SOL 36 MORGEN

Die Abfahrt über den Hang war beängstigend.

»Immer sachte«, murmelte Connors. Seine Hände waren fest ums Lenkrad des Rovers geklammert, seine gestiefelten Füße spielten so geschickt mit Gaspedal und Bremse wie die eines Konzertpianisten mit den Pedalen seines Instruments. Auf dem Kopf hatte er eine Kopfhörergarnitur mit einem Ohrstöpsel, deren Stiftmikro an einem dünnen, gebogenen Arm vor den Lippen des Astronauten hing.

Jamie hatte das Gefühl, als würde er ebenfalls fahren. Er saß angespannt auf dem rechten Sitz und starrte auf den steil abfallenden Hang der Rutschung hinaus. Es kam ihm so vor, als würde ihre Nase beinahe senkrecht nach unten zeigen.

»Ist so, als würde man das alte Space Shuttle landen«, scherzte Connors. »Einen neunundneunzig Tonnen schweren Koloß innerhalb von zehn Minuten von Überschallgeschwindigkeit so runterbremsen, daß er sanft aufsetzt. Ist unsere leichteste Übung.«

Jedesmal, wenn der Rover schwankte, wurde es Jamie flau im Magen. Er warf einen Blick nach hinten zu den beiden Frauen. Sie saßen angeschnallt auf den ausklappbaren Notsitzen am Schott direkt hinter dem Cockpit. Joanna war bleich und schwitzte sichtlich. Ilona sah ebenso angespannt aus, brachte aber ein verkrampftes Lächeln zustande.

Sie waren alle vier leger in ihre vorschriftsmäßigen brauen Overalls gekleidet; nur Ilona hatte sich ein buntes Tuch um die Taille gebunden. Die Raumanzüge brauchten sie erst, wenn sie sicher auf der Sohle des Canyons angelangt waren und den Rover verlassen wollten.

Jamie spürte, wie ihm der Schweiß in Bächen die Rippen hinunterlief. Schweißperlen traten ihm auf Stirn und Oberlippe. Seine Eingeweide hüpften und zuckten.

Das mittlere Modul des Rovers war für diese Exkursion umgebaut worden. Es diente nicht nur als Stauraum für Instrumente und Ausrüstungsgegenstände, sondern auch als Miniaturlabor, in dem die drei Wissenschaftler die gesammelten Steine und Bodenproben untersuchen und vorläufige Analysen durchführen konnten. Vom vorderen Modul aus gelangte man durch die Luftschleuse ins provisorische Labor. Das Logistik-Modul war mit Methantreibstoff für den Stromgenerator und die Treibstoffzellen gefüllt, dazu mit ihren anderen Verbrauchsmaterialien: Notsauerstoff, zusätzlichem Wasser und Nahrung.

Trotz des an Totenstarre erinnernden Griffs, mit dem Connors das Lenkrad gepackt hielt, wirkte er völlig gelassen. Er manövrierte langsam um einen Krater herum, der sich vor ihnen abzeichnete wie ein von einer Artilleriegranate gerissenes Loch, und steuerte den Rover zwischen dessen Wall und dem gefährlich nahen Rand der Rutschung hindurch. Wie Jamie nebenbei bemerkte, war die Rutschung immerhin schon so alt, daß sie hin und wieder von ziemlich großen Meteoriten getroffen worden war.

»Wo sind diese Nebelschleier, die Sie gesehen haben?« fragte Connors. »Im Moment sieht alles völlig klar aus.«

»Ich weiß auch nicht. Vielleicht bilden sie sich erst später.«

»Ist immer komisch mit dem Dunst. Aus dem einen Blickwinkel sieht alles völlig klar aus, aber wenn man aus einer anderen Richtung kommt und die Sonne in einer anderen Position ist, kann der Dunst alles bedecken und wie ein Rauch Vorhang aussehen.«

Aber jetzt war überhaupt keinen Dunst da. Jamie spürte, wie sich eine Ranke der Furcht in sein Bewußtsein schlängelte. Vielleicht war der Dunst, den Mikhail und ich gesehen haben, ein seltenes Phänomen, etwas Einmaliges. Vielleicht habe ich uns hierhergeschleift, um ein Phantom zu jagen, das gar nicht existiert.

Der Hang war mit Felsbrocken und Kieselsteinen übersät, aber sie waren alle nicht so groß wie die Felsblöcke, auf die sie oben auf dem Marsboden gestoßen waren. Jamie sah keine Staubhäufchen an den größeren Steinen. Entweder gibt es hier unten keinen Wind, überlegte er, oder er weht so stark, daß er sämtlichen Staub wegbläst, der sich gesammelt hat.

Die aus Metallplatten bestehenden Räder des Rovers wurden jeweils von einem eigenen unabhängigen Elektromotor angetrieben, was dem Fahrzeug die bestmögliche Bodenhaftung verlieh. Trotzdem merkte Jamie hin und wieder, wie der Boden unter ihnen wegrutschte, und hörte einen Radmotor plötzlich aufheulen, bevor er sich auf den losen Schotter darunter einstellte.

Connors murmelte fortwährend so leise vor sich hin, daß Jamie nicht einmal aus dieser Nähe verstehen konnte, ob der Astronaut fluchte oder betete. Vielleicht beides, dachte er.

Sie kamen an der einen geologischen Sonde vorbei, die auf dem Hang gelandet war. Ihr kurzer, dicker weißer Rumpf hob sich gegen den rötlichen Boden und die Steine ab wie ein grellbuntes Reklameschild mitten in der Sahara. Der Boden um die Sonde herum war natürlich fest und leicht zu befahren, das Gefälle erheblich geringer als in dem Bereich, den sie soeben durchquert hatten.

»Sieht so aus, als ob es da vorne leichter würde«, sagte Connors.

Jamie sah, daß der Boden ebener und glatter war. Keine Krater in Sicht.

»Gut«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.

Ein Schatten glitt über das Cockpit hinweg, und im selben Moment rief Ilona: »Seht mal!«

Eines der RPVs huschte so tief an ihnen vorbei, daß Jamie die glitzernden Augen der Kameraobjektive an seinem Bauch ausmachen konnte. Er wußte, daß das andere, von Paul Abell gesteuerte RPV hoch über ihnen dahinsegelte und das gesamte Gebiet beobachtete. Der Tiefflieger erkundete das Terrain vor ihnen. Mironow, der an seinen Kontrollen saß, erstattete Connors Minute für Minute über den seitlich an seinen Kopf geklemmten Ohrstöpsel Bericht über das, was er sah.

»Wir müßten bald unten sein«, sagte Connors leise. Ob seine Worte an Mironow oder die anderen im Rover gerichtet waren, konnte Jamie nicht erkennen.

Genau in diesem Augenblick rutschte der Rover weg. Seine einzelnen Teile verschoben sich in der unerbittlichen Zeitlupe eines Alptraums gegeneinander; der vordere Teil wurde plötzlich seitwärts gezogen, weil sich die schwereren Segmente in der Mitte und hinten querstellten. Radmotoren kreischten, und es gab einen lauten, dumpfen Schlag. Sie hüpften und holperten, und Connors wirbelte das Lenkrad erst in die eine, dann in die andere Richtung.

»Festhalten!«

Jamie stemmte seine gestiefelten Füße gegen den Boden und streckte die Hände aus, um sich an der Kontrolltafel abzustützen. Der Rover krachte gegen einen weiteren Stein, schwenkte in einem verrückten Winkel herum und kam schließlich knirschend zum Stehen.

Eine ganze Weile waren im Cockpit nur die tiefen, ängstlichen Atemzüge von vier schweißnassen Menschen und das Knirschen und Knistern von überhitztem Metall zu hören.

Connors schluckte so schwer, daß sie es alle hören konnten. Dann sagte er: »Muß ein alter Krater gewesen sein, der mit losem Schutt gefüllt war.«

»Oder mit Staub«, hörte Jamie sich mit hohler Stimme sagen.

»Hat sich irgendwie eher wie Sand angefühlt.«

»Sitzen wir fest?«

Connors schüttelte den Kopf. »Kann sein, daß wir diese Sektion von den anderen beiden abtrennen müssen, aber ich glaube, wir schaffen es.«

»Ohne den Treibstofftank und das Labor?« fragte Ilona.

»Lassen Sie’s mich erst mal probieren …«

So sanft wie eine Mutter, die ihr Baby streichelt, setzte Connors die Fußspitze auf das Gaspedal. Die Elektromotoren summten in einer tiefen Lage. Jamie spürte, wie der Rover erschauerte und sich ein ganz kleines Stück nach vorn schob.

»Wir müssen alle drei Segmente in einer Linie ausrichten, sonst fangen wir wieder an zu rutschen«, murmelte Connors. »Ist wie bei ’nem Sattelschlepper …«

Ganz, ganz langsam krochen sie dahin. Auf dem langen, ernsten Gesicht des Astronauten zeigte sich allmählich ein vorsichtiges kleines Lächeln. Die Heulen der Elektromotoren wurde höher, das Fahrzeug bewegte sich sicherer vorwärts, und Connors’ Lächeln wurde immer breiter, bis sie schließlich zuversichtlich dahinrollten und all seine strahlend weißen Zähne zu sehen waren.

»Gracia a dios«, kam Joannas atemlose Stimme von hinten.

Noch ein paar kleinere Stöße, und Jamie sah, daß sie ebenen Boden erreicht hatten.

»Das war’s«, sagte Connors zufrieden. »Wir sind auf dem Grund des Canyons.«

»Gute Arbeit«, sagte Jamie.

»Vorhin ist es mir ein paar Minuten lang gar nicht so gut gegangen.«

»Wem sagen Sie das!«

Ihr Plan sah vor, daß sie am Fuß der Rutschung haltmachten, draußen Gesteins- und Bodenproben sammelten und dann bis zum Einbruch der Dunkelheit an der Nordwand des Canyons entlangfuhren. Gleich am nächsten Morgen würden sie noch ein paar Proben nehmen und dann weiterfahren, bis sie dorthin kamen, wo Jamie sein ›Dorf‹ gesehen hatte. Dort würden sie feststellen, ob sie zu der Spalte hinaufklettern konnten, in der sich die Gesteinsformation befand. Zumindest konnten sie weitere Fotos von ihr machen und versuchen, aus der Ferne eine Spektralanalyse der Formation vorzunehmen, indem sie mit einem Laser eine winzige Menge Stein wegbrannten und das Spektrum der dabei entstehenden Gaswolke fotografierten.

»Ich begleite dich bei der ersten EVA«, sagte Joanna, nachdem sie rasch eine kalte Mahlzeit zu sich genommen hatten.

Jamie stand an der Luftschleusenluke am hinteren Ende des Kommandomoduls des Rovers. Connors war ins Cockpit zurückgegangen, um alle Systeme zu überprüfen und Wosnesenski seinen Bericht zu erstatten.

»Laut Plan soll Ilona mitkommen«, sagte er.

»Sie fühlt sich nicht wohl«, entgegnete Joanna.

Jamie warf einen Blick auf Ilona. Sie saß bleich auf dem Rand der eingeklappten Liege und zitterte sichtbar.

In Jamies Gedärm rumorte es ebenfalls noch, und er war nach wie vor total verschwitzt von der qualvollen Abfahrt auf dem Hang. Aber Ilona sah richtig krank und elend aus.

»Okay«, sagte er zu Joanna. »Zieh dich an.«

Jamie ging zur mittleren Sektion zurück und beugte sich über Ilona. Sie blickte zu ihm auf. Ihre Augen waren feucht, ihr Gesicht war mit einem glänzenden Schweißfilm bedeckt.

»Warum gehst du nicht nach vorn und bittest Pete, dich mit Tony sprechen zu lassen? Ich glaube, du brauchst einen Arzt.«

»Das wird schon wieder«, sagte sie matt. »Ich komme mir blöd vor.«

»Ruf Tony an; hol seinen Rat ein.«

Sie nickte.

Jamie ging zur Luftschleuse zurück. Er hatte selber weiche Knie, und die Beine taten ihm weh. Er schob es auf die Anspannung der Abfahrt. Herrje, ich hoffe, wir haben uns nicht alle irgendwas eingefangen. Wenn einer von uns die Grippe hat, kriegen wir sie alle, und das wäre das Ende dieser Exkursion.

Joanna steckte schon halb in ihrem Raumanzug. Jamie machte sich an die mühselige Aufgabe, in seinen zu steigen. Es schien eine Stunde zu dauern, aber schließlich waren sie beide fertig angekleidet, die Tornister waren angeschlossen und die Helmvisiere heruntergeklappt und verriegelt. Connors kam nach hinten in die Luftschleuse und überprüfte sie beide. Zu dritt war es unerträglich eng darin, obwohl Connors nur seinen Overall trug.

»Bleiben Sie in Sichtweite des Rovers«, mahnte der Astronaut. »Ich beobachte Sie vom Cockpit aus, sobald ich meinen Anzug anhabe.«

Die Standardprozedur. Eine weitere Person mußte immer den Anzug tragen, damit sie sich bei einem Notfall sofort ausschleusen konnte. Es war eine sehr freie Auslegung der Vorschriften, wenn Wissenschaftler hinausgingen, ohne daß ein Astronaut bei ihnen war, aber Kaliningrad hatte die Änderung des Verfahrens abgesegnet — nur für diese eine Exkursion.

»Wir bleiben nicht lange draußen«, sagte Jamie. »Sieht so aus, als lägen hier in der Gegend massenhaft Steine herum. Joanna kann welche einsammeln, während ich ein paar Löcher bohre.«

»Lassen Sie’s nur ruhig angehen und überanstrengen Sie sich nicht«, sagte Connors.

Erst als der Astronaut die Luftschleuse verlassen hatte, kam Jamie zu Bewußtsein, daß Connors ebenfalls geschwitzt hatte. Während die Luft abgepumpt wurde und die Außenluke aufging, fragte er sich, wie es kam, daß Pete am Lenkrad des Rovers derart ruhig und gelassen gewesen war und daß er jetzt schwitzte, wo sie sicher auf dem Boden des Canyons waren.


* * *

»Mikhail Andrejewitsch, ich muß dich unter vier Augen sprechen.« Mironow sagte es auf Russisch und beinahe im Flüsterton.

Wosnesenski blickte vom Kommunikationsmonitor auf. Er saß bereits seit einer Stunde dort und beobachtete Waterman und Brumado bei der Arbeit auf dem Boden des Canyons.

Mironows normalerweise fröhliches Gesicht sah sehr ernst aus.

»Was ist?« fragte Wosnesenski, ebenfalls auf Russisch.

Der Kosmonaut zog sich einen der zierlichen Plastikstühle heran und sagte: »Es geht mir nicht gut. Ich fühle mich krank.«

»Hast du es Reed gesagt?«

»Noch nicht. Ich wollte dich fragen, ob ich es tun soll. Es könnte einen schlechten Eindruck machen, wenn einer von uns krank wird.«

Wosnesenskis Gesicht zog sich in einem Stirnrunzeln zusammen. »Dann geht es dir also offenbar noch nicht so schlecht, daß du zum Arzt gehen würdest.«

Mironow schaute unglücklich drein. »Mir tut alles weh. Ich fühle mich schwach. Es ist, als bekäme ich eine Grippe.«

»Laß dich von Reed untersuchen. Wir können es uns nicht leisten, daß sich eine Infektionskrankheit in der ganzen Gruppe ausbreitet.«

»Aber was werden sie in Kaliningrad sagen?«

Wosnesenski schlug bewußt einen sanfteren Ton an. »Wenn du krank bist, ist das nicht deine Schuld. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, daß Kaliningrad dich in das Schiff im Orbit hinaufholt und Iwschenko als Ersatzmann herunterschickt.«

Mironow stöhnte. »Genau das hatte ich befürchtet.«

»Wenn es sein muß, muß es sein. Zum Wohl der Mission.« Wosnesenski streckte die Hand aus und klopfte ihm grinsend auf die Schulter. »Außerdem kann Doktor Yang viel besser mit Kranken umgehen als der Engländer.«

»Meinst du?«

»Während des Trainings hatten wir einmal ein sehr interessantes Gespräch über die russisch-chinesischen Beziehungen — im horizontalen Bereich. Ich kann mich für ihr Mitgefühl und ihre ausgesprochen zärtliche Fürsorge verbürgen.«

Mironows niedergeschlagene Miene hellte sich beträchtlich auf. »Wahrscheinlich brauche ich nur ein bißchen Aspirin.«

»Mal sehen, was Reed empfiehlt. Ich weiß, daß du nicht aus dem Bodenteam ausscheiden willst, aber wenn es sein muß — nun, es gibt Entschädigungen.«

Der Kosmonaut hievte sich mit unübersehbarer Mühe aus dem Stuhl und begab sich mit einem tiefen Seufzer zum Krankenrevier. Wosnesenski wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Kommunikationsbildschirm zu. Er fuhr sich mit einem Finger innen am Kragen entlang, dann rief er die Anzeige für die Klimasteuerung auf den Bildschirm. Die Zahlen zeigten, daß in der Kuppel alles normal war; nur einer der Luftzirkulationsventilatoren war zu Wartungszwecken abgeschaltet worden. Die Temperatur der Kuppel lag ganz knapp unter den üblichen einundzwanzig Grad Celsius. Merkwürdig, dachte Wosnesenski. Es kam ihm wärmer vor als sonst.


* * *

Jamie war völlig erschöpft. Er sackte in den Cockpitsitz und streckte die Hand nach dem Kommunikationsschalter aus.

»Meine Güte, Sie sehen ja schrecklich aus«, sagte Connors.

»Ich fühle mich lausig. Hatte gerade noch genug Kraft, um aus dem Anzug zu steigen.«

»Sie waren zu lange draußen.«

»Kann sein.«

»Was Sie brauchen, ist eine warme Mahlzeit und eine ordentliche Mütze Schlaf.«

Jamie hätte beinahe gelacht. »Sie hören sich an wie meine Mutter.«

Connors erwiderte das Grinsen. »Jetzt, wo Sie’s sagen — ich klinge wie meine Mutter.«

Jamie schaltete das Kommunikationssystem ein. Wosnesenskis mürrisches Gesicht füllte den winzigen Bildschirm an der Kontrolltafel.

»Herrgott, Mikhail, machen Sie denn nie eine Pause?«

Der Russe grunzte. »Auf dem Rückflug kann ich mich neun Monate lang ausruhen.«

»Da haben Sie recht«, gab Jamie zu. Er holte tief Luft und fuhr fort: »Okay, hier ist unser vorläufiger Bericht über die heutige EVA.«

»Ich bin bereit. Das Band läuft.«

»Wir haben acht Steine mit an Bord gebracht, um sie zu untersuchen. Doktor Malater und Doktor Brumado sind gerade in der Laborsektion und versuchen, aus ihnen schlau zu werden. Drei von ihnen haben irgendwelche orangefarbenen Intrusionen, die wir noch nie gesehen haben. An den Felswänden laufen hier und dort ähnliche orangefarbene Streifen entlang. Wir haben etwas davon abgekratzt.«

»Schmitt hat eine orange Färbung auf dem Mond gefunden«, sagte Wosnesenski. »Eine Art Glas, wenn ich mich recht entsinne.«

»Das ist kein Glas«, sagte Jamie. »Da bin ich sicher.«

»Was dann?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Schwefelverbindung. Wir müssen es erst noch analysieren.«

Wosnesenski machte mit einer Hand eine Geste, daß Jamie mit seinem Bericht fortfahren sollte.

»Ich habe vier Bohrungen bis in eine Tiefe von zehn Metern niedergebracht. Hier unten auf der Talsohle scheint es keine Permafrostschicht zu geben, oder wenn, dann liegt sie tiefer als zehn Meter.«

»Was ist mit tieferen Bohrungen?«

»Wir haben beschlossen, bei der morgigen EVA nach unserer Fahrt zum zweiten Standort eine Tiefbohrung vorzunehmen. Eine Tiefbohrung dauert länger, wegen der schwereren Geräte und allem; dafür hatten wir heute einfach nicht die Zeit. Wir werden nicht so weit fahren, daß die beiden Standorte geologisch nicht gleich wären; also sollte auch eine einzige Tiefbohrung reichen.«

Der Russe blinzelte nachdenklich und nickte.

»Ilona und Joanna werden Ihnen Videos der Gesteinsproben schicken. Wir haben natürlich auch Bodenproben genommen. Massenweise sandiger Regolith hier draußen, eine dicke Schicht, über zwei Meter an dieser Stelle. Ich habe eine Fernerkundungsbake aufgestellt. Die vorläufigen Daten, die wir von ihr bekommen, zeigen, daß der Wärmestrom aus dem Boden hier auf dem Grund des Canyons signifikant stärker ist als oben auf der Ebene.«

»Ein stärkerer Wärmestrom? Woran liegt das?«

»Keine Ahnung. Noch nicht.« Jamie vergaß seine Müdigkeit, während er redete. »Alles, was wir bisher gesehen haben, deutet darauf hin, daß der Mars im Innern kalt ist; wenn er einen schmelzflüssigen Kern hat wie die Erde, dann ist er sehr klein und liegt tief im Innern des Planeten. Er muß natürlich einmal größer und heißer gewesen sein. Diese Tharsis-Vulkane können nicht älter als höchstens eine halbe Milliarde Jahre sein. Aber der Kern ist offenbar fast vollständig abgekühlt. Keine Anzeichen für eine Kontinentalverschiebung … nichts, was auch nur Ähnlichkeit mit Kontinenten hat.«

»Und trotzdem kommt Wärme aus dem Boden des Canyons?«

»Mehr als an allen anderen Stellen, die wir erforscht haben«, bestätigte Jamie. »Etwas unter diesem Canyon ist warm. Deshalb gibt es hier unten Nebelschleier und Wasserdampf.«

»Was noch?«

»Luftdichte und Temperatur entsprechen dem, was die Sonden gefunden haben. Dieser ganze Grabenkomplex scheint sein eigenes Mikroklima zu besitzen; es ist wärmer als der restliche Planet, und der Luftdruck ist höher. Vielleicht zeigt sich beim Hellas-Becken dasselbe Phänomen. Wir müssen das überprüfen.«

»Nicht auf dieser Mission!«

»Das weiß ich. Wir werden zurückkommen müssen. Es ist wie bei der Erforschung von Afrika, Mikhail. Es wird Jahrzehnte dauern, vielleicht ein Jahrhundert oder noch länger, bis wir alles untersucht haben.«

Wosnesenski ließ eines seiner seltenen Lächeln sehen. »Wenn es Ihnen an etwas nicht mangelt, Jamie, dann an Ehrgeiz.«

Jamie war verblüfft. »Ehrgeiz? Ich?«

Aber Wosnesenski formulierte bereits seine nächste Frage. »Wie geht es Ihnen? Wollen Sie mit Tony sprechen? Ist Ihr Gesundheitszustand in Ordnung?«

Jamie zögerte. »Ich bin müde, aber sonst geht es mir gut. Ilona ist nicht so ganz auf dem Damm, aber ich glaube nicht, daß sonst noch jemand Beschwerden hat. Ich werde sie alle einzeln fragen; falls es irgendwelche Probleme gibt, melden wir uns wieder.«

»Gut. Ich verlasse mich darauf.«

Jamie verabschiedete sich und unterbrach die Verbindung. Seltsam, daß Mikhail sich nach ihrem Gesundheitszustand erkundigt hatte. Der verdammte Kerl mußte ein Telepath sein. Dann wurde ihm klar, daß Ilona mit Tony gesprochen haben mußte, während sie draußen waren. Und Mikhail hat gesehen, daß Joanna und nicht Ilona den Ausflug mit mir gemacht hat. Er ist ein mißtrauischer Bursche. Typischer Russe.

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