An diesem Tag nahmen sie das Abendessen nicht gemeinsam ein. Joanna und die anderen beiden Frauen hockten am Biologietisch und untersuchten den grüngestreiften Stein, ohne sich um das Essen zu kümmern. Tony Reed und ein paar weitere Männer schauten bei ihnen vorbei, aber die Frauen scheuchten sie weg.
Jamie stocherte in seiner Mahlzeit herum und machte sich mehr Gedanken über die idiotischen Nachrichtenmedien daheim als über den Marsstein. Es ist Kupfer, sagte er sich. Es muß Kupfer sein.
Aber wenn nicht? Ein Teil von ihm wollte, daß der Stein Leben trug. Wenn sie wirklich Leben gefunden hatten, würde das die Aufmerksamkeit der Medien mit Sicherheit von diesem Indianerthema ablenken, erkannte er, als er allein am Eßtisch in der Messe saß und sich methodisch durch das fade Mikrowellengericht arbeitete.
Er stand auf und brachte seine halbleere Schale zum Recycler, kratzte das Essen in den Abfallschacht und stellte Schale und Besteck dann in den Spülständer. Jemand hatte ein Band aus der Swing-Ära eingelegt: Eine Klarinette klagte herzerweichend eine alte bekannte Ballade.
Gelächter stieg von der anderen Seite der Kuppel auf; Männer, die miteinander scherzten. Er erkannte Patels hohe, schrille Stimme. Sein Geologenkollege hatte etwas lustig gefunden. Mit wem amüsierte er sich da? Mit Reed? Naguib? Toshima? Es klang, als wären sie alle zusammen in einem der Laborbereiche.
Wosnesenski und die drei anderen Piloten saßen an einer der Kommunikationskonsolen. Auf dem Bildschirm war eine topographische Karte zu sehen. Sie planen die erste Überland-Exkursion, dachte Jamie, als er an ihnen vorbeiging.
»Waterman, kommen Sie her und sehen Sie sich das an«, rief Wosnesenski. »Die neuesten Aufnahmen von den Badlands.«
Jamie trat zu ihnen und sah, daß es sich bei dem Bild auf dem Monitor um eine Höhenlinienkarte handelte, die man über ein Foto der Noctis-Labyrinthus-Region etwas weniger als dreihundert Kilometer südlich gelegt hatte. Er zog sich einen Stuhl von der Überwachungsstation neben der Konsole heran und setzte sich zu der kleinen Gruppe.
Noctis Labyrinthus. Die Badlands. Ein richtiges Labyrinth miteinander verbundener Canyons und Kraterketten, Hunderte von Kilometern langer Verwerfungslinien, die den Boden wie riesige Spalten kreuz und quer durchzogen, und eingestürzter Canyonwände mit möglicherweise von fließendem Wasser verursachten Erdrutschen.
Das Labyrinth lag am westlichen Ende der titanischen Valles Marineris, des Grand Canyon des Mars, die sich über mehr als viertausend Kilometer erstreckten und an manchen Stellen so breit waren, daß ein Beobachter, der am Rand der sieben Kilometer tiefen Schlucht stand, die andere Seite nicht sehen konnte. Die Valles Marineris — benannt nach der Raumsonde Mariner 9, die den gewaltigen Grabenbruch entdeckt hatte — waren länger, als Nordamerika breit war, und tiefer als der Atlantik. Ihr westliches Ende stieß an die gewaltige Aufwölbung des Tharsis-Buckels, eine ungeheure Felsblase von der Größe Europas, über der sich zehn Kilometer hoch drei Schildvulkane erhoben, höher als jeder Vulkan der Erde.
Wo die tief eingeschnittenen Valles Marineris auf das massive Felsgestein des Tharsis-Buckels treffen, liegt das ausgedehnte Schluchten-Krakelee der Badlands von Noctis Labyrinthus. Aus dem Orbit hat es fast den Anschein, als wäre der tiefe Riß im Boden von der Aufwölbung gestoppt worden und zersplittert wie ein Rammbock an einem Bronzetor.
»Wir überlegen uns gerade die Route für die erste Exkursion«, sagte Wosnesenski, als Jamie vor dem Bildschirm Platz genommen hatte.
Jamie sah die vier Flieger an. Wosnesenski wirkte brütend und melancholisch, wie üblich. Mironow lächelte wie jemand, der sich langweilt oder verlegen ist. Connors hielt den Blick konzentriert auf das Kartenbild gerichtet, als wollte er es sich einprägen. Paul Abell hatte einen verwirrten, merkwürdigen Ausdruck auf seinem Froschgesicht.
Jamie tippte mit einem Fingernagel auf den Bildschirm und sagte: »Ich würde gern dorthin fahren, genau an diese Stelle.«
Abell sagte: »Das ist nicht ganz die Stelle, die Pater DiNardo in seinem Missionsplan angegeben hat, oder?«
»Nicht ganz. Ich habe während des gesamten Flugs hierher über diese Exkursion nachgedacht. An dieser Stelle gibt es eine Verzweigung. Von dort aus kann ich mir drei Canyons ansehen.« Jamie beugte sich so weit vor, daß er die Tastatur erreichte, und rief eine Vergrößerung der Region auf. »Sehen Sie? Da ist eine Rutschung. Und dort sind deutliche Bruchlinien …«
»Ja, ja«, sagte Wosnesenski ungeduldig. »Das läßt sich machen. Wir können Sie dorthin bringen.«
»Gut.«
»Ich habe beschlossen, den Rover selbst zu fahren«, sagte Wosnesenski.
Jamie warf einen Blick zu Connors. Der Amerikaner schien nicht überrascht zu sein. Jamie erkannte, daß er den Blick nicht vom Bildschirm genommen hatte, weil er wütend war. Die Lippen des Astronauten waren zu einem grimmigen, dünnen Strich zusammengepreßt.
»Ich dachte, der Missionsplan sieht vor, daß Pete den Rover fährt.«
»Ich habe den Plan geändert«, sagte Wosnesenski unumwunden.
»Warum?«
»Das hat nichts mit Pete zu tun. Er wird nach wie vor eine der anderen Exkursionen leiten und den Schwebegleiter fliegen.«
»Aber warum haben Sie den Missionsplan geändert?« fragte Jamie hartnäckig.
Mironows Lächeln war allmählich verblaßt. Er sagte: »Es hat keine politischen Gründe, das versichere ich Ihnen.«
Was Jamie sofort auf den Gedanken brachte, daß ausschließlich Nationalstolz und politische Konkurrenz dahintersteckten. Oder zumindest eine Form der Rivalität zwischen den Russen und den Amerikanern.
Schließlich meldete sich Connors zu Wort. »Ist schon in Ordnung, Jamie. Wir haben es durchgesprochen. Mike will einfach die erste Exkursion selbst leiten.« Der Astronaut zwang sich zu einem humorlosen Grinsen und fügte hinzu: »Kommt von Mikes Gotteskomplex. Er hat Angst, daß irgendwas schiefgeht, wenn er nicht dabei ist und den Laden schmeißt.«
Mikhail Wosnesenski lächelte ebenfalls gezwungen. »Ich habe nicht vor, den Schwebegleiter zu fliegen. Diese Ehre gebührt Ihnen ganz allein.«
Connors nickte und drehte sich wieder zum Bildschirm um.
»Brechen wir wie geplant zu der Exkursion auf?« fragte Jamie.
»In zwei Tagen, ja.«
»Die einzige Änderung ist«, sagte Mironow, »daß Mikhail Andrejewitsch die Rolle des Chauffeurs übernimmt.«
»Weiß Doktor Li darüber Bescheid?« fragte Jamie.
»Er wird es noch erfahren. Ich glaube nicht, daß er etwas dagegen hat«, antwortete Wosnesenski.
Achselzuckend sagte Jamie: »Na, dann ist ja wohl alles in Ordnung.«
Mironow stand auf, und Wosnesenski erhob sich einen Sekundenbruchteil nach ihm ebenfalls schwerfällig von seinem Stuhl. Einen verrückten Augenblick lang hatte Jamie den Eindruck, das Mironow das Kommando hatte, nicht Wosnesenski. Er erinnerte sich vage, daß die Russen früher immer politische Offiziere unter ihren Leuten gehabt hatten, die untergeordnete Positionen bekleideten, aber die eigentlichen Bosse waren.
Als die beiden Russen weggingen, sagte Connors ernst: »Hören Sie, Jamie, das letzte, was ich will, ist, daß hier eine Rivalität zwischen Russen und Amerikanern ausbricht.«
»Aber warum hat er das getan?« fragte Jamie.
Connors legte die Unterarme auf die Knie und antwortete: »Ich glaube, er hat wirklich einen Gotteskomplex. Er glaubt, solange er das Kommando führt, wird nichts schiefgehen. Es ist die erste Überlandfahrt, und er ist nervös.«
Abell machte ein skeptisches Gesicht, schwieg jedoch.
»Stört es Sie nicht, daß Sie ausgebootet werden?« fragte Jamie.
Connors lehnte sich wieder zurück, weg von ihm. »Klar stört es mich! Verdammt, wen würde das nicht stören? Aber wie er schon gesagt hat, es gibt noch weitere Exkursionen. Soll er ruhig die erste übernehmen; das ist okay. Ich fliege den Schwebegleiter. Davon wird er mich nicht abbringen.«
Abell grunzte. »Unser Freund Mike darf also den lieben Gott spielen, aber er erlaubt dir, der Engel zu sein.«
Connors klopfte Abell auf die Schulter und stand auf. Abell ging mit ihm. Jamie blieb allein vor dem Bildschirm sitzen. Er machte sich weniger Gedanken darüber, wer den verdammten Rover fuhr, als darüber, was sie finden würden, wenn sie an die Kreuzung dieser drei Canyons gelangten.
Schließlich schaltete er den Monitor aus und stand auf. Er ließ den Blick durch das Innere der Kuppel wandern und sah, daß die Frauen immer noch am Biologietisch saßen, aber sie unterhielten sich jetzt miteinander und beugten sich nicht mehr über die Geräte. Die Musik hatte aufgehört; es war still in der Kuppel. Joanna sah müde aus.
Jamie ging zu ihnen hinüber, aber sie schienen ihn nicht zu bemerken. Sie saßen auf den zierlichen, für die Marsschwerkraft konzipierten Stühlen und unterhielten sich ernst miteinander.
»Na, wie steht’s?«
Ilona drehte sich auf ihrem Stuhl um und warf ihm einen bitteren, finsteren Blick zu. »Es ist anorganisch.«
»Du hattest recht«, sagte Joanna. »Es ist nur oxidiertes Kupfer.«
Selbst die ansonsten fröhliche Monique wirkte niedergeschlagen. »Überhaupt keine organischen Stoffe, weder im Stein selbst noch in den Bodenproben. Keine langen Molekülketten.«
Jamie balancierte auf seinen Fußballen, als wäre er bereit zu kämpfen oder zu fliehen, je nach Lage der Dinge. Dann können Sie mir den Stein ja jetzt geben, damit ich sein Alter ermitteln und feststellen kann, wie lange er schon an der Oberfläche liegt.
»Aber Wasser«, hörte er sich sagen.
»Ja, Permafrost«, sagte Ilona. »Ab ungefähr einem Meter unter der Oberfläche.«
Monique schüttelte den Kopf. »Das Wasser ist gefroren, nicht flüssig. Deswegen ist es für biologische Reaktionen nur schwer zu gebrauchen.«
»Und das Erdreich ist darüber hinaus voller Peroxide«, ergänzte Ilona. »In so einer aggressiven Umgebung können lebende Zellen nicht existieren.«
»Irdische lebende Zellen«, sagte Jamie. »Wir sind hier auf dem Mars.«
»Was du nicht sagst.« Ilona lächelte dünn. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß es überhaupt irgendwelche lebenden Zellen gibt, die in einer Hölle aus rostigem Eisen existieren.«
»Anaerobe Bakterien tun das auf der Erde«, warf Monique ein.
»Ohne Zugang zu Wasser?«
»Ah ja, da hast du auch wieder recht.«
Jamie schaute Joanna in die Augen. Er sah mehr als Müdigkeit darin; sie sah besiegt aus. Wie ein Frau, die sich durch einen Dschungel gehackt hatte und dann feststellte, daß sie im Kreis gelaufen und wieder am Ausgangspunkt angelangt war.
»Na ja, es war erst unser erster Versuch dort draußen«, sagte er. »Niemand von uns hat doch damit gerechnet, daß wir auch nur Kupfer finden würden, oder?«
Moniques Miene hellte sich auf. »Irgendwo im Boden muß es organische Stoffe geben! Schließlich haben die unbemannten Sonden Steine zurückgebracht, die organische Verbindungen enthielten.«
»Der Marsboden wird seit Ewigkeiten von Meteoriten bombardiert«, sagte Ilona, als wollte sie sich selbst überzeugen. »Einige dieser Meteoriten müssen kohlenstoffhaltige Chondrite gewesen sein!«
Jamie nickte zustimmend. »Vielleicht sind die Einschlagstellen chondritischer Meteoriten die Zentren, an denen die Lebensprozesse begonnen haben.«
»Wenn die organischen Verbindungen in den Meteoriten nicht von der Hitze des Einschlags vernichtet worden sind«, flüsterte Joanna beinahe.
»Ja. Das könnte sein, nicht wahr?«
»Wir müssen den Einschlagstellen eine neue Priorität auf der Liste unserer Ziele einräumen«, sagte Monique langsam.
Ilona drehte sich nachdenklich um. »Wenn Lebensprozesse an solchen Einschlagstellen begännen, hätten sie sich über die gesamte Oberfläche des Planeten ausgebreitet, oder nicht? Schließlich ist das Leben ein dynamischer Prozeß. Es bleibt nicht an einem Ort. Es breitet sich aus. Es wächst.«
»Nur wenn es die Nährstoffe und die Energie findet, die es dazu benötigt«, sagte Monique. »Sonst …«
»Sonst stirbt es«, sagte Joanna mit leiser, erschöpfter Stimme. »Oder es fängt gar nicht erst an zu leben.«
Jamie und die anderen verstummten.
»Selbst wenn seit urdenklichen Zeiten Meteoriten mit Aminosäuren und anderen langkettigen Kohlenstoffmolekülen vom Himmel regnen«, fuhr Joanna so leise fort, daß Jamie sie kaum hören konnte, »worauf treffen sie, wenn sie die Oberfläche erreichen? Auf starke ultraviolette und noch härtere Strahlung, Temperaturen tief unter dem Gefrierpunkt bei Nacht, Peroxide im Erdreich, kein flüssiges Wasser …«
Jamie gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt. »Moment. Selbst ein kleiner Meteorit wie der, den wir in der Antarktis gefunden haben, würde mit genügend Energie auf den Boden treffen, um den Permafrost zu verflüssigen, wenn das Eis nur rund einen Meter unter der Oberfläche liegt.«
»Ja«, sagte Ilona. »Aber wie lange würde das Wasser flüssig bleiben?«
»Ihr habt gesehen, was heute dort draußen geschehen ist«, sagte Monique. »In dieser dünnen Atmosphäre verdunstet das Wasser sofort.«
Jamie nickte widerstrebend.
»Es gibt kein Leben auf dem Mars«, sagte Joanna. »Überhaupt keins.«
»Du bist müde«, sagte Monique. »Wir alle sind müde. Wir müssen uns richtig ausschlafen. Morgen früh sieht alles schon wieder viel besser aus.«
»Ja, Mama«, sagte Ilona grinsend.
»Aber erst geben wir unseren Sämlingen mal ein bißchen Wasser, hm?« sagte Monique. »Dann können wir Schlafengehen.«
Joanna versuchte sie anzulächeln, aber es gelang ihr nicht ganz. Jamie erkannte, daß sie gern imstande gewesen wäre, ihrem Vater zu erzählen, daß sie Leben gefunden hatte. Für Joanna zählte niemand anders, nur ihr Vater. Sie wollte ihm diesen Triumph schenken. Jetzt hatte sie das Gefühl, versagt zu haben.
Er hätte ihr gern den Arm um die Schultern gelegt und ihr gesagt, daß es nicht so schlimm war, daß es nach wie vor wichtige und wunderbare Dinge auf dem Mars zu tun gab, auch wenn sie nicht die große Entdeckung gemacht hatte. Selbst wenn der Planet völlig tot sein sollte, konnte allein schon diese Information der Wissenschaft entscheidende Kenntnisse über die Bedürfnisse und Triebkräfte des Lebens liefern. Er merkte, daß er sie in den Armen halten, sie trösten, ihr etwas von seiner Kraft abgeben wollte.
Aber in Joannas Leben war kein Platz für ihn. Ihre Seele gehörte ihrem Vater. Alles, was sie tat, tat sie ausschließlich für ihren Vater.
Jamie spürte eine schwelende Eifersucht auf einen Rivalen, der hundert Millionen Kilometer entfernt war, einen Rivalen, gegen den er nicht die geringste Chance hatte.