Chaos. Die ganze Welt war ein Chaos.
Tuon stand auf dem Balkon ihres Audienzsaals im Palast von Ebou Dar, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Auf dem Palastgelände mit seinen weißen Gehwegplatten - weiß wie so viele Oberflächen in dieser Stadt - übte eine Gruppe altaranischer Waffenmänner in Gold und Schwarz unter den aufmerksamen Blicken eines ihrer eigenen Offiziere Formationen. Jenseits von ihnen erhob sich die Stadt, weiße, mit bunten Streifen versehene Kuppeln breiteten sich neben hohen weißen Türmen aus.
Ordnung. Hier in Ebou Dar herrschte Ordnung, selbst in den Feldern aus Zelten und Wagen vor der Stadt. Seanchanische Soldaten patrouillierten und hielten den Frieden aufrecht; es gab Pläne, den Rahad zu säubern. Nur weil jemand arm war, war das noch lange kein Grund - oder eine Entschuldigung -, ohne Gesetz zu leben.
Aber diese Stadt war nur eine winzige Nische der Ordnung in einer Welt des Sturms. Seanchan selbst wurde vom Bürgerkrieg erschüttert, jetzt, da die Kaiserin gestorben war. Die Corenne war eingetroffen, aber die Zurückeroberung der Länder Artur Falkenflügels schritt nur langsam voran, im Osten vom Wiedergeborenen Drachen aufgehalten, im Norden von den Heeren der Domani. Noch immer wartete sie auf Neuigkeiten von Generalleutnant Turan, aber die Zeichen standen nicht gut. Galgan beharrte auf der Ansicht, dass das Ergebnis sie möglicherweise überraschen würde, doch Tuon hatte in der Stunde, in der man sie über Turans gefährliche Lage unterrichtete, eine schwarze Taube gesehen. Das Omen war klar. Er würde nicht lebend zurückkehren.
Chaos. Sie schaute zur Seite, wo der treue Karede in seiner Rüstung stand, die blutrot und in einem fast schon schwarzen Dunkelgrün lackiert war. Er war ein großer Mann, das kantige Gesicht beinahe so massiv wie die Rüstung, die er trug. An diesem Tag - dem Tag nach Tuons Rückkehr nach Ebou Dar - hatte er zwei Dutzend Totenwächter dabei, zusammen mit sechs Ogier-Gärtnern, und sie alle hatten sich an den Wänden aufgereiht. Sie säumten die Seiten des Raumes mit den weißen Säulen und der hohen Decke. Karede spürte das Chaos, und er hatte nicht vor, sie noch einmal entführen zu lassen. Chaos war immer dann am tödlichsten, wenn man darüber Vermutungen anstellte, was es infizieren konnte und was nicht. Hier in Ebou Dar hatte es sich in Gestalt einer Fraktion manifestiert, die Tuon das Leben nehmen wollte.
Attentatsversuche hatte sie abgewehrt, seit sie laufen konnte, und sie hatte sie alle überlebt. Sie rechnete mit ihnen. In gewisser Weise blühte sie wegen ihnen sogar auf. Wie sollte man denn sonst wissen, dass man mächtig war, wenn keine Attentäter ausgeschickt wurden, um einen umzubringen?
Aber Suroths Verrat ... In der Tat herrschte das Chaos, wenn sich die Anführerin der Vorläufer selbst als Verräterin erwies. Es würde sehr schwierig werden, die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Vielleicht sogar unmöglich.
Tuon drückte den Rücken durch. Sie hatte nicht erwartet, ausgerechnet jetzt schon zur Kaiserin zu werden. Aber sie würde ihre Pflicht tun.
Sie wandte sich von dem Balkon ab und ging zurück in das Audienzgemach, um sich der Menge zu stellen, die sie erwartete. Genau wie die anderen Angehörigen des Blutes trug auch sie Asche auf den Wangen, um den Verlust der Kaiserin zu betrauern. Sie hatte wenig Zuneigung für ihre Mutter verspürt, aber eine Kaiserin brauchte auch keine Zuneigung. Sie sorgte für Ordnung und Stabilität. Tuon hatte gerade erst damit begonnen, die Bedeutung dieser Dinge zu verstehen, als sich diese Last auf ihre Schultern senkte.
Das Gemach war breit und rechteckig; Kandelaber zwischen den Säulen und das durch den breiten Balkon hinter ihr einfallende, strahlende Sonnenlicht sorgten für Helligkeit. Tuon hatte befohlen, dass man die Teppiche entfernte, denn sie zog die hellen weißen Fliesen vor. Die Decke zeigte ein großes Wandgemälde mit Fischern auf dem Meer, mit in der klaren Luft fliegenden Möwen, und die Wände waren hellblau gestrichen. Vor den Kandelabern zu Tuons Rechten kniete eine Gruppe aus zehn Da'covale. Sie trugen durchsichtige Gewänder und warteten auf einen Befehl. Suroth war nicht unter ihnen. Um sie kümmerte sich die Totenwache, zumindest bis ihr Haar nachgewachsen war.
Sobald Tuon den Raum betrat, gingen alle Bürgerlichen auf die Knie und berührten mit der Stirn den Boden. Die Angehörigen des Blutes knieten und neigten den Kopf.
Auf der anderen Seite des Raumes, gegenüber den Da'covale, knieten Lanelle und Melitene in Kleidern, auf deren Röcken rote Rechtecke mit silbernen Blitzen prangten. Ihre angeleinten Damane knieten mit zu Boden gerichtetem Gesicht. Mehreren der Damane war Tuons Entführung unerträglich gewesen; während ihrer Abwesenheit hatten sie unstillbare Weinkrämpfe gehabt.
Der Audienzstuhl war relativ schlicht. Ein Holzstuhl, dessen Armlehnen und Rückenlehne mit schwarzem Samt überzogen waren. Tuon setzte sich. Bekleidet war sie mit einem plissierten Gewand im tiefsten Meerblau, ein weißer Umhang fiel von ihren Schultern. Sobald sie saß, erhoben sich die Menschen in dem Raum aus ihren Positionen der Vergötterung - alle bis auf die Da'covale, die auf den Knien blieben. Selucia stand auf und trat neben den Stuhl, das goldblonde Haar zu einem Zopf geflochten, der an ihrer rechten Seite hing, die linke Kopfseite rasiert. Sie trug keine Asche, da sie nicht zum Blut gehörte, aber das weiße Band an ihrem Arm verkündete, dass sie - wie das ganze Kaiserreich - den Verlust der Kaiserin betrauerte.
Yuril, Tuons Sekretärin und im Geheimen ihre Hand, stellte sich an die andere Seite des Stuhls. Die Totenwächter bauten sich lautlos um sie herum auf; ihre dunkle Rüstung schimmerte leicht im Sonnenlicht. In letzter Zeit waren sie ganz besonders beflissen mit ihrem Schutz. Tuon konnte es ihnen nicht verdenken, wenn man die kürzlichen Ereignisse betrachtete.
Hier bin ich, dachte sie, umgeben von meiner Macht, Damane auf der einen und Totenwächter auf der anderen Seite. Und doch fühle ich mich nicht sicherer als in Matrims Gesellschaft. Wie seltsam, dass sie sich bei ihm sicher gefühlt hatte.
Unmittelbar vor ihr, indirekt beleuchtet vom Sonnenlicht des Balkons, befand sich eine Abordnung des Blutes, von denen Generalhauptmann Galgan die höchste Stellung einnahm. Er trug heute eine Rüstung, der Brustpanzer war dunkelblau lackiert, die Farbe war dunkel genug, um beinahe schon schwarz zu wirken. Sein Kopf war an den Seiten glatt rasiert, und das gepuderte weiße Haar des Scheitels war bis zu seinen Schultern geflochten, denn er gehörte dem Hohen Blut an. Begleitet wurde er von zwei Angehörigen des Niederen Blutes - Bannergeneral Najirah und Bannergeneral Yamada - sowie mehreren nichtadligen Offizieren. Sie warteten geduldig und achteten peinlich genau darauf, Tuons Blick nicht zu erwidern.
Mehrere Schritte hinter ihnen stand eine Versammlung anderer Angehöriger des Blutes, um ihre Entscheidungen zu bezeugen. Der drahtige Faverde Nothish und der langgesichtige Amenar Shumada führten sie an. Beide waren wichtige Männer - wichtig genug, um gefährlich zu sein. Suroth würde nicht die Einzige gewesen sein, die diese Zeiten als Gelegenheit betrachtet hatte. Sollte Tuon sterben, könnte praktisch jede Kaiserin werden. Oder jeder Kaiser.
Der Krieg in Seanchan würde nicht schnell enden; aber wenn es so weit war, würde sich der Sieger zweifellos auf den Kristallthron setzen. Und dann würde das seanchanische Kaiserreich zwei Führer haben, getrennt durch einen Ozean, vereint vom Verlangen, den anderen zu besiegen. Keiner von ihnen konnte es sich erlauben, den anderen am Leben zu lassen.
Ordnung, dachte Tuon und tippte mit einem blau lackierten Fingernagel auf das schwarze Holz ihrer Stuhllehne. Ordnung muss aus mir heraus entstehen. Ich werde den vom Sturm Heimgesuchten eine ruhige Brise bringen.
»Selucia ist meine Wahrheitssprecherin«, verkündete sie dem Raum. »Lasst es unter dem Blut verbreiten.«
Die Ankündigung kam erwartet. Selucia neigte zustimmend den Kopf, obwohl sie keine andere Aufgabe wünschte, als Tuon zu dienen und zu beschützen. Sie würde diese Position nicht willkommen heißen. Aber sie war auch ehrlich und geradlinig; sie würde eine ausgezeichnete Wahrheitssprecherin abgeben.
Und wenigstens dieses Mal konnte Tuon sicher sein, dass ihre Wahrheitssprecherin keine der Verlorenen war.
Dann glaubte sie also Falendres Geschichte? Ihre Aussage war nicht besonders glaubhaft; sie klang wie eine von Matrims fantasievollen Geschichten von Fabelwesen, die im Dunkeln lauerten. Und doch hatten die anderen Sul'dam und Damane Falendres Geschichte bestätigt.
Immerhin erschienen einige der Fakten eindeutig. Anath hatte mit Suroth zusammengearbeitet. Suroth hatte - mit etwas Nachhilfe - zugegeben, dass sie sich mit einer der Verlorenen getroffen hatte. Oder zumindest glaubte sie das. Sie hatte nicht gewusst, dass es sich bei der Verlorenen um Anath handelte, aber sie schien die Enthüllung für glaubwürdig zu halten.
Ob Anath nun wirklich eine der Verlorenen war oder nicht, sie hatte Tuon verkörpert und sich mit dem Wiedergeborenen Drachen getroffen. Und dann hatte sie versucht, ihn zu töten. Ordnung, dachte Tuon und hielt ihre Miene reglos. Ich repräsentiere die Ordnung.
Sie sandte Selucia, die trotz der zusätzlichen Verantwortung als Wahrheitssprecherin noch immer ihre Stimme war - und ihr Schatten - ein paar Handzeichen. Wenn sie mit jenen sprach, die so tief unter ihr standen, musste sie die Worte zuerst Selucia übermitteln, die sie dann laut aussprach.
»Dir wird befohlen, ihn hereinzuschicken«, sagte Selucia zu einem Da'covale neben dem Thron. Er verbeugte sich tief, berührte mit dem Kopf den Boden, dann eilte er ans andere Ende des großen Raumes und öffnete die Tür.
Beslan, König von Altara und Hoher Herr von Haus Mitsobar, war ein schlanker Jüngling mit schwarzen Augen und Haar. Er hatte die olivfarbene Hautfarbe der Altaraner, aber er hatte angefangen, die vom Blut bevorzugte Kleidung zu tragen. Locker fallende gelbe Hosen und einen Mantel mit hohem Kragen, der vorn nur bis zur Mitte der Brust reichte, darunter ein gelbes Hemd. Das Blut hatte einen deutlichen Durchgang in der Mitte des Raumes gelassen, und Beslan ging mit nach unten gerichtetem Blick hindurch. Als er den Platz für das Bittgesuch vor dem Thron erreichte, ging er auf die Knie und verbeugte sich tief. Das perfekte Bild eines loyalen Untertans. Abgesehen von der dünnen Goldkrone auf seinem Haupt.
Tuon gestikulierte Selucia.
»Ihr werdet gebeten aufzustehen«, sagte Selucia.
Beslan erhob sich, hielt den Blick aber weiter abgewandt. Er war ein guter Schauspieler.
»Die Tochter der Neun Monde bringt ihr Beileid für Euren Verlust zum Ausdruck«, fuhr Selucia fort.
»Ich wünsche Ihr das Gleiche wegen Ihres Verlusts. Meine Trauer ist nur eine Kerze verglichen mit dem großen Feuer, das das seanchanische Volk verspürt.«
Er war zu unterwürfig. Er war König; keiner verlangte von ihm, sich so tief zu verbeugen. Er war vielen vom Blut gleichgestellt.
Beinahe hätte Tuon glauben können, dass er sich einfach nur demütig gegenüber der Frau verhielt, die bald Kaiserin sein würde. Aber sie wusste zu gut über sein Temperament Bescheid, sowohl durch ihre Spione wie auch vom Hörensagen.
»Die Tochter der Neun Monde wünscht den Grund zu erfahren, warum Ihr nicht länger Hof haltet«, sagte Selucia und beobachtete Tuons Hände. »Sie findet es bedauerlich, dass Euer Volk keine Audienz bei seinem König erhalten kann. Der Tod Eurer Mutter war so tragisch wie schockierend, aber Euer Königreich braucht Euch.«
Beslan verneigte sich. »Bitte lasst sie wissen, dass ich es für unangebracht hielt, mich über sie zu erheben. Ich bin mir im Zweifel, wie ich mich verhalten soll. Ich wollte niemanden beleidigen.«
»Seid Ihr sicher, dass das der wahre Grund ist?«, fuhr Selucia in ihrer Funktion als Stimme fort. »Und nicht, weil Ihr vielleicht eine Rebellion gegen uns plant und keine Zeit für Eure anderen Pflichten habt?«
Beslan schaute ruckartig mit weit aufgerissenen Augen auf. »Euer Majestät, ich ...«
»Ihr braucht keine weiteren Lügen zu erzählen, Kind von Tylin«, wandte sich Tuon direkt an ihn, was dem versammelten Blut überraschtes Keuchen entlockte. »Ich weiß von den Dingen, die Ihr General Habiger und Eurem Freund Lord Malaiin gesagt habt. Ich weiß von Euren unauffälligen Treffen im Keller der Schenke Die drei Sterne. Ich weiß alles, König Beslan.«
Stille legte sich schwer auf den Raum. Beslan neigte kurz den Kopf. Dann stand er überraschend auf und starrte ihr direkt in die Augen. Sie hätte nicht gedacht, dass dieser Jüngling mit der leisen Stimme das in sich hätte. »Ich lasse nicht zu, dass mein Volk ...«
»Ich an Eurer Stelle würde schweigen«, unterbrach Tuon ihn. »Ihr steht schon auf Sand.«
Beslan zögerte. Sie konnte die Frage in seinen Augen lesen. Würde sie ihn hinrichten lassen? Hätte ich die Absicht, dich zu töten, dachte sie, dann wärst du schon tot, und du hättest das Messer nie kommen gesehen.
»Seanchan ist in Aufruhr«, sagte sie und beobachtete ihn. Die Worte schienen ihn zu erschüttern. »Ach, glaubtet Ihr, ich würde das ignorieren, Beslan? Ich schaue mir doch nicht in aller Ruhe die Sterne an, während mein Reich um mich herum zusammenbricht. Die Wahrheit muss zur Kenntnis genommen werden. Meine Mutter ist tot. Es gibt keine Kaiserin.
Allerdings sind die Streitkräfte der Corenne mehr als ausreichend, unsere Positionen hier auf dieser Seite des Ozeans zu behaupten, Altara eingeschlossen.« Sie beugte sich vor und bemühte sich, Kontrolle und Entschlossenheit auszustrahlen. Ihre Mutter hatte das zu jedem Zeitpunkt geschafft. Tuon hatte nicht die Größe ihrer Mutter, aber sie würde diese Aura brauchen. Andere mussten sich sicherer fühlen, nur weil sie in ihre Gegenwart traten.
»In solchen Zeiten«, fuhr sie fort, »können Drohungen von Rebellion nicht toleriert werden. Viele werden die Schwäche des Kaiserreiches als Gelegenheit betrachten, und ihr Unfrieden stiftender Zank würde das Ende von uns allen bedeuten, wenn man ihn einfach zulässt. Also muss ich streng sein. Sehr streng. Mit allen, die mich herausfordern.«
»Und warum lebe ich dann noch?«, wollte Beslan wissen.
»Ihr habt angefangen, Eure Rebellion zu planen, bevor die Geschehnisse im Kaiserreich bekannt gemacht wurden.«
Er runzelte verständnislos die Stirn.
»Ihr habt Eure Rebellion begonnen, als Suroth hier die Führung hatte«, sagte Tuon, »und als Eure Mutter noch Königin war. Seitdem hat sich viel verändert, Beslan. Sehr viel. Solche Zeiten bieten das Potenzial für große Erfolge.«
»Ihr müsst wissen, dass ich nicht nach Macht strebe«, sagte Beslan. »Die Freiheit meines Volkes ist alles, was ich wünsche.«
»Das weiß ich«, sagte Tuon und faltete die Hände, die Ellbogen auf die Stuhllehnen gelehnt, die lackierten Nägel gekrümmt. »Und das ist der andere Grund, aus dem Ihr noch lebt. Ihr rebelliert nicht aus Verlangen nach höheren Positionen, sondern aus reinem Unwissen. Ihr seid fehlgeleitet, und das bedeutet, dass Ihr Euch ändern könnt, solltet Ihr das nötige Wissen erhalten.«
Er starrte sie verwirrt an. Senk den Blick, du Narr. Bring mich nicht dazu, dich wegen Anmaßung auspeitschen lassen zu müssen! Und als hätte er ihre Gedanken vernommen, schaute er zur Seite, dann zu Boden. Ja, ihr Urteil war richtig, was diesen hier anging.
Wie prekär ihre Position doch war! Es stimmte, sie verfügte über große Heere - aber Suroths aggressive Vorgehensweise hatte viele von ihnen verschwendet.
Am Ende würden sich alle Königreiche auf dieser Seite des Ozeans vor dem Kristallthron verbeugen müssen. Jede Marath'damane würde an die Leine gelegt werden, jeder König und jede Königin würde die nötigen Eide leisten. Aber Suroth hatte zu großen Druck ausgeübt, vor allem bei dem Fiasko mit Turan. Einhunderttausend Männer, verloren in einer Schlacht. Das war Wahnsinn.
Tuon brauchte Altara. Sie brauchte Ebou Dar. Beslan war bei seinem Volk sehr beliebt. Nach dem mysteriösen Tod seiner Mutter seinen Kopf auf eine Lanze zu spießen ... Nun, sie würde in Ebou Dar für Stabilität sorgen, aber es wäre ihr lieber gewesen, dafür keine Männer von der Front abziehen zu müssen.
»Der Tod Eurer Mutter ist ein Verlust«, sagte sie. »Sie war eine gute Frau. Eine gute Königin.«
Beslans Mund spannte sich an.
»Ihr dürft sprechen.«
»Ihr Tod ... ist unerklärt«, sagte er. Die Andeutung war offensichtlich.
»Ich weiß nicht, ob Suroth ihren Tod verursacht hat«, sagte Tuon und mäßigte ihre Stimme. »Sie behauptet, es nicht getan zu haben. Aber die Angelegenheit wird untersucht. Sollte sich herausstellen, dass Suroth hinter ihrem Tod steckt, werdet Ihr und Altara eine Entschuldigung vom Thron selbst erhalten.«
Wieder keuchte das Blut auf. Tuons Blick ließ sie verstummen, dann wandte sie sich wieder Beslan zu. »Der Verlust Eurer Mutter ist ein großer Verlust. Ihr müsst wissen, dass sie loyal zu ihren Eiden stand.«
»Ja«, sagte er bitter. »Und sie gab den Thron auf.«
»Nein«, erwiderte Tuon barsch. »Der Thron gehört Euch. Das ist das Nichtwissen, von dem ich sprach. Ihr müsst Euer Volk führen. Es muss einen König haben. Ich habe weder die Zeit noch das Verlangen, Euch diese Pflicht abzunehmen.
Ihr geht von der Annahme aus, dass die seanchanische Dominanz über Eure Heimat bedeutet, dass Euer Volk nicht frei sein kann. Das stimmt nicht. Es wird freier, beschützter und mächtiger sein, wenn es unsere Herrschaft akzeptiert.
Ich sitze über Euch. Aber ist das so wenig wünschenswert? Durch die Macht des Kaiserreiches könnt Ihr Eure Grenzen sichern und das Land außerhalb von Ebou Dar patrouillieren. Ihr sprecht von Eurem Volk? Nun, ich habe befohlen, dass man etwas für Euch vorbereitet.« Sie gab ein Zeichen, und eine Da'covale mit schlanken Gliedern trat mit einer Ledertasche vor.
»Dort drinnen findet Ihr Zahlen, die meine Späher und Wächter gesammelt haben«, sagte Tuon. »Ihr könnt die Berichte über Verbrechen lesen, die während unserer Besetzung geschahen. Das sind Berichte und Listen, die vergleichen, wie es den Leuten vor und nach der Wiederkehr ergangen ist.
Ich glaube, Ihr wisst, was Ihr finden werdet. Das Kaiserreich ist eine Fundgrube für Euch, Beslan. Ein mächtiger, einflussreicher Verbündeter. Ich werde Euch nicht beleidigen, indem ich Euch Throne anbiete, die Ihr nicht wollt. Ich locke Euch damit, dass ich Euch Stabilität, Nahrung und Schutz für Euer Volk anbiete. Und das kostet Euch nur Eure Loyalität, mehr nicht.«
Zögernd nahm er die Tasche entgegen.
»Ich biete Euch eine Wahl, Beslan. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr die Hinrichtung wählen. Ich werde Euch nicht da'covale machen. Ich lasse Euch ehrenvoll sterben, und man wird öffentlich verkünden, dass Ihr gestorben seid, weil Ihr die Treueide abgelehnt habt und die Seanchaner nicht akzeptieren wollt. Wünscht Ihr das, erlaube ich es. Euer Volk wird wissen, dass Ihr im Trotz gestorben seid.
Oder Ihr entscheidet Euch, ihm besser zu dienen. Ihr dürft das Leben wählen. Solltet Ihr das tun, wird man Euch ins Hohe Blut erheben. Ihr tretet vor und herrscht, genau wie es Euer Volk nötig hat. Ich verspreche Euch, dass ich die Angelegenheiten Eures Volkes nicht lenke. Ich verlange Ressourcen und Männer für meine Armee, wie sich das gehört, und Euer Wort kann das meine nicht rückgängig machen. Davon abgesehen habt Ihr in Altara die uneingeschränkte Macht. Niemand vom Blut hat das Recht, Euren Leuten ohne Eure Erlaubnis zu befehlen, ihnen zu schaden oder sie in den Kerker zu werfen.
Ich werde eine Liste von Adelsfamilien akzeptieren und prüfen, die Eurer Meinung nach zum Niederen Blut erhoben werden sollten, und ich werde nicht weniger als zwanzig davon erheben. Altara wird auf dieser Seite des Ozeans der permanente Sitz der Kaiserin sein. Damit wird es hier das mächtigste Königreich sein. Ihr habt die Wahl.«
Sie entfaltete die Finger. »Aber eines müsst Ihr wissen. Solltet Ihr Euch entscheiden, Euch uns anzuschließen, dann werdet Ihr mir Euer Herz geben und nicht nur Euer Wort. Ich erlaube nicht, dass Ihr Eure Eide ignoriert. Diese Gelegenheit biete ich Euch, weil ich glaube, dass Ihr ein starker Verbündeter sein könntet, und weil ich glaube, dass Ihr fehlgeleitet wurdet, vielleicht durch Suroths finstere Intrigen.
Ihr habt einen Tag, um Euch zu entscheiden. Denkt gut darüber nach. Eure Mutter hielt das für den besten Weg, und sie war eine kluge Frau. Das Kaiserreich bedeutet Stabilität. Eine Rebellion bedeutet nur unendliches Leid, Hunger und am Ende in Vergessenheit zu geraten. Das ist nicht das Zeitalter, um allein zu sein, Beslan.«
Sie lehnte sich zurück, während Beslan die Tasche in seinen Händen betrachtete. Er verneigte sich, um darum zu bitten, gehen zu können, auch wenn es nur eine unbeholfene Bewegung war, als wäre er abgelenkt.
»Ihr dürft gehen«, informierte sie ihn.
Er machte aber keine Anstalten zu gehen. Angespannte Stille herrschte, während er die Tasche anstarrte. Sie konnte ihm seinen inneren Kampf vom Gesicht ablesen. Ein Da'covale kam näher, um ihn zum Gehen zu drängen, da er entlassen worden war, aber Tuon hob die Hand und gebot dem Diener Einhalt.
Sie beugte sich wieder vor, mehrere Angehörige des Blutes schabten ungeduldig mit den Füßen. Beslan starrte bloß die Tasche an. Schließlich schaute er auf, einen entschlossenen Ausdruck in den Augen. Dann kniete er überraschenderweise erneut nieder.
»Ich, Beslan von Haus Mitsobar, schwöre der Tochter der Neun Monde und durch sie dem seanchanischen Kaiserreich meine Treue und meinen Dienst, jetzt und für alle Zeit, es sei denn, sie entlässt mich daraus aus eigenem, freien Willen. Meine Ländereien und mein Thron gehören ihr, ich trete sie an ihre Hand ab. Das schwöre ich beim Licht!«
Tuon gestattete sich ein Lächeln. Generalhauptmann Galgan trat hinter Beslan hervor und sprach den König an. »Das ist nicht die richtige Weise, wie man ...«
Tuon brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Wir verlangen, dass sein Volk sich unseren Bräuchen anpasst, General«, sagte sie. »Da ist es durchaus angebracht, wenn wir einige der ihren akzeptieren.« Natürlich nicht zu viele. Diese Erkenntnis verdankte sie ihren langen Unterhaltungen mit Frau Anan. Möglicherweise war es ein Fehler gewesen, diese Menschen dazu zu bringen, seanchanische Gehorsamseide zu schwören. Matrim hatte diese Eide geleistet, sie dann aber bequemerweise ignoriert, als der Augenblick gekommen war - und doch hatte er das Wort gehalten, das er ihr persönlich gegeben hatte, und seine Männer hatten ihr versichert, dass er ein Mann von Ehre war.
Wie seltsam, dass sie bereit waren, einen Eid über den anderen zu stellen. Diese Menschen waren merkwürdig. Aber sie würde lernen müssen, sie zu verstehen, wenn sie sie beherrschen wollte - und sie würde sie beherrschen müssen, um Kräfte für ihre Rückkehr nach Seanchan zu sammeln.
»Euer Eid erfreut mich, König Beslan. Ich erhebe Euch ins Hohe Blut und verleihe Euch und Eurem Haus die Vorherrschaft über das Königreich Altara, jetzt und für alle Zeiten, Euer Wille für seine Verwaltung und Regierung unterliegt nur dem Kaiserthron selbst. Erhebt Euch.«
Er stand auf, und seine Knie schienen zu zittern. »Seid Ihr sicher, dass ihr keine Ta'veren seid, meine Lady?«, fragte er. »Denn ich habe mit Sicherheit nicht erwartet, das zu tun, als ich eintrat.«
Ta'veren. Diese Leute und ihr alberner Aberglauben! »Ich bin zufrieden mit Euch«, sagte sie zu ihm. »Eure Mutter habe ich nur kurz gekannt, aber ich fand sie ausgesprochen fähig. Ich hätte keine Freude daran gehabt, gezwungen zu sein, ihren einzigen Sohn hinzurichten.«
Er nickte anerkennend. An der Seite signalisierte Selucia verstohlen: Das war gut geregelt. Vielleicht etwas unkonventionell, aber geschickt gemacht.
Tuon verspürte ein warmes Gefühl von Stolz. Sie wandte sich dem weißhaarigen General Galgan zu. »General. Ich weiß, dass Ihr darauf gewartet habt, mit mir sprechen zu können, und Eure Geduld ist lobenswert. Ihr dürft jetzt sagen, was Euch beschäftigt. König Beslan, Ihr dürft Euch zurückziehen oder bleiben. Es ist Euer Recht, an jeder öffentlichen Audienz teilzunehmen, die ich in Eurem Königreich abhalte, und Ihr braucht dazu weder eine Erlaubnis noch eine Einladung.«
Beslan nickte, verneigte sich, begab sich dann aber an die Seite des Raumes, um zuzusehen.
»Vielen Dank, Höchste Tochter«, sagte Galgan ehrfurchtsvoll und trat vor. Er gab seinen So'jhin ein Zeichen, die draußen im Korridor warteten. Sie traten ein - warfen sich zuerst vor Tuon zu Boden -, dann stellten sie schnell einen Tisch auf und rollten Karten aus. Ein Diener brachte Galgan ein Bündel, das dieser dann entgegennahm, um damit auf Tuon zuzugehen. Karede stand im nächsten Augenblick an ihrer rechten Schulter, Selucia an ihrer linken, aber Galgan hielt eine respektvolle Distanz ein. Er verneigte sich und rollte den Gegenstand auf dem Boden aus. Es war ein rotes Banner mit einem Kreis in der Mitte, der von einer Schlangenlinie geteilt wurde. Die eine Hälfte des Kreises war schwarz, die andere weiß.
»Was ist das?«, fragte Tuon und beugte sich vor.
»Das Banner des Wiedergeborenen Drachen«, sagte Galgan. »Er schickte es mit einem Boten, mit der erneuten Bitte um ein Treffen.« Er schaute auf - erwiderte dabei aber nicht ihren Blick, zeigte jedoch eine nachdenkliche, besorgte Miene.
»Als ich heute Morgen aufstand«, sagte Tuon, »da sah ich am Himmel ein Muster, das drei Türmen ähnelte, und einen Falken hoch in der Luft, der zwischen ihnen durchflog.«
Die verschiedenen Angehörigen des Blutes im Raum nickten anerkennend. Allein Beslan erschien verwirrt. Wie schafften es diese Leute nur zu leben, wenn sie keine Omen erkannten? Verspürten sie denn nicht den Wunsch, die Schicksalsvisionen zu verstehen, die ihnen das Muster schenkte? Der Falke und die drei Türme waren ein Omen, das schwierige Entscheidungen anstanden. Ein Hinweis, dass Kühnheit gefragt war.
»Was haltet Ihr von der Bitte des Wiedergeborenen Drachen, ein Treffen durchzuführen?«, fragte sie den General.
»Möglicherweise wäre es unklug, diesem Mann gegenüberzutreten, Höchste Tochter. Ich bin mir nicht sicher, ob sein Anspruch auf diesen Titel gerechtfertigt ist. Davon abgesehen, hat das Kaiserreich im Augenblick nicht genug andere Sorgen?«
»Ihr fragt Euch, warum unsere Streitkräfte nicht den Rückzug angetreten haben«, sagte Tuon. »Warum wir nicht nach Seanchan aufgebrochen sind, um den Thron zu sichern.«
Er neigte den Kopf. »Ich vertraue Eurer Weisheit, Höchste Tochter.«
»Das ist der Wiedergeborene Drache. Und kein Hochstapler. Davon bin ich überzeugt. Er muss sich vor dem Kristallthron verbeugen, bevor die Letzte Schlacht ihren Anfang nehmen kann. Darum müssen wir bleiben. Es ist kein Zufall, dass die Wiederkehr jetzt geschieht. Wir werden hier gebraucht. Leider mehr, als wir in unserer Heimat gebraucht werden.«
Galgan nickte langsam. Er war mit ihr einer Meinung, dass der Rückzug nach Seanchan nicht infrage kam; er war einfach davon ausgegangen, dass das ihr Wunsch war. Indem sie verkündete, dass sie blieben, hatte sie sich seinen Respekt verdient. Natürlich würde er weiter darüber nachdenken, den Thron für sich selbst zu erobern. Ein Mann konnte nicht seine Position erreichen, ohne eine gehörige Portion Ehrgeiz zu haben.
Aber er war nicht nur als ambitionierter Mann bekannt, sondern auch als ein besonnener. Er würde nicht zuschlagen, solange er nicht davon überzeugt war, dass es nötig war. Er würde der festen Überzeugung sein müssen, dass er große Aussicht auf Erfolg hatte und dass das Kaiserreich durch Tuons Entfernung profitierte. Das war der Unterschied zwischen einem ehrgeizigen Narren und einem ehrgeizigen weisen Mann. Der Letztere verstand, dass jemanden zu töten erst der Anfang war. Tuon ihr Leben zu nehmen und den Thron für sich selbst zu beanspruchen würde ihm nichts bringen, wenn er den Rest des Blutes damit vor den Kopf stieß.
Er begab sich zu dem Tisch mit seinen Karten. »Wenn Ihr den Krieg fortzuführen wünscht, Höchste Tochter, erlaubt mir den Zustand Eurer Armee zu erklären. Einer unserer ambitioniertesten Pläne wird von Generalleutnant Yulan vorbereitet.«
Galgan gestikulierte den versammelten Offizieren, und ein kleiner dunkelhäutiger Mann vom Niederen Blut trat vor. Er trug eine schwarze Perücke, um seine Kahlheit zu verbergen, und er kniete vor Tuon und verneigte sich.
»Man befiehlt Euch, sich zu erheben und zu sprechen, General«, sagte Selucia als Stimme.
»Die Höchste Tochter soll meinen Dank erfahren«, sagte Yulan und stand auf. Am Kartentisch bedeutete er mehreren Helfern, eine Karte hochzuhalten, damit Tuon sie sehen konnte. »Abgesehen von den Rückschlägen in Arad Doman ist der Prozess, dieses Land zurückzufordern, wie erwartet fortgeschritten. Langsamer, als wir gewünscht hätten, aber nicht ohne große Siege. Die Menschen dieser Königreiche eilen nicht zur Verteidigung ihrer Nachbarn. Wir sind sehr erfolgreich darin, sie einen nach dem anderen zu besetzen. Allein zwei Dinge bereiten uns Sorge. Das Erste ist Rand al'Thor, der Wiedergeborene Drache, der im Norden und Osten einen aggressiven Vereinigungskrieg führt. Die Weisheit der Höchsten Tochter ist erforderlich, um uns zu lehren, wie er überwältigt werden kann.
Die andere Sorge gilt der großen Anzahl von Marath'damane, die in dem als Tar Valon bekannten Ort konzentriert ist. Ich glaube, die Höchste Tochter hat von der großen Waffe gehört, die sie benutzten, um ein großes Stück Land nördlich von Ebou Dar zu zerstören.«
Tuon nickte.
»Die Sul'dam haben so etwas noch nie gesehen«, fuhr Yulan fort. »Wir nehmen an, das ist eine Sache für Damane, die man ihnen beibringen kann, wenn man die richtige Marath'damane gefangen nimmt. Diese wunderbare Fähigkeit des sofortigen Transportes von einem Ort zum anderen ist - falls es sie tatsächlich gibt - eine zweite Technik von großem praktischen Vorteil, die wir in unsere Hände bekommen müssen.«
Tuon nickte wieder und studierte die Karte, die den Ort namens Tar Valon zeigte. Selucia übermittelte: »Die Höchste Tochter ist auf Eure Pläne neugierig. Ihr werdet fortfahren.«
»Mein tiefster Dank soll zum Ausdruck gebracht werden«, sagte Yulan und verneigte sich. »Als Hauptmann zur Luft habe ich die Ehre, die Raken und To'raken zu befehligen, die der Wiederkehr dienen. Ich bin der Überzeugung, dass ein Schlag in das Herz der Länder unseres Feindes nicht nur möglich ist, sondern auch große Vorteile bringt. Bis jetzt mussten wir noch nicht gegen viele dieser Marath'damane kämpfen, aber bei unserem Vorstoß in die vom Wiedergeborenen Drachen kontrollierten Länder werden wir ihnen zweifellos in großer Zahl gegenübertreten.
Im Augenblick glauben sie, sie wären vor uns sicher. Jetzt zuzuschlagen könnte einen großen Einfluss auf die Zukunft haben. Jede Marath'damane, die wir an die Leine legen, ist nicht nur ein zusätzliches mächtiges Werkzeug für unsere Streitkräfte, sondern auch eines, das dem Feind fehlt. Erste Berichte behaupten, dass sich an diesem Ort namens Weiße Burg viele hunderte Marath'damane versammeln.«
So viele?, dachte Tuon. Eine solche Streitmacht konnte den Kriegsverlauf völlig umkehren. Sicher, die Marath'damane in Matrims Begleitung hatten behauptet, an keinen Kriegen teilzunehmen. Tatsächlich hatten sich Marath'damane, die einst Aes Sedai gewesen waren, bis jetzt als Waffen nutzlos erwiesen. Aber konnte es nicht vielleicht irgendeine Möglichkeit geben, ihre angeblichen Eide zu verdrehen? Eine zufällige Bemerkung Matrims hatte sie auf die Idee gebracht, dass es möglich war. Ihre Finger bewegten sich schnell.
»Die Tochter der Neun Monde fragt sich, wie ein Schlag gegen sie möglich sein sollte«, sagte Selucia als Stimme. »Die Entfernung ist groß. Hunderte von Meilen.«
»Wir würden eine Streitmacht nehmen, die sich größtenteils aus To'raken zusammensetzt«, erklärte General Yulan. »Mit ein paar Raken als Späher. Die von uns erbeuteten Karten zeigen große Grasebenen, die nur dünn besiedelt sind, die man unterwegs als Rastpunkte benutzen könnte. Wir könnten Murandy hier durchqueren ...« - er zeigte auf eine zweite Karte, die seine Helfer hochhielten - »... und Tar Valon vom Süden aus angreifen. Falls es der Höchsten Tochter gefällt, könnten wir in der Nacht angreifen, wenn die Marath'damane schlafen. Unser Ziel wäre es dann, so viele von ihnen wie möglich gefangen zu nehmen.«
»Es stellt sich die Frage, ob man es wirklich schaffen könnte«, übermittelte Selucia. Tuon war fasziniert. »Von welcher Größenordnung sprechen wir, um diesen Vorstoß durchführen zu können?«
»Wenn wir es richtig machen wollen? Ich glaube, ich könnte zwischen achtzig und hundert To'raken für den Angriff zusammenziehen.«
Achtzig bis hundert To'raken. Also ungefähr dreihundert Soldaten und ihre Ausrüstung, was den nötigen Platz ließ, gefangene Marath'damane zurückzubringen. Dreihundert würden eine beträchtliche Streitmacht für einen solchen Vorstoß sein, aber sie würden sich schnell und ohne große Lasten bewegen müssen, um nicht gefangen genommen zu werden.
»Falls es die Höchste Tochter erlaubt«, sagte General Galgan und trat wieder vor. »Ich glaube, General Yulans Plan ist von großem Nutzen. Sicherlich birgt er das Risiko für große Verluste, aber eine solche Gelegenheit bietet sich uns nie wieder. Sollten diese Marath'damane in den Konflikt eingreifen, könnten sie uns ausschalten. Und könnten wir den Zugang zu ihrer Waffe erlangen, oder sogar ihrer Fähigkeit, große Distanzen zurückzulegen ... Nun, ich glaube, der mögliche Erfolg rechtfertigt das Risiko, jeden To'raken in unserer Armee einzusetzen.«
»Falls es die Höchste Tochter erlaubt«, fuhr General Yulan fort, »unser Plan verlangt nach zwanzig Abteilungen der Faust des Himmels - insgesamt zweihundert Soldaten -, und fünfzig gekoppelte Sul'dam. Wir glauben, dass vielleicht auch eine kleine Gruppe Blutmesser angebracht wäre.«
Blutmesser, die Elite der Faust des Himmels, selbst eine exklusive Gruppe. Yulan und Galgan hatten sich diesem Einsatz verschrieben! Man verpflichtete keine Blutmesser, wenn man es nicht sehr ernst meinte, niemals, denn sie kehrten nicht von ihrer Mission zurück. Ihre Pflicht bestand darin zurückzubleiben, nachdem sich die Fäuste zurückzogen, und dem Feind so viel Schaden wie nur vorstellbar zuzufügen. Wenn sie einige von ihnen nach Tar Valon bringen konnten, mit dem Befehl, so viele Marath'damane wie möglich zu töten ...
»Der Wiedergeborene Drache wird über diesen Stoßtrupp nicht erfreut sein. Ist er nicht mit diesen Marath'damane verbunden?«
»Einige Berichte besagen das«, entgegnete Galgan. »Andere behaupten, er ist gegen sie. Wiederum andere sagen, sie sind seine Marionetten. Unsere mangelhaften nachrichtendienstlichen Erkenntnisse auf diesem Gebiet senken meinen Blick, Höchste Tochter. Es war mir nicht möglich, die Wahrheit von den Lügen zu trennen. Bis wir bessere Informationen haben, müssen wir das Schlimmste annehmen, dass dieses Unternehmen ihn sehr erzürnen wird.«
»Und Ihr haltet es trotzdem für lohnenswert?«
»Ja«, sagte Galgan, ohne zu zögern. »Sollten diese Marath'damane mit dem Wiedergeborenen Drachen verbunden sein, dann haben wir einen noch wichtigeren Grund, um jetzt zuzuschlagen, bevor er sie gegen uns einsetzen kann. Vielleicht wird ihn dieses Unternehmen erzürnen - aber es wird ihn auch schwächen, was Eure Verhandlungsposition stärkt.«
Tuon nickte nachdenklich. Zweifellos war das die schwierige Entscheidung, die das Omen gemeint hatte. Aber ihre Wahl schien sehr offensichtlich. Eigentlich war es gar keine schwierige Entscheidung. Alle Marath'damane in Tar Valon mussten an die Leine gelegt werden, und es war eine ausgezeichnete Möglichkeit, mit einem mächtigen Schlag den Widerstand gegen das Immer Siegreiche Heer zu schwächen.
Aber das Omen hatte von einer schwierigen Entscheidung gesprochen. Sie gestikulierte Selucia. »Gibt es in diesem Raum jemanden, der gegen diesen Plan ist?«, fragte die Stimme. »Hat jemand einen Einwand gegen das, was General Yulan und seine Männer vorschlagen?«
Das anwesende Blut sah einander an. Beslan hätte vielleicht etwas zu sagen gehabt, aber er schwieg. Die Altaraner hatten keine großen Einwände gehabt, dass man ihre Marath'damane an die Leine legte; anscheinend hatten sie kein großes Vertrauen zu jenen, die die Macht lenken konnten. Sie waren nicht so vernünftig wie in Amadicia gewesen, wo man diese Aes Sedai zu Gesetzlosen erklärt hatte, aber sie hießen sie auch nicht willkommen. Beslan würde keine Einwände gegen einen Schlag gegen die Weiße Burg haben.
Tuon lehnte sich zurück und wartete ... Worauf eigentlich? Vielleicht war das ja doch nicht die Entscheidung, die das Omen gemeint hatte. Sie wollte gerade das Unternehmen genehmigen, als das plötzliche Öffnen der Türen sie innehalten ließ.
Die Totenwächter an der Tür traten einen Moment später zur Seite und ließen einen So'jhin ein, der im Korridor diente. Der muskulöse Mann hieß Ma'combe und warf sich zu Boden, der schwarze Zopf über seiner rechten Schulter fiel auf den Fliesenboden. »Wenn es der Tochter der Neun Monde gefällt, Generalleutnant Tylee Khirgan erbittet eine Audienz.«
Galgan sah überrascht aus.
»Was ist?«, fragte Tuon.
»Ich habe nicht gewusst, dass sie zurückgekehrt ist, Höchste Tochter. Ich schlage demütig vor, dass sie sprechen darf. Sie gehört zu meinen besten Offizieren.«
»Sie darf eintreten«, übermittelte Selucia als Stimme.
Ein männlicher Da'covale in einem weißen Gewand trat ein und führte eine Frau in Rüstung herein, die den Helm unter den Arm geklemmt hielt. Sie war groß und schlank, hatte dunkle Haut und kurzes schwarzes Haar, das sie als Locken trug. An den Schläfen war es weiß durchsetzt. Die sich überlappenden Platten der Rüstung waren mit roten, gelben und blauen Streifen versehen; sie quietschte bei jedem Schritt. Die Frau gehörte nur dem Niederen Blut an - und das auch erst seit kurzem, aufgrund von General Galgans Befehl -, aber man hatte sie darüber mit einem Raken in Kenntnis gesetzt. Sie hatte das Haar an den Kopfseiten kaum einen Fingerbreit rasiert.
Tylees Augen waren vor Müdigkeit gerötet. Dem Geruch nach Schweiß und dem Gestank nach Pferd zu urteilen, war sie sofort nach ihrer Ankunft in der Stadt zu Tuon gekommen. Ihr folgten mehrere ebenfalls erschöpfte jüngere Soldaten, von denen einer einen großen braunen Sack trug. Als sie den Bittgesuchsplatz erreichten - ein rotes Stoffrechteck -, warfen sich alle auf die Knie. Die einfachen Soldaten legten dann die Stirn auf den Boden, und Tylee wollte es ihnen gleichtun, hielt sich dann aber davon ab. Sie war noch nicht daran gewöhnt, zum Blut zu gehören.
»Es ist offensichtlich, dass Ihr müde seid, Kriegerin«, übermittelte Selucia. »Wir gehen davon aus, dass Ihr wichtige Neuigkeiten bringt?«
Tylee erhob sich auf ein Knie, gab ein Zeichen. Einer ihrer Soldaten richtete sich auf und hob den braunen Sack. An der Unterseite war er mit einer dunklen, verkrusteten Flüssigkeit beschmutzt. Blut.
»Wenn es der Höchsten Tochter gefällt«, sagte Tylee, und ihre Stimme verriet ihre Erschöpfung. Sie nickte ihrem Mann zu, und er schüttelte den Inhalt des Sacks auf den Boden. Die Köpfe mehrerer Tiere. Ein Keiler, ein Wolf und ... ein Falke? Tuon überfiel ein Frösteln. Der Falkenkopf hatte die Größe eines Menschenkopfes, war vielleicht sogar größer. Aber sie waren nicht ... richtig. Die Köpfe waren schrecklich deformiert.
Sie hätte schwören können, dass der Falkenkopf, der so herumrollte, dass sie das Gesicht deutlich sehen konnte, Menschenaugen hatte. Und ... die anderen Köpfe ... wiesen ebenfalls menschliche Züge auf. Tuon unterdrückte ein Zusammenzucken. Was für ein fauliges Omen war das?
»Was hat das zu bedeuten?«, wollte Galgan wissen.
»Ich nehme an, die Höchste Tochter weiß von meinem Militäreinsatz gegen die Aiel«, sagte Tylee noch immer auf einem Knie. Während dieses Kampfes hatte Tylee Damane gefangen genommen, aber viel mehr wusste Tuon darüber nicht. General Galgan hatte ihre Rückkehr mit einigem Interesse erwartet, um die ganze Geschichte hören zu können.
»Bei meinem Unternehmen«, fuhr Tylee fort, »gesellten sich Männer verschiedener Nationalitäten zu mir, von denen keiner die Treueide abgelegt hatte. Ich werde vollen Bericht über sie erstatten, wenn Zeit ist.« Sie zögerte, dann schaute sie auf die Köpfe. »Diese ... Kreaturen ... haben meine Kompanie auf dem Rückritt angegriffen, zehn Meilen vor Ebou Dar. Wir hatten schwere Verluste. Außer diesen Köpfen haben wir mehrere ganze Körper mitgebracht. Sie gingen auf zwei Füßen, wie Menschen, sahen aber eher aus wie Tiere.« Sie zögerte erneut. »Ich glaube, sie sind das, was man auf dieser Seite des Ozeans als Trollocs bezeichnet. Ich fürchte, sie kommen hierher.«
Chaos. Das Blut fing an, über die Unwahrscheinlichkeit des Ganzen zu diskutieren. General Galgan befahl seinen Offizieren sofort, Patrouillen zu organisieren und Läufer loszuschicken, um vor einem möglichen Angriff auf die Stadt zu warnen. Die Sul'dam auf der Seite des Raumes eilten nach vorn, um die Köpfe zu inspizieren, während sich die Totenwächter leise um Tuon scharten, um für einen zusätzlichen Schutzring zu sorgen. Dabei beobachteten sie alle - das Blut, Diener und Soldaten - mit gleicher Sorgfalt.
Eigentlich hätte Tuon erschüttert sein müssen. Seltsamerweise war sie es aber nicht. Also hatte Matrim doch recht damit, signalisierte sie verstohlen an Selucia. Und sie war davon ausgegangen, dass Trollocs nichts weiter als ein Aberglaube waren. Sie schaute wieder auf die Köpfe. Abstoßend.
Selucia erschien beunruhigt. Ich frage mich, ob es noch andere Dinge gibt, die er sagte und die wir verworfen haben?
Tuon zögerte. Wir werden ihn fragen müssen. Ich hätte ihn sehr gern zurück. Sie erstarrte. Das hatte sie nicht zugeben wollen. Allerdings fand sie ihre eigenen Gefühle doch sehr seltsam. Sie hatte sich sicher bei ihm gefühlt, so lächerlich das auch erschien. Und sie wünschte, er wäre jetzt an ihrer Seite.
Diese Köpfe waren nur ein weiterer Beweis, dass sie sehr wenig über ihn wusste. Sie übernahm wieder die Kontrolle über die plappernde Menge. Selucia verkündete: »Ihr werdet schweigen.«
Stille kehrte in den Raum ein, obwohl das Blut und die Sul'dam noch immer zutiefst verstört aussahen. Tylee kniete nach wie vor mit gesenktem Kopf, der Soldat, der die Köpfe getragen hatte, lag auf beiden Knien neben ihr. Ja, sie würde gründlich befragt werden müssen.
»Diese Neuigkeiten ändern wenig«, übersetzte Selucia. »Wir wussten bereits, dass die Letzte Schlacht näher rückt. Wir würdigen Generalleutnant Tylees Enthüllungen. Sie soll belobigt werden. Aber das macht die Unterwerfung des Wiedergeborenen Drachen nur noch viel dringender.«
Mehrere Anwesende nickten, General Galgan eingeschlossen. Beslan schien nicht so schnell überzeugt. Er sah einfach nur besorgt aus.
»Wenn es der Höchsten Tochter gefällt«, sagte Tylee und verneigte sich.
»Ihr dürft sprechen.«
»In den vergangenen paar Wochen habe ich viele Dinge gesehen, die mich nachdenklich machten«, sagte Tylee. »Schon vor dem Angriff auf meine Truppen war ich besorgt. Die Weisheit und Anmut der Höchsten Tochter lässt sie zweifellos weiter sehen, als das eine Person wie ich vermag, aber ich glaube, dass unsere bis jetzt erfolgten Eroberungen in diesem Land vermutlich leicht waren verglichen mit dem, was kommen könnte. Falls ich so kühn sein darf ... ich glaube, dass der Wiedergeborene Drache und die an seiner Seite besser Verbündete wären als Feinde.«
Es war eine kühne Behauptung. Tuon beugte sich vor, die lackierten Nägel klirrten auf die Stuhllehnen. Viele Angehörige des Niederen Blutes wären von der Begegnung mit einem Mitglied des Kaiserhofes - geschweige denn der Höchsten Tochter selbst - bereits so überwältigt, dass sie es nicht wagen würden, etwas zu sagen. Doch diese Frau machte Vorschläge? In direktem Widerspruch zu Tuons öffentlich gemachten Willen?
»Eine schwierige Entscheidung ist nicht immer eine Entscheidung, wo beide Seiten gleichermaßen stark sind, Tuon«, sagte Selucia plötzlich unaufgefordert. »Vielleicht ist in diesem Fall eine schwierige Entscheidung ja die, die richtig ist, aber zugleich indirekt das Eingestehen eines Fehlers verlangt.«
Tuon blinzelte überrascht. Ja, erkannte sie. Selucia ist jetzt meine Wahrheitssprecherin. Es würde Zeit brauchen, um sich daran zu gewöhnen, dass diese Frau nun auch diese Rolle spielte. Es war Jahre her, seit Selucia sie in der Öffentlichkeit korrigiert oder getadelt hatte.
Und doch, ein persönliches Treffen mit dem Wiedergeborenen Drachen? Sie musste mit ihm Kontakt aufnehmen, und hatte das auch tun wollen. Aber würde es nicht besser sein, aus einer Position der Stärke heraus zu ihm zu gehen, wenn seine Heere besiegt und die Weiße Burg zerstört worden war? Sie musste ihn unter sehr kontrollierten Umständen zum Kristallthron bringen, in dem Einvernehmen, dass er sich ihrer Autorität unterwarf.
Und dennoch ... wo in Seanchan Rebellion herrschte ... wo ihre Position hier in Altara kaum stabilisiert war ... Nun, vielleicht würde etwas Zeit zum Nachdenken - Zeit, um ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen und das zu sichern, was sie bereits hatte - es wert sein, ihren Schlag gegen die Weiße Burg zu verschieben.
»General Galgan, entsendet Raken zu unseren Streitkräften auf der Ebene von Almoth und im östlichen Altara«, sagte sie energisch. »Sagt Ihnen, sie sollen unsere Interessen sichern, aber Konfrontationen mit dem Wiedergeborenen Drachen vermeiden. Und antwortet auf seine Bitte um ein Treffen. Die Tochter der Neun Monde wird sich mit ihm treffen.«
General Galgan nickte und verbeugte sich.
Man musste der Welt Ordnung bringen. Und wenn es dazu nötig war, den Blick einen Hauch zu senken und sich mit dem Wiedergeborenen Drachen zu treffen, dann sollte es eben so sein.
Seltsamerweise ertappte sie sich erneut bei dem Wunsch, dass Matrim noch an ihrer Seite wäre. Für die Vorbereitung dieser Begegnung hätte sie sein Wissen über diesen Rand al'Thor gut gebrauchen können. Pass auf dich auf, du seltsamer Mann, dachte sie und schaute zum Balkon und nach Norden. Bring dich nicht in Schwierigkeiten, aus denen du dich nicht mehr befreien kannst. Du bist jetzt der Prinz der Raben. Vergiss nicht, dich auch entsprechend zu benehmen.
Wo auch immer du bist.