DOSSIER ANTHONY NORVILLE REED

Tony Reed war kaum vier Jahre alt. Er lag im Krankenhaus, kam sich sehr klein vor und hatte große Angst. Sein Vater kam geschäftig hereingeeilt; er war in einen schweren dunklen Überzieher und einen grau-rot gestreiften dicken Schal gehüllt, und seine Nase und die Wangen glühten rosarot von der Kälte des Winters, die die Krankenhausfenster mit dichtem Reif überzog.

»Und wie geht’s dir, mein Kleiner?« fragte sein Vater und setzte sich auf die Bettkante.

Tony konnte nicht sprechen. Er hatte keine Schmerzen, aber seine ganze Kehle fühlte sich eiskalt und taub an. Sein Vater war ein großer, stattlicher Mann mit einer lauten, durchdringenden Stimme, der stets eine gewisse Hektik um sich verbreitete. Er machte Tony nicht wenig Angst. Sie hatten sich nie nahegestanden. Tony, ein Einzelkind, hatte nie mit seinen Eltern zu Abend essen dürfen, wenn sein Vater zu Hause war. Nur wenn dieser nicht da war, durfte er mit seiner Mama an dem großen Tisch im Speisezimmer sitzen.

»Sie haben mir erzählt, du hättest die ganze Nacht geweint«, sagte sein Vater streng.

Tony konnte nicht antworten, aber ihm schossen die Tränen in die Augen. Sie hatten ihn in dem seltsamen Krankenzimmer allein gelassen, ohne Mama, sogar ohne seine Nanny.

»Jetzt hör mal zu, Antony«, sagte sein Vater. »Diese Leute hier im Krankenhaus sind meine Kollegen. Sie blicken zu mir auf und respektieren mich. Es wäre nicht gut, wenn sie dächten, mein Sohn sei ein Feigling, meinst du nicht auch?«

Tony nickte widerstrebend.

»Also, dann ist jetzt Schluß mit dem Geheule, hm? Kopf hoch! Sei ein braver Junge. Tu, was man dir sagt, und mach den Schwestern keine Schwierigkeiten. Okay?«

Tony nickte.

»Gut! Das ist die richtige Einstellung. Jetzt schau, was ich dir mitgebracht habe.« Sein Vater zog ein kleines Päckchen aus der Tasche seines Überziehers. Es war in glänzendes Goldpapier eingewickelt.

»Na los, mach’s auf.«

Tony zerrte vergeblich an dem Papier. Das Lächeln seines Vaters erlosch und wich einem genervten Stirnrunzeln. Er nahm das Päckchen in seine großen Hände mit den geschickten Fingern und entfernte rasch die Verpackung. Dann öffnete er die schmale Schachtel und zeigte Tony, was darin war.

Ein handtellergroßer Fernseher! Tony starrte ihn mit großen Augen an. Er hob ihn aus der kleinen Schachtel und drehte ihn mit zitternden Fingern hin und her, bis er den briefmarkengroßen Bildschirm und den roten Einschaltknopf fand. Er drückte auf den Knopf, und der Bildschirm erwachte sofort zum Leben.

Sein Vater zeigte ihm, wie man den Ohrstöpsel aus seinem nahezu unsichtbaren Gehäuse nahm. Tony schraubte ihn in sein linkes Ohr.

Das Bild auf dem Schirm zeigte den roten Planeten, Mars. Die Stimme, die er vernahm, gehörte einem jungen brasilianischen Wissenschaftler namens Alberto Brumado, der gerade mit einem leicht verführerischen lateinamerikanischen Akzent sagte: »Eines Tages werden Menschen zum Mars fliegen und die Geheimnisse seiner roten Sandwüsten enthüllen …«

Seine Vater zauste Tony grob das Haar und ließ ihn dann allein, so daß er sich die winzigen Bilder vom Mars ansehen konnte.

Tony Eltern lebten unter dem gemeinsamen Dach ihres Hauses in Chelsea beide ihr eigenes Leben. Als Tony größer wurde, dämmerte ihm, daß sein Vater diverse Geliebte in anderen Teilen Londons hatte. Er wechselte sie etwa jedes Jahr, als würde er neue Kleidung für den Frühling kaufen. Aber er war nie lange ohne eine Geliebte.

Sein Vater schenkte Tony so gut wie überhaupt keine Aufmerksamkeit. Der große, schroffe Mann schien immer mit anderen Dingen beschäftigt oder auf dem Sprung irgendwohin zu sein. Und wenn er schon einmal Notiz von seinem Sohn nahm, dann so:

»Tennis? Das ist ein verdammt albernes Spiel. In deinem Alter war ich ein richtiger Fußballfan. Also, das hat Spaß gemacht!«

Und das, obwohl Tony im Gegensatz zu seinem stämmigen, kräftigen Vater schmächtig und gelenkig war.

»Tennis«, schäumte der alte Mann. »Ein Spiel für Ausländer und Weichlinge.«

Die Aufmerksamkeit seiner ergrauenden Mutter zu gewinnen, war leicht. Sie war eine freundliche, hellhäutige Frau mit der Anmut und Schönheit einer Porzellanpuppe. Sie wirkte zerbrechlich und angegriffen, aber Tony wußte, daß sie ihn vor seinem kalten, fordernden Vater beschützen konnte. Jeder, der sie kannte, liebte sie, und Tony am allermeisten. Um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, brauchte er nur so zu tun, als wäre er krank. Ein Husten oder ein Niesen, schon kam sie herbeigeflattert. Bevor er neun Jahre alt war, lernte Tony, wie man einen Fieberanfall vortäuschte: indem man das Thermometer unter den Warmwasserhahn hielt. Mit zunehmendem Alter keimte in ihm der Verdacht, daß seine Mutter all seine kleinen Tricks kannte und ihm vorbehaltlos verzieh. Die meiste Zeit über war er der Mann im Haus. Er hatte seine Mutter ganz für sich, außer wenn sein Vater daheim war.

Tony hatte sich insgeheim davor gefürchtet, das Elternhaus zu verlassen und an die Universität zu gehen, aber er fand rasch heraus, daß das Studentenleben ein ungetrübtes Vergnügen war. Es war lächerlich einfach, sich in den Mittelpunkt zu stellen und der unangefochtene Führer der Gruppe zu werden. Die anderen Studenten waren offenbar größtenteils trübe Tassen, die nur dazu taugten, die Leidtragenden seiner derben Scherze oder die Opfer seines grausamen scharfen Verstandes abzugeben. Je mehr er sie demütigte, desto mehr katzbuckelten sie vor ihm, suchten seine Gunst, verwandelten sich in Lakaien, um seinem Ärger zu entrinnen.

Es überraschte Tony einigermaßen, daß er bei Frauen so leichtes Spiel hatte. Sie hielten seine Tarnung irrtümlich für Selbstbewußtsein und seine absolute Egozentrik für Kultiviertheit. Diese erneute Bestätigung, daß Frauen noch leichter zu manipulieren waren als Männer, bereitete Tony große Freude.

Der einzige in seiner Klasse, der sich ihm nicht beugte, war der sture, phlegmatische Sohn eines Fabrikarbeiters aus Manchester, der das gesellschaftliche Leben des Campus ignorierte und sich mit der unbeirrbaren Intensität der Verzweiflung auf seine Bücher konzentrierte. Er wirkte so phantasielos und bedächtig wie ein Bauer, aber er fiel niemals auf einen von Tonys kleinen Streichen herein. Er entdeckte immer den Eimer Wasser, der auf der halb offenen Tür balancierte. Er ließ sich nie von den willfährigen jungen Damen herumkriegen, die Tony zu ihm schickte, damit sie ihn in Versuchung führten. Als er sah, daß sein Bett mit Bier getränkt war, drehte er geduldig und ohne zu murren die Matratze um, wechselte das Bettzeug und erschien am nächsten Morgen in der Klasse, als ob nichts geschehen wäre.

Tony machte seinen Abschluß als Zweitbester in seiner Klasse. Der Bauer schaffte es irgendwie, der Beste zu werden. Er machte Tony wütend. Trotzdem hatten sie in all den vier Collegejahren nie mehr Worte gewechselt als die üblichen Höflichkeitsfloskeln. Nach dem Collegeabschluß sah Tony ihn nie wieder, und er war froh darüber.

»Nach Indien reisen?« Sein Vater stand kurz vor einem Schlaganfall. »Du wirst Medizin studieren, junger Mann! Du bist an meinem alten College angenommen worden, zum Teufel, und du gehst nirgendwo anders hin!«

»Aber ich glaube nicht, daß ich schon soweit bin …«

»Pah! Ich kenne dich, du Schlawiner. Hast Angst, daß du dich tatsächlich auf den Hosenboden setzen und studieren mußt. Angst davor, hart zu arbeiten. Wird dir gut tun, so ein bißchen harte Arbeit. Du gehst an die medizinische Fakultät, mein Junge. Und damit basta.«

Also ging Tony an die medizinische Fakultät. Sein Vater hatte recht gehabt; er war von banger Erwartung erfüllt. Sobald er jedoch dort war, stellte Tony fest, daß es noch lustiger zuging als an der Universität. Mogelbücher und Testkassetten gab es beinahe schon offiziell zu kaufen. Aber nach den ersten paar Monaten merkte Tony, daß er eine echte Faszination für das Studium des menschlichen Körpers entwickelte. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß ihm das Lernen Spaß machte. Er begann tatsächlich, hart zu arbeiten und zu studieren. Er wollte hervorragende Leistungen bringen.

Und immer war da der Mars — weit hinten in seinen Gedanken, knapp jenseits des Horizonts seines Daseins. Manchmal vergaß er ihn monatelang, ja sogar jahrelang, und dann war in einer Nachrichtensendung auf einmal wieder eine Rakete zu sehen, die in einem tosenden Meer aus Feuer und Dampf abhob, um ein Roboter-Landefahrzeug zu dem roten Planeten zu transportieren. Oder ein Gastredner sprach über die medizinischen Probleme in der Mikroschwerkraftumgebung einer Raumstation und erwähnte beiläufig, daß man bei einer Mission zum Mars mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert wäre. Oder der mittlerweile ergraute, aber immer noch vor jugendlichem Eifer sprühende Alberto Brumado moderierte eine Fernseh-Sondersendung über den Ursprung des Lebens auf der Erde und fragte sehnsüchtig, ob es möglich wäre, daß auch auf dem Mars Leben entstanden sei.

Sein Vater war schockiert und erzürnt, als Tony es ablehnte, die Familienpraxis zu übernehmen.

Mit rotem Gesicht und außer sich vor Zorn, beleibt von den Jahren und dem zu guten Leben, schrie sein Vater: »Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, diese Praxis aufzubauen! Du mußt sie weiterführen!«

Tony lächelte kühl und versuchte, die schreckliche Angst zu verbergen, die der Zorn seines Vaters stets in ihm auslöste. »Vater, es hilft alles nichts. Ich werde nicht in deine geheiligten Fußstapfen treten.«

»Was ist denn los mit dir?« brüllte sein Vater. »Kannst kein Blut sehen? Ist es das? Operationen machen dir eine Heidenangst, hm? Verdammter flennender Feigling!«

Tony wich nicht zurück.

»Bei Gott, in deinem Alter habe ich Verwundete auf einem Lazarettschiff mitten in den Winterstürmen des Südatlantik zusammengeflickt.«

»Du hast uns oft von deinen ruhmreichen Heldentaten im Falklandkrieg erzählt, Vater.«

»Du bist ein Feigling! Ein verdammter zitternder, bibbernder kleiner Feigling!« Der alte Mann wandte sich an seine Frau. »Du hast einen Feigling als Sohn großgezogen.«

Tony spürte, wie sein Blut in Wallung geriet. »Hör auf, sie zu schikanieren!«

Sein Vater starrte ihn einen langen Augenblick an, dann stürmte er mit einem erbitterten Grunzen hinaus. Tony drehte sich zu seiner Mutter um, die stumm und geduldig dasaß. Sie hörten, wie sich die Haustür öffnete und dann ins Schloß fiel.

»Du glaubst doch nicht, daß ich ein Feigling bin, oder?« fragte Tony seine Mama.

»Natürlich nicht, mein Schatz.«

Zwei Tage später bewarb sich Tony für einen Posten im Raumfahrtprogramm der britischen Regierung. Innerhalb von vierzehn Tagen wurde er benachrichtigt, daß er vorläufig angenommen worden sei; er solle sich im Trainingszentrum melden, um dort seine Tests und Untersuchungen zu absolvieren. Sein Vater war nicht zu Hause, als der Brief eintraf; es war niemand im Haus, nur Tony und seine Mutter.

»Sie brauchen Ärzte«, erklärte er ihr. Sein Stolz war immer noch verletzt. »Es kann sehr gut sein, daß ich ins Mars-Trainingsteam komme, wenn England in das Programm einsteigt.«

Er hatte erwartet, daß sie entsetzt in Tränen ausbrechen und ihn bitten würde, es sich noch einmal zu überlegen. Statt dessen küßte ihn seine Mutter lächelnd auf die Stirn und erklärte ihm, er solle tun, was immer er wolle.

Am Ende wurde Tony vom Marsprojekt angenommen, ein Fremder kaufte die lukrative Praxis, als sein Vater in den Ruhestand ging, und seine Mutter schleppte den alten Mann nach Nassau, wo er in ihrem ersten Jahr in der Sonne einen Schlaganfall erlitt und zu einem hilflosen Krüppel wurde, der vollkommen auf die liebevolle Fürsorge seiner lange vernachlässigten Frau angewiesen war.

Tony genoß es, beim Marsprojekt dabeizusein. Die meisten anderen Trainingsteilnehmer waren entweder Astronauten oder Wissenschaftler, langweilige Techniker oder Forscher mit so eng umrissenen Spezialgebieten, daß sie so gut wie nichts von der größeren Welt der schönen Künste und der Gesellschaft wußten. Tony amüsierte sich bestens. Er war stets das kultivierte Zentrum des Interesses, und alle fühlten sich zu ihm hingezogen. Während andere vor Angst, beim Auswahlprozeß durchzufallen, fast hysterisch wurden, zweifelte Tony nie daran, daß er ins Marsteam kommen würde. Falls ihm der Gedanke angst machte, Millionen von Kilometern durch den Raum zu einer leeren, höchst ungastlichen Welt zu reisen, so behielt er solche unguten Gefühle für sich. Nur in seinen Träumen suchten ihn derartige Schrecknisse heim, und zwar immer in Gestalt seines Vaters, der wie ein furchtbarer, nimmersatter Oger über ihm aufragte, während seine Mutter hilflos schluchzte.

Während seiner wachen Stunden unternahm Tony nur einen Schritt, den er später für einen Fehler hielt. Er half Joanna, Hoffmann loszuwerden und den Navajo ins Marsteam zu holen. Ein Schnitzer, dachte Tony im Rückblick. Der Navajo ist ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Selbst Joanna interessiert sich für ihn. Joanna ganz besonders.

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