Rodel Ituralde hatte in seinem Leben schon viele Schlachtfelder gesehen. Viele Dinge waren fast immer gleich. Tote Männer, die wie weggeworfene Lumpen auf einem Haufen lagen. Raben, die es nicht erwarten konnten, über sie herzufallen. Stöhnen, Schreie, Wimmern und Murmeln von denjenigen, die das Pech hatten, lange Zeit zum Sterben zu brauchen.
Aber jedes Schlachtfeld hinterließ auch seinen eigenen Eindruck. Man konnte eine Schlacht wie die Spuren von vorbeigekommenem Wild lesen. Leichen, die in bestürzend geraden Reihen lagen, wiesen auf einen Angriff von Fußsoldaten hin, die gegen Pfeilsalven angetreten waren. Zertrampelte und verstreute Körper waren das Resultat eines schweren Kavallerieangriffs. Diese Schlacht hatte zahllose Seanchaner erlebt, die gegen die Mauern von Darluna gedrängt worden waren, wo sie sich verzweifelt zur Wehr gesetzt hatten. Wo sie gegen den Stein gehämmert worden waren. Ein Stück der Stadtmauer war eingestürzt; dort hatten Damane versucht, sich in die Stadt zu retten. Ein Straßenkampf wäre für die Seanchaner ein Vorteil gewesen. Sie hatten es nicht mehr rechtzeitig geschafft.
Ituralde ritt auf seinem Rotschimmel durch das Chaos. Eine Schlacht war immer ein Chaos. Ordentliche Schlachten gab es nur in Erzählungen oder Geschichtsbüchern. Gesäubert und gereinigt von emsigen Gelehrten, die es kurz und knapp haben wollten. »Der Angreifer hat gewonnen, es gab dreiundfünfzigtausend Gefallene« oder »Die Verteidiger hielten stand, zwanzigtausend Gefallene«.
Was würde man einst über diese Schlacht schreiben? Das kam wohl auf die Verfasser an. Sie würden sicherlich das Blut ignorieren, das man in die Erde getreten hatte, um Schlamm zu machen. Die zerbrochenen, durchbohrten und verstümmelten Körper. Der Boden, in den zornige Damane Schneisen gerissen hatten. Vielleicht würde man sich an die Zahlen erinnern; die schienen für die Gelehrten oft so wichtig zu sein. Die Hälfte von Ituraldes Hunderttausend tot. Auf jedem anderen Schlachtfeld hätten ihn fünfzigtausend Gefallene beschämt und zornig gemacht. Aber er war gegen eine Streitmacht angetreten, die dreimal so groß gewesen war und die darüber hinaus noch über Damane verfügt hatte.
Er folgte dem Boten, der ihn geholt hatte, ein Junge von vielleicht zwölf Jahren in der roten und grünen Uniform der Seanchaner. Sie kamen an einer im Dreck liegenden Standarte vorbei, die an einem zerbrochenen Stab hing, dessen Spitze in den Schlamm gerammt war. Sie trug das Zeichen einer von sechs Möwen durchflogenen Sonne. Ituralde hasste es, die Häuser und Namen der Gegner nicht zu kennen, aber bei den fremden Seanchanern konnte man sie unmöglich in Erfahrung bringen.
Die Schatten der sterbenden Abendsonne bedeckten das Feld mit Streifen. Bald würde ein Tuch aus Dunkelheit die Toten einhüllen, und die Überlebenden konnten eine Weile so tun, als wäre das Grasland ein Grab für ihre Freunde. Und für die Menschen, die ihre Freunde getötet hatten. Er umrundete einen kleinen Hügel und kam zu verstreut daliegenden seanchanischen Elitekriegern. Die meisten dieser Toten trugen diese insektenhaften Helme. Verbogen, zersplittert oder verbeult. Tote Augen starrten leer aus den Öffnungen hinter verbogenen Mandibeln. Der seanchanische General lebte, wenn auch nur so gerade eben. Er hatte den Helm abgenommen, an seinen Lippen klebte Blut. Er saß an einen großen, bemoosten Stein gelehnt, gestützt von einem zusammengeknüllten Umhang, als würde er auf eine Mahlzeit warten. Natürlich ruinierten sein verdrehtes Bein und die abgebrochene Speerhälfte in seinem Bauch das Bild.
Ituralde stieg vom Pferd. Wie die meisten seiner Männer trug auch er die Kleidung eines Feldarbeiters - schlichte braune Hosen und Mantel, ausgeliehen von dem Mann, der Ituraldes Uniform als Teil der Falle getragen hatte.
Keine Uniform zu tragen fühlte sich seltsam an. Ein Mann wie dieser General Turan verdiente keinen Soldaten in Zivil. Ituralde verscheuchte den Botenjungen, damit er außer Hörweite ging, dann begab er sich allein zu dem Seanchaner.
»Ihr seid das also«, sagte Turan und schaute zu Ituralde hoch, sprach mit diesem gedehnten seanchanischen Akzent. Er war ein stämmiger Mann, alles andere als groß, mit spitzer Nase. Das kurz geschnittene schwarze Haar war an jeder Kopfseite zwei Fingerbreit geschoren, und der Helm lag neben ihm am Boden. Er wies drei weiße Federn auf. Mit unsicherer schwarzbehandschuhter Hand griff er nach oben, um sich das Blut vom Mundwinkel zu wischen.
»Ich bin es«, bestätigte Ituralde.
»In Tarabon bezeichnet man Euch als ›Großen Hauptmann‹.«
»Das ist richtig.«
»Es ist verdient«, sagte Turan und hustete. »Wie habt Ihr das gemacht? Unsere Späher ...« Das Husten verschluckte seine Worte.
»Raken«, sagte Ituralde, sobald er zu husten aufhörte. Neben seinem Feind ging er in die Hocke. Die Sonne war noch immer ein Splitter im Westen und tauchte das Schlachtfeld in rotgoldenes Licht. »Eure Späher sehen aus der Luft, und aus der Ferne lässt sich die Wahrheit leicht verbergen.«
»Das Heer hinter uns?«
»Größtenteils Frauen und Jugendliche«, sagte Ituralde. »Und eine große Zahl Bauern. Sie trugen die Uniformen meiner Truppen.«
»Und wenn wir umgekehrt wären und angegriffen hätten?«
»Das hättet ihr nicht getan. Eure Raken verrieten euch, dass ihr zahlenmäßig unterlegen wart. Besser die kleine Streitmacht vor euch zu verfolgen. Besser, zu der Stadt zu eilen, die euren Spähern zufolge kaum verteidigt wird, selbst wenn es bedeutet, die Männer fast bis zur Erschöpfung marschieren zu lassen.«
Turan hustete wieder und nickte. »Ja. Ja, aber die Stadt war verlassen. Wie habt Ihr die Truppen hineingeschafft?«
»Späher in der Luft können nicht in Häuser hineinsehen.«
»Ihr habt Euren Truppen befohlen, sich so lange drinnen zu verstecken?«
»Ja«, sagte Ituralde. »Im Wechsel durfte jeden Tag eine kleine Anzahl zur Arbeit auf die Felder.«
Turan schüttelte ungläubig den Kopf. »Euch ist klar, was Ihr getan habt«, sagte er. In seiner Stimme lag keine Drohung. Tatsächlich lag da eine ordentliche Portion Bewunderung. »Die Hochlady Suroth wird dieses Versagen niemals akzeptieren. Sie wird Euch jetzt brechen müssen, und wenn auch nur, um Ihr Gesicht zu wahren.«
»Ich weiß«, sagte Ituralde. »Aber ich kann euch nicht vertreiben, indem ich euch in euren Festungen angreife. Ihr müsst zu mir kommen.«
»Ihr begreift nicht, wie viele wir sind ...«, sagte Turan. »Was Ihr heute vernichtet habt, ist nur eine Brise verglichen mit dem Sturm, den Ihr ausgelöst habt. Heute sind genug von meinen Leuten entkommen, um Eure Tricks zu verraten. Sie werden nicht noch einmal funktionieren.«
Er hatte recht. Seanchaner lernten schnell. Ituralde hatte seine Überfälle in Tarabon wegen der schnellen seanchanischen Reaktion abbrechen müssen.
»Ihr wisst, dass Ihr uns nicht schlagen könnt«, sagte Turan leise. »Ich lese es in Euren Augen, Großer Hauptmann.«
Ituralde nickte.
»Warum dann also?«
»Warum fliegt eine Krähe?«
Turan hustete schwach.
Ituralde wusste, dass er seinen Krieg gegen die Seanchaner nicht gewinnen konnte. Seltsamerweise führte ihm jeder seiner Siege deutlich vor Augen, dass er am Ende verlieren würde. Die Seanchaner waren schlau, gut ausgerüstet und diszipliniert. Und vor allem waren sie hartnäckig.
In dem Moment, in dem sich diese Stadttore geöffnet hatten, hatte Turan wissen müssen, dass er zum Untergang verurteilt war. Aber er hatte sich nicht ergeben. Er hatte gekämpft, bis sein Heer zerbrach und sich in zu viele Richtungen zerstreute, als dass Ituraldes erschöpfte Truppen sie hätte einfangen können. Turan hatte es begriffen. Manchmal lohnte es sich einfach nicht, sich zu ergeben. Kein Mann hieß den Tod willkommen, aber ein Soldat konnte ein viel schlimmeres Ende erleiden. Die Heimat den Invasoren zu überlassen ... nun, Ituralde konnte das nicht tun. Nicht einmal, wenn der Kampf unmöglich zu gewinnen war.
Er tat, was er tun musste, wenn es getan werden musste. Und im Augenblick musste Arad Doman kämpfen. Sie würden verlieren, aber ihre Kinder würden für alle Ewigkeit wissen, dass sich ihre Väter gewehrt hatten. In hundert Jahren, wenn es zur Rebellion kam, würde dieser Widerstand wichtig sein. Falls sie kam.
Ituralde erhob sich und wollte zu seinen wartenden Soldaten zurückkehren.
Turan mühte sich ab und griff nach seinem Schwert. Ituralde zögerte, drehte sich wieder um.
»Werdet Ihr es tun?«, fragte Turan.
Ituralde nickte, zog das Schwert.
»Es war eine Ehre«, sagte Turan und schloss die Augen. Ituraldes mit dem Reiher gezeichnetes Schwert trennte einen Augenblick später den Kopf des Mannes von den Schultern. Turans Klinge wies ebenfalls einen Reiher auf, der gerade eben auf dem Stück Stahl zu sehen war, das der Seanchaner hatte herausziehen können. Es war schade, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatten, die Schwerter zu kreuzen - obwohl die vergangenen Wochen in einem anderen Maßstab eigentlich nichts anderes gewesen waren.
Ituralde säuberte das Schwert, dann schob er es zurück in seine Scheide. Als letzte Geste zog er Turans Schwert und stieß es neben dem gefallenen General in den Boden. Dann stieg er wieder in den Sattel, nickte dem Boten zum Abschied zu und suchte sich seinen Weg zurück über das im Schatten liegende Leichenfeld.
Die Raben hatten angefangen.
»Ich habe versucht, einige der Diener und Palastwachen zu ermutigen«, sagte Leane leise. Sie saß vor den Gitterstäben ihrer Zelle. »Aber es ist schwer.« Sie lächelte und sah Egwene an, die neben der Zelle auf einem Hocker saß. »Im Moment fühle ich mich nicht besonders anziehend.«
Egwenes Lächeln war trocken, und sie schien zu verstehen. Leane trug noch immer das Kleid, in dem man sie gefangen genommen hatte, und es war noch nicht gereinigt worden. An jedem dritten Morgen zog sie es aus und benutzte den morgendlichen Eimer mit Wasser - nachdem sie sich mit einem feuchten Lappen ordentlich gewaschen hatte -, um das Kleid zu reinigen. Aber ohne Seife waren einem Grenzen gesetzt. Sie hatte ihr Haar geflochten, damit es wenigstens den Anschein von Ordentlichkeit erweckte, konnte aber nichts wegen ihrer zersplitterten Nägel unternehmen.
Leane seufzte und dachte an die Vormittage, die sie damit verbracht hatte, verborgen vor allen Blicken nackt in der Zellenecke zu stehen und darauf zu warten, dass Kleid und Unterhemd trockneten. Nur weil sie eine Domani war, bedeutete das noch lange nicht, dass sie gern ohne einen Fetzen Stoff am Leib herumstolzierte. Eine anständige Verführung verlangte Geschick und Subtilität; Nacktheit benutzte keines davon.
Ihre Zelle war gar nicht so schlimm, was Zellen anging - sie hatte ein kleines Bett, Mahlzeiten, genug Wasser und einen Nachttopf, der jeden Tag ausgewechselt wurde. Aber sie durfte nie hinaus und wurde ständig von zwei Schwestern bewacht, die sie abgeschirmt hielten. Ihre einzige Besucherin war Egwene, wenn man einmal von jenen absah, die zu ihr kamen, um ihr Informationen über das Schnelle Reisen zu entlocken.
Die Amyrlin saß mit nachdenklichem Gesichtsausdruck auf ihrem Hocker. Und sie war die Amyrlin. Es war unmöglich, sie als etwas anderes zu betrachten. Wie konnte eine so junge Frau das so schnell gelernt haben? Die aufrechte Haltung, die selbstsichere Miene. Bei Kontrolle ging es weniger um die Macht, die man hatte, sondern eher um die Macht, die man zu haben vorgab. Tatsächlich ähnelte es sehr dem Umgang mit Männern.
»Habt Ihr ... etwas gehört?«, fragte Leane. »Was sie mit mir machen wollen?«
Egwene schüttelte den Kopf. Die beiden Gelben Schwestern saßen in der Nähe auf einer Bank und plauderten miteinander, angeleuchtet von einer Lampe auf dem Tisch neben ihnen. Leane hatte keine der Fragen ihrer Kerkerwächter beantwortet, und das Burggesetz regelte die Befragung von Schwestern ausgesprochen streng. Man konnte ihr nicht schaden, vor allem nicht mit der Macht. Aber man konnte sie einfach hier allein verfaulen lassen.
»Danke, dass Ihr mich immer am Abend besuchen kommt«, sagte sie und griff zwischen den Gitterstäben hindurch, um Egwenes Hand zu nehmen. »Ich glaube, ich schulde Euch meine geistige Gesundheit.«
»Es ist mir ein Vergnügen«, erwiderte Egwene, aber ihre Augen zeigten einen Hauch der Erschöpfung, die sie zweifellos verspürte. Einige der Schwestern, die Leane besucht hatten, hatten die Prügel erwähnt, die Egwene als »Buße« für ihre Insubordination auferlegt bekam. Und trotz der Schmerzen besuchte sie Leane beinahe an jedem Abend in ihrer Zelle.
»Ich werde Euch freibekommen, Leane«, versprach Egwene und hielt ihre Hand. »Elaidas Tyrannei kann nicht ewig andauern. Ich bin zuversichtlich, dass es bald damit ein Ende hat.«
Leane nickte, ließ los und stand auf. Egwene griff nach den Gitterstäben und zog sich auf die Füße; die Bewegung ließ sie leicht zusammenzucken. Sie nickte Leane zum Abschied zu, dann zögerte sie und runzelte die Stirn.
»Was ist?«, fragte Leane.
Egwene ließ das Gitter los und betrachtete ihre Handflächen. Sie schienen mit einer reflektierenden wächsernen Substanz beschmiert zu sein. Stirnrunzelnd sah Leane die Gitterstäbe an und entdeckte entsetzt Egwenes Handabdrücke auf dem Eisen.
»Was beim Licht ...«, sagte sie und stieß mit dem Finger gegen einen Eisenstab. Er verbog sich wie warmes Wachs am Rand eines Kerzenhalters.
Plötzlich bewegten sich die Steine unter ihren Füßen, und sie fühlte, wie sie versank. Sie schrie auf. Von der Decke regneten auf einmal dicke, geschmolzenem Wachs ähnliche Tropfen und klatschten ihr ins Gesicht. Sie waren nicht warm, aber irgendwie flüssig. Sie hatten die Farbe von Stein!
Von Panik ergriffen keuchte sie auf und stolperte, als ihre Füße immer tiefer in den viel zu glatten Boden einsanken. Eine Hand ergriff sie; sie schaute auf und sah, dass Egwene nach ihr gegriffen hatte. Die Gitterstäbe zerschmolzen einfach, das Eisen erschlaffte und verflüssigte sich dann.
»Hilfe!«, schrie Egwene den Gelben zu. »Verflucht! Hört auf zu starren!«
Entsetzt versuchte Leane Halt zu finden, versuchte sich an den Gitterstäben auf Egwene zuzuziehen. Sie bekam nur Wachs zu fassen. Ein Stück Gitter löste sich und wurde zwischen ihren Fingern zerdrückt, der Boden verformte sich unter ihr und saugte sie in die Tiefe.
Und dann ergriffen sie Stränge aus Luft und rissen sie frei. Der Raum schwankte, als sie nach vorn gegen Egwene geschleudert wurde und die junge Frau zurückstieß. Die beiden Gelben - die weißhaarige Musarin und die kleine Gelarna - waren auf die Füße gesprungen, und der Schein Saidars hüllte sie ein. Musarin rief nach Hilfe und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die schmelzende Zelle.
Leane kroch von Egwene fort und kam wieder auf die Füße, ihr Kleid und ihre Beine waren mit dem seltsamen Wachs überzogen, und sie stolperte von der Kerkerzelle weg. Hier im Korridor fühlte sich der Boden stabil an. Beim Licht, wie gern hätte sie die Quelle umarmt! Aber man hatte ihr zu viel Spaltwurzel verabreicht, ganz zu schweigen von der Abschirmung.
Egwene stand mit ihrer Hilfe wieder auf. Stille kehrte in den Raum ein, die Lampe flackerte. Sie alle starrten die Zelle an. Sie hatte aufgehört zu schmelzen, die Gitterstäbe waren zerbrochen, an den oberen Hälften war tropfender Stahl erstarrt, die unteren Hälften waren nach innen gebogen. Viele waren durch Leanes Flucht auf den Stein gedrückt. Der Boden in dem abgesperrten Raum hatte sich wie ein Trichter nach innen gebogen. Dort, wo Leane voller Panik darauf getreten war, wies der Stein tiefe Furchen auf.
Mit pochendem Herzen stand Leane da und begriff, dass nur Sekunden vergangen waren. Was sollte sie tun? Voller Angst weglaufen? Würde auch der Rest des Korridors schmelzen?
Egwene trat einen Schritt vor und pochte mit dem Zeh gegen einen Gitterstab. Er gab nicht nach. Leane trat ebenfalls einen Schritt vor, und ihr Kleid raschelte; Stein bröckelte wie Mörtel ab. Sie beugte sich vor und strich über ihren Rock. Es fühlte sich an, als wäre er mit Stein überzogen und nicht mit Wachs.
»Diese Vorkommnisse häufen sich«, sagte Egwene ganz ruhig und sah die beiden Gelben an. »Der Dunkle König wird stärker. Die Letzte Schlacht naht. Was unternimmt Eure Amyrlin dagegen?«
Musarin sah sie an; die hochgewachsene, alternde Aes Sedai sah sichtlich verstört aus. Leane folgte Egwenes Beispiel und zwang sich zur Ruhe, als sie mit von ihrem Kleid herabregnenden Steinbröckchen neben die Amyrlin trat.
»Ja, nun«, sagte Musarin. »Novizin, Ihr geht jetzt auf Euer Zimmer. Und Ihr ...« Sie schaute Leane an, dann die Überreste der Zelle. »Euch werden wir ... umquartieren müssen.«
»Und wohl ein neues Kleid geben«, sagte Leane und verschränkte die Arme.
Musarins Blick flackerte zu Egwene. »Geht. Das ist nicht länger Eure Sache, Kind. Wir kümmern uns um die Gefangene.«
Egwene kniff die Lippen zusammen, aber dann wandte sie sich Leane zu. »Bleibt standhaft«, sagte sie und eilte fort.
Erschöpft und verstört durch die steinverformende Blase des Bösen ging Egwene mit rauschenden Röcken auf den Flügel der Burg zu, in dem sich das Novizinnenquartier befand. Was war nötig, damit diese dummen Frauen begriffen, dass man keine Zeit mehr für irgendwelchen Zank hatte?
Es war schon spät, und in den Gängen waren nur noch wenige Frauen unterwegs, und keine davon eine Novizin. Egwene passierte mehrere Diener, die spätabendlichen Pflichten nachgingen und leise über die Bodenfliesen huschten. Diese Teile der Burg waren belebt genug, dass an den Wänden ausreichend Lampen brannten; sie verbreiteten ein diffuses orangefarbenes Licht. Hundert verschiedene, auf Hochglanz polierte Fliesen reflektierten die flackernden Flammen, die wie Augen aussahen, die Egwene beobachteten.
Es fiel schwer zu verstehen, dass sich dieser ruhige Abend in eine Falle verwandelt hatte, die um ein Haar Leane getötet hätte. Wenn man sich nicht einmal mehr auf den Boden verlassen konnte, auf was denn dann? Egwene schüttelte den Kopf. Sie war zu müde und zu wund, um in diesem Moment über Lösungen nachzudenken. Ihr wurde nicht bewusst, dass aus den grauen Bodenfliesen dunkelbraune wurden. Sie ging einfach weiter und zählte die Türen, die sie passierte. Ihre war die siebte ...
Sie erstarrte und sah zwei Braune Schwestern stirnrunzelnd an: Maenadrin - eine Saldaeanerin - und Negaine. Die beiden hatten sich flüsternd unterhalten und sahen Egwene jetzt finster an, als sie an ihnen vorbeiging. Was hatten die beiden im Novizinnenquartier zu suchen?
Aber Moment mal. Das Quartier der Novizinnen hatte keine braunen Bodenfliesen. Hier hätten unscheinbare graue Fliesen liegen müssen. Und die Türen im Korridor standen viel zu weit auseinander. Das sah überhaupt nicht nach den Novizinnenzimmern aus! War sie so müde gewesen, dass sie in die genau entgegengesetzte Richtung gegangen war?
Sie kehrte um, passierte die beiden Braunen erneut. Sie kam zu einem Fenster und schaute hinaus. Um sie herum erstreckte sich die rechteckige weiße Fläche des Turmflügels, genau wie er sollte. Sie hatte sich nicht verlaufen.
Verblüfft sah sie nach hinten. Maenadrin hatte die Arme verschränkt und betrachtete sie mit ihren dunklen Augen. Die hochgewachsene und dürre Negaine kam auf sie zu. »Was habt Ihr hier um diese Nachtzeit zu suchen, Kind?«, wollte sie wissen. »Hat Euch eine Schwester kommen lassen? Ihr solltet in Eurem Zimmer sein und schlafen.«
Wortlos zeigte Egwene aus dem Fenster. Negaine blickte stirnrunzelnd hinaus. Sie erstarrte und keuchte. Schaute zurück in den Korridor, dann wieder hinaus, als könnte sie nicht glauben, wo sie war.
Wenige Minuten später war die ganze Burg in Aufruhr. Egwene stand vergessen mit einer Gruppe verschlafener Novizinnen an einer Korridorwand, während Schwestern mit angespannten Stimmen debattierten und zu entscheiden versuchten, was zu tun war. Anscheinend waren zwei Sektionen der Weißen Burg ausgetauscht worden, und die schlafenden Braunen Schwestern waren aus ihrer Sektion oben im Turm nach unten in den Flügel versetzt worden. Die völlig intakten Novizinnenzimmer befanden sich nun dort, wo die Sektion der Braunen gewesen war. Niemand erinnerte sich an eine Bewegung oder Vibrationen, als der Tausch vorgenommen worden war, und der Transfer erschien nahtlos. Eine Reihe Bodenfliesen war genau in der Mitte geteilt und dann mit den Fliesen der Sektion verschmolzen, die versetzt worden war.
Es wird immer schlimmer, dachte Egwene, als die Braunen Schwestern entschieden, dass sie den Austausch für den Augenblick akzeptieren mussten. Man konnte schlecht Schwestern in Zimmern unterbringen, deren Größe für Novizinnen gedacht war.
Das würde die Braunen teilen, die Hälfte von ihnen befand sich nun in diesem Flügel, die andere Hälfte an ihrem alten Platz - und ein Haufen Novizinnen mitten unter ihnen. Eine Spaltung, die bemerkenswert repräsentativ für die weniger sichtbaren Spaltungen war, unter denen die Ajahs litten.
Schließlich gingen Egwene und die anderen erschöpft zu Bett - auch wenn sie jetzt viele Treppen hinaufsteigen musste, um ihre Kammer zu finden.