SOL 40 MITTERNACHT

Ein schwaches Brummen drang an seine Ohren. Es war völlig dunkel, er konnte nichts sehen. Sein Körper fühlte sich taub an, in Eis gehüllt. Aber da war dieses leise, summende Geräusch von irgendwoher.

Seine Augen waren verklebt. Zu müde, um auch nur den Versuch zu unternehmen, den Kopf zu heben oder die Arme zu bewegen, setzte Jamie jedes Atom seiner Willenskraft daran, die Augen zu öffnen. Ein verschleiertes Durcheinander von Grautönen schwamm vor ihm. Er zwinkerte mehrmals. Es war die gekrümmte Decke des Rovers. Das Summen war das stetige Hintergrundgeräusch der Elektrik. Er lag auf einer der Liegen auf dem Rücken. Einer unteren Liege, wie er sah, während er weiterhin zwinkerte und blinzelte und das Bild scharfzustellen versuchte. Die obere Liege war eingeklappt und verriegelt.

Wosnesenski tauchte über ihm auf. Sein fleischiges Gesicht war merkwürdig sanft und weich. Sein zerknitterter grüner Overall sah zu groß für ihn aus, als ob er abgenommen hätte.

Jamie versuchte, etwas zu sagen, aber seine Kehle war zu trocken. Es kam nur ein rauhes Ächzen heraus.

»Ruhen Sie sich aus, mein Freund«, sagte Wosnesenski leise. »Strengen Sie sich nicht an. Hier …«

Der Russe hob Jamies Kopf und führte einen dampfenden Becher an seine Lippen. »Ganz langsam … nur einen kleinen Schluck.«

Die Flüssigkeit auf Jamies Zunge fühlte sich kochend heiß an. Und gut. Heißer Tee mit einem ordentlichen Schuß Zitronenkonzentrat. Er trank mehrere Schlucke. Die Wärme strömte ihm durch den ganzen Körper.

Wosnesenski ließ Jamies Kopf sanft wieder auf die Liege zurücksinken und sah ihn dann wortlos mit dunklen, ernsten Augen an. Jamie stellte fest, daß der Russe nicht stand, sondern auf der Liege nebenan saß. Vorn im Cockpit hörte er Iwschenko etwas auf Englisch sagen: Er erstattete der Kuppel oder vielleicht direkt Dr. Li Bericht.

»Sie sind rausgegangen«, krächzte Jamie. »Sie sind rausgegangen und haben mich geholt.«

Der Russe schüttelte den Kopf. »Reed ist gegangen.«

»Tony? Tony hat mich reingeholt?«

Wosnesenski nickte.

Jamie lag da und merkte, daß sie ihm den Raumanzug ausgezogen hatten. Er schob eine Hand in die Tasche mit dem Bärenfetisch; er fühlte sich fest, warm und tröstlich an. Tony ist rausgegangen und hat mich geholt, sagte er sich. Tony hat kein EVA-Training, aber er ist im Dunkeln rausgegangen und hat mich reingeschleift.

Er hörte die dumpfen Geräusche von Stiefeln, und dann erschien Reed in seinem Blickfeld. Er steckte immer noch in seinem gelben Raumanzug; nur den Helm hatte er abgenommen. Er sah aus wie jemand, der in einer Spielhalle hinter einer ausgeschnittenen Pappfigur posierte.

»Sie haben großes Glück gehabt, James«, sagte der Engländer sanft. »Keine Erfrierungen. Wir haben Sie gerade noch rechtzeitig erwischt.«

»Sie haben mir das Leben gerettet.«

Reeds Gesicht rötete sich ein wenig. »Wir konnten Sie ja nicht da draußen erfrieren lassen, oder?«

»Unser Arzt ist zum Helden geworden«, sagte Wosnesenski. Aber er lächelte nicht.

»Es hat viel Mut gekostet, im Dunkeln hinauszugehen«, sagte Jamie. »Der Mars hat Ihnen Mut gegeben.«

Reed warf einen raschen Blick zu Wosnesenski. »Das war keine Heldentat. Mikhail Andrejewitsch hätte mich erwürgt, wenn ich nicht gegangen wäre«, sagte er. »Eigentlich habe ich mir dadurch selber das Leben gerettet.«

»Das glaube ich nicht. Dazu war viel Courage nötig. Ein Feigling wäre hier drin geblieben, da hätte Mikhail ihn noch so sehr bedrohen können.«

»Sie waren praktisch schon hier«, sagte Reed. »Sie sind keine paar hundert Meter vom Rover entfernt zusammengebrochen. Wir konnten nicht hier sitzenbleiben und Sie sterben lassen. Das hätte für die anderen drei aus Ihrer Gruppe ja ebenfalls den Tod bedeutet, nicht wahr?«

»Aber trotzdem …«

Wosnesenski schaute mit finsterer Miene auf Jamie herab. »Im Vergleich zu dem, was Sie in Ihrer Verfassung getan haben, ist der kleine Ausflug unseres Arztes nicht der Rede wert.«

Jamie lächelte zu ihm hinauf. »Bis auf eine Kleinigkeit — ohne diesen kleinen Ausflug hätte alles, was ich getan habe, überhaupt nichts gebracht.«

Reed schaute auf einmal äußerst unbehaglich drein. Wosnesenski zuckte die Achseln und kam langsam auf die Beine, wobei er sich schwer auf die Metallstreben der oberen Liege stützte.

»Sie sollten versuchen zu schlafen«, sagte er.

»Ja«, pflichtete Reed ihm rasch bei. »Ruhen Sie sich aus. Sie haben es verdient.«

»Dimitri steht mit Connors und den Frauen in Verbindung. Sobald die Sonne aufgeht, fahre ich an dem Kabel zu ihrem Fahrzeug hinüber und helfe ihnen in die Anzüge. Dann holen wir sie mit der Winde zu uns herüber.«

Jamie nickte. Seine Augen schlossen sich bereits.

»Gut«, sagte er. »Gut.«

Sein letzter bewußter Gedanke war, daß Reed ein Held wider Willen zu sein schien. Gott weiß, womit Mikhail ihm gedroht hat. Aber Tony ist über seinen Schatten gesprungen. Das ist das Entscheidende. Tony ist über seinen Schatten gesprungen, als es darauf ankam.


* * *

Der oberste Flugleiter saß in seinem Büro in Kaliningrad hinter dem Schreibtisch. Nur der Chef des britischen Kontingents war bei ihm. Draußen vor dem einzigen Fenster des Zimmers fiel ein kalter, trüber Regen, der erste Vorbote des Herbstes und des grimmigen Winters.

Der in die vertäfelte Wand eingebaute Bildschirm hatte sich gerade abgeschaltet. Während der letzten fünfzehn Minuten hatten die beiden Männer sich das Band mit dem letzten Bericht von Dr. Li angesehen und angehört. Der Expeditionskommandant hatte ein vorbereitetes Manuskript verlesen; sein Gesicht war dabei eine unbewegte Maske geblieben, die keine wie auch immer gearteten Gefühlsregungen preisgab.

Nun war der Bildschirm leer. Lis Band war zu Ende. Der Schnee draußen dämpfte die üblichen Geräusche von der Straße. Im Büro herrschte absolute Stille.

Der oberste Flugleiter zupfte geistesabwesend an seinem ungepflegten Spitzbart. »Nun«, sagte er auf englisch, »was denken Sie?«

Der Chef des britischen Teams im Marsprojekt war ein schottischer Ingenieur, der aus dem Technikerteam zum Administrator aufgestiegen war. Er war ein zierlicher Mann mit ergrauendem dunklem Haar, dessen Augen selbst dann listig dreinschauten, wenn er sich im privaten Kreis entspannte.

»Das ist ein schwerer Schlag«, sagte er. »Der Arzt hätte die Symptome früher erkennen und Maßnahmen ergreifen müssen, um das Problem zu beseitigen.«

»Er hat die Lösung ja schließlich noch gefunden«, entgegnete der oberste Flugleiter.

»Ja, aber er war nahe daran, sie alle umzubringen.«

»Wie können wir verhindern, daß die Medien von der Sache Wind bekommen?«

»Überhaupt nicht«, erwiderte der Schotte rundheraus. »Nicht, wenn Brumado in Houston mit all diesen Reportern spricht.«

»Dann werden wir Brumado diese Information vorenthalten müssen.«

»Wollen Sie das ganze Team wirklich für den Rest der Mission von der Außenwelt abschotten? Seien Sie vernünftig, Mann. Das geht nicht.«

Der oberste Flugleiter schüttelte den Kopf. »Wir würden sie alle für den Rest ihres Lebens zum Schweigen verdonnern müssen, nicht wahr?« Er vergrub seine Finger wieder in dem mißhandelten Spitzbart.

»Ich weiß, was Sie denken. Es ist eine Sache, wenn die Politiker unter vier Augen davon erfahren. Wir können ihnen alles vernünftig erklären und ihnen einsichtig machen, daß es ein unvermeidlicher Unfall war. Aber wenn die Medien sich der Geschichte bemächtigen und sie in die Welt hinausposaunen, müssen die Politiker darauf reagieren, was die Medien sagen, nicht darauf, was wir ihnen erzählen.«

»Genau. Das wird das Ende des Marsprojekts sein. Es wird keine Nachfolgemission geben.«

»Ein haariges Problem.«

Der oberste Flugleiter starrte aus dem Fenster auf den fallenden Schnee. »Schade, daß wir sie nicht einfach alle auf dem Mars lassen können.«

Der Schotte lächelte grimmig.

Als Jamie erwachte, war es vollständig hell. Iwschenko war vorn im Cockpit; Wosnesenski hatte bereits den Anzug angelegt und war durch die Luftschleuse hinausgegangen, um mit Hilfe der Winde über den trügerischen Sandsee zu dem steckengebliebenen Rover hinüberzufahren. Es war das rauhe Summen des Windenmotors, das Jamie aufgeweckt hatte.

Als Reed merkte, daß Jamie wach war, brachte er ihm sofort eine Schale mit warmem Frühstück. Neben einem Plastikbecher Orangensaft lagen sechs Gelatinekapseln.

»Reeds Genesungsrezept«, sagte der Engländer, als Jamie ihn fragend ansah. »Genug Vitamine, um ein Pferd in die Umlaufbahn zu schicken.«

Jamie fühlte sich immer noch schwach und hatte nach wie vor Schmerzen, aber es ging ihm schon besser als am Tag zuvor. Ihm wurde bewußt, daß es nicht seine körperlichen Symptome waren, die sich gebessert hatten; vielmehr war die schreckliche Furcht verschwunden, die sich in seinem Innern aufgestaut hatte. Der Körper wird gesund werden, sobald der Geist zu der Überzeugung gekommen ist, daß Heilung möglich ist. Das wirkliche Leiden ist immer im Geist.

Er holte tief Luft. Die Schmerzen in seiner Brust waren verschwunden. Der Aufruhr in seinem Innern hatte sich ebenfalls gelegt. Alles sah anders aus, klarer als jemals zuvor. Als ob er die Welt durch einen Schleier betrachtet hätte. Bis jetzt.

Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Jamie eine innere Gelassenheit, eine Gewißheit. Er fühlte sich so sicher und stabil wie die alten Berge. Das ist es, wovon Großvater Al mir erzählt hat. Ich habe mein Gleichgewicht gefunden, meinen Platz in der Ordnung der Dinge. Ich weiß jetzt, wer ich bin. Ich weiß, wo ich hingehöre. Was ich dort draußen in der Dunkelheit durchgemacht habe, hat alles verändert. Sobald man den Tod akzeptiert, kann einem nichts mehr etwas anhaben. Ich kann jetzt mit allem fertigwerden. Mit allem. Er lächelte insgeheim. Diesmal nicht, Lebensnehmer. Noch nicht.

»Ich möchte mich noch mal bei Ihnen bedanken, Tony …«

Reeds Augenbrauen zogen sich zusammen. »Das haben Sie schon zur Genüge getan. Ich würde es vorziehen, wenn Sie das Thema fallenließen, sofern es Ihnen nichts ausmacht.«

Jamie setzte sich auf und nahm das Tablett aus Reeds Händen entgegen. »Wo ist Mikhail?« fragte er.

»Weg, um Ihren gestrandeten Kameraden zu helfen.«

»Allein? Ist er kräftig genug?«

»Er hat sieben Stunden durchgeschlafen«, sagte Reed. »Heute morgen geht es ihm schon viel besser. Die Vitamine tun ihre Wirkung bei ihm.«

Iwschenko rief aus dem Cockpit zu ihnen nach hinten: »Mikhail ist drüben beim anderen Rover angekommen. Er hilft Connors in den Anzug.«

»Dann steige ich lieber mal in meinen«, murmelte Reed. »Ich habe den Auftrag, unsere Gäste an der Luftschleuse zu empfangen.«

»Ich helfe Ihnen«, sagte Jamie.

»Sie bleiben liegen«, sagte Reed fest. »Sie haben genug getan. Den Rest erledigen wir.«

Reed ging nach hinten zur Luftschleuse. Jamie verschlang die aus Konzentrat zubereiteten Eier, trank den Zitronentee aus und ging dann nach vorn. Iwschenko grinste ihn an, als er gebückt ins Cockpit trat. Das linke Bein des Kosmonauten war von einem starren Plastikgips umhüllt, der ungelenk abstand. Jamie achtete darauf, daß er nicht dagegenstieß, als er auf den linken Sitz glitt.

Durch die gewölbte Kanzel sah Jamie das Windenseil, das sich straff zu dem steckengebliebenen Rover jenseits des im Staub begrabenen Kraters spannte.

»Connors hat schon den Anzug an«, meldete Iwschenko.

»Was ist mit Joanna und Ilona?« fragte Jamie, während er sich eine Kopfhörergarnitur aufsetzte.

»Doktor Malater ist offenbar so krank, daß sie nicht ohne fremde Hilfe von ihrer Liege aufstehen kann. Doktor Brumado scheint es ein bißchen besser zu gehen, aber nicht viel.«

»Vielleicht sollte ich wieder zurückgehen und ihnen helfen.«

»Sie bleiben hier«, sagte Iwschenko fest. »Mikhail Andrejewitsch hat strikte Anweisungen gegeben. Er macht das schon.«

Jamie verspürte ein Gefühl zwischen Frustration und Schuldbewußtsein und merkte, wie sein Körper sich verspannte. Er wollte helfen, wollte aktiv sein und nicht wie ein Zuschauer herumsitzen. Aber eine Stimme in seinem Hinterkopf sagte ihm: Du bist nicht in der Verfassung, wieder hinauszugehen. Du hast dein Teil getan. Du kannst nicht alles tun. Laß die anderen helfen. Die Spannung löste sich.

Widerstrebend akzeptierte er die Situation, blieb im Cockpit sitzen und lauschte den Gesprächen der Leute im anderen Rover. Joanna wollte nicht ohne ihre Probenbehälter gehen, die Boxen mit den kostbaren Exemplaren marsianischer Flechten darin. Jamie hörte ihrer Diskussion über Sprechfunk zu. Joannas Stimme war schwach, erschöpft, atemlos. Aber ihr Wille war stärker als der härteste Stahl. Sie weigerte sich strikt, den Rover ohne die Probenbehälter zu verlassen.

Wosnesenski legte das Problem abrupt in Jamies Schoß. »Waterman, Sie sind der wissenschaftliche Leiter. Was schlagen Sie vor?«

Iwschenko schaute durch das enge Cockpit zu Jamie herüber.

»Wir sind den ganzen Weg hierher gekommen, um festzustellen, ob es hier Leben gibt«, sagte Jamie. »Können Sie die Behälter am Kabel festmachen und sie zusammen mit den Leuten herüberschicken?«

Eine lange Pause, dann murmelte Wosnesenski: »Also gut.«

»Danke«, sagte Joannas Stimme wie aus weiter Ferne.

Die Außenkamera des Rovers war nach vorn auf das straff gespannte Kabel zwischen den beiden Fahrzeugen gerichtet und auf maximale Vergrößerung eingestellt. Auf dem Bildschirm in der Mitte der Kontrolltafel sah Jamie den halb begrabenen Luftschleusendeckel des Rovers aufschwingen. In der Luke stand Joanna in ihrem leuchtend orangefarbenen Raumanzug; Wosnesenski stand in seinem knallroten Anzug neben ihr. Der Kosmonaut half ihr ins Klettergeschirr und befestigte es dann am Seil der Winde.

»Wir sind soweit«, hörte Jamie in seinem Kopfhörer. »Setzt die Winde in Gang.«

Der Motor begann zu heulen. Joanna wurde von den Füßen gerissen und kam auf Jamie zu. Sie baumelte in dem Geschirr, und ihre Stiefel glitten nur wenige Zentimeter über dem gewellten Sand dahin. Hinter ihr befestigte Wosnesenski vier sperrige Boxen am Kabel: die Biokästen mit den sicher verstauten Proben der marsianischen Flechten darin.

Joanna gab keinen Mucks von sich, während sie über den trügerischen Sandsee schwebte. Jamie hörte, wie Wosnesenski und Connors sich über Sprechfunk unterhielten und vor Anstrengung grunzten und keuchten, als sie die halb bewußtlose Ilona in ihren Anzug verfrachteten. Joanna glitt in ihrem Anzug an ihm vorbei. Ihre behandschuhten Hände umklammerten das Kabel, aber ihre Füße baumelten herab, als wäre sie bewußtlos. Oder tot.

Es geht ihr gut, sagte sich Jamie. Sie weiß nur nicht, wie man sich richtig festhält. Sie hat vergessen, was sie uns beim Training gezeigt haben: wie man sich mit dem Sicherheitskabel aus dem Shuttle entfernt, wenn es einen Defekt auf der Abschußrampe gibt. Sie kommt schon wieder in Ordnung.

Trotzdem schien es ihm eine Stunde zu dauern, bis er hörte, wie sich die Luftschleuse in seinem Rücken mit einem seufzenden Laut öffnete. Jamie drehte sich im Cockpitsitz um und sah Joanna in ihrem leuchtenden Anzug erschöpft ins Modul wanken. Reed stützte sie in seinem gelben Anzug wie ein dienstbeflissener Roboter, der einem von seinesgleichen half. Die beiden stapften schwerfällig bis zur Mitte des Moduls, wo Joanna halb auf einer der eingeklappten Bänke zusammenbrach.

Jamie stemmte sich aus seinem Sitz hoch und stolperte nach hinten zu ihr, erstaunt darüber, wie schwach er immer noch war.

»Können Sie sich um sie kümmern?« Reeds Stimme kam gedämpft aus dem Innern des Helms. »Die Probenbehälter sind unterwegs, und Mikhail schreit schon herum, daß ich sie vom Seil nehmen soll.«

»Klar, mache ich«, sagte Jamie mit zittriger Stimme.

Er half Joanna, den Helm abzunehmen. Sie lächelte ihn kraftlos an. Er drückte sie sanft nach hinten, so daß sie halb lag und mit dem Rücken am Schott des Rovers lehnte, und versuchte dann, ihr die staubigen Stiefel auszuziehen. Der stechende Geruch von Ozon war beinahe angenehm — belebend wie Riechsalz.

»Ich glaube, ich schaffe den Rest«, sagte Joanna, als er ihr die Stiefel ausgezogen hatte.

Jamie sank neben ihr auf die Bank und drehte sie dann halb um, so daß er an ihren Tornister herankam.

»Ich helfe dir.«

»Ich hatte Angst … du könntest da draußen gestorben sein.«

»Ich auch.«

»Das war sehr tapfer, was du getan hast.«

Er versuchte zu lachen. Es klang eher wie ein Stöhnen. »Tapferkeit und Angst sind zwei Seiten einer Medaille, nehme ich an. Ich hatte Angst, wir würden alle sterben.«

»Du hast uns gerettet. Du hast mich gerettet.«

»Tony hat mich gerettet. Tony und Mikhail. Hier gibt es soviel Heldentum, daß es für alle reicht.«

Er löste den letzten Anschluß des Tornisters und nahm ihr das unförmige Ding ab. Es war schwer, schwerer als Jamie es in Erinnerung hatte. Er langte hinüber und stellte es auf die gegenüberliegende Bank. Dann half er ihr beim Öffnen des Anzugoberteils.

»Bitte, Jamie«, sagte Joanna. »Das schaffe ich jetzt allein. Du solltest dich bereitmachen, Ilona zu helfen. Sie ist wirklich in schlimmer Verfassung.«

Er nickte. »Okay.«

Bevor er sich jedoch von der Bank erheben konnte, hob Joanna eine Hand an seine Wange und zog sein Gesicht zu ihrem herunter. Sie küßte ihn zärtlich.

»Danke«, flüsterte sie.

Er legte eine Hand um ihren Nacken, fühlte ihr seidiges dunkles Haar und küßte sie.

Bevor ihm etwas einfiel, was er sagen konnte, hörten sie beide dumpfe Geräusche aus der Luftschleuse.

»Ilona«, sagte Joanna. »Sie braucht Hilfe.«

Jamie stand auf und ging zur Schleusenluke. Ilona war kaum bei Bewußtsein und völlig außerstande, unter dem Gewicht ihres Anzugs auf den eigenen Beinen zu stehen. Jamie und Reed legten sie auf die andere Bank und nahmen ihr den Helm und den Tornister ab.

Sie sieht halbtot aus, dachte Jamie. Ihr Blick war leer, die Augen waren glasig und blutunterlaufen, mit tiefen dunklen Ringen darunter. Ihre Wangen waren hohl und eingefallen, und ihr Atem stank entsetzlich.

Aber sie brachte ein mühsames kleines Lächeln zustande, als sie zu Jamie aufblickte. »Ein Mann … sollte eine Frau nie … morgens in aller Frühe sehen.«

»Dieser Morgen zählt nicht«, sagte Jamie.

»Na gut … aber nur … dieses eine Mal.«

Connors und schließlich auch Wosnesenski schwebten an dem Kabel über den sandgefüllten Krater. Als die Sonne an ihrem höchsten Punkt stand, hatten sie alle ihre Anzüge abgelegt, und Wosnesenski saß mit einem breiten Grinsen im Gesicht an den Steuerelementen im Cockpit.

»Jetzt fahren wir zur Kuppel zurück«, sagte er. »Und dann geht es in ein paar Tagen in den Orbit.«

»Und aus dem Orbit zurück zur Erde«, sagte Connors, der auf einer der Bänke hockte.

Iwschenko war vorn im Cockpit bei Wosnesenski. Jamie saß auf der Bank zwischen Joanna und dem Astronauten. Reed stand neben der Kombüse, mit dem Rücken zur Schleusenluke. Sie hatten die untere Liege auf der anderen Seite heruntergelassen, damit Ilona darauf liegen konnte. Sie schien zu schlafen. Der Rover setzte sich abrupt in Bewegung.

»Sie haben uns den Hals gerettet, Mann«, sagte Connors.

»Ich nicht«, sagte Jamie. »Tony …«

Aber Joanna unterbrach ihn, indem sie ihm eine Hand auf den Oberschenkel legte. »Du hast uns gerettet. Und nicht nur uns. Auch unsere Marsproben.«

Jamie schaute in ihr verhärmtes, blasses Kleinmädchengesicht hinunter. Hat sie mich nur deshalb geküßt? Weil ich ihre verdammten Flechten gerettet habe?

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