47 Den er verlor

Rand kehrte nicht sofort in seine Gemächer zurück. Das gescheiterte Treffen mit den Grenzländern hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Nicht wegen ihres geschickten Versuchs, ihn nach Far Madding zu locken - das war enttäuschend, aber kam nicht gerade unerwartet. Andere versuchten ständig, ihn zu kontrollieren und zu manipulieren. Die Grenzländer machten da keine Ausnahme.

Nein, es war etwas anderes, das ihm zu schaffen machte, etwas, das er nicht genau definieren konnte. Und so pirschte er durch den Stein von Tear, zwei Töchter der Aiel im Schlepptau, und seine Gegenwart überraschte Diener und beunruhigte Verteidiger.

Die Korridore wanden sich. Die Wände hatten die Farbe von nassem Sand, wo keine Wandteppiche hingen, aber sie waren viel stärker als jeder Felsen, der Rand bekannt war. Sie waren fremdartig und seltsam, jeder glatte Torbogen war eine Erinnerung, dass dieser Ort nicht natürlich war.

Rand fühlte sich ebenso. Er hatte die äußere Gestalt eines Menschen. Tatsächlich hatte er auch das Benehmen und die Geschichte eines Menschen. Aber er war ein Ding, das kein Mensch - nicht einmal er selbst - verstehen konnte. Die Gestalt aus einer Legende, eine Schöpfung der Einen Macht, so unnatürlich wie ein Ter’angreal oder ein Fragment Cuendillar. Man kleidete ihn wie einen König, so wie man diese Korridore mit goldenen und roten Teppichen schmückte. So wie man Wandteppiche an diese Wände hängte, von denen jeder einzelne einen berühmten tairenischen General zeigte. Das Dekor sollte für Schönheit sorgen, aber es sollte auch verschleiern. Die nackte Wand dazwischen unterstrich nur, wie fremdartig dieser Ort war. Teppiche und Wandbehänge ließen ihn sich … menschlicher anfühlen. Indem man Rand mit einer Krone und einem hübschen Mantel ausstaffierte, erlaubte ihnen das, ihn zu akzeptieren. Von Königen erwartete man, dass sie anders waren. Und so spielte seine von der Krone verborgene viel fremdartigere Natur keine Rolle mehr. Es spielte keine Rolle mehr, dass sein Herz das Herz eines Toten war, dass seine Schultern dazu geschaffen worden waren, die Last der Prophezeiungen zu tragen, dass seine Seele von den Bedürfnissen, Wünschen und Hoffnungen von Millionen Menschen zermalmt wurde.

Zwei Hände. Eine, um zu zerstören, die andere, um zu retten. Welche hatte er verloren?

Es fiel leicht, sich im Stein zu verlaufen. Die gewundenen Korridore aus braunem Felsen waren schon lange vor der Zersetzung des Musters schwierig gewesen. Sie sollten Angreifer verwirren. Kreuzungen kamen unerwartet; es gab nur wenig markante Stellen, und die inneren Gänge der Festung wiesen keine Fenster auf. Die Aiel hatte es sehr beeindruckt, dass die Eroberung des Steins so schwer gewesen war. Aber nicht die Verteidiger hatten sie beeindruckt, sondern das schiere Ausmaß und der Grundriss des monströsen Gebäudes.

Glücklicherweise hatte Rand kein besonderes Ziel im Sinn. Er wollte einfach nur gehen.

Er hatte akzeptiert, was er sein musste. Warum machte ihm dann das so zu schaffen? Tief in seinem Inneren - nicht in seinem Verstand, sondern in seinem Herzen - hatte eine Stimme angefangen, sich gegen seine Taten auszusprechen. Sie war nicht so laut oder brachial wie Lews Therin; sie flüsterte bloß, war wie ein Jucken. Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte nicht…

Nein!, dachte er. Ich muss stark sein. Ich bin endlich zu dem geworden, was ich sein muss!

Unvermittelt blieb er stehen. In der Manteltasche trug er den Zugangsschlüssel. Er berührte ihn und seine kalten und glatten Konturen. Er wagte es nicht, ihn der Sorgfalt eines Dieners zu überlassen, ganz egal, wie sehr er ihm auch vertrauen mochte.

Hurin, erkannte er. Das hat mich gestört. Hurin zu sehen.

Er ging weiter, drückte die Brust heraus. Er musste stark sein - oder zumindest stark erscheinen. Und zwar zu jeder Zeit.

Hurin war ein Relikt aus einem früheren Leben. Eine Zeit, in der Mat sich noch immer über Rands Mäntel lustig gemacht hatte, eine Zeit, in der Rand gehofft hatte, Egwene zu heiraten und irgendwie zu den Zwei Flüssen zurückkehren zu können. Er war mit Hurin und Loial gereist, fest entschlossen, Fain aufzuhalten und Mats Dolch zurückzugewinnen, um zu beweisen, dass er ein guter Freund war. Das war eine viel einfachere Zeit gewesen, auch wenn er das damals nicht gewusst hatte. Damals hatte er sich gefragt, ob es überhaupt etwas Komplizierteres als den Gedanken geben konnte, dass ihn seine Freunde hassten.

Die Farben wirbelten durch sein Sichtfeld. Perrin ging durch ein dunkles Lager, das Steinschwert erhob sich über ihm in die Luft. Die Vision wechselte zu Mat, der noch immer in dieser Stadt war. War das Caemlyn? Warum konnte er in der Nähe von Elayne sein, wenn Rand so weit fort bleiben musste? Er konnte ihre Gefühle kaum durch den Bund wahrnehmen. Er vermisste sie so sehr. Einst hatten sie in den Korridoren genau dieser Festung Küsse gestohlen.

Nein, dachte er. Ich bin stark. Sehnsucht war ein Gefühl, das er nicht haben durfte. Nostalgie brachte ihm überhaupt nichts. Er versuchte beides zu verbannen, duckte sich in ein Treppenhaus und stieg nach unten, trainierte seinen Körper, versuchte ihn nach Luft schnappen zu lassen.

Laufen wir jetzt also vor der Vergangenheit davon?, fragte Lews Therin leise, ja. Das ist gut. Besser davonzulaufen, als sich ihr zu stellen.

Rands Zeit mit Hurin hatte in Falme geendet. Diese Tage waren in seiner Erinnerung verschwommen. Die Veränderungen, die er damals durchgemacht hatte - die Erkenntnis, dass er töten musste, dass er nie wieder zu dem Leben zurückkehren konnte, das er geliebt hatte -, waren Dinge, über die er nicht hatte nachdenken können. Er war in Richtung Tear gezogen, beinahe wie im Fieber, getrennt von seinen Freunden. Er hatte Ishamael in seinen Träumen gesehen. Das Letzere geschah wieder.

Schwer atmend kam Rand auf eine der unteren Etagen der Festung heraus. Die Töchter folgten ihm. Sie atmeten völlig gleichmäßig. Er ging durch einen Gang und dann weiter in ein gewaltiges Gemach mit Reihen breiter, dicker Steinsäulen, die kein Mann mit ausgebreiteten Armen umfassen konnte. Das Herz des Steins. Mehrere Verteidiger nahmen Haltung an, als Rand sie passierte.

Er begab sich zur Mitte des Herzens. Einst hatte Callandor hier funkelnd gehangen. Das Kristallschwert befand sich nun in Cadsuanes Besitz. Hoffentlich hatte sie es nicht vermasselt und ebenfalls verloren wie das männliche Adam. Aber im Grunde war das Rand herzlich egal. Callandor war minderwertig; um es benutzen zu können, musste sich ein Mann dem Willen einer Frau unterwerfen. Es war ja mächtig, aber nicht annähernd so mächtig wie der Choedan Kai. Der Zugangsschlüssel war ein viel besseres Werkzeug. Rand streichelte ihn behutsam und betrachtete die Stelle, an der einst Callandor gehangen hatte.

Das hatte ihn immer gestört. Callandor war die Waffe aus den Prophezeiungen. Im Karaethon-Zyklus hieß es, dass der Stein nicht fallen würde, bis Callandor von dem Wiedergeborenen Drachen geschwungen würde. Einige Gelehrte hatten diese Passage so interpretiert, dass das Schwert nie benutzt werden würde. Aber die Prophezeiungen funktionierten nicht auf diese Weise - sie waren gemacht worden, um erfüllt zu werden.

Rand hatte die Karaethon-Prophezeiungen studiert. Aus ihnen eine Bedeutung herauszukitzeln war wie der Versuch, hundert Fuß verheddertes Seil zu entwirren. Mit einer Hand.

›Das Schwert, das nicht berührt werden kann‹ zu nehmen gehörte zu einer der ersten Prophezeiungen, die er erfüllt hatte. Aber war seine Inbesitznahme Callandors ein bedeutungsloses Zeichen oder ein erster Schritt? Jeder kannte die Prophezeiung, aber nur wenige stellten die Frage, die unausweichlich hätte sein müssen. Warum? Warum hatte Rand das Schwert nehmen müssen? Sollte es in der Letzten Schlacht benutzt werden?

Als Sa’angreal war das Schwert nicht viel wert, und er bezweifelte, dass es einfach als Schwert benutzt werden sollte. Warum sprachen die Prophezeiungen nicht von den Choedan Kai? Mit ihnen hatte er den Makel beseitigt. Der Zugangsschlüssel verschaffte Rand eine Macht, an die Callandor nicht annähernd heranreichte, und mit dieser Macht waren keine Bedingungen verknüpft. Die Statuette bedeutete Freiheit, aber Callandor war nur eine weitere Kiste. Doch in den Prophezeiungen wurden die Choedan Kai und ihre Schlüssel nicht erwähnt.

Rand fand das ärgerlich, denn in gewisser Weise waren die Prophezeiungen die größte und beengendste Kiste von allen. Er war in ihnen gefangen. Am Ende würden sie ihn ersticken.

Ich habe es ihnen gesagtflüsterte Lews Therin.

Was hast du ihnen gesagt?, wollte Rand wissen.

Dass der Plan nicht funktioniert. Lews Therins Stimme war ganz leise. Dass grobe Gewalt ihn nicht einsperren kann. Sie bezeichneten meinen Plan als ungestüm, aber diese Waffen, die sie erschufen, die waren zu gefährlich. Zu furchteinflößend. Kein Mann sollte über eine solche Macht verfügen …

Rand kämpfte mit den Gedanken, der Stimme, den Erinnerungen. Er konnte sich nicht mehr an viele Einzelheiten von Lews Therins Plan erinnern, das Gefängnis des Dunklen Königs zu versiegeln. Die Choedan Kai - hatte man sie für diesen Zweck erbaut?

War das die Antwort? Hatte Lews Therin die falsche Entscheidung getroffen? Aber warum wurde das in den Prophezeiungen nicht erwähnt?

Rand drehte sich um, um das leere Gemach zu verlassen. »Ihr braucht diesen Raum nicht länger zu bewachen«, sagte er zu den Verteidigern. »Hier gibt es nichts mehr von Wert. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es das jemals gab.«

Die Männer sahen entsetzt oder gekränkt aus, wie Kinder, die ein geliebter Vater gerade gescholten hatte. Aber ein Krieg kam, und er würde keine Soldaten zurücklassen, um einen leeren Raum zu bewachen.

Rand biss die Zähne zusammen und betrat einen Korridor. Callandor. Wo hatte Cadsuane es nur versteckt? Er wusste, dass sie im Stein ein Zimmer bezogen hatte, wieder an die Grenzen seines Exils stieß. Er würde etwas dagegen unternehmen müssen. Sie vielleicht aus dem Stein werfen lassen. Er eilte eine Steintreppe hinauf und wählte einen beliebigen Korridor, bewegte sich weiter. Sich jetzt hinsetzen zu müssen würde ihn in den Wahnsinn treiben.

Er arbeitete unermüdlich daran, sich durch nichts Fesseln anlegen zu lassen, aber am Ende des Tages würden die Prophezeiungen dafür sorgen, dass er das tat, was er tun sollte. Sie waren manipulativer und hinterhältiger als jede Aes Sedai.

Zorn schoss in ihm hoch und wütete gegen seine Fesseln. Die leise Stimme in seinem Inneren zitterte in dem Sturm. Rand stützte den linken Arm gegen die Wand und senkte den Kopf.

»Ich werde stark sein«, flüsterte er. Aber der Zorn wollte nicht weichen. Und warum sollte er auch? Die Grenzländer widersetzten sich ihm. Die Seanchaner widersetzten sich ihm. Die Aes Sedai taten so, als würden sie ihm gehorchen, redeten aber hinter seinem Rücken mit Cadsuane und sprangen, wenn sie es befahl.

Von ihnen allen trotzte Cadsuane ihm am meisten. Blieb in seiner Nähe, setzte sich über seine Befehle hinweg, verdrehte seine Absichten. Er zog den Zugangsschlüssel hervor. Die Letzte Schlacht stand unmittelbar bevor, und er verbrachte die wenige ihm noch verbleibende Zeit damit, zu Treffen mit Leuten zu reiten, die ihn beleidigten. Jeden Tag löste der Dunkle König das Muster ein Stück weiter auf, und diejenigen, die geschworen hatten, die Grenzen zu schützen, versteckten sich in Far Madding.

Er schaute sich um, atmete schwer. Etwas an diesem Korridor erschien vertraut. Er war sich nicht sicher, warum das so war; er sah aus wie die anderen. Goldene und rote Teppiche. Voraus eine Kreuzung mit abzweigenden Gängen.

Vielleicht hätte er die Grenzländer ihren Widerstand nicht überleben lassen sollen. Vielleicht sollte er zurückgehen und dafür sorgen, dass sie ihn fürchten lernten. Aber nein. Er brauchte sie nicht. Er konnte sie den Seanchanern überlassen. Das Heer der Grenzländer würde seine Feinde hier im Süden aufhalten. Vielleicht würde es sogar die Seanchaner von seinen Flanken fernhalten, während er sich um den Dunklen König kümmerte.

Aber … gab es vielleicht eine Möglichkeit, die Seanchaner für immer aufzuhalten? Er betrachtete den Zugangsschlüssel in seiner Hand. Er hatte einmal versucht, die fremden Eroberer mit Callandor zu bekämpfen. Damals hatte er noch nicht gewusst, warum das Schwert so schwer zu kontrollieren war: erst nach seinem katastrophalen Angriff hatte Cadsuane ihm erklärt, was sie darüber wusste. Rand musste einen Zirkel mit zwei Frauen eingehen, bevor er das Schwert, das kein Schwert war, unbeschadet einsetzen konnte.

Das war seine erste große Niederlage als Anführer gewesen.

Aber jetzt hatte er ein besseres Werkzeug. Das mächtigste Werkzeug, das je erschaffen worden war; sicherlich konnte kein Mensch mehr von der Einen Macht halten wie er, als er Saidin gereinigt hatte. Graendal und Natrins Hügel aus dem Muster zu brennen hatte nur einen Bruchteil dessen erfordert, zu dem er Zugang hatte.

Wenn er das gegen die Seanchaner einsetzte, dann konnte er voller Zuversicht in die Letzte Schlacht ziehen und musste sich keine Sorgen mehr über das machen, was hinter ihm herschlich. Er hatte ihnen ihre Chance gegeben. Sogar mehrere Chancen. Er hatte Cadsuane gewarnt, hatte ihr gesagt, dass er die Tochter der Neun Monde an sich binden würde. Auf die eine Weise … oder die andere.

Das konnte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.

Hier, sagte Lews Therin. Hier standen wir.

Rand runzelte die Stirn. Wovon faselte der Verrückte wieder? Er sah sich um. Der Boden des breiten Korridors war mit roten und schwarzen Mustern gefliest. An den Wänden hingen ein paar Wandteppiche. Überrascht erkannte Rand, dass mehrere davon ihn darstellten, wie er den Stein eroberte, Callandor hielt, Trollocs tötete.

Der Kampf gegen die Seanchaner war nicht unsere erste Niederlage, flüsterte Lews Therin. Nein, unsere erste Niederlage geschah hier. In diesem Korridor.

Erschöpft, nach der Schlacht mit den Trollocs und Myrddraals. Seine Seite schmerzte. Im Stein hallten noch immer die Schreie der Verwundeten. Ihn beherrschte das Gefühl, alles tun zu können. Alles.

Er stand über der Leiche eines jungen Mädchens. Fast noch ein Kind. Callandor glühte in seinen Fingern. Plötzlich zuckte der Körper.

Moiraine hatte ihn aufgehalten. Die Toten zurück ins Leben zu holen lag jenseits seiner Macht, hatte sie gesagt.

Wie sehr ich mir doch wünsche, dass sie noch da wäre, dachte Rand. Sie hatte ihn oft Nerven gekostet, aber sie hatte anscheinend mehr als alle anderen begriffen, was man eigentlich von ihm erwartete. Sie hatte es geschafft, dass er es williger tat, selbst wenn er wütend auf sie war.

Er wandte sich ab. Moiraine hatte recht gehabt. Die Toten konnte er nicht ins Leben zurückholen. Aber er war sehr gut darin, den Lebenden den Tod zu bringen. »Holt eure Speerschwestern zusammen«, rief er seinen Leibwächterinnen über die Schulter zu. »Wir ziehen in die Schlacht.«

»Jetzt?«, erwiderte eine der Frauen. »Die Nacht bricht herein!«

Bin ich so lange gelaufen?, dachte Rand überrascht. »Ja«, sagte er dann. » Dunkelheit spielt keine Rolle. Ich werde genug Licht erschaffen.« Er fasste den Zugangsschlüssel fester und verspürte zugleich Aufregung und Entsetzen. Er hatte die Seanchaner schon einmal zurück ins Meer getrieben. Er würde es wieder tun. Er allein.

Ja, er würde sie zurücktreiben - zumindest die, die er am Leben ließ.

»Geht!«, brüllte er die Töchter an. Sie liefen los. Was war mit seiner Selbstbeherrschung passiert? In letzter Zeit war das Eis brüchig geworden.

Er ging zurück zur Treppe und stieg ein paar Etagen zu seinen Gemächern hinauf. Die Seanchaner würden seinen Zorn kennenlernen. Sie wagten es, den Wiedergeborenen Drachen zu provozieren? Er hatte ihnen den Frieden angeboten, und sie lachten ihn aus?

Er stieß die Tür zu seinen Gemächern auf und brachte die draußen Wache stehenden Verteidiger mit einer unwirschen Geste zum Schweigen. Er war nicht in der Stimmung für ihren Unsinn.

Er stürmte hinein und sah ärgerlich, dass die Wächter jemandem den Zutritt gestattet hatten. Eine fremde Gestalt wandte ihm den Rücken zu, schaute durch die offene Balkontür hinaus. »Was …«, fing Rand an.

Der Mann drehte sich um. Es war kein Fremder. Nicht einmal annähernd.

Es war Tarn. Sein Vater.

Rand taumelte zurück. War das eine Erscheinung? Irgendein schäbiger Trick des Schwarzen Königs? Aber nein, es war Tarn. Die freundlichen Augen des Mannes waren unverkennbar. Auch wenn er einen Kopf kleiner als Rand war, war Tarn doch immer verlässlicher als die Welt um ihn herum erschienen. Seine breite Brust und die starken Beine konnten nicht bewegt werden, aber das lag nicht an seiner Kraft - auf seinen Reisen hatte Rand viele Männer kennengelernt, die stärker waren. Kraft war vergänglich. Tarn war echt. Bestimmt und beständig. Allein sein Anblick spendete Trost.

Aber Trost stand im Widerspruch zu dem, der Rand geworden war. Seine Welten - die Person, die er gewesen war, und die Person, zu der er geworden war - waren wie ein Wasserguss, der auf einen glühend heißen Stein traf. Der eine zerbrach, der andere verwandelte sich in Dampf.

Tarn stand zögernd in der Balkontür, angestrahlt von zwei flackernden Stehlampen. Rand verstand Tams Zögern. Sie waren nicht Blutvater und Sohn. Rands Blutvater war Janduin gewesen, Clanhäuptling der Taardad Aiel. Tarn war bloß der Mann, der Rand an den Hängen des Drachenberges gefunden hatte.

Bloß der Mann, der ihn großgezogen hatte. Bloß der Mann, der ihm alles beigebracht hatte, was er wusste. Bloß der Mann, den Rand liebte und verehrte, und das würde sich nie ändern, ganz egal, wie ihre Blutverbindung war.

»Rand.« Tams Stimme klang unbehaglich.

»Bitte«, sagte Rand und bezwang seine Überraschung. »Bitte setz dich doch.«

Tarn nickte. Er schloss die Balkontür, dann ging er zu einem der Stühle. Rand setzte sich ebenfalls. Sie starrten einander quer durch den Raum an. Die Steinwände waren nackt; Rand zog sie ohne Gemälde oder Wandbehänge vor. Der Teppich war gelb und rot und so groß, dass er alle vier Wände erreichte.

Das Zimmer fühlte sich zu perfekt an. Eine Vase mit frisch geschnittenen Daralilien und Calimablüten stand dort, genau da, wo sie stehen musste. Die Stühle in der Mitte, viel zu korrekt arrangiert. Das Zimmer sah nicht bewohnt aus. Wie so viele Orte, an denen Rand gewesen war, war es nicht sein Zuhause. Er hatte kein richtiges Zuhause mehr gehabt, seit er die Zwei Flüsse verlassen hatte.

Tarn saß auf einem Stuhl, Rand auf einem anderen. Rand wurde sich bewusst, dass er noch immer den Zugangsschlüssel hielt, also stellte er ihn auf dem mit Sonnen gemusterten Teppich ab. Tarn warf einen Blick auf Rands Stumpf, sagte aber nichts. Er verschränkte die Hände, wünschte sich vermutlich, etwas für sie zu tun zu haben. Tarn hatte immer lieber über unangenehme Dinge gesprochen, wenn er seine Hände beschäftigen konnte, ob er nun die Riemen eines Geschirrs kontrollierte oder ein Schaf schor.

Beim Licht, dachte Rand und verspürte den plötzlichen Drang, Tarn in eine Umarmung zu reißen. Erinnerungen und das Gefühl von Nähe stiegen wie eine Flut in ihm auf. Tarn, der für Bei Tine Branntwein in die Weinquellen-Schenke lieferte. Das Vergnügen, das Tarn an seiner Pfeife hatte. Seine Geduld und seine Freundlichkeit. Das Schwert mit dem Reihenzeichen, das ihm gehörte. Ich kenne ihn so gut. Und doch habe ich in letzter Zeit nur selten an ihn gedacht.

»Wie …«, sagte Rand. »Tarn, wie kommst du her? Wie hast du mich gefunden?«

Tarn kicherte leise. »In den letzten Tagen hast du ununterbrochen Boten in die größten Städte der Welt geschickt und ihnen befohlen, ihre Heere für den Krieg aufzustellen. Ich glaube, ein Mann müsste blind, taub und betrunken sein, um nicht zu wissen, wo du zu finden bist.«

»Aber meine Boten sind nicht zu den Zwei Flüssen gereist!«

»Dort war ich auch nicht«, sagte Tarn. »Ein paar von uns haben an Perrins Seite gekämpft.«

Natürlich, dachte Rand. Nynaeve musste mit Perrin Kontakt aufgenommen haben. Sie machte sich wegen ihm und Mat ja so große Sorgen. Es wäre leicht für Tarn gewesen, sie auf dem Rückweg zu begleiten.

Führten sie diese Unterhaltung tatsächlich? Rand hatte den Gedanken aufgegeben, zu den Zwei Flüssen zurückzukehren, seinen Vater jemals wiederzusehen. Mit ihm sprechen zu können fühlte sich so gut an, auch wenn es zugleich unbehaglich war. Tams Gesicht wies mehr Falten als zuvor auf, und ein paar Strähnen in seinem Haar hatten endlich aufgegeben und waren ergraut, aber er war noch immer derselbe.

So viele Menschen in Rands Umgebung hatten sich verändert - Mat, Perrin, Egwene, Nynaeve -, es war ein Wunder, jemandem aus seinem alten Leben zu begegnen, der derselbe geblieben war. Tarn, der Mann, der Rand beigebracht hatte, das Nichts zu suchen. Tarn war ein Felsen, der ihm stärker als der Stein von Tear vorkam.

Rands Stimmung verdüsterte sich. »Warte. Perrin hat Männer aus den Zwei Flüssen bei sich?«

Tarn nickte. »Er brauchte uns. Der Junge hat einen Hochseilakt hingelegt, der jeden Menagerieartisten beeindrucken würde. Mit den Seanchanern und den Männern des Propheten, ganz zu schweigen von den Weißmänteln und der Königin …«

»Der Königin?«

»Aye. Obwohl sie sagt, sie sei keine Königin mehr. Elaynes Mutter.«

»Sie lebt?«, fragte Rand.

»Das tut sie, auch wenn sie das nicht den Weißmänteln zu verdanken hat«, sagte Tarn angewidert.

»Hat sie Elayne gesehen?«, wollte Rand wissen. »Du hast Weißmäntel erwähnt - wie ist er denn Weißmänteln begegnet?« Tarn setzte zu einer Antwort an, aber Rand hob abwehrend die Hand. »Nein. Warte. Ich kann mir einen Bericht von Perrin holen, wenn ich will. Du sollst in unserer gemeinsamen Zeit nicht den Boten spielen.«

Tarn lächelte schmal.

» Was?«, fragte Rand.

»Ach, mein Sohn«, sagte er und schüttelte den Kopf, die breiten, von der Arbeit gezeichneten Hände noch immer verschränkt, »sie haben es wirklich getan. Sie haben einen König aus dir gemacht. Was ist nur aus dem schlaksigen Knaben geworden, der Bei Tine so bestaunt hat? Wo ist der unsichere Junge, den ich vor all den Jahren großgezogen habe?«

»Er ist tot«, sagte Rand sofort.

Tarn nickte langsam. »Das sehe ich. Du … weißt es also … das mit…«

»Dass du nicht mein Vater bist?«, riet Rand.

Tarn nickte, dann senkte er den Blick.

»Ich wusste es seit dem Tag, an dem ich Emondsfelde verließ«, erwiderte Rand. »Du hast im Fieber davon gesprochen. Eine Weile lang wollte ich es nicht glauben, aber schließlich habe ich mich davon überzeugen lassen.«

»Ja«, sagte Tarn. »Das verstehe ich. Ich …« Seine Hände verkrampften sich. »Ich wollte dich nie anlügen, Sohn. Oder, nun, ich sollte dich wohl nicht so nennen, nicht wahr?«

Du kannst mich Sohn nennen, dachte Rand. Du bist mein Vater. Ganz egal, was manche auch sagen mögen. Aber er bekam die Worte einfach nicht heraus.

Der Wiedergeborene Drache konnte keinen Vater haben. Ein Vater würde eine Schwäche sein, die man ausnutzen konnte, selbst noch mehr als eine Frau wie Min. Eine Geliebte erwartete man von ihm. Aber der Wiedergeborene Drache musste eine mythische Gestalt sein, eine Kreatur, die beinahe genauso groß wie das Muster selbst war. Er hatte ohnehin schon genug Probleme, die Leute zum Gehorsam zu bewegen. Was würde geschehen, wenn bekannt wurde, dass er seinen Vater in seinem Gefolge hatte? Wenn bekannt wurde, dass sich der Wiedergeborene Drache auf die Kraft eines Schäfers stützte?

Die leise Stimme in seinem Herzen schrie.

»Das hast du richtig gemacht, Tarn«, hörte sich Rand sagen. »Dass du mir die Wahrheit vorenthalten hast, hat mir vermutlich das Leben gerettet. Hätten die Leute gewusst, dass ich ein Findelkind bin, das man ausgerechnet auch noch in der Nähe des Drachenberges fand - nun, das hätte sich herumgesprochen. Möglicherweise hätte man mich als Kind umgebracht.«

»Oh«, sagte Tarn. »Nun, dann bin ich froh, dass ich es getan habe.«

Rand hob den Zugangsschlüssel auf - auch er spendete ihm Trost -, dann stand er auf. Tarn tat es ihm hastig nach, benahm sich immer mehr wie ein weiterer Gefolgsmann oder Diener.

»Tarn al’Thor, du hast einen großen Dienst getan«, sagte Rand. »Indem du mich beschützt und großgezogen hast, hast du ein neues Zeitalter eingeführt. Die Welt schuldet dir viel.

Ich sorge dafür, dass es dir für den Rest deines Lebens an nichts mangelt.«

»Das weiß ich zu schätzen«, erwiderte Tarn. »Aber das ist nicht nötig. Ich habe alles, was ich brauche. Mein Lord.«

Unterdrückte er ein Grinsen? Vielleicht war es ja eine pompöse Ansprache gewesen. Die Luft im Zimmer war stickig, und Rand drehte sich um, ging über den kostbaren Teppich und stieß die Balkontüren wieder auf. Die Sonne war in der Tat untergegangen, Dunkelheit hatte sich über die Stadt gesenkt. Eine kühle Meeresbrise empfing ihn, als er den Balkon und die Nacht betrat.

Tarn trat an seine Seite.

»Ich fürchte, ich habe dein Schwert verloren«, hörte sich Rand sagen. Sofort kam er sich albern vor.

»Das macht nichts«, erwiderte Tarn. »Ich weiß nicht, ob ich das Ding je verdient hatte.«

»Warst du wirklich ein Schwertmeister?«

Tarn nickte. »Ich denke schon. Ich tötete einen Mann, der einer war, tat es vor Zeugen, aber ich habe mir das nie verziehen. Obwohl es nötig war.«

»Diejenigen, bei denen es nötig erscheint, scheinen oft die zu sein, bei denen wir das am wenigsten wollen.«

»Das kannst du laut sagen«, bemerkte Tarn mit leisem Seufzen und stützte sich auf die Balkonbrüstung. In der Dunkelheit unter ihnen flammte in vielen Fenstern Licht auf. »Das ist so merkwürdig. Mein Junge, der Wiedergeborene Drache. All die Geschichten, die ich hörte, als ich die Welt bereiste, nun bin ich ein Teil davon.«

»Was glaubst du, wie sich das für mich anfühlt«, sagte Rand.

Tarn kicherte. »Ja. Ja, ich glaube, du weißt genau, was ich meine, nicht wahr? Schon witzig, oder?«

»Witzig?« Rand schüttelte den Kopf. »Nein. Das nicht. Mein Leben gehört nicht mir. Ich bin eine Marionette des Musters und der Prophezeiungen, die für die Welt tanzen muss, bevor man mir die Fäden durchschneidet.«

Tarn runzelte die Stirn. »Das ist nicht wahr, Sohn. Äh, mein Lord.«

»Ich kann das nicht anders sehen.«

Tarn legte die Arme auf der glatten Steinbrüstung übereinander. »Vermutlich kann ich das sogar verstehen. Diese Gefühle sind mir nicht ganz fremd, wie damals in meiner Zeit als Soldat. Du weißt, dass ich gegen Tear gekämpft habe? Man sollte annehmen, dass meine Anwesenheit hier schmerzliche Erinnerungen heraufbeschwört. Aber ein Feind scheint oft wie der andere zu werden. Ich trage niemandem etwas nach.«

Rand stellte den Zugangsschlüssel auf die Brüstung, hielt ihn aber fest umklammert. Er beugte sich nicht vor, sondern blieb gerade aufgerichtet.

»Ein Soldat hat auch nicht viele Möglichkeiten, was sein eigenes Schicksal angeht«, fuhr Tarn fort und tippte mit einem Finger leise auf die Brüstung. »Wichtigere Männer treffen alle Entscheidungen. Männer, nun, ich vermute mal, Männer wie du.«

»Aber alle Entscheidungen trifft das Muster für mich«, sagte Rand. »Ich habe weniger Freiheiten als die Soldaten. Du hättest weglaufen können, desertieren. Oder hättest auf legale Weise da rauskommen können.«

»Und du kannst nicht weglaufen?«

»Ich glaube nicht, dass das Muster das zulassen würde«, meinte Rand. »Was ich tue, ist zu wichtig. Es würde mich einfach wieder in Reih und Glied zwingen. Das hat es bereits schon ein Dutzend Mal getan.«

»Und du würdest wirklich weglaufen wollen?«, fragte Tarn.

Rand antwortete nicht.

»Diese Kriege hätte ich hinter mir lassen können. Aber gleichzeitig war das auch unmöglich. Nicht ohne zu verraten, wer ich bin. Ich glaube, für dich gilt das Gleiche. Spielt es überhaupt eine Rolle, ob du weglaufen kannst, wenn du doch genau weißt, dass es nie für dich infrage käme?«

»Am Ende von alldem hier werde ich sterben«, sagte Rand. »Und ich habe keine Wahl.«

Tarn richtete sich auf und runzelte die Stirn. Sofort hatte Rand wieder das Gefühl, zwölf Jahre alt zu sein. »Also so etwas will ich nicht hören«, sagte Tarn. »Auch wenn du der Wiedergeborene Drache bist, will ich es nicht hören. Du hast immer eine Wahl. Vielleicht kannst du dir nicht aussuchen, wo man dich zwingt hinzugehen, trotzdem bleibt dir immer noch die Wahl.«

»Aber wie?«

Tarn legte Rand die Hand auf die Schulter. »Bei der Wahl geht es nicht immer darum, was du tust, Sohn, sondern warum du es tust. Als ich Soldat war, gab es viele Männer, die einfach nur für das Geld gekämpft haben. Andere kämpften aus Loyalität - Loyalität zu ihren Kameraden oder zur Krone oder was auch immer. Der Soldat, der für das Geld stirbt, ist genauso tot wie der Soldat, der aus Loyalität stirbt, aber zwischen ihnen besteht ein Unterschied. Der Tod des einen bedeutet etwas. Der des anderen bedeutet gar nichts.

Ich vermag nicht zu sagen, ob es stimmt, dass du sterben musst, damit das alles hier seinen vorgesehenen Gang nimmt. Aber wir wissen beide, dass du davor nicht weglaufen wirst. Auch wenn du dich verändert hast, kann ich doch erkennen, dass viele Dinge gleich geblieben sind. Also höre ich mir das Gejammer über dieses Thema nicht an.«

»Ich jammere nicht…«, setzte Rand an.

»Ich weiß. Könige jammern nicht, sie sinnen nach.« Er schien jemanden zu zitieren, auch wenn Rand nicht die geringste Ahnung hatte, wer das wohl sein mochte. Seltsamerweise kicherte Tarn kurz. »Es spielt auch keine Rolle«, fuhr er dann fort. »Rand, ich glaube, du kannst das hier überleben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dir das Muster keinen Frieden zugesteht - wenn man bedenkt, welchen Dienst du uns allen erweist. Aber du bist ein Soldat, der in den Krieg zieht, und das Erste, was ein Soldat lernt, ist die Tatsache, dass er dabei sterben könnte. Du kannst dir vielleicht nicht aussuchen, welche Pflichten du aufgetragen bekommst. Aber du kannst entscheiden, warum du sie erfüllst. Warum ziehst du in die Schlacht, Rand?«

»Weil ich es muss.«

»Das reicht nicht«, sagte Tarn. »Sollen doch die Krähen diese Frau fressen! Ich wünschte, sie wäre früher zu mir gekommen. Hätte ich gewusst…«

»Welche Frau?«

»Cadsuane Sedai«, sagte Tarn. »Sie hat mich geholt und gesagt, ich müsste mit dir reden. Ich blieb weg, weil ich der Ansicht war, dass das Letzte, was du brauchst, dein Vater ist, der dir über die Schulter sieht!«

Tarn sprach weiter, aber Rand hörte nicht mehr zu.

Cadsuane. Tarn war wegen Cadsuane gekommen. Nicht weil er Nynaeve begegnet war und die Gelegenheit ergriffen hatte. Nicht weil er nach seinem Sohn hatte sehen wollen. Sondern weil man ihn dazu manipuliert hatte.

Würde diese Frau ihn denn niemals in Ruhe lassen?

Seine Gefühle bei dem Wiedersehen mit Tarn waren so stark, dass sie das Eis weggekratzt hatten. Zu viel Zuneigung war wie zu viel Hass. Beides ließ ihn Gefühle erleben, und das durfte er nicht riskieren.

Aber das hatte er. Und plötzlich überwältigten ihn seine Gefühle beinahe. Er erschauderte und wandte sich von Tarn ab. War ihre Unterhaltung denn bloß ein weiteres von Cadsuanes Spielchen gewesen? Welche Rolle hatte Tarn dabei gespielt?

»Rand?«, sagte Tarn. »Es tut mir leid. Ich hätte die Aes Sedai nicht erwähnen sollen. Sie sagte, dass du möglicherweise ärgerlich bist, wenn ich sie erwähne.«

»Was hat sie sonst noch gesagt?«, wollte Rand wissen und fuhr zu Tarn herum. Der stämmige Mann trat zögernd einen Schritt zurück. Um sie herum wehte der Nachtwind, die Lichter der Stadt waren Punkte in der Tiefe.

»Nun«, sagte Tarn, »sie sagte, dass ich über deine Jugend sprechen soll, dich an bessere Zeiten erinnere. Sie dachte …«

»Sie manipuliert mich!«, sagte Rand leise und erwiderte Tains Blick. »Und sie manipuliert dich. Hier will mich jeder an seine Fäden knüpfen!«

In ihm brodelte der Zorn. Er versuchte ihn zurückzudrängen, aber das fiel so schwer. Wo war das Eis, die Stille? Verzweifelt suchte Rand nach dem Nichts. Er versuchte sämtliche Gefühle in die Kerzenflamme zu entleeren, genau wie Tarn es ihm vor so langer Zeit beigebracht hatte.

Dort wartete Saidin. Ohne nachzudenken griff Rand danach, und indem er es tat, wurde er von den Gefühlen überwältigt, die er geglaubt hatte losgeworden zu sein. Das Nichts zerbrach, aber Saidin blieb irgendwie und kämpfte mit ihm. Er schrie auf, als ihn die Übelkeit traf, und trotzig schleuderte er ihr seinen Zorn entgegen.

»Rand«, sagte Tarn stirnrunzelnd. »Du solltest es doch besser wissen als …«

»HALT DEN MUND!«, brüllte Rand und warf Tarn mit einem Strom Luft zu Boden. Er rang mit seinem Zorn auf der einen Seite und Saidin auf der anderen. Sie drohten ihn zwischen sich zu zermalmen.

Aus diesem Grund musste er stark sein. Konnten sie das denn nicht begreifen? Wie sollte man denn lachen können, wenn man sich mit solchen Mächten konfrontiert sah?

»Ich bin der Wiedergeborene Drache!«, schleuderte Rand Saidin entgegen, Tarn, Cadsuane, dem Schöpfer selbst. »Ich werde nicht euer Spielzeug sein!« Er richtete den Zugangsschlüssel auf Tarn. Sein Vater lag auf dem Boden des Balkons. »Du kommst von Cadsuane und behauptest, mir deine Zuneigung zu zeigen. Aber du willst mir nur einen weiteren ihrer Fäden um den Hals knüpfen! Kann ich nicht von euch allen befreit sein?«

Er hatte die Kontrolle verloren. Aber das war ihm egal. Sie wollten, dass er etwas fühlte. Also würde er etwas fühlen! Sie wollten, dass er lachte? Er würde lachen, wenn sie brannten!

Er schrie sie alle an und webte Stränge aus Luft und Feuer. In seinem Kopf heulte Lews Therin, Saidin versuchte sie beide zu vernichten, und die leise Stimme in seinem Herzen verschwand.

Ein winziger Lichtpunkt trat vor Rand in Erscheinung, wuchs aus dem Mittelpunkt des Zugangsschlüssels. Die Gewebe von Baalsfeuer wirbelten vor ihm, und der Zugangsschlüssel wurde immer heller, als er immer mehr Macht hineinzog.

In diesem Lichtschein sah Rand das Gesicht seines Vaters, der zu ihm aufschaute. Voller Angst. Was tue ich hier?

Rand fing am ganzen Körper an zu zittern, das Baalsfeuer löste sich auf, bevor er Gelegenheit hatte, es zu benutzen. Entsetzt stolperte er zurück.

Was TUE ich hier?, dachte Rand erneut.

Nicht mehr, als ich auch getan habe, flüsterte Lews Therin.

Tarn starrte ihn immer noch an, das Gesicht verborgen vom Schatten der Nacht.

Beim Licht, dachte Rand voller Entsetzen, Unglaube und Zorn. Ich tue es wieder. Ich bin ein Ungeheuer.

Noch immer zaghaft Saidin haltend, webte Rand ein Wegetor nach Ebou Dar, duckte sich hindurch und floh vor dem Entsetzen in Tams Augen.

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