ROM

Die Konferenz war stürmisch, beinahe chaotisch. Sechs Dutzend der besten Wissenschaftler der Welt, Vertreter der Fachgebiete Geologie, Biologie, Physik, Chemie und Astronomie, benahmen sich wie sechs Dutzend ungebärdige Kinder.

Pater DiNardo strich sich mit einer Hand über den rasierten Schädel, während er die Ohren vor den lauten, streitenden Stimmen zu verschließen versuchte. Eine Notkonferenz, in der Tat, dachte er. Diese Konferenz entwickelt sich selbst zu einem Notfall. Nicht einmal Brumado persönlich kann diese Meute unter Kontrolle halten.

Die Konferenz fand in einem Saal statt, den das italienische Luftfahrtinstitut dem Marsprojekt großzügig zur Verfügung gestellt hatte. Die Fenster des großen Raumes waren mit schweren Vorhängen verhängt, aber DiNardo kannte Rom so gut, daß er praktisch durch die Vorhänge hindurchschauen konnte. Jenseits der Via Praetoriano lag der Bahnhof, und hinter diesem Monument der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts erhoben sich die müden alten sieben Hügel mit dem uralten Forum und dem Kolosseum, ehernen Zeichen der Blütezeit Roms. Der Vatikan lag ganz auf der anderen Seite der riesigen Stadt, so weit entfernt vom Luftfahrtinstitut, wie es nur ging.

DiNardo sehnte sich nach der Stille des Vatikans. Trotz der Touristen, die durch den Petersdom strömten, würde es dort stiller und ordentlicher zugehen als bei diesem Beinahe-Krawall. Andererseits hatten die meisten der hier anwesenden Männer und Frauen ihre normale Arbeit unterbrochen, um eilends in die ewige Stadt zu reisen. DiNardo fragte sich, wie gelassen er wäre, wenn er plötzlich zu einer dringenden Konferenz gerufen würde, neun oder zehn Stunden im Flugzeug sitzen und sich dann noch ein paar Stunden lang im Schweiße seines Angesichts damit herumärgern müßte, sein Gepäck durch den Zoll zu bringen.

Er stöhnte innerlich, als ein Mann mit gerötetem Gesicht, dessen Namensschild am Revers ihn als Geologen aus Kanada auswies, einen hitzigen jungen Astronomen aus Chile zu überschreien versuchte, der ihn unterbrochen hatte.

Alberto Brumado, der mitten an dem langen Tisch stand, der vor dem Auditorium auf der Bühne aufgestellt worden war, schlug plötzlich so heftig mit der Faust auf den Tisch, daß die sechs Männer und Frauen links und rechts neben ihm erschrocken zusammenfuhren.

»Sie setzen sich jetzt beide hin«, rief Brumado in das Mikrofon vor sich. »Setzen Sie sich. Sofort!«

Es wurde mit einemmal still im Raum. Der chilenische Astronom sank auf seinen Stuhl. Der Geologe mit dem roten Gesicht funkelte ihn einen Moment lang an, dann setzte er sich ebenfalls.

Brumado fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar. »Unsere Erregung trägt den Sieg über die Vernunft davon«, sagte er in normalerem Ton. »Wir machen eine Viertelstunde Pause. Wenn wir zurückkommen, sollten wir alle daran denken, daß wir Männer und Frauen der Wissenschaft sind, keine Politiker oder Straßenhöker. Ich erwarte eine rationale Diskussion, bei der die üblichen Anstands- und Höflichkeitsregeln strikt beachtet werden.«

Wie mürrische, schuldbewußte Studenten verließen die Wissenschaftler nacheinander den großen Saal. Sie waren allesamt führend auf ihren Gebieten, wie DiNardo wußte. Forscher von Weltrang. Nach der inoffiziellen Zählung des Priesters waren mindestens vier Nobelpreisträger in der Gruppe. Die Besten der Besten.

Er ging eine Treppe hinunter zur Herrentoilette. Als er sich durch die Menge am Erfrischungstresen drängte, registrierte er zerstreut, welche Nationalitäten sich für Kaffee anstellten und welche für Tee. Die Amerikaner tranken größtenteils Saft. Mit viel Eis natürlich.

Valentin Gretschko stand schon an einem der Urinale. Der russische Physiker hatte den Ruf, fortwährend Unmengen von Tee zu trinken und dann auf die Toilette zu laufen. Als Gretschko sich zu den Waschbecken wandte und den Reißverschluß seiner dunkelblauen Hose hochzog, tat DiNardo so, als wäre er fertig.

Gretschko lächelte mit teebraunen Zähnen, als er DiNardo sah. Die beiden Männer bückten sich, um sich nebeneinander die Hände zu waschen. Der Priester sah im Spiegel über seinem Waschbecken, daß er sich hätte rasieren sollen, bevor er zu dieser Konferenz gekommen war. Sein Unterkiefer und der Schädel waren dunkel von Stoppeln. Dann warf er einen Blick auf Gretschkos Gesicht.

Der Direktor des russischen Raumforschungsinstituts war weit über sechzig, und sein schütteres Haar war völlig grau. Das Jackett seines dunklen Anzugs schien an ihm zu schlackern, als ob er in letzter Zeit Gewicht verloren hätte. DiNardo fragte sich, ob er krank war. Das seltsame kleine Lächeln, das Gretschko stets zur Schau trug, war noch da; die Welt schien ihn beständig zu verwirren. Dennoch hatte er sich mit Zähnen und Klauen an die Spitze der wissenschaftlichen Hierarchie in Rußland hochgekämpft; er war Mitglied ihrer Akademie und Chef des Instituts, das ihre Raumforschung leitete.

Als sie gemeinsam die Toilette verließen, fragte Gretschko: »Haben Sie sich von Ihrer Operation wieder gut erholt?«

»O ja«, sagte DiNardo und fuhr sich unbewußt mit der Hand über die Seite. »Solange ich aufpasse, was ich zu mir nehme, geht es mir bestens.«

Der Russe nickte. DiNardo bemerkte, daß ihre Anzüge beinahe denselben Farbton hatten. Abgesehen von meinem Kollar hätte unsere Kleidung aus demselben Laden stammen können, dachte er.

»Von Konferenzen wie dieser bekomme ich Magengeschwüre«, sagte Gretschko leise, als sie sich in der Teeschlange anstellten. »Hier schafft es nicht einmal Brumado, für Ordnung zu sorgen.«

»Wir haben eine gewichtige Entscheidung zu treffen: ob wir eine weitere Exkursion zum Grand Canyon erlauben sollen oder nicht. Wenn wir es tun, werden alle anderen Exkursionen verkürzt werden müssen.«

»Oder ganz ausfallen.«

»Wie stehen Sie dazu?« fragte DiNardo.

»In wissenschaftlicher Hinsicht habe ich keine definitive Meinung«, sagte der Physiker. Er senkte die Stimme so weit, daß DiNardo sich nahe zu ihm beugen mußte, um ihn trotz des Stimmengewirrs der Menge zu hören. »Aber ich kann Ihnen sagen, daß unsere Missionsleiter die Politiker bereits überredet haben, den Amerikaner noch einmal nach Tithonium fahren zu lassen.«

»Wirklich?«

Gretschko nickte. Sein immerwährendes Lächeln wich für einen Moment einem Gesichtsausdruck, der fast schon unmutig wirkte.

»Ich möchte wissen, wie die Amerikaner darüber denken«, sagte DiNardo nachdenklich.

»Da ist Brownstein. Den können wir fragen.«

Murray Brownstein war ein ganzes Stück größer als der italienische Priester und der russische Physiker, aber sein Rücken war derart gebeugt, daß er in seinem grauen Jackett und der grauweißen Khakihose fast schon wieder klein und schmächtig wirkte. Sein Gesicht war von der Sonne Kaliforniens gebräunt, sein einstmals goldblondes Haar ergraute allmählich und war so dünn, daß er es nach vorn kämmte, um seine hohe Stirn so weit wie möglich zu verdecken. Während DiNardo wie ein dunkelhäutiger, zu alter Ringer aussah und Gretschko einem freundlichen, verwirrten älteren Herrn glich, strahlte Brownstein eine intensive Unzufriedenheit aus, als ob es der Welt nie so recht gelänge, ihn glücklich zu machen.

Er sah Gretschko und DiNardo auf sich zukommen und machte mit den Augen sofort eine Geste zu einer leeren Ecke ein Stück den Flur hinunter. Wortlos fielen die drei Männer in Gleichschritt und entfernten sich von der Menge am Erfrischungstresen: Gretschko mit einem Glas Tee in der Hand, Brownstein mit einer Dose Cola Light, DiNardo mit leeren Händen.

»Wie denken Sie über das alles?« Brownstein sprach zuerst, als sie die Ecke erreichten. Seine Stimme war leise und nervös, wie die eines Verschwörers, der Angst hatte, daß jemand mithörte.

DiNardo machte eine italienische Geste. »Brumado hat unseren Kollegen und Kolleginnen eine Chance gegeben, ihrem Ärger Luft zu machen, aber jetzt geht selbst ihm allmählich die Geduld aus.«

»Das ist alles eine idiotische Zeitverschwendung«, sagte Brownstein bitter. »Unsere Regierung hat ihre Entscheidung schon längst getroffen.«

»Und sie gefällt Ihnen nicht?« fragte Gretschko.

»Ich mag es nicht, wenn wissenschaftliche Entscheidungen in Washington getroffen und mir dann einfach aufs Auge gedrückt werden.«

»Aber vielleicht ist es eine gute Entscheidung«, sagte DiNardo. »Schließlich ist der Canyon ein außerordentlich interessantes Gebiet. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann wären die Teams auf dem Boden des Canyons gelandet.«

»Viel zu riskant für die erste Mission«, erklärte Gretschko kategorisch.

»Ich war damals anderer Meinung, und das bin ich auch jetzt noch«, sagte DiNardo ohne eine Spur von Verbitterung.

»Wissenschaftlich mag sie in Ordnung sein«, sagte Brownstein. »Was mich wurmt, ist die politische Seite. Wenn wir zulassen, daß die Politiker sich über unsere Beschlüsse hinwegsetzen …«

»Aber deshalb ist diese Konferenz doch einberufen worden«, unterbrach ihn DiNardo. »Damit wir Wissenschaftler unsere Entscheidung treffen und die Politiker dann davon unterrichten können.«

»Ist doch egal, welche Entscheidung wir treffen. Dieser verdammte Indianer wird nach Tithonium fahren, ob es uns paßt oder nicht.«

»Sie meinen Doktor Waterman.«

»Ja, richtig. Waterman.«

»Aber wenn diese Konferenz einhellig gegen eine Änderung des Missionsplans votiert«, sagte Gretschko, »wird das die Politiker zwingen, sich die Sache noch einmal zu überlegen.«

»Nein, wird es nicht. Die Japse haben dem neuen Plan auch schon zugestimmt.«

»Tatsächlich?«

Brownstein nickte grimmig. »Tanaka hat im selben Flugzeug gesessen wie ich. Er war zufällig gerade am CalTech, als die Konferenz einberufen wurde. Er hat mir erzählt, daß Tokio und Washington sich darauf geeinigt haben, ihr Okay zu dem Tithonium-Abstecher zu geben.«

»Ohne ihre eigenen Wissenschaftler oder Missionsleiter zu konsultieren?« Gretschko schien schockiert zu sein.

»Das Thema ist vom Tisch«, sagte Brownstein. »Wir holen uns hier bloß einen runter.«

DiNardo hob leicht die Augenbrauen.

»Sofern wir nicht beschließen, uns dagegen zu wehren«, fügte Brownstein hinzu.

»Nein«, sagte der Priester.

Die beiden anderen Männer starrten ihn an. Brownstein knurrte beinahe: »Wollen Sie sich tatsächlich von so einem ignoranten Haufen von Politikern sagen lassen, was wir tun sollen?«

»In diesem Fall schon.«

Brownstein schüttelte den Kopf, eher zornig als traurig. Gretschko fragte: »Warum?«

»Es gibt mindestens zwei triftige Gründe, sich dieser Entscheidung nicht zu widersetzen.«

»Ich will verdammt sein, wenn ich auch nur einen sehe«, sagte Brownstein. »Wenn wir den Politikern das durchgehen lassen, werden sie uns demnächst noch sagen, wie wir unsere Schuhe zubinden sollen!«

»Als Geologe«, sagte DiNardo, »bin ich mit Waterman einer Meinung. In Anbetracht der begrenzten Zeit und der Beschränkungen in bezug auf die Ausrüstung und die Vorräte dieser Mission ist der Canyon das denkbar beste Ziel.«

»Und die Vulkane sollen gänzlich ausgelassen werden?« fragte Gretschko. Sein dünnes kleines Lächeln schien Brownstein zu irritieren.

»Falls wir uns für eins von beidem entscheiden müssen, würde ich sagen, ja, lassen wir die Vulkane ganz aus. Ich glaube aber, daß wir zumindest eine flüchtige Erkundung des Pavonis Mons vornehmen können. Wenigstens ein paar Tage.«

»Das ist Ihre berufliche Meinung, nicht wahr?« fragte Brownstein.

»Ja. Als Geologe stimme ich den Politikern zu.«

»Sie haben gesagt, es gäbe zwei Gründe«, hakte Gretschko nach.

»Der zweite Grund ist politischer Natur. Eigentlich«, sagte der Priester und zwang sich, Brownstein anzulächeln, »eine Mischung aus Wissenschaft und Politik.«

Er hielt inne, bis Brownstein ungeduldig fragte: »Und, wie lautet er?«

»Ich glaube nicht, daß es klug ist, gegen die Politiker zu kämpfen, wenn sie eine Entscheidung getroffen haben, die in wissenschaftlicher Hinsicht einigermaßen vernünftig ist.«

Bevor einer der beiden anderen ein Wort sagen konnte, fuhr DiNardo fort: »Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit, daß unser Team Spuren von Leben finden wird, in dem Canyon am größten. Ich bin bereit, darauf zu wetten, daß sie dort etwas finden. Etwas, das die Politiker zwingen wird, weiteren Missionen zuzustimmen.«

Brownstein schüttelte den Kopf, und Gretschko sagte nachdenklich: »Die Schlucht ist jedenfalls ein günstigerer Ort für Leben als die Vulkane. Es ist, als würde man den brasilianischen Dschungel mit den Bergen von Tibet vergleichen, nicht wahr?«

»Deren marsianische Gegenstücke, ja«, stimmte DiNardo zu.

»Es gefällt mir trotzdem nicht«, murrte Brownstein. »Wenn wir den Politikern diesmal nachgeben, öffnen wir eine Büchse der Pandora, die auf lange Sicht alles ruinieren wird.«

»Dann dürfen wir nicht den Anschein erwecken, als würden wir den Politikern nachgeben«, sagte DiNardo. »Wir müssen unsere Kollegen und Kolleginnen dazu bewegen, auf die Exkursion nach Tithonium zu bestehen — und darauf, daß der frühere Missionsplan trotzdem so weit wie möglich beibehalten wird.«

Brownstein verzog das Gesicht. »Das ist ganz schön viel verlangt.«

»Aber es geht«, sagte DiNardo ruhig. »Ich bin sicher, daß Brumado dafür sein wird.«

Gretschkos Lächeln wurde breiter. »Dann können Sie das Wort ergreifen und versuchen, die anderen zu überzeugen.«

DiNardo erwiderte das Lächeln. »O nein. Ich werde Brumado überzeugen. Dann wird er alle anderen überzeugen.«

»Da spricht der echte Jesuit«, sagte Gretschko.

Brownstein schnaubte, schwieg jedoch.

Die Menge strömte wieder nach oben. Die drei Männer machten sich auf den Rückweg zum Saal.

Gott schenke mir die Kraft, es zu schaffen, sagte sich DiNardo. Dann dachte er: Und Gott schenke James Waterman Jagdglück auf dem Mars.

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