er nicht tun, oder? Nicht Rand.
Semirhage hat gesagt, er ist verrückt, dachte sie. Sagte, er hört ... Stimmen aus seinem vergangenen Leben. Geschieht das, wenn er den Kopf schief hält, als würde er Dingen lauschen, die allein er hören kann?
Sie fröstelte. Natürlich saß Min in einer Ecke und las in einem Buch. Nach der Zerstörung der Welt. Min starrte viel zu konzentriert auf die Seiten; sie hörte ihrem Gespräch zu. Was hielt sie von den Veränderungen in ihm? Sie stand ihm näher als alle anderen - so nahe, dass Nynaeve ihnen, wären sie alle in Emondsfelde, so gehörig die Meinung gesagt hätte, dass beide nicht mehr gewusst hätten, wo ihnen der Kopf stand. Und auch wenn sie sich nicht länger in Emondsfelde aufhielten und sie nicht länger die Dorfseherin war, hatte sie Rand zu verstehen gegeben, dass sie aber auch gar nichts davon hielt. Seine Antwort war simpel gewesen. »Wenn ich sie heirate, wird mein Tod ihr nur noch mehr Schmerzen bereiten.«
Natürlich war das nur noch mehr Blödsinn. Wenn man sich in Gefahr begeben wollte, dann war das nur ein Grund mehr, um zu heiraten. Offensichtlich. Sie setzte sich auf den Boden, arrangierte ihre Röcke und dachte bewusst nicht an Lan. Er musste einen so langen Weg zurücklegen und ...
Und sie musste um jeden Preis dafür sorgen, dass sie seinen Bund erhielt, bevor er die Fäule erreichte. Nur für alle Fälle.
Abrupt setzte sie sich aufrecht hin. Cadsuane. Die Frau war nicht anwesend; außer Wachen beherbergte das Zelt nur Rand, Min, Bashere und sie selbst. Plante sie irgendwo etwas, das ...
Cadsuane trat ein. Die grauhaarige Aes Sedai trug ein schlichtes lohfarbenes Kleid. Sie verließ sich auf Ausstrahlung und nicht auf Kleidung, um Aufmerksamkeit zu erregen, und natürlich funkelte der goldene Schmuck in ihrem Haar. Corele folgte ihr.
Cadsuane webte einen Schutz gegen Lauscher, und Rand hatte keine Einwände. Er sollte mehr für sich eintreten - diese Frau hatte ihn praktisch gezähmt, und es war beunruhigend, was er ihr alles durchgehen ließ. Wie das Verhör von Semirhage. Die Verlorene war viel zu mächtig und gefährlich, um hier so feinfühlig vorzugehen. Semirhage hätte in dem Moment gedämpft werden sollen, in dem man sie gefangen genommen hatte ... auch wenn Nynaeves Meinung in dieser Angelegenheit direkt mit ihren eigenen Erfahrungen bei Moghediens Gefangenschaft zu tun hatte.
Corele lächelte ihr zu; meistens hatte sie für jeden ein Lächeln übrig. Cadsuane ignorierte sie wie gewöhnlich. Das ging schon in Ordnung. Sie brauchte ihre Anerkennung nicht. Cadsuane glaubte jeden herumkommandieren zu können, nur weil sie jede andere Aes Sedai überlebt hatte. Nun, Nynaeve wusste genau, dass Alter nur wenig mit Weisheit zu tun hatte. Cenn Buie war so alt wie Regen gewesen und hatte so viel Verstand wie ein Haufen Steine gehabt.
Im Verlauf der nächsten Minuten kamen die anderen Aes Sedai des Lagers und die Anführer ins Zelt; vielleicht hatte Rand ja tatsächlich Boten geschickt und hätte sie holen lassen. Zu den Neuankömmlingen gehörten Merise und ihre Behüter, darunter der Asha'man Jahar Narishma mit seinen Glöckchen an den Zöpfen. Damer Flinn, Elza Penfell und ein paar von Basheres Offizieren kamen ebenfalls. Rand blickte bei jedem Eintretenden aufmerksam und misstrauisch auf, wandte sich jedes Mal aber schnell wieder den Karten zu. Wurde er langsam paranoid? Manche Verrückte misstrauten am Ende jedermann.
Schließlich traten Rhuarc und Bael zusammen mit anderen Aiel ein. Wie Katzen auf der Jagd kamen sie durch den großen Zelteingang. Durch eine seltsame Fügung begleiteten einige Weise Frauen - die Nynaeve vorhin hatte spüren können - die Gruppe. Bei den Aiel geschah es oft, dass eine Angelegenheit entweder als Sache der Clanhäuptlinge oder als Sache der Weisen Frauen betrachtet wurde. Ganz so ähnlich wie in den Zwei Flüssen mit dem Dorfrat und dem Frauenkreis. Hatte Rand sie alle um ihr Erscheinen gebeten, oder waren sie aus eigenen Gründen hier?
Nynaeve hatte sich bei Aviendhas Aufenthaltsort geirrt; ungläubig entdeckte sie die hochgewachsene rothaarige Frau in der hinteren Reihe der Weisen Frauen. Warum hatte sie Caemlyn verlassen? Und warum trug sie dieses alte Tuch mit dem ausgefransten Saum?
Sie erhielt keine Gelegenheit, ihr irgendwelche Fragen zu stellen, da Rand Rhuarc und den anderen zunickte und ihnen bedeutete, Platz zu nehmen, was sie auch taten. Rand selbst blieb neben dem Kartentisch stehen. Mit nachdenklicher Miene nahm er die Arme hinter den Rücken, die Hand umschloss den Stumpf. Er hielt sich nicht mit Vorreden auf. »Berichtet mir von eurer Arbeit in Arad Doman«, sagte er zu Rhuarc. »Meine Späher melden mir, dass in diesem Land kein Frieden herrscht.«
Rhuarc nahm von Aviendha eine Tasse Tee entgegen - also betrachtete man sie noch immer als Lehrling -, und wandte sich Rand zu. Der Clanhäuptling trank nicht. »Wir hatten sehr wenig Zeit, Rand al'Thor.«
»Ich interessiere mich nicht für Entschuldigungen, Rhuarc«, sagte Rand. »Nur für Ergebnisse.«
Das trieb mehreren der Aiel die Zornesröte ins Gesicht, und die Töchter am Eingang tauschten hektisch Handsignale aus.
Rhuarc selbst zeigte keine Wut, obwohl Nynaeve sah, dass er den Becher fest umklammerte. »Rand al'Thor, ich habe Wasser mit Euch geteilt«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr mich herbringt, um mich zu beleidigen.«
»Keine Beleidigungen, Rhuarc«, sagte Rand. »Nur die Wahrheit. Wir haben keine Zeit zu verschwenden.«
»Keine Zeit, Rand al'Thor?«, sagte Bael. Der Clanhäuptling der Goshien Aiel war ein sehr großer Mann, und er schien alle zu überragen, selbst wenn er saß. »Ihr habt viele von uns monatelang in Andor gelassen, wo wir nichts zu tun hatten, als die Speere zu polieren und Feuchtländer zu erschrecken! Jetzt schickt Ihr uns mit unmöglichen Befehlen in dieses Land, dann folgt Ihr ein paar Wochen später und verlangt Resultate?«
»In Andor solltet ihr Elayne helfen«, sagte Rand.
»Sie hat unsere Hilfe weder gebraucht noch gewünscht«, sagte Bael schnaubend. »Und sie hatte recht, unsere Hilfe abzulehnen. Ich würde eher mit einem einzigen Wasserschlauch die ganze Wüste durchqueren, als mir von anderen die Herrschaft über meinen Clan überreichen zu lassen.«
Rands Miene verfinsterte sich wieder, sein Blick wurde düster, und wieder einmal wurde Nynaeve an den Sturm erinnert, der sich im Norden zusammenbraute.
»Dieses Land ist zerbrochen, Rand al'Thor«, sagte Rhuarc mit ruhigerer Stimme als Bael. »Es ist keine Entschuldigung, diese Tatsache zu erklären, und es ist keine Feigheit, eine schwierige Aufgabe mit Vorsicht anzugehen.«
»Wir müssen hier Frieden haben«, knurrte Rand. »Wenn ihr das nicht schafft ...«
»Mein Junge«, sagte Cadsuane, »vielleicht solltet Ihr erst einmal innehalten und nachdenken. Wie oft haben Euch die Aiel im Stich gelassen? Und wie oft habt Ihr sie im Stich gelassen, sie verletzt oder beleidigt?«
Rand machte den Mund zu, und Nynaeve knirschte mit den Zähnen, weil sie nicht selbst gesprochen hatte. Sie sah Cadsuane an, der man einen Stuhl zum Sitzen gegeben hatte - sie konnte sich nicht erinnern, die Grüne jemals auf dem Boden sitzen gesehen zu haben. Der Stuhl war offensichtlich aus dem Haus geholt worden, er bestand aus hellem Elgilrimhorn und hatte ein rotes Kissen. Aviendha hatte Cadsuane eine Tasse Tee gebracht, an der sie vorsichtig nippte.
Mit einer offensichtlichen Anstrengung zügelte Rand sein Temperament wieder. »Ich entschuldige mich, Rhuarc, Bael. Es waren ein paar ... ermüdende Monate.«
»Ihr habt kein Toh«, sagte Rhuarc. »Aber bitte, setzt Euch. Lasst uns den Schatten teilen und uns höflich unterhalten.«
Rand seufzte deutlich hörbar, dann nickte er und setzte sich vor die beiden hin. Die Weisen Frauen - Amys, Melaine, Bair - schienen nicht geneigt zu sein, an der Diskussion teilzunehmen. Sie waren Beobachter, genau wie Nynaeve selbst, wie ihr bewusst wurde.
»Meine Freunde, wir müssen in Arad Doman Frieden schaffen«, sagte Rand und entrollte eine Karte auf dem Zeltteppich.
Bael schüttelte den Kopf. »Dobraine Taborwin hat in Bandar Eban gute Arbeit geleistet«, sagte er, »aber Rhuarc hatte recht, wenn er dieses Land als zerbrochen bezeichnet. Es ist wie ein Stück Meervolk-Porzellan, das man von der Spitze eines hohen Berges warf. Ihr habt uns befohlen herauszufinden, wer den Befehl hat, und dann zu sehen, ob wir die Ordnung wiederherstellen können. Nun, soweit wir das sagen können, hat hier keiner den Befehl. Jede Stadt muss sich um sich selbst kümmern.«
»Was ist mit dem Kaufmannsrat?«, meinte Bashere, setzte sich zu ihnen und strich sich den Schnurrbart, als er die Karte studierte. »Meine Späher berichten, dass seine Mitglieder noch immer über eine gewisse Macht verfügen.«
»Das ist richtig, in den Städten, in denen sie herrschen«, erwiderte Rhuarc. »Aber ihr Einfluss ist schwach. In der Hauptstadt hält sich nur noch ein Mitglied auf, und die Lage ist prekär. Wir haben den Straßenkämpfen Einhalt geboten, aber das auch nur mit viel Mühe.« Er schüttelte den Kopf. »Das kommt davon, wenn man versucht, mehr Land zu kontrollieren, als der Clan braucht. Ohne ihren König wissen diese Domani nicht, wer den Befehl hat.«
»Wo ist er?«, fragte Rand.
»Das weiß keiner, Rand al'Thor. Er ist verschwunden. Manche sagen, vor Monaten, andere sagen, schon vor Jahren.«
»Graendal könnte ihn haben«, flüsterte Rand und studierte intensiv die Karte. »Wenn sie hier ist. Ja, ich glaube, vermutlich ist sie das. Aber wo? Sie wird nicht im Königspalast sein, das ist nicht ihre Art. Sie wird einen Ort haben wollen, der ihr gehört, einen Ort, wo sie ihre Trophäen ausstellen kann. Ein Ort, der selbst eine Trophäe ist, aber kein Ort, an den man sofort denkt. Ja, ich weiß. Du hast recht. So hat sie es schon einmal gemacht ...«
Diese Vertrautheit! Nynaeve fröstelte. Aviendha kniete neben ihr nieder und reichte ihr eine Tasse Tee. Nynaeve nahm sie entgegen und erwiderte den Blick der Frau. Sie flüsterte eine Frage. Aviendha schüttelte energisch den Kopf. Später, schien ihr Ausdruck zu besagen. Sie stand wieder auf, zog sich in den Hintergrund des Raumes zurück, schnitt eine Grimasse, zog das ausgefranste Tuch hervor und fing an, einen Faden nach dem anderen herauszuziehen. Was sollte das?
Rand hörte mit seinem Flüstern auf. »Cadsuane, was wisst Ihr über den Kaufmannsrat?«
»Er besteht hauptsächlich aus Frauen«, sagte Cadsuane, »und zwar aus Frauen mit großer Klugheit. Allerdings sind sie auch ein sehr selbstsüchtiger Haufen. Es ist ihre Pflicht, den König zu wählen, und nach Alsalams Verschwinden hätten sie einen Ersatz finden sollen. Zu viele von ihnen betrachten das als Gelegenheit, und darum können sie sich nicht einigen. Ich vermute mal, dass sie angesichts des Chaos auseinandergegangen sind, um die Macht in ihren Heimatstädten zu sichern und um Positionen und Bündnisse zu kämpfen, während sie einander ihren Favoriten für den Königsthron schmackhaft machen.«
»Und dieses Heer, das die Seanchaner bekämpft?«, fragte Rand. »Sind sie dafür verantwortlich?«
»Darüber weiß ich nichts.«
»Ihr sprecht von dem Mann Rodel Ituralde«, sagte Rhuarc.
»Ja.«
»Vor zwanzig Jahren hat er gut gekämpft«, sagte Rhuarc und rieb sich das kantige Kinn. »Er gehört zu jenen, die ihr als Große Hauptmänner bezeichnet. Ich würde gern den Tanz der Speere mit ihm tanzen.«
»Das werdet Ihr nicht«, sagte Rand scharf. »Jedenfalls nicht, solange ich lebe. Wir werden dieses Land sicher machen.«
»Und Ihr erwartet von uns, das zu tun, ohne zu kämpfen?«, fragte Bael. »Angeblich kämpft dieser Rodel Ituralde wie ein Sandsturm gegen die Seanchaner und lenkt ihren Zorn auf sich, und zwar noch viel besser, als Ihr das geschafft habt. Er wird nicht schlafen, während Ihr seine Heimat erobert.«
»Noch einmal«, sagte Rand. »Wir sind nicht als Eroberer hier.«
Rhuarc seufzte. »Aber warum schickt Ihr dann uns, Rand al'Thor? Warum nehmt Ihr nicht Eure Aes Sedai? Sie verstehen die Feuchtländer. Dieses Land ist wie ein Königreich aus Kindern, und wir sind zu wenige Erwachsene, um ihnen Gehorsam beizubringen. Vor allem wenn ihr uns daran hindert, ihnen den Hintern zu versohlen.«
»Ihr könnt kämpfen, aber nur, wenn es sein muss«, sagte Rand. »Rhuarc, das können auch Aes Sedai nicht mehr in Ordnung bringen. Ihr könnt das. Die Menschen hier fühlen sich von den Aiel eingeschüchtert; sie werden tun, was ihr sagt. Wenn wir den Krieg der Domani mit den Seanchanern beenden können, dann wird diese Tochter der Neun Monde vielleicht einsehen, dass es mir mit meinem Friedenswunsch ernst ist. Dann willigt sie vielleicht ein, sich mit mir zu treffen.«
»Warum macht Ihr es nicht wie zuvor?«, wollte Bael wissen. »Übernehmt das Land?«
Bashere nickte und sah Rand an.
»Das wird nicht funktionieren, dieses Mal nicht«, sagte Rand. »Ein Krieg würde zu viele Ressourcen verschlingen. Ihr habt von diesem Ituralde gesprochen - er wehrt die Seanchaner mit unzulänglichen Waffen und wenigen Männern ab. Sollen wir gegen einen so einfallsreichen Mann antreten?«
Wie nachdenklich Bashere doch erschien, als würde er wirklich in Betracht ziehen, gegen Ituralde zu marschieren. Männer! Sie waren doch alle gleich, dachte Nynaeve. Gebt ihnen eine Herausforderung, und sie werden neugierig sein, ganz egal, ob die Herausforderung sie am Ende auf eine Lanzenspitze befördert!
»Es gibt nur wenige Männer wie Rodel Ituralde«, bemerkte Bashere. »Er wäre sicherlich eine große Hilfe für unsere Sache. Ich habe mich immer gefragt, ob ich ihn schlagen könnte.«
»Nein«, sagte Rand wieder und schaute auf die Karte. Soweit Nynaeve sehen konnte, zeigte sie mit Anmerkungen versehene Truppenaufstellungen. Die Aiel waren eine organisierte Masse von Holzkohlestrichen quer über dem oberen Rand von Arad Doman; Ituraldes Streitkräfte standen tief auf der Ebene von Almoth und kämpften gegen die Seanchaner. Die Mitte von Arad Doman war ein Meer aus chaotischen schwarzen Anmerkungen, vermutlich die persönlichen Streitkräfte verschiedener Adliger.
»Rhuarc, Bael«, sagte Rand. »Ich möchte, dass ihr die Mitglieder des Kaufmannsrats ergreift.«
Schweigen kehrte im Zelt ein.
»Seid Ihr sicher, dass das klug ist, mein Junge?«, fragte Cadsuane schließlich.
»Sie sind in Gefahr, durch die Verlorenen«, sagte Rand und pochte mit dem Finger auf die Karte. »Falls Graendal Alsalam tatsächlich hat, dann haben wir nichts davon, ihn zurückzubekommen. Er wird so sehr unter ihrem Zwang stehen, dass er nur noch den Verstand eines Kindes hat. Sie ist nicht subtil, das war sie noch nie. Wir brauchen den Kaufmannsrat, um einen neuen König zu wählen. Das ist die einzige Möglichkeit, diesem Königreich wieder Frieden und Ordnung zu bringen.«
Bashere nickte. »Das ist kühn.«
»Wir sind keine Entführer«, sagte Bael stirnrunzelnd.
»Ihr seid das, was ich sage«, sagte Rand leise.
»Wir sind noch immer ein freies Volk, Rand al'Thor«, erwiderte Rhuarc.
»Mit meinem Tod werde ich die Aiel verändern«, sagte Rand kopfschüttelnd. »Ich weiß nicht, was ihr sein werdet, wenn das alles vorbei ist, aber ihr könnt nicht das bleiben, was ihr wart. Ich werde euch diese Aufgabe übergeben. Von allen meinen Anhängern setze ich in euch das meiste Vertrauen. Wenn wir die Ratsmitglieder holen wollen, ohne dieses Land noch tiefer in den Krieg zu stürzen, brauche ich eure Klugheit und Verstohlenheit. Ihr könnt euch in ihre Paläste und Häuser schleichen, wie ihr den Stein von Tear infiltriert habt.«
Rhuarc und Bael sahen sich stirnrunzelnd an.
»Sobald ihr den Kaufmannsrat habt«, fuhr Rand fort, ohne sich anscheinend für ihre Sorgen zu interessieren, »führt ihr die Aiel in die Städte, in denen diese Kaufleute herrschten. Sorgt dafür, dass diese Städte nicht verfallen. Stellt die Ordnung wieder her, wie ihr es in Bandar Eban getan habt. Eröffnet von dort die Jagd auf Banditen und verschafft dem Gesetz Geltung. Das Meervolk wird bald Vorräte bringen. Nehmt zuerst die Städte an der Küste, begebt euch dann landeinwärts. Innerhalb eines Monats sollten die Domani zu euch strömen, statt vor euch fortzulaufen. Bietet ihnen Sicherheit und Nahrung, und die Ordnung wird sich von selbst einstellen.«
Ein überraschend rationaler Plan. Für einen Mann hatte Rand wirklich einen klugen Verstand. Es war viel Gutes in ihm, die Seele eines Anführers, wenn er nur sein Temperament unter Kontrolle halten konnte.
Rhuarc rieb sich noch immer das Kinn. »Es wäre hilfreich, wenn wir ein paar Eurer Saldaeaner hätten, Davram Bashere. Es gefällt Feuchtländern nicht, Aiel zu folgen. Wenn sie sich einreden können, dass Feuchtländer das Kommando haben, dann ist es eher wahrscheinlich, dass sie zu uns kommen.«
Bashere lachte. »Wir geben auch hübsche Ziele ab. Sobald wir ein paar Angehörige des Kaufmannsrats holen, wird der Rest mit Sicherheit Meuchelmörder auf uns hetzen!«
Rhuarc lachte, als würde er das für einen tollen Witz halten. Die Aiel hatten einen seltsamen Sinn für Humor. »Wir werden Euch schon am Leben erhalten, Davram Bashere. Und wenn nicht, stopfen wir Euch aus und setzen Euch auf Euer Pferd, und Ihr werdet einen großartigen Köcher für ihre Pfeile abgeben!«
Das ließ Bael laut lachen, und die Töchter am Eingang fingen mit einer weiteren Runde Handsprache an.
Bashere kicherte, obwohl er diese Art Humor auch nicht zu verstehen schien. »Seid Ihr Euch sicher, dass Ihr das tun wollt?«, fragte er Rand.
Rand nickte. »Kommandiert einen Teil Eurer Streitmacht ab und schickt sie mit Aiel-Gruppen, wie Rhuarc es für richtig hält.«
»Und was ist mit Ituralde?«, fragte Bashere und schaute wieder auf die Karte. »Der Frieden wird nicht von Dauer sein, sobald er begreift, dass wir in seine Heimat eingedrungen sind.«
Einen Augenblick lang pochte Rand sanft auf die Karte. »Um ihn kümmere ich mich persönlich«, sagte er schließlich.