Dr. Yang Meilin schnaubte verächtlich, als sie die Daten auf ihrem Bildschirm sah. Sie schob ihren Stuhl von dem winzigen Schreibtisch zurück, stand auf und öffnete die Falttür ihres Krankenreviers.
Dr. Li war natürlich in der Kommandosektion, mitten in einer Dreierkonferenz mit dem Exkursionsteam unten im Tithonium Chasma und den Flugkontrolleuren in Kaliningrad.
Sie hatten also Leben auf dem Mars gefunden, dachte Dr. Yang. Und sie sind alle krank. Vielleicht sterben sie sogar. Könnte es da einen Zusammenhang geben? Nein, unmöglich, sagte sie sich.
Der Korridor war leer; außer dem Summen der Maschinen war nichts zu hören. Die gesamte Besatzung drängelt sich im Kommandomodul, stellte Yang fest. Niemand schenkt diesem medizinischen Notfall irgendwelche Beachtung. Niemand beachtet mich.
Als sie zum Kommandomodul kam, saß Dr. Li an der Kommunikationskonsole. Sämtliche Bildschirme waren erleuchtet. Alberto Brumado strahlte glücklich vom Hauptbildschirm, während auf den anderen hohe Tiere aus Kaliningrad, Houston und offenbar auch aus Tokio zu sehen waren. Alles Männer. Die Bildfernsprechverbindung zum Exkursionsteam war wegen des Sturms unterbrochen, aber Joanna Brumado war über Funk zu hören. Sie versuchte, die Salven der Fragen zu beantworten.
Sie ist hübsch, dachte Yang, und sie ist die Tochter von Alberto Brumado. Jetzt hat sie Leben auf dem Mars gefunden. Sie steht im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, ist jedermanns Objekt der Begierde. Ich dagegen bin bloß eine unscheinbare Ärztin, die schlechte Nachrichten bringt. Kein Wunder, daß sie mich am liebsten ignorieren würden.
Weiß Brumado, daß seine Tochter krank ist? Yang glaubte es nicht. Die Flugkontrolleure wußten es natürlich, aber bis jetzt war die Krankheit, die das gesamte Bodenteam befallen hatte, für sie nichts Ernsteres als eine Grippeattacke.
Es war aber mehr als eine Grippe. Yang war sich ganz sicher.
Was, wenn es tatsächlich marsianische Organismen in der Luft gibt? Viren oder Mikroben, die so winzig oder so andersartig sind, daß man sie bei den Lufttests nicht bemerkt hat? Was, wenn sie menschliche Zellen doch infizieren können?
Sie schüttelte den Kopf, eine Bewegung, bei der ihre glatten Ponyfransen hin und her wedelten. Unsinn! Außerirdische Organismen können einfach keine terrestrischen Zellen befallen. Ihr Stoffwechsel wäre völlig anders.
Und dennoch — dem wenigen zufolge, was sie über die von Brumado und Malater entdeckten flechtenähnlichen Geschöpfe aufgeschnappt hatte, waren sie irdischen Organismen erstaunlich ähnlich. Sie mußten eine DNA-Untersuchung vornehmen, dachte Yang. Und eine gründliche chemische Analyse.
Eine Marsseuche. Schon allein der Gedanke war so abstrus, daß man es nicht einmal ernstlich in Erwägung ziehen konnte. Es war so unwahrscheinlich wie … wie — sie spürte, wie ein Schauer ihren Körper durchlief — so unwahrscheinlich wie ein Meteoritentreffer.
Dann merkte sie, daß sie auf Zehenspitzen in der Luke eines um den Planeten Mars kreisenden Raumschiffs stand und über die Schultern der um ihren Anführer versammelten Menge hinweg auf Dr. Li schaute, dem die Leiter des Marsprojekts gerade dazu gratulierten, daß er zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit extraterrestrische Lebensformen gefunden hatte. Was war da schon abstrus, schalt sie sich. Was war da schon wahrscheinlich oder auch unwahrscheinlich?
Wie glücklich sie alle aussahen. Selbst Li, die menschliche Vogelscheuche, der sich niemals entspannte, strahlte die vielen Bildschirme vor sich lächelnd an. Sie beglückwünschten sich alle gegenseitig, von Mann zu Mann, wie eine Altherrenmannschaft, die gerade einen unerwarteten Sieg errungen hatte, voller Zuversicht, daß diese Entdeckung ihre Zukunft sichern würde.
Aber nicht, wenn die Leute auf dem Mars sterben. Das wird allen einen fürchterlichen Schrecken versetzen. Und sie sterben tatsächlich. Trotz Reeds Versicherungen zeigten die Daten, daß etwas den Männern und Frauen auf dem Boden des Mars die letzten Kräfte entzog.
Sie werden schwächer, sagte sie sich. Sie sterben.
Es war ein bedeutsamer Tag gewesen. Trotz ihrer Müdigkeit und der Schmerzen hatten die vier im Rover den ganzen Nachmittag über mit der Kuppel, mit Li und den anderen Wissenschaftlern in den Schiffen im Orbit, mit den Flugkontrolleuren in Kaliningrad und dann in Houston und schließlich mit den Projektleitern in Moskau, Washington, Tokio und sechs anderen Hauptstädten auf der Erde in Funkverbindung gestanden.
»War ja klar, daß die gottverdammte Bildfernsprechverbindung ausgerechnet jetzt zusammenbricht«, grummelte Connors.
Die Satellitenantenne klemmte immer noch in ihrer halb eingefahrenen Position und war nicht zu gebrauchen. Aber die als Ersatz vorgesehenen Funkverbindungen funktionierten, obwohl die aus dem Orbit weitergeleiteten Übertragungen wegen der Störungen durch den Staubsturm leise und von knisternder Statik durchsetzt waren.
Joanna hatte über das Computermodem und das daran angeschlossene Fax sämtliche Daten über die Flechte durchgegeben, die sie und Ilona gewonnen hatten, und auch alle Mikroaufnahmen beigefügt. Ilona selbst ruhte sich auf ihrer Liege aus; nachdem sie praktisch in Jamies Armen zusammengebrochen war, hatte er die Liege ausgeklappt und darauf bestanden, daß sie zu schlafen versuchte.
Erst lange nach Sonnenuntergang wurden alle Funkkontakte beendet. Sie hätten noch endlos weiterreden können, aber Jamie hatte dringend darum gebeten, Schluß zu machen, und behauptet, sie müßten etwas essen und sich ausruhen, damit sie am nächsten Morgen frisch seien. Dr. Li hatte den Wink mit dem Zaunpfahl sofort verstanden.
»Ich übernehme alle weiteren Anrufe, damit Sie für Ihre Arbeit morgen früh fit sind«, sagte er.
Sie hatten den hohen Tieren des Projekts in den diversen Hauptstädten gegenüber nichts von ihrer Krankheit erwähnt. Die Flugkontrolleure, die ebensoviel über ihren Zustand wußten wie Li, hatten es auch nicht getan. Niemand wollte den Triumph in diesem Augenblick trüben.
Nun saßen die vier um den schmalen Tisch des Rovers herum, wie üblich die Männer auf der einen Bank, die Frauen ihnen gegenüber. Ilona schien es nach den paar Stunden Schlaf ein wenig besser zu gehen; trotzdem sah sie blaß und verhärmt aus. Joanna war ebenfalls bleich und nervös; ihre Augen waren verschattet, die Wangen hohl.
Connors war gnadenlos fröhlich, als würde er es nicht wagen, etwas anderes als gute Laune zur Schau zu stellen. Jamie hatte jedoch den Eindruck, daß seine Bewegungen angestrengt und langsamer als sonst waren; sein Atem ging schwer.
»Wir müssen einen Toast ausbringen«, sagte der Astronaut, schlüpfte aus der Bank und ging zum Kühlschrank, der ins Schott der Kombüse eingebaut war. »Einen Toast auf die Entdeckung extraterrestrischen Lebens.«
Jamie hatte zu nichts Lust; ihm tat alles weh. Connors aufgesetzter Enthusiasmus irritierte ihn, aber er hielt den Mund.
»Verdammt! Hier ist nichts drin, womit wir anstoßen könnten«, murmelte Connors, während er den Inhalt des Kühlschranks musterte.
»Ist kein Orangensaft da?« fragte Joanna.
»Doch. Noch ein halber Liter.«
»Dann nehmen wir den«, sagte Jamie.
»Orangensaft?«
»Tun wir so, als ob Wodka drin wäre.«
Sie stießen also mit Orangensaft an. Auf Ilona und Joanna. Auf die Entdeckung von Leben auf dem Mars. Auf die unbestreitbare Tatsache, daß die Erde nicht der einzige Planet war, auf dem es Leben gab. Auf den Nobelpreis, den die beiden Frauen gemeinsam bekommen würden.
»Ach, ich glaube nicht, daß sie dafür den Nobelpreis verleihen«, sagte Joanna.
»Machen Sie Witze?« beharrte Connors. »Für die Entdeckung außerirdischen Lebens?«
»Dafür gibt es keine Kategorie bei den Nobelpreisen«, erklärte Joanna. Dann fügte sie sinnierend hinzu: »Sofern die schwedische Akademie ihre Definition von Medizin und Physiologie nicht sehr weit auslegen will.«
»Oder von Chemie«, sagte Jamie.
»Vielleicht richten sie eine neue Kategorie ein«, meinte Connors hoffnungsvoll.
Ilona schenkte ihm ein mattes Lächeln und sagte: »Sie kennen die Schweden nicht, Peter.«
Sie stocherten in ihren Essensschalen herum. Die Mahlzeit ging nur langsam vonstatten. Die Nachwirkung setzte ein, erkannte Jamie. Die Reaktion, das Absacken nach dem erregenden Hochgefühl der Entdeckung und des Erfolgs.
Nun haben wir also Leben auf dem Mars gefunden, dachte er. Morgen gibt es garantiert eine Flut von Marsianerwitzen im Fernsehen.
Die Beine taten ihm weh, als wäre er den ganzen Tag durch die Gegend gelaufen. Jamie fühlte sich schwach. Er lehnte den Kopf an das gepolsterte Schott und fragte sich, wie krank sie wirklich waren und wann sie sich endlich erholen würden. Es hatte jedoch den Eindruck, daß es ihnen allen immer schlechter statt einmal besser ging.
Die Kommunikationsanlage im Cockpit summte, und Jamie zuckte zusammen.
»Das ist bestimmt Wosnesenski«, vermutete Connors. »Ich gehe hin.«
Der Atem des Astronauten roch übel. Was, zum Teufel, hat er heute abend gegessen, fragte sich Jamie. Und warum kann er den verdammten Summer nicht abstellen? Der Lärm ging ihm durch Mark und Bein, wie das Geräusch eines Zahnarztbohrers.
Jamie stand auf und stapelte schweigend die Essensschalen aufeinander. Er bemerkte, daß keiner von ihnen mehr als die Hälfte seiner Portion gegessen hatte; aber der Orangensaftkrug war völlig leer. Wir haben unseren Erfolg ordentlich begossen, sagte er sich. Gut, daß wir keinen Wodka dabei hatten.
Joanna erhob sich, um ihm zu helfen. Ilona ließ sich auf die Bank zurücksinken. Ihre Augen waren ziemlich glasig. Es hat sie wirklich böse erwischt, dachte Jamie, während er ihr blasses Gesicht betrachtete.
Draußen schrie der Wind. Unablässig.
Werden wir hier sterben? Der plötzliche Gedanke überraschte Jamie. Aber dann dachte er: Und wenn schon. Das ist kein schlechter Ort zum Sterben. Wir haben unser Ziel erreicht. Vielleicht fordert der Mars unser Leben als Gegenleistung dafür, daß er sein größtes Geheimnis preisgegeben hat. Ein fairer Preis. Leben für Leben.
Aber der Mars ist eine sanfte Welt, sagte er sich im stillen. Anfangs mag er rauh und abweisend wirken, in Wirklichkeit ist er jedoch friedlich und sanft. Dann antwortete eine andere Stimme in seinem Innern grimmig: Bis dir die Luft ausgeht. Oder dein Anzug ein Loch bekommt. Dann wirst du schon sehen, wie sanft diese Welt ist.
Connors kam zum Tisch zurück, als Jamie die Schalen gerade ins Bord stellte.
»Mikhail sagt, morgen früh gibt es eine Pressekonferenz. Mit internationaler Beteiligung. Jeder gottverdammte Reporter auf der Erde will mit uns sprechen. Ich muß gleich als erstes rausgehen und die Videoantenne reparieren. Sie wollen uns sehen.«
»O Gott, aber doch nicht so«, stöhnte Joanna.
»Sagen Sie ihnen, daß wir die Antenne nicht reparieren können«, schlug Jamie vor.
Connors wollte den Kopf schütteln, überlegte es sich dann aber anders. »Ich muß es versuchen. Außerdem muß ich morgen ohnehin raus, um festzustellen, wie tief wir im Sand stecken und ob der Rover irgendwelche Schäden davongetragen hat.«
»Das heißt, daß ich auch rausgehe«, sagte Jamie.
»Nein. Es reicht, wenn Sie den Anzug anziehen. Falls es einen Notfall gibt, können Sie sofort raus.«
»Aber die Vorschriften …«
»Die Vorschriften besagen, daß ein Astronaut eine Solo-EVA unternehmen darf, sofern eine zweite Person den Anzug trägt und sich für den Notfall bereithält. Nur ihr armen kleinen Wissenschaftler dürft nicht alleine raus.«
Connors versuchte, leutselig zu sein, aber Jamie merkte, daß er den Astronauten innerlich anknurrte.
»Ach ja«, fügte Connors hinzu. »Reed will eine weitere Testreihe: Temperatur, Blutdruck, Puls und — das Beste kommt zuletzt — noch eine Blutprobe.«
»Nicht schon wieder«, protestierte Ilona.
»Jetzt, wo wir wissen, daß es hier Leben gibt, könnte es doch sein, daß wir uns marsianische Bazillen eingefangen haben«, erklärte Connors. »Das ist ein neues Problem, mit dem wir uns befassen müssen.«
»Ich gehe zuerst«, sagte Joanna, stand mühsam auf und schlüpfte hinter dem Tisch hervor.
»Ich helfe dir«, sagte Jamie.
An Bord des Rovers gab es keine Privatsphäre, aber sie konnten die medizinischen Tests immerhin im Labormodul durchführen, während Ilona und Connors in der Kommandosektion blieben. Das Labor mutete geradezu intim an, als nur sie beide darin waren. Die Lichtleiste an der Decke spendete das einzige Licht, warf gedämpfte Schatten auf die Geräte, die sie zuvor benutzt hatten, und milderte die Linien, die sich in Joannas blasses, nervöses Gesicht gegraben hatten. Draußen sang der Wind sein hohes, schrilles Lied, aber hier im Labor — allein mit Joanna — war es beinahe behaglich.
Jamie befahl ihr, sich hinzusetzen, während er im Arzneischränkchen nach der Blutdruck-Manschette, den Thermometerpflastern und Spritzen stöberte. Er maß sorgfältig ihre Temperatur, den Blutdruck und den Puls. Alles ein bißchen höher als normal.
Während er ihre Armbeuge für die Blutprobe abtupfte, sagte Jamie: »Ich habe vorher noch nie drüber nachgedacht, aber wenn es marsianische Flechten gibt, dann muß es auch andere marsianische Organismen geben.«
Joanna nickte ernst, während sie ihren Arm auf und ab pumpte. »Ja. Flechten mögen uns als niedrige Lebensform erscheinen, aber im Vergleich zu Protozoen und sogar Algenkolonien sind sie hoch organisiert.«
Jamie haßte Spritzen. Ihm wurde schon fast übel, wenn er nur zusah, wie jemand — ganz gleich wer — eine verpaßt bekam. Es kostete ihn einige Mühe, seine Hände ruhig zu halten, als die Nadel gleich beim ersten Versuch in die geschwollene Vene an Joannas Arm glitt. Joanna zuckte ein wenig zusammen.
»Dann gibt es also wirklich marsianische Mikroben«, sagte Jamie, während er ihr Blut abnahm. »Bakterien und Viren und so weiter.«
»Es muß welche geben. Die Flechte kann nicht die einzige Lebensform auf dem Planeten sein. Es muß zumindest eine primitive Ökologie existieren.«
»Warum haben wir dann keine Mikroben gefunden?« Er zog den Kolben langsam heraus.
Joanna sah zu, wie die Spritze sich mit dunklem Blut füllte. »Entweder gibt es außerhalb des Canyons keine, oder wir haben sie gesehen, sie aber nicht als solche erkannt.«
Jamie drückte ihr ein Heftpflaster auf die winzige Wunde, nahm Joannas Handgelenk und befahl ihr, den Arm anzuwinkeln.
»Du meinst, all diese Tests von Luft-, Boden- und Gesteinsproben, die ihr durchgeführt habt …«
Aber Joanna war mit den Gedanken bereits woanders. »Jamie, auf der Erde gibt es Eisenoxid-Ablagerungen, die von uralten Bakterien produziert worden sind. Hältst du es für möglich, daß die Eisenoxide auf dem Marsboden auch das Resultat einer biologischen Aktivität sind?«
Erstaunt über diese neue Idee kniff er die Augen zusammen. »Der ganze Staub, hier und überall auf dem Planeten?«
»Aus einer Millionen oder sogar Hunderte Millionen Jahre zurückliegenden Zeit.«
»Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum das Eisen immer noch an der Oberfläche ist«, sann Jamie laut. »Warum es nicht zum Kern hinuntergesunken ist und der Planet nicht so ausdifferenziert ist wie die Erde.«
Dann schaute er ihr in die dunklen, müden Augen. »Es könnte eine Erklärung für vieles sein. Ich bin nie auf die Idee gekommen, daß die Biologie hier Auswirkungen auf die Geologie haben könnte.«
»Vielleicht ist es aber so«, sagte sie.
»Vielleicht.«
Dann wurde ihm bewußt, daß er eine Spritze mit ihrem Blut in der erhobenen Hand hielt. Vorsichtig injizierte Jamie das Blut in einen zugestöpselten Schlauch im automatischen Blutanalysator. Er stand am anderen Ende des Labortisches, ein Gebilde aus rostfreiem Stahl mit Glasgefäßen, das kleiner war als die Kaffeemaschine in der Kuppel und immer noch wie neu glänzte. Sie hatten nicht damit gerechnet, ihn benutzen zu müssen.
»Wie geht es dir?« fragte er, während er Joannas Namen und die Zeit in den medizinischen Computer eintippte.
Sie versuchte zu lächeln. »Ich werd’s überleben. Glaube ich.«
Ihr Atem roch ebenfalls übel. Jamie vermutete, daß seiner auch nicht gerade der frischeste war. Er trat ein wenig von ihr zurück. »Was, zum Teufel, ist das? Was macht uns krank?«
»Tony wird es herausfinden«, sagte sie leise. »Er ist ein ausgezeichneter Arzt.«
»Ja. Irgendwann wird man’s das Reed’sche Marsfieber nennen.«
»Aber wir haben kein Fieber«, betonte Joanna sanft.
»Doch, du hast welches«, erwiderte er. »Zwar nur leichtes Fieber, aber deine Temperatur ist höher als normal.«
Jamie gab Joannas Testdaten in den Laborcomputer ein, der die Informationen automatisch zum Raumschiff in der Umlaufbahn und zur Kuppel weiterleitete. Er schaltete den Analysator ein; außer dem leuchtenden grünen Licht deutete nichts darauf hin, daß er arbeitete. Die Ergebnisse von Joannas Blutprobe würden ebenfalls automatisch und in aller Stille über die Computerverbindung weitergegeben werden.
Joanna zupfte Jamie am Ärmel, ohne von ihrem Stuhl aufzustehen.
»Jetzt bist du an der Reihe.«
Er schaute auf sie hinab. »Fühlst du dich wohl genug …?«
»Du wirst mir schon nicht verbluten, Jamie«, sagte sie. »Ich bin immer noch imstande, einfache Aufgaben auszuführen — wie zum Beispiel, dir eine Nadel in den Arm zu stecken.«
Widerstrebend rollte Jamie seinen Ärmel hoch.
Während sie die Druckmanschette um seinen Arm wickelte, klebte sich Jamie ein Temperatursensorpflaster auf die Stirn.
»Die Frage ist«, sagte sie fast zu sich selbst, »repräsentieren die Flechten die höchstentwickelte Lebensform auf dem Mars, oder sind sie die Überbleibsel komplexerer Lebensformen, die ausgelöscht worden sind?«
Jamie lehnte sich mit dem Oberkörper an den Rand des Arbeitstisches, während sie auf der Digitalanzeige seinen Blutdruck ablas.
»Vielleicht war diese Gesteinsformation wirklich ein Dorf?« sagte er.
»Wir haben keine andere Spur von intelligentem Leben gefunden, Jamie. Ich wollte damit nur sagen …«
»Da ist dieses in den Stein gehauene Gesicht in der Acidalia-Region.«
»O James! Du glaubst das doch nicht etwa!«
Er zuckte die Achseln. »Wir wissen jetzt, daß es auf dem Mars Leben gibt. Wer weiß schon, was er da glauben soll?«
»Daß es einmal intelligente Marsianer gegeben hat?« Sie griff nach einer neuen Spritze.
Jamie wandte den Blick von der funkelnden Nadel ab. »Der Planet hatte Milliarden Jahre Zeit. Durchaus möglich, daß sich in dieser Zeitspanne intelligentes Leben entwickelt hat — und dann bei einem Klimawechsel ausgelöscht worden ist.«
Kopfschüttelnd band Joanna Jamies Arm oberhalb des Ellbogens mit dem Gummischlauch ab. »Aber es gibt keine Anhaltspunkte dafür, keine Überreste einer Zivilisation, keine Ruinen.«
»Alles von den Staubstürmen zugedeckt.« Er pumpte seinen Arm auf. »Bis auf mein Dorf oben in der Felswand. Vielleicht gibt es noch weitere … autsch1.«
»Tut mir leid.« Sie hatte seine Vene verfehlt. Sie brauchte drei Versuche, bis sie ihm Blut abzapfen konnte.
Jamie sagte: »Das ändert alles für dich, nicht wahr?«
»Was meinst du?«
»Daß du Leben gefunden hast. Du bist jetzt eine berühmte Frau. Du wirst noch berühmter werden als dein Vater.«
Sie zwinkerte mehrmals. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Wenn wir erst einmal wieder auf der Erde sind …«
»… werden wir kein normales Leben mehr führen können. Zumindest du nicht.«
»Und du auch nicht«, sagte Joanna. »Ohne dich wären wir gar nicht hierhergekommen.«
»Du hast die größten Hoffnungen deines Vaters erfüllt«, sagte Jamie so sanft, wie er nur konnte. »Du brauchst keine Angst mehr vor ihm zu haben.«
»Ich habe keine Angst vor meinem Vater!«
»Ich meine, er wird dich jetzt loslassen müssen.«
Sie sah ihm einen langen Augenblick ins Gesicht, bekümmert und unsicher. »Dann werde ich ihn auch loslassen müssen.«
»Ja.« Jamie nickte, obwohl er davon Kopfschmerzen bekam.
Ilona und Connors begaben sich ebenfalls zusammen ins Labormodul, während Joanna in den Waschraum ging und sich fürs Bett fertigmachte. Jamie, der zu unruhig war, um auch nur an Schlaf zu denken, lenkte seine Schritte nach vorn ins Cockpit. Draußen kreischte unaufhörlich der Sturm und sorgte für die schwärzeste Nacht, die er bisher auf dem Mars erlebt hatte. Er spähte durch den Thermovorhang, stellte fest, daß es nichts zu sehen gab, und ließ ihn wieder zurückschnellen.
Er verspürte keine Angst vor dem wallenden Staub, der draußen vorbeijagte. Für Jamie ähnelte er eher weichen Wattewolken, die sie einhüllten; nichts vermittelte ihm den Eindruck, daß er aus scharfen, spitzen Sandpartikeln bestand, die imstande waren, Metall zu zerkratzen und abzuschleifen. Ich könnte dort hinausgehen, wenn es sein müßte, selbst mitten in diesem Sturm, sagte er sich. Vielleicht würde es sogar Spaß machen.
Er fragte sich, wann der Sturm aufhören würde. Vielleicht sollte ich Toshima anrufen und ihn um eine Vorhersage bitten. Aber wozu, dachte er dann. Er hört auf, wenn er aufhört, ganz gleich, was der Meteorologe sagt. Jamie betastete den beruhigenden, glatten Stein des Bärenfetischs in seiner Tasche und sagte sich, daß es töricht war, die Dinge beschleunigen zu wollen. Besonders, wenn man keine Macht über sie hatte. Warte das Ende des Sturms ab. Warte das Ende aller Stürme ab.
Er war müde, todmüde, aber zu aufgekratzt, um in seine Koje zu steigen. Wie ein kleiner Junge an Heiligabend. So ungeheuer müde, daß er kaum die Augen offenhalten kann, aber zu aufgeregt, um schlafen zu gehen.
Connors und Ilona brauchen aber lange im Labor. Fängt sie wieder mit ihren alten Mätzchen an? Na ja, wenn Pete sich so schlecht fühlt, wie er aussieht, und trotzdem einen hochkriegt, dann spricht das um so mehr für ihn. Und Ilona — er hätte beinahe gelacht —, sie ist wie die gute alte Post: weder Regen noch Sturm noch die dunkle Nacht können sie aufhalten.
Er rieb sich das stoppelige Kinn. Vielleicht sollte ich mich rasieren. Wenn es uns gelingt, die Antenne zu reparieren, und wir morgen im Fernsehen sind, sollte ich mich zumindest um ein anständiges Äußeres bemühen. Andererseits sehe ich rasiert vielleicht schlimmer aus als mit einem Viertagebart. Vielleicht. Es wäre Li sicher nicht recht, wenn die Medien herausfänden, daß wir krank sind. Brumado muß erfahren, was mit seiner Tochter und uns übrigen los ist, aber die Medien dürfen auf keinen Fall Wind davon kriegen. Die würden durchdrehen. Marsfieber! Alles, was wir erreicht haben, wird Schnee von gestern sein, sobald sie argwöhnen, daß einer von uns auch nur einen leichten Schnupfen hat.
Ihm kam zu Bewußtsein, daß es Menschen auf der Erde gab, die Angst vor jedwedem Leben auf dem Mars haben würden. Die Vorstellung von Leben auf anderen Welten zerstörte ihren tröstlichen Eigendünkel, attackierte ihre religiösen Überzeugungen, zertrümmerte ihr Bild vom Universum. Oder noch schlimmer. Die UFO-Spinner werden ausflippen! Sie werden zuallermindest mit einer marsianischen Invasion rechnen. Der Gedanke erschreckte Jamie. Stimmte ihn über alle Maßen traurig.
Zerstreut und innerlich aufgewühlt beugte Jamie sich über die Kontrolltafel und schaltete die Scheinwerfer des Rovers ein. Als er wieder durch den Thermovorhang spähte, sah er ein weiches, diffuses graues Licht, das nichts enthüllte, nur ein konturloses Schimmern, wie einen dicken, wogenden Nebel. Der Marswind sang sein endloses Lied, obwohl Jamie den Eindruck hatte, daß es nun ein bißchen tiefer klang als zuvor. Er fragte sich, ob das gut oder schlecht war.
Sie werden uns morgen zurückholen, soviel steht fest. Ohne daß wir auch nur in die Nähe des Felsendorfes gekommen wären. Sie werden sagen, wir seien zu krank, um weiterzufahren, und uns den Befehl geben, zur Kuppel zurückzukehren.
Jamie wußte, daß es richtig war. Vier Menschenleben hingen davon ab. Doch als er in die perlmuttgrauen Wolken hinausschaute, die an der Kanzel des Rovers vorbeiwehten, fragte er sich, ob er sie irgendwie dazu bewegen konnte, sie weiterfahren zu lassen, statt ihnen den Befehl zum Rückzug zu geben.
Ich könnte zu Fuß gehen, dachte er. Ich könnte von hier aus dorthin gehen und das Dorf sehen, könnte die Felswand hinaufklettern und meine Hände darauflegen. Ich könnte es tun.
Und dann sterben. Es gäbe keinen Rückweg mehr für mich; der Anzug kann seinen Träger nicht so lange am Leben erhalten. Aber ich käme wenigstens hin und sähe es mit eigenen Augen. Es wäre kein schlechter Ort zum Sterben. Vielleicht ist das der Sinn meines Traums.
Tony Reed fand ebenfalls keinen Schlaf.
Als das Licht automatisch für die Nacht gedämpft worden war, hatte er sich natürlich wie die sieben anderen, die in der Kuppel wohnten, in seine Kabine zurückgezogen. Wosnesenski bestand darauf, daß sie sich genau an den Missionsplan hielten, sofern kein dringender Notfall vorlag. Mikhail Andrejewitsch wurde immer pedantischer, seit die Krankheit von ihm Besitz ergriffen hatte; obendrein war er griesgrämig und grüblerisch.
Sobald Reed das tiefe Schnarchen des Russen hörte — es klang wie ein Trecker, der auf dem Acker hin und her rumpelte —, stand er von seiner Liege auf und schlich in seinen dicken Pantoffelsocken auf Zehenspitzen ins Krankenrevier zurück. Im Dunkeln wirkte die Kuppel kälter auf ihn. Er wagte es nicht, die Deckenlampe einzuschalten, als er an den stillen Arbeitsplätzen vorbeitappte. Im Krankenrevier schob er die Tür hinter sich zu, tastete sich um seinen Schreibtisch herum zu seinem Stuhl und streckte die Hand zum Computer auf dem Tisch aus, während er sich hinsetzte. Er suchte den Netzschalter mit den Fingern, fand ihn und schaltete den Computer ein. Der kleine Bildschirm leuchtete orange auf wie ein munteres Feuer.
Sie sterben, dachte Reed. Sie sterben alle, und sie erwarten von mir, daß ich sie rette. Und ich weiß nicht, was ich tun soll! Er ließ die Daten der letzten medizinischen Tests durchlaufen. Nichts Neues. Nichts, was ihm auch nur den leisesten Hinweis darauf lieferte, was sie infiziert haben mochte.
Tony starrte kopfschüttelnd auf den Bildschirm. Er selbst fühlte sich gut; er war ein bißchen müde, seine Augen brannten von der Überanstrengung, aber ansonsten ging es ihm bestens. Keins der Symptome, die die anderen zeigten. Wie kann das sein, fragte er sich. Wir essen alle das gleiche, atmen dieselbe Luft. Aber die anderen sind allesamt krank, im Rover und hier in der Kuppel. Bloß ich nicht.
Reed lehnte sich zurück, schloß die Augen halb und legte die Spitzen der langen Finger auf der Brust aneinander. Denk nach, Mann, fauchte er sich an. Benutz das Gehirn da oben in deinem Schädel und denk nach.
These eins: Sowohl das Team im Rover als auch die Mannschaft hier in der Kuppel haben es bekommen, was auch immer es ist. Deshalb kann es keine Infektion durch die Lebensformen sein, die das Roverteam gefunden hat.
Ja, korrekt. Aber kann es ein infektiöser Organismus in der Luft sein? Theoretisch ist es eigentlich unmöglich, daß marsianische Parasiten Besucher von einem anderen Planeten befallen, aber vielleicht gibt ein hoch anpassungsfähiges Virus in der Luft? Wir wissen jetzt, daß es auf dem Mars Leben gibt. Was, wenn irgendwelche Organismen in der Luft schweben?
Reed schüttelte den Kopf und versuchte, den Gedanken zu verwerfen. Wir haben Proben von der Luft genommen. Monique hat sie mit jedem Gerät getestet, über das sie verfügt. Wosnesenski hat die Luftreiniger überprüft. Sie haben nichts gefunden. Und wir haben hier drin normale erdähnliche Luft, keine marsianische. Jeder marsianische Organismus würde von dem hohen Sauerstoffanteil getötet werden.
Und dennoch — wir haben kein Elektronenmikroskop. Es wäre durchaus möglich, daß ein Virus bei Moniques Tests durchgerutscht ist, besonders weil wir nicht genau wissen, wonach wir suchen. Vielleicht mögen sie Sauerstoff. Und wir sind nicht konsequent; wir achten sehr genau darauf, daß wir die Luft- und Bodenproben vom Mars nicht mit unseren Bakterien infizieren, nicht wahr? Wenn die hohen Tiere ihrer eigenen Theorie wirklich vertrauen würden, warum sollten sie sich dann Sorgen machen, daß wir den Mars möglicherweise infizieren könnten?
Es ergibt einfach keinen Sinn, sagte sich Reed. Wenn uns ein einheimischer marsianischer Organismus infiziert hat, warum bin ich dann nicht betroffen? Warum bin ich gesund, während alle anderen sterben?
Zum ersten Mal, solange er sich erinnern konnte, fühlte Tony Reed sich schuldig. Und er kam sich unzulänglich vor.
Außerdem hatte er schreckliche Angst. Aber das war ein Gefühl, das er schon sein Leben lang kannte.
Dr. Yang Meilin schlief, aber nicht gut. Sie hatte einen Traum, der ihr zu schaffen machte. Einen Alptraum. Sie war wieder Medizinalassistentin in ihrer Heimatstadt Wuxi. Die große Hungersnot hatte die ganze Provinz erfaßt. In den Straßen lagen so viele Leichen, daß die Menschen parfümierte Gazemasken trugen, um sich vor dem Gestank verwesenden Fleisches zu schützen.
Dr. Yang war im Krankenhaus, auf einer Station voller schreiender Babies. Ausgemergelte Gliedmaßen und aufgequollene Bäuche. Die Babies wurden mit den vom Internationalen Roten Kreuz geschickten Nahrungsmitteln gefüttert, aber sie starben trotzdem.
Sie schlief mit dem gutaussehenden Arzt aus Beijing, aber sie konnte sich ihm nicht total hingeben, weil sie das qualvolle Schreien der Babies durch die dünnen Vorhänge hörte, die sie um das Bett gezogen hatten. Der Arzt würde am nächsten Morgen nach Beijing zurückkehren, ohne ihr auch nur auf Wiedersehen zu sagen. Und die Babies hörten nicht auf, zu wimmern und zu schreien. Und zu sterben.
Dr. Yang wußte, daß sie nicht an Unterernährung starben. Und noch während sie sich das sagte, veränderte sich ihr Traum, verwandelte sich und mutierte: Die Babies waren Astronauten, die Krankenstation war die Kuppel auf der roten Oberfläche des Mars.
Sie fühlte sich total hilflos. Warum sterben sie? Es ist meine Aufgabe, sie zu retten, ihnen zu helfen, sie am Leben zu erhalten und wieder gesund zu machen. Es ist meine Aufgabe, mich zu erinnern. Erinnere dich.
Sie war sofort wach und setzte sich auf ihrer Liege kerzengerade auf.
Aber sie konnte sich nicht erinnern, was der Traum ihr zu sagen versucht hatte.