Moiraine Damodred, die starb, weil ich schwach war. Rand zügelte Tai’daishar zum Schritttempo, als er das riesige Stadttor von Bandar Eban passierte; hinter ihm kam sein Gefolge, vor ihm warteten Reihen aus Aiel. Angeblich war das Tor mit dem Stadtsiegel geschmückt, aber da die beiden Flügel offen standen, konnte er es nicht sehen.
Die namenlose Schattenfreundin, die ich in diesen Hügeln in Murandy enthauptete. Ich weiß nicht mehr, wie ihre Begleiter aussahen, aber ihr Gesicht werde ich nie vergessen.
Die Liste spulte sich in seinem Kopf ab. Mittlerweile war das beinahe ein tägliches Ritual, die Namen aller Frauen, die durch seine Hand oder seine Taten gestorben waren. Die Straße zur Stadt bestand aus festgestampfter Erde und war voller Furchen, die sich an den Kreuzungen überlappten. Der Boden war heller, als Rand gewohnt war.
Colavaere Saighan, die starb, weil ich sie in die Armut schickte.
Er ritt an den Reihen aus Domani vorbei, Frauen in durchsichtigen Gewändern, Männer mit dünnen Schnurrbärten und bunten Mänteln. An den Straßenseiten gab es Bürgersteige aus Holzbohlen, auf denen sich die Zuschauer drängten. Banner und Flaggen flatterten im Wind. Davon schien es in der Stadt eine ganze Menge zu geben.
Die Liste begann immer mit Moiraine. Von allen Namen schmerzte dieser am schlimmsten, denn sie hätte er retten können. Hätte sie retten müssen. Er hasste sich dafür, dass er zugelassen hatte, dass sie sich für ihn opferte.
Ein Kind verließ den Gehsteig und rannte auf die Straße, aber sein Vater erwischte noch rechtzeitig seine Hand und riss es zurück in die Menge. Ein paar Leute husteten und murmelten etwas, aber die meisten schwiegen. Verglichen damit klang der Marschtritt von Rands Leuten wie Donnerhall.
War Lanfear wieder am Leben? Wenn Ishamael zurückgeholt werden konnte, was war dann mit ihr? In diesem Fall wäre Moiraines Tod völlig sinnlos gewesen und seine Feigheit noch widerwärtiger. Nie wieder. Die Liste würde bestehen bleiben, aber er würde nie wieder zu schwach sein, um das zu tun, was getan werden musste.
Von den versammelten Menschen kam kein Jubel. Nun, er war auch nicht gekommen, um sie zu befreien. Er war gekommen, um das zu tun, was getan werden musste. Vielleicht würde er hier Graendal finden; Asmodean hatte behauptet, sie würde sich hier aufhalten, aber das war vor langer Zeit gewesen. Vielleicht beruhigte es ja sein schlechtes Gewissen wegen der Invasion, wenn es ihm gelang, sie aufzuspüren.
Hatte er überhaupt noch so etwas wie ein Gewissen? Er vermochte es nicht zu sagen.
Liah von den Cosaida Chareen, die ich tötete und mir einredete, es sei zu ihrem Besten. Seltsamerweise beteiligte sich Lews Therin an der Aufzählung und las die Namen vor, verursachte einen seltsam hallenden Singsang in seinem Kopf.
Auf einem Platz mit einem Springbrunnen in der Form von Kupferpferden, die aus einer schäumenden Welle sprangen, wartete eine Gruppe Aiel auf ihn. Vor dem Brunnen saß ein Mann auf einem Pferd, umgeben von einer Ehrenwache. Er war ein stämmiger Mann mit kantigen Zügen, faltiger Haut und grauen Haaren. Seine Stirn war nach der Mode cairhienischer Soldaten rasiert und gepudert. Dobraine war vertrauenswürdig, zumindest soweit ein Cairhiener als vertrauenswürdig bezeichnet werden konnte.
Sendara von den Eisenberg Tardaad, Lamelle von den Rauchwasser Miagoma, Andhilin von den Roten Salz Goshien.
Ilyena Therin Moerelle, sagte Lews Therin und schob den Namen zwischen zwei andere. Rand ließ ihn gewähren. Wenigstens brüllte der Verrückte nicht wieder herum.
»Mein Lord Drache«, sagte Dobraine glattzüngig und verneigte sich vor Rand. »Ich übergebe Euch die Stadt Bandar Eban. Die Ordnung wurde wieder hergestellt, wie Ihr befohlen habt.«
»Ich bat Euch, im ganzen Land die Ordnung wiederherzustellen, Dobraine «, sagte Rand leise.» Nicht nur in einer Stadt.«
Der Adelige sackte sichtlich in sich zusammen.
»Ihr habt ein Mitglied des Kaufmannsrats für mich?«
»Ja«, sagte Dobraine. »Milisair Chadmar, die als Letzte vor dem Chaos in der Stadt floh.« Eifer lag in seinem Blick. Er war immer standhaft gewesen, aber vielleicht war das ja nur eine List. In der letzten Zeit hatte Rand ein Problem damit, Leuten zu vertrauen. Die, die am vertrauenswürdigsten erschienen, waren immer die, denen man am aufmerksamsten auf die Finger schauen musste. Und Dobraine war Cairhiener. Konnte er überhaupt jemandem aus Cairhien vertrauen? Sie mussten doch immer ihre Spielchen spielen.
Moiraine kam aus Cairhien. Ihr vertraute ich. jedenfalls meistens.
Vielleicht machte sich Dobraine ja Hoffnungen, von ihm als König von Arad Doman eingesetzt zu werden. Er war der Verwalter von Cairhien gewesen, aber ihm war natürlich durchaus bekannt, dass Rand Elayne auf dem Sonnenthron sehen wollte.
Nun, möglicherweise würde er Dobraine dieses Königreich geben. Er war ein besserer Mann als die meisten. Rand bedeutete ihm voranzugehen, und er gehorchte, bog mit den Aiel in eine breite Seitenstraße ein. Rand ging im Kopf die Liste weiter durch.
Die Gebäude waren hoch und rechteckig, wie Kisten, die man aufeinandergestapelt hatte. Viele von ihnen wiesen Balkone auf, auf denen sich wie auf den Bürgersteigen Menschen drängten.
Jeder Name auf der Liste schmerzte Rand, aber jetzt war dieser Schmerz eine seltsam entrückte Sache. Seit dem Tag, an dem er Semirhage getötet hatte, waren seine Gefühle … anders. Sie hatte ihn gelehrt, wie er seine Schuld und seine Qualen vergraben musste. Sie hatte geglaubt, ihn an die Kette legen zu können, stattdessen hatte sie ihm Kraft gegeben.
Er setzte ihren und Elzas Namen auf die Liste. Dabei hatten sie überhaupt kein Recht, dort zu stehen. Semirhage war weniger eine Frau als vielmehr ein Ungeheuer gewesen. Elza hatte ihn verraten und die ganze Zeit dem Schatten gedient. Aber er fügte ihre Namen hinzu. Immerhin konnten sie ihn für ihren Tod verantwortlich machen, wie alle anderen auch. Sogar noch mehr. Er hatte sich gesträubt, Lanfear zu töten, um Moiraine zu retten, aber er hatte Semirhage lieber mit Baalsfeuer aus der Existenz gebrannt, als zuzulassen, noch einmal in Gefangenschaft zu geraten.
Er berührte den Gegenstand, den er in einem Beutel am Sattel trug. Es war eine glatte Statuette. Er hatte Cadsuane nicht verraten, dass seine Diener sie aus ihrem Zimmer genommen hatten. Jetzt, da sie aus seiner Gegenwart verbannt worden war, würde er es nie tun. Er wusste, dass sie sich noch immer in seinem Gefolge aufhielt und die Interpretation seines Befehls strapazierte, ihn niemals mehr ihr Gesicht sehen zu lassen. Aber prinzipiell gehorchte sie ihm, also ließ er es auf sich beruhen. Er würde nicht mit ihr sprechen, und sie würde nicht mit ihm sprechen.
Cadsuane war ein Werkzeug gewesen, und dieses Werkzeug hatte sich als wenig effektiv erwiesen. Er bedauerte es nicht, es weggeworfen zu haben.
Jendhilin, Tochter der Miagoma, dachte er, und Lews Therin murmelte es mit. Die Liste war so lang. Bis zu seinem Tod würde sie noch viel länger werden.
Der Tod bereitete ihm keine Sorgen mehr. Endlich hatte er Lews Therins verzweifeltes Flehen begriffen, allem ein Ende zu machen. Er verdiente es zu sterben. Gab es einen Tod, der endgültig genug war, dass man niemals mehr wiedergeboren werden musste? Er erreichte das Ende der Liste. Früher hatte er sie wiederholt, damit er die Namen nur nicht vergaß. Das war nicht mehr möglich; er hätte sie selbst dann nicht vergessen können, wenn er es gewollt hätte. Er wiederholte sie als Erinnerung dessen, was er war.
Aber Lews Therin musste noch einen Namen hinzufügen. Elmindreda Farshaw, flüsterte er.
Abrupt zügelte Rand Tai’daishar und ließ damit seine Aiel, die saldaeanische Kavallerie und das Lagergefolge mitten auf der Straße anhalten. Dobraine auf seinem weißen Hengst sah fragend zurück.
Ich habe sie nicht getötet!, dachte Rand. Lews Therin, sie lebt. Wir haben sie nicht getötet! Dafür war allein Semirhage verantwortlich.
Schweigen. Noch immer konnte er seine Finger auf ihrer Haut spüren, wie sie zudrückten, hilflos und zugleich unglaublich stark. Selbst wenn Semirhage die treibende Kraft hinter seiner Tat gewesen war, er war derjenige, der zu schwach gewesen war, um Min rechtzeitig fortzuschicken und zu beschützen.
Fortgeschickt hatte er sie noch immer nicht. Nicht, weil ihm dazu die nötige Entschlossenheit gefehlt hätte, sondern weil etwas in ihm aufgehört hatte, sich dafür zu interessieren. Das galt nicht für Min - er liebte sie leidenschaftlich, und das würde sich auch nicht ändern. Aber er wusste, dass ihm Tod, Schmerzen und Zerstörung folgten; er zog sie hinter sich her wie den Saum seines Umhangs. Es bestand die Möglichkeit, dass Min hier starb, aber sollte er sie fortschicken, würde sie in der gleichen Gefahr schweben. Seine Feinde vermuteten bestimmt schon, dass er sie liebte.
Es gab keine Sicherheit. Sollte sie sterben, würde er sie auf die Liste setzen und darunter leiden.
Er setzte sich wieder in Bewegung, bevor Fragen gestellt wurden. Tai’daishars Hufe senkten sich auf den erdigen Untergrund, der durch die feuchte Luft nachgiebig war. Hier regnete es oft; Bandar Eban war die wichtigste Hafenstadt im Nordwesten. Auch wenn sie von der Größe her nicht mit den Städten im Süden mithalten konnte, war sie trotzdem beeindruckend. Reihen aus rechteckigen Häusern, die alle aus Holz erbaut waren und mehrere rückwärts versetzte Stockwerke aufwiesen. Sie sahen aus wie Bauklötze, die man perfekt aufeinandergestapelt hatte. Sie füllten die Stadt und senkten sich sanft dem riesigen Hafen entgegen.
Am Hafen war die Stadt am breitesten, was den Eindruck eines Männerkopfes erweckte, der den Mund weit öffnete, als wollte er den Ozean selbst austrinken. Die Docks lagen so gut wie verlassen da; die einzigen Schiffe, die dort angelegt hatten, waren Dreimaster des Meervolks und ein paar Fischerkähne. Die fehlenden Schiffe ließen den riesigen Hafen nur noch verlassener aussehen.
Das war das erste Zeichen, dass in Bandar Eban nicht alle Dinge zum Besten standen.
Abgesehen von dem so gut wie unbenutzten Hafen war das andere hervorstechende Merkmal der Stadt die Banner. Sie flatterten auf jedem Dach oder hingen von den Häusern, ganz egal, wie bescheiden sie auch sein mochten. Viele von ihnen zeigten das Handwerk an, das in dem Haus ausgeübt wurde - was in Caemlyn einfache Holzschilder getan hätten. Die Banner waren ausgesprochen extravagant, ihre hellen Farben flatterten im Wind. An den Fassaden der meisten Häuser hingen zueinander passende Banner, die an Wandteppiche erinnerten und in hellen Aufschriften Besitzer, Meisterhandwerker und Kaufmann eines jeden Ladens verkündeten. Selbst die Wohnhäuser trugen Banner mit den Namen der dort lebenden Familien.
Von kupferhäutiger und dunkelhaariger Natur, bevorzugten die Domani helle Kleidung. Domanifrauen waren für ihre Kleider berüchtigt, die durchsichtig genug waren, um empörend zu sein. Es hieß, dass sich die ganz jungen Domanimädchen in der Kunst übten, wie man Männer manipulierte, und sich so auf den Tag ihrer Volljährigkeit vorbereiteten.
Ihr Anblick auf der Straße war beinahe Spektakel genug, um Rand aus seinem Brüten zu holen. Vielleicht noch vor einem Jahr hätte auch er sie angeglotzt, aber jetzt hatte er kaum einen Blick für sie übrig. Tatsächlich kam ihm der Gedanke, dass die Domani in der Masse alles andere als eindrucksvoll waren. Eine Blume auf einem Feld voller Unkraut war immer ein beeindruckender Anblick, aber wenn man jeden Tag an gepflegten Blumenbeeten vorbeikam, nahm man sie nicht mehr richtig wahr.
So in seine Gedanken versunken er auch war, entgingen ihm trotzdem nicht die Zeichen des Hungers. Die hageren Gesichter der Erwachsenen waren genauso unmissverständlich wie der furchtsame Ausdruck in den Augen der Kinder. Noch vor wenigen Wochen hatte in dieser Stadt das Chaos geherrscht, auch wenn Dobraine und die Aiel dem Gesetz wieder Geltung verschafft hatten. Einige der Häuser wiesen hastig geflickte Fenster oder zerbrochene Bretter auf, und einige der Banner waren offensichtlich vor kurzer Zeit heruntergerissen und schlampig geflickt worden. Das Gesetz war wieder da, aber sein Fehlen war noch immer frisch in aller Erinnerung.
Rands Gruppe erreichte eine zentrale Kreuzung, bei der es sich den großen flatternden Bannern zufolge um den Arandiplatz handelte, und Dobraine führte die Prozession nach Osten. Viele der Aiel, die den Cairhiener begleiteten, trugen die roten Stirnbänder, die sie als Siswai’aman auszeichneten. Die Speere des Drachen. Rhuarc hatte ungefähr zwanzigtausend Aiel um die Stadt herum und in den umliegenden Dörfern lagern; mittlerweile würden die meisten Domani wissen, dass diese Männer dem Wiedergeborenen Drachen folgten.
Rand registrierte mit Erleichterung, dass die Klipper des Meervolks endlich mit Korn aus dem Süden eingetroffen waren. Hoffentlich würde das für genauso viel Ordnung sorgen wie Dobraine und die Aiel.
Die Prozession führte in die wohlhabenderen Stadtteile. Rand wusste, wo er sie finden würde, lange bevor die Häuser kostbarer aussahen: so weit von den Docks entfernt wie möglich, aber noch immer in einer bequemen Distanz zu den Stadtmauern. Er hätte die Reichen selbst ohne Stadtplan finden können. Die Stadtlandschaft selbst bestimmte fast schon ihre Position.
Ein Pferd schob sich an seine Seite. Zuerst hielt er es für Mins - aber nein, sie ritt weiter hinten bei den Weisen Frauen. Betrachtete sie ihn nun mit anderen Augen, oder bildete er sich das bloß ein? Musste sie jedes Mal, wenn sie sein Gesicht sah, an seine Finger um ihren Hals denken?
Es war Merise, die da auf einer gutmütigen braunen Stute ritt. Die Aes Sedai waren außer sich vor Wut, weil Rand Cadsuane ins Exil geschickt hatte. Das war keine Überraschung. Aes Sedai zeigten gern eine beherrschte und ruhige Fassade, aber Merise und die anderen waren vor Cadsuane gekrochen wie ein Dorfwirt, der einen eingekehrten König zu bewirtschaften hatte.
Die Tarabonerin trug heute demonstrativ ihre Stola und zeigte ihre Zugehörigkeit zu der Grünen Ajah. Vermutlich trug sie sie in dem Bemühen, ihre Autorität zur Schau zu stellen. Rand seufzte innerlich. Er hatte mit einer Konfrontation gerechnet, aber gehofft, dass der Umzug sie herauszögern würde, bis sich die Gemüter wieder beruhigt hatten. Er respektierte Cadsuane, zumindest auf eine gewisse Weise, aber er hatte ihr nie vertraut. Für Versagen musste es Konsequenzen geben, und er verspürte eine große Erleichterung, dass er das mit ihr geregelt hatte. Sie würde ihn nicht mehr mit ihren Strippen einwickeln.
Oder zumindest nicht mehr mit so vielen.
»Dieses Exil ist albern, Rand al’Thor«, sagte Merise respektlos. Wollte sie ihn absichtlich wütend machen, vielleicht um ihn müheloser herumschubsen zu können? Nachdem er es monatelang mit Cadsuane zu tun gehabt hatte, war die schwache Imitation dieser Frau beinahe schon amüsant.
»Ihr solltet sie um Verzeihung bitten«, fuhr Merise fort. »Sie geruht, uns weiter zu begleiten, obwohl Eure hirnverbrannten Einschränkungen sie zwingen, einen Umhang mit hochgeschlagener Kapuze zu tragen, und das trotz dieser Hitze. Ihr solltet Euch schämen.«
Typisch Cadsuane. Er hätte ihr keinen Spielraum lassen dürfen, sich um seinen Befehl herumzumogeln. »Nun?«, fragte Merise.
Rand wandte den Kopf und sah ihr in die Augen. In den vergangenen paar Stunden hatte er eine unfassbare Entdeckung gemacht. Indem er den in ihm brodelnden Zorn einsperrte - indem er zu Cuendillar wurde -, hatte er etwas begriffen, das ihm lange Zeit entgangen war.
Leute reagierten nicht auf Zorn. Sie reagierten nicht auf Forderungen. Schweigen und Fragen zu stellen war viel effektiver. Tatsächlich zuckte Merise, immerhin eine gestandene Aes Sedai, unter diesem Blick zusammen.
Er legte kein Gefühl hinein. Zorn, Wut, Leidenschaft - das war alles noch da, tief in seinem Inneren begraben. Aber er hatte es in kaltes Eis eingehüllt und bewegungsunfähig gemacht. Es war das Eis von dem Ort, zu dem ihm Semirhage den Weg gewiesen hatte, der Ort, der wie das Nichts war, nur viel gefährlicher.
Vielleicht spürte Merise den erstarrten Zorn in ihm. Vielleicht konnte sie auch die andere Sache spüren, die Tatsache, dass er diese … Macht … benutzt hatte. Ganz weit weg fing Lews Therin an zu weinen. Das tat der Verrückte immer, wenn Rand an das dachte, was er getan hatte, um Semirhages Kragen zu entkommen.
»Was Ihr da getan habt, das war dumm«, fuhr Merise fort. »Ihr solltet…«
»Also haltet Ihr mich für einen Narren?«, fragte Rand leise.
Auf Forderungen mit Schweigen reagieren, auf Herausforderungen mit Fragen. Es war erstaunlich, wie gut das funktionierte. Merise verstummte, dann schauderte sie sichtlich. Sie warf einen Blick auf den Beutel an seinem Sattel, in dem er die kleine Statuette des Mannes, der die Kugel hochhielt, aufbewahrte. Rand hielt die Zügel locker und strich sanft mit den Fingern darüber.
Er stellte die Statuette nicht zur Schau. Er trug sie einfach nur bei sich, aber Merise und die meisten anderen kannten die beinahe grenzenlose Macht, die er auf Wunsch anzapfen konnte. Man kannte keine vergleichbare Waffe. Möglicherweise hätte er damit sogar die Welt zerstören können. Und sie hing unschuldig an seinem Sattel befestigt. Das machte Eindruck auf die Leute.
»Ich … nein, das tue ich nicht«, gab sie zu. »Nicht immer.«
»Seid Ihr der Ansicht, dass man Fehler nicht bestrafen sollte?«, fragte Rand noch immer mit leiser Stimme. Warum hatte er je die Beherrschung verloren? Diese ärgerlichen Kleinigkeiten waren weder seine Leidenschaft noch seine Wut wert. Belästigte man ihn zu sehr, brauchte er sie doch einfach nur auszulöschen, wie eine Kerze.
Ein gefährlicher Gedanke. War es seiner gewesen? Oder der von Lews Therin? Oder … kam er von einem ganz anderen Ort?
»Sicherlich seid Ihr zu streng gewesen«, sagte Merise.
»Zu streng? Ist Euch klar, welchen Fehler sie gemacht hat, Merise? Habt Ihr in Betracht gezogen, was hätte passieren können? Was eigentlich hätte passieren müssen?«
»Ich …«
»Das Ende aller Dinge, Merise«, flüsterte er. »Der Dunkle König hat den Wiedergeborenen Drachen unter Kontrolle. Wir beide, die wir auf derselben Seite kämpfen.«
Sie schwieg. Dann sagte sie: »Ja. Aber was Fehler angeht, so habt Ihr selbst welche begangen. Sie hätten in ähnlichen Katastrophen enden können.«
»Ich bezahle für meine Fehler«, sagte er und wandte sich ab. »Ich bezahle jeden Tag für sie. Jede Stunde. Mit jedem Atemzug.«
»Ich …«
»Genug.« Er brüllte das Wort nicht. Er sprach energisch, aber leise. Er ließ sie die volle Macht seines Unmuts spüren, fing ihren Blick ein. Und sie sackte plötzlich auf ihrem Sattel in sich zusammen, schaute mit weit aufgerissenen Augen zu ihm hoch.
An der Seite ertönte ein lautes Bersten, gefolgt von einem plötzlichen Krachen. Schreie hallten auf. Alarmiert fuhr Rand herum. Die Stützen eines mit Zuschauern gefüllten Balkons hatten nachgegeben, er war auf die Straße gestürzt und hatte sich wie ein von einem Felsblock getroffenes Fass in seine Bestandteile aufgelöst. Menschen stöhnten vor Schmerzen, andere riefen um Hilfe. Aber die Geräusche waren von beiden Straßenseiten gekommen. Rand runzelte die Stirn und drehte sich um; direkt auf der gegenüberliegenden Seite war ein zweiter Balkon in die Tiefe gestürzt.
Merise erbleichte, dann wendete sie eilig ihr Pferd, um zu den Verletzten zu gelangen und ihnen zu helfen. Andere Aes Sedai waren bereits unterwegs, um die Opfer zu Heilen.
Rand trieb Tai’daishar an. Das war nicht durch die Macht verursacht worden, aber seine Natur als Ta’veren hatte die Wahrscheinlichkeit verändert. Wo auch immer er einen Besuch abstattete, kam es zu erstaunlichen und seltsamen Begebenheiten. Außergewöhnlich viele Geburten, Todesfälle, Heiraten und Unfälle. Er hatte gelernt, sie zu ignorieren.
Allerdings war er nur selten Zeuge eines so … gewalttätigen Zwischenfalls gewesen. Konnte er sich sicher sein, dass das nicht an irgendeiner Wechselwirkung mit der neuen Macht lag? Dieser ungesehenen und doch so verführerischen Quelle der Kraft, die er angezapft, benutzt und genossen hatte? Lews Therin war der Meinung, dass das Geschehen gerade eigentlich unmöglich hätte sein müssen.
Macht war der eigentliche Grund gewesen, warum die Menschheit das Gefängnis des Dunklen Königs angebohrt hatte. Eine neue Energiequelle, die man lenken konnte, wie die Eine Macht, nur anders. Unbekannt und seltsam, aber potenziell gewaltig. Diese Energiequelle hatte sich als der Dunkle König herausgestellt.
Lews Therin wimmerte.
Rand trug den Zugangsschlüssel aus einem ganz bestimmten Grund mit sich. Er verband ihn mit einem der größten Sa’angreale, die je erschaffen worden waren. Mit dieser Macht und Nynaeves Hilfe hatte Rand Saidin gereinigt. Der Zugangsschlüssel hatte ihm erlaubt, einen unvorstellbaren Strom anzuzapfen, einen Sturm von der Größe eines Ozeans. Es war das Großartigste, was er je erlebt hatte.
Bis zu dem Augenblick, an dem er die namenlose Macht benutzt hatte.
Diese andere Kraft sang zu ihm, rief ihn, lockte ihn. So viel Macht, solch ein göttliches Wunder. Aber sie machte ihm Angst. Er wagte es nicht, sie zu berühren, nicht noch einmal.
Also trug er den Schlüssel bei sich. Er war sich nicht sicher, welche dieser beiden Energiequellen die gefährlichere war, aber so lange beide ihn zu sich riefen, konnte er beiden widerstehen. Sie übertönten sich gegenseitig, wie zwei Leute, die brüllend seine Aufmerksamkeit forderten. Im Augenblick zumindest.
Davon abgesehen würde man ihm nie wieder einen Kragen umlegen können. Der Zugangsschlüssel hätte ihm nicht gegen Semirhage geholfen - keine wie auch immer geartete Menge der Einen Macht würde einem Mann helfen, der überrumpelt wurde -, aber vielleicht würde er ihm ja in der Zukunft nützlich sein. Früher hätte Rand nicht gewagt, ihn bei sich zu tragen, aus Angst vor dem, was er ermöglichte. Aber solche Schwächen konnte er sich einfach nicht mehr leisten.
Ihr Ziel war leicht zu erkennen; etwa fünfhundert cairhienische Waffenmänner lagerten auf dem Gelände eines geräumigen Anwesens. Aiel hatten ebenfalls dort Zelte errichtet - aber sie hatten auch ein paar der umliegenden Gebäude für sich in Anspruch genommen und mehrere Dächer. An einem Ort ein Lager aufzuschlagen war für die Aiel das Gleiche, wie ihn zu beschützen, denn ein ruhender Aiel war etwa doppelt so aufmerksam wie ein normaler Soldat auf seinem Wachtposten. Den größten Teil seiner Streitmacht hatte Rand vor der Stadt gelassen; er würde es Dobraine und seinen Bediensteten überlassen, für seine Leute im Haus Quartiere zu finden.
Rand zügelte Tai’daishar, dann betrachtete er sein neues Zuhause.
Wir haben kein Zuhause, flüsterte Lews Therin. Wir haben es zerstört. Haben es niedergebrannt, zu Schlacke geschmolzen, wie Sand in einem Feuer.
Das Anwesen war definitiv eine Klasse besser als das vorherige Herrenhaus aus Baumstämmen. Das weitläufige Grundstück war mit einem Eisenzaun umgeben. Die Blumenbeete waren leer - Blumen wollten in diesem Frühling einfach noch nicht wachsen -, aber der Rasen war grüner als die meisten, die Rand bislang gesehen hatte. Sicher, er war größtenteils gelb und braun, aber es gab auch grüne Flecken. Das Personal bemühte sich sehr, seine Anstrengungen zeigten sich auch in den Reihen von Aryth-Eiben, die man auf den Seiten des Rasens zu den Umrissen prächtiger Tiere geschnitten hatte.
Das Haus selbst war fast schon ein Palast; natürlich gab es in der Stadt bereits einen, der dem König gehörte. Angeblich war er bedeutend weniger prachtvoll als die Häuser des Kaufmannsrats. Das Banner, das oben auf dem Herrenhaus flatterte, war in hellem Gold und Schwarz gehalten und bezeichnete dies als den Sitz von Haus Chadmar. Vielleicht hatte diese Milisair die Abreise der anderen als Gelegenheit betrachtet. Falls dem so war, hatte sie damit letztlich nur eine einzige Gelegenheit bekommen: von Rand gefangen genommen zu werden.
Die Tore zum Anwesen standen offen, und die Aiel in Rands Gefolge eilten bereits hindurch und gesellten sich zu den Gruppen aus ihren Gesellschaften oder Clanmitgliedern. Es war ermüdend, dass sie nur selten auf Rands Befehle warteten, aber Aiel waren nun einmal Aiel. Die Andeutung, dass sie warten sollten, rief lediglich Gelächter hervor, als hätte er einen tollen Witz gemacht. Da konnte man einfacher den Wind zähmen, als sie dazu zu bringen, sich wie Feuchtländer zu benehmen.
Das ließ ihn an Aviendha denken. Wohin war sie so plötzlich verschwunden? Er konnte sie durch den Bund spüren, aber das Gefühl war schwach - sie war sehr weit weg. Im Osten. Was hatte sie in der Wüste zu erledigen?
Er schüttelte den Kopf. Alle Frauen waren schwer zu verstehen, und eine Aiel war zehnmal so unverständlich. Er hatte gehofft, mit ihr etwas Zeit verbringen zu können, aber sie war ihm aus dem Weg gegangen. Nun, vielleicht hatte sie ja Mins Anwesenheit ferngehalten. Vielleicht würde er sich davon abhalten können, ihr wehzutun, bevor der Tod kam. Es war gut, dass Aviendha floh. Noch kannten seine Feinde sie nicht.
Er trieb Tai’daishar durch das Tor und ritt die Auffahrt zum Haus hinauf. Dort stieg er ab, band die Statuette los und schob sie in die übergroße Tasche seines Mantels, die man für diesen Zweck vergrößert hatte. Die Zügel überreichte er einem Stallburschen - es handelte sich um einen der Hausdiener. Er trug einen grünen Mantel mit einem weißen Hemd darunter, Kragen und Manschetten waren aus Spitze. Die Dienerschaft war bereits darüber informiert worden, dass Rand hier logieren würde, jetzt, wo die vorherige Bewohnerin seinem … Schutz unterstellt worden war.
Dobraine gesellte sich zu Rand, als er die Treppe hinaufschritt. Die weißen Stufen wurden von Holzsäulen gesäumt. Rand betrat die Eingangshalle. Obwohl er bereits in mehreren Palästen gewohnt hatte, war er dennoch beeindruckt. Und angewidert. Die opulente Pracht hinter der Haustür hätte niemals erahnen lassen, dass die Menschen in dieser Stadt hungerten. Im hinteren Teil der Eingangshalle hatten sich sehr nervöse Diener zu einer Reihe aufgestellt. Er konnte ihre Furcht spüren. Es geschah nicht jeden Tag, dass das Heim vom Wiedergeborenen Drachen annektiert wurde.
Rand zog den Reithandschuh aus, indem er die Hand zwischen Arm und Brustkorb steckte, dann schob er den Handschuh unter den Gürtel. »Wo ist sie?«, fragte er und schaute die beiden Töchter Beralna und Riallin an, die die Diener im Auge behielten.
»Erste Etage«, sagte eine der Töchter. »Trinkt Tee, während ihre Hand so zittert, dass sie gleich das Porzellan zerbricht.«
»Wir sagen ihr ständig, dass sie keine Gefangene ist«, meinte die andere Tochter. »Sie kann bloß nicht gehen.«
Das fanden sie beide amüsant. Rand drehte sich um, als sich Rhuarc zu ihm gesellte. Der hochgewachsene Clanhäuptling mit dem roten Haar musterte den Raum mit seinem funkelnden Kronleuchter und den verzierten Vasen. Rand wusste, was er dachte. »Ihr dürft euch das Fünftel nehmen«, sagte er. »Aber nur von den Reichen, die in diesem Bezirk leben.«
So funktionierte das nicht; die Aiel hätten sich das Fünftel von jedem nehmen dürfen. Aber Rhuarc widersprach nicht. Die Einnahme von Bandar Eban durch die Aiel war sowieso keine richtige Eroberung gewesen, auch wenn sie gegen Banden und Schläger gekämpft hatten. Vielleicht hätte Rand ihnen gar nichts geben sollen. Aber bei Häusern wie diesem hier gab es genug überschüssigen Reichtum für die Aiel, zumindest bei den Reichen.
Die Töchter nickten, als hätten sie damit gerechnet, dann trabten sie los, vermutlich um sich ihren Anteil auszusuchen. Dobraine sah konsterniert zu. Cairhien hatte bei mehreren Gelegenheiten das Fünftel der Aiel erdulden müssen.
»Ich werde nie begreifen, warum Ihr sie wie Straßenräuber plündern lasst, die die Karawanenwächter im Schlaf überraschen«, sagte Corele und rauschte mit einem Lächeln in den Raum. Das imposante Mobiliar ließ sie die Brauen heben. »Und an einem so hübschen Ort. Als würde man die Frühlingsknospen von Soldaten zertrampen lassen, nicht wahr?«
Hatte man sie nun geschickt, nachdem er Merise so erschüttert hatte? Sie erwiderte seinen Blick auf ihre freundliche Art, aber er senkte ihn nicht, bis sie wegschaute. Er konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, wo das bei einer Aes Sedai nie geklappt hatte.
Er wandte sich Dobraine zu. »Ihr habt hier gute Arbeit geleistet«, sagte er zu dem Lord. »Selbst wenn Ihr nicht so weitläufig für Ordnung schaffen konntet, wie ich wollte. Ruft Eure Waffenmänner zusammen. Narishma hat Anweisung, für Euch ein Wegetor nach Tear zu erschaffen.«
»Tear, mein Lord?«, fragte Dobraine überrascht.
»Ja. Sagt Darlin, er soll aufhören, mich mit Boten zu belästigen. Er soll weiter seine Streitkräfte sammeln; ich hole ihn nach Arad Doman, wenn ich den richtigen Zeitpunkt für gekommen halte.« Das würde nach seiner Begegnung mit der Tochter der Neun Monde sein, denn dieses Treffen würde vieles entscheiden.
Dobraine sah etwas bestürzt aus. Oder bildete er sich das nur ein? Dobraines Ausdruck veränderte sich selten. Glaubte der Lord, dass seine Aussichten auf ein Königreich dahinschwanden? Plante er Intrigen gegen Rand? »Ja, mein Lord. Ich nehme an, ich soll sofort gehen?«
Dobraine hat uns nie einen Grund gegeben, ihm zu misstrauen. Er hat sogar für Unterstützung für Elayne gesorgt, damit sie den Sonnenthron bekommt!
Rand hatte ihn zu lange nicht mehr gesehen. Zu lange, um ihm noch vertrauen zu können. Aber es war besser, ihn jetzt von hier fortzuschaffen; er hatte zu viel Zeit gehabt, um hier einen Fuß in die Tür zu bekommen, und Rand kannte keinen Cairhiener, der sich nicht in die Politik einmischte.
»Ja, Ihr brecht noch in dieser Stunde auf«, erwiderte Rand und schritt die anmutigen weißen Stufen hinauf.
Dobraine salutierte so stoisch wie immer und ging durch die Tür nach draußen. Er gehorchte sofort. Ohne jede Beschwerde. Er war ein guter Mann. Rand wusste das genau.
Beim Licht, was geschieht mit mir?, dachte er. Einigen Leuten muss ich vertrauen. Oder?
Vertrauen …?, flüsterte Lews Therin. Ja, vielleicht können wir ihm vertrauen. Er kann die Macht nicht lenken. Beim Licht, vor allem können wir aber einem nicht vertrauen, uns selbst…
Rand biss die Zähne zusammen. Er würde Dobraine mit dem Königreich belohnen, falls man Alsalam nicht fand. Ituralde wollte es ja nicht haben.
Die breite Treppe führte zu einem Absatz, an dem sie sich teilte und auf zwei Seiten zum ersten Stock hinaufführte. »Ich brauche ein Audienzgemach «, sagte Rand zu den Dienern in der Halle. »Und einen Thron. Schnell.«
Keine zehn Minuten später saß Rand in einem vornehm dekorierten Salon in der ersten Etage und wartete darauf, dass man die Kauffrau Milisair Chadmar zu ihm brachte. Der mit Schnitzereien übermäßig verzierte Stuhl aus weißem Holz kam nicht ganz an einen Thron heran, aber er würde reichen. Vielleicht hatte Milisair ihn selbst für Audienzen benutzt. Der Raum schien auf jeden Fall wie ein Thronsaal ausgestattet zu sein; es gab ein niedriges Podest, auf dem man erhöht sitzen konnte. Podest und Boden waren mit grünen und roten Läufern mit phantasievollen Mustern bedeckt, was zu dem Meervolk-Porzellan auf Sockeln in der Ecke passte. Vier breite Fenster hinter ihm - jedes hoch genug, um durchgehen zu können - ließ bewölktes Sonnenlicht in den Raum strömen und traf seinen Rücken, als er sich auf den Stuhl setzte, sich nach vorn beugte und einen Arm auf das Knie stützte. Die Statuette stand direkt vor ihm auf dem Boden.
Kurz darauf trat Milisair Chadmar an den Aielwachen vorbei über die Schwelle. Sie trug eines jener berühmten Domanikleider. Es bedeckte ihren Körper vom Hals bis zu den Zehenspitzen, war aber beinahe transparent und schmiegte sich an jede Kurve - mit denen sie nun wirklich ausreichend ausgestattet war. Das Gewand war dunkelgrün, an ihrem Hals hingen Perlen. Dunkle Locken reichten bis zu ihren Schultern, einige davon rahmten ihr Gesicht ein. Rand hatte nicht damit gerechnet, dass sie noch so jung war, sie konnte kaum älter als dreißig sein.
Sie hinzurichten würde eine Schande sein.
Nur ein Tag, dachte er, und schon denke ich daran, eine Frau hinzurichten, nur weil sie sich mir nicht anschließen will. Es gab einmal eine Zeit, da konnte ich es kaum ertragen, Verbrecher hinzurichten, die es verdient hatten.
Milisairs tiefer Knicks schien anzudeuten, dass sie seine Autorität akzeptierte. Aber vielleicht sollte es ihm auch nur einen besseren Einblick in das gestatten, was das Kleid so hervorhob. Typisch für eine Domani. Es war nur ihr Pech, dass er bereits mehr als genug Probleme mit Frauen hatte, als er bewältigen konnte.
»Mein Lord Drache«, sagte Milisair und erhob sich wieder. »Wie darf ich Euch dienen?«
»Wann habt Ihr das letzte Mal von König Alsalam gehört?«, wollte Rand wissen. Er verzichtete absichtlich darauf, ihr einen Platz auf den bereitgestellten Stühlen anzubieten.
»Der König?«, fragte sie überrascht. »Das ist jetzt schon Wochen her.«
»Ich muss mit dem Boten sprechen, der den letzten Brief überbracht hat.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob man den ausfindig machen kann.« Die Frau klang verwirrt. »Ich führe nicht Buch über das Kommen und Gehen eines jeden Boten in der Stadt, mein Lord.«
Rand beugte sich weiter vor. »Lügt Ihr mich an?«, fragte er leise.
Ihr Mund öffnete sich, vielleicht schockiert von seiner Direktheit. Domani waren keine Cairhiener, die anscheinend schon mit politischem Geschick zur Welt kamen, aber es war ein geschicktes Volk. Vor allem die Frauen.
Rand war weder subtil noch feinsinnig. Er war Schafhirte, der zum Eroberer geworden war, und sein Herz war das eines Mannes von den Zwei Flüssen, selbst wenn sein Blut Aiel war. An welche politischen Ränke die Frau vor ihm auch immer gewöhnt war, bei ihm würden sie nicht funktionieren. Er hatte keine Geduld für Spielchen.
»Ich …« Milisair starrte ihn an. »Mein Lord Drache …«
Was verbarg sie? »Was habt Ihr mit ihm gemacht?«, folgte Rand einer Eingebung. »Mit dem Boten.«
»Er wusste nichts über den Aufenthaltsort des Königs«, sagte Milisair schnell; die Worte schienen nur so aus ihr herauszusprudeln. »Meine Verhörer waren sehr gründlich.«
»Ist er tot?«
»Ich … nein, mein Lord Drache.«
»Dann werdet Ihr ihn mir bringen lassen.« Ihr Gesicht verlor nun auch noch den Rest Farbe, und sie blickte verstohlen zur Seite, suchte vielleicht reflexartig nach einem Fluchtweg. »Mein Lord Drache«, fing sie zögernd an und schaute wieder zu ihm hin. »Jetzt, wo Ihr da seid … wird der König vielleicht in seinem Versteck bleiben. Vielleicht besteht gar keine Notwendigkeit, weiter nach ihm zu suchen.«
Sie hält ihn ebenfalls für tot. Darum ist sie Risiken eingegangen.
»Es besteht sehr wohl die Notwendigkeit, Alsalam zu finden«, sagte Rand, »oder zumindest festzustellen, was mit ihm passiert ist. Wir müssen sein Schicksal kennen, damit ihr einen neuen König wählen könnt. So funktioniert das doch, richtig?«
»Ich bin davon überzeugt, dass man Eure Krönung schnell arrangieren kann, mein Lord Drache«, erwiderte sie glatt.
»Ich werde hier nicht den König spielen«, sagte Rand. »Bringt mir den Boten, Milisair, und vielleicht werdet Ihr noch erleben, wie man den neuen König krönt. Ihr seid entlassen.«
Sie zögerte, dann machte sie einen Knicks und ging. Rand erhaschte einen Blick auf Min, die draußen bei den Aiel stand und der Kauffrau nachsah. Er fing ihren Blick ein, und sie sah beunruhigt aus. Hatte sie bei Milisair irgendwelche Sichten erlebt? Er wollte sie zu sich rufen, aber sie verschwand mit schnellen Schritten. Die neben ihr stehende Alivia sah ihr neugierig nach. Die ehemalige Damane hatte in letzter Zeit zu allen Distanz gehalten, als wollte sie abwarten, bis der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie ihr Schicksal erfüllen und Rand beim Sterben helfen konnte.
Rand war sich gar nicht bewusst gewesen, dass er aufgestanden war. Dieser Blick in Mins Augen. War sie böse auf ihn? Erinnerte sie sich an seine Hand um ihren Hals, wie er sie zu Boden drückte?
Er setzte sich wieder. Min konnte warten. »Also gut«, wandte er sich an die Aiel. »Bringt mir meine Schreiber und Quartiermeister, zusammen mit Rhuarc, Bael und allen Honoratioren, die nicht aus der Stadt geflohen sind oder bei den Unruhen ums Leben kamen. Wir müssen die Pläne für die Verteilung des Korns durchsprechen.«
Die Aiel schickten Läufer los, und Rand lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er würde dafür sorgen, dass die Leute zu essen bekamen und die Ordnung wiederhergestellt wurde, dann würde er den Kaufmannsrat zusammenholen. Er würde sich sogar darum kümmern, dass sie einen neuen König wählten.
Aber er würde auch herausfinden, wohin Alsalam verschwunden war. Denn dort würde er auch bestimmt Graendal finden, das verriet ihm sein Instinkt. Das war seine beste Spur.
Und wenn er sie fand, würde er dafür sorgen, dass sie genau wie Semirhage durch Baalsfeuer starb. Er würde tun, was getan werden musste.