DER ENTSCHEIDUNGSPROZESS

1

Jamie war in Galveston, als die lange erwartete, lange gefürchtete endgültige Entscheidung rückgängig gemacht wurde.

Seit Anbeginn seiner Mitarbeit im Marsprojekt war Houston für ihn so sehr ein Zuhause gewesen, wie er es nur verlangen konnte. Auch wenn er manchmal mehrere Monate hintereinander an Trainingsorten überall auf dem Erdball verbracht hatte, fast ein halbes Jahr in der Antarktis, Woche um Woche in Florida und sogar mehrere Wochen an Bord von Raumstationen in der Erdumlaufbahn, immer kehrte er nach Houston zurück. Und zu Edith.

Edie Elgin war Co-Moderatorin der Sieben-Uhr-und Elf-Uhr-Nachrichten bei KHTV in Houston. Sie hatte Jamie interviewt, als er ans Johnson Space Center gekommen war. Aus einer Einladung zum Essen wurde eine Beziehung, die bestenfalls für eine bestimmte Zeit bestehen würde, wie beide wußten.

»Ich verschwende nicht mal einen Gedanken ans Heiraten«, erklärte Edie ihm oft. »Das tue ich frühestens, wenn ich’s nach New York geschafft und da einen Job bei einem der Networks gekriegt habe. Vielleicht nicht mal dann.«

»Ich weiß nicht, wo ich in einem Jahr sein werde«, sagte Jamie regelmäßig zu ihr. »Wenn ich nicht ins Marsteam komme, gehe ich wahrscheinlich nach Kalifornien zurück und unterrichte an irgendeiner Uni.«

»Keine Verpflichtungen«, sagte sie immer.

»Wir können keine eingehen, selbst wenn wir’s wollten«, erwiderte er stets.

Aber jedesmal, wenn er nach Houston zurückkam, kam er zu ihr zurück. Und obwohl sie nie darüber sprach, wie sie die Zeit verbrachte, wenn er nicht da war, schien sie immer froh zu sein, Jamie zu sehen. Sie waren ein seltsames Paar: der dunkelhaarige, schweigsame, stämmige Halb-Navajo und die blonde, lebhafte, stets lächelnde TV-Moderatorin. Sie wurde natürlich überall erkannt, wohin sie auch ging. Und obwohl jeder, der fernsah, sie als Edie kannte, war sie für Jamie immer Edith.

Sie behauptete, eine echte Blondine und hundertprozentige Texanerin zu sein, ehemals Cheerleader in der Highschool und Schönheitskönigin an der Texas A&M University, wo sie Fernsehjournalismus studiert hatte. Sie konnte nicht sehr gut schreiben, dafür aber mit perfekten Zähnen lächeln, selbst wenn sie ein katastrophales Erdbeben oder einen Flugzeugabsturz bekanntgab. Hinter dem hübschen Lächeln steckte jedoch ein kluger Kopf; sie erkannte eine Gelegenheit, wenn sie sich bot, und sie war schlau genug, sich in Gesellschaft von jedem, der auch nur entfernt mit der Nachrichtenbranche zu tun hatte, niemals eine Blöße zu geben. Bei Jamie konnte sie jedoch ernst sein und ihm von ihren Karriereplänen erzählen. Er konnte sich bei ihr entspannen und das Training, den Mars und die Männer vergessen, die zwischen ihm und der heiß ersehnten Berufung standen.

Jamie war soeben nach drei Wochen an Bord der Mir 5 zurückgekommen, wo er mit Pater DiNardo an den Steinproben vom Mars gearbeitet hatte, die von den unbemannten Schiffen, die schon vor einiger Zeit auf dem roten Planeten gelandet waren, mitgebracht worden waren.

Er hatte geglaubt, DiNardo hätte die Befugnis, die endgültige Entscheidung darüber zu treffen, wer sein Ersatzmann bei der Marsmission sein würde. Der Jesuit kurierte ihn von dieser Idee, kurz bevor Jamie an Bord der Raumfähre gehen mußte, die ihn nach Florida zurückbringen würde.

DiNardo hatte ihn gebeten, ins Geologielabor zu kommen, bevor er die Raumfähre bestieg. Der Priester wartete dort auf ihn. Mit ernster Miene hing er schwerelos ein paar Zentimeter über dem metallenen Gitterrost des Laborbodens. Sein Gesicht war derart verquollen von der Flüssigkeitsverlagerung, die bei weitgehender Schwerelosigkeit eintritt, daß er einem Indianer ähnlicher sah als Jamie selbst. DiNardo rasierte sich seinen kahl werdenden Schädel, aber an seinem vorspringenden Kinn zeigten sich noch dunkle Stoppeln.

»Die Auswahlkommission hat ihre Entscheidung getroffen«, sagte DiNardo leise, mit einer ganz schwachen Spur eines italienischen Akzents am Ende jedes Wortes. Jamie merkte am Ton des Mannes, daß er schlechte Neuigkeiten hatte.

Sie waren allein im Geologielabor der Raumstation, hingen schwerelos in der affenartigen, halb zusammengekauerten Haltung in der Luft, die der menschliche Körper bei minimaler Schwerkraft normalerweise einnimmt. Ein sorgfältig verschlossener Glasschrank hinter DiNardo enthielt mehrere Reihen rötlicher Bodenproben und kleiner rosafarbener Steine von der Oberfläche des Mars. Jamie fühlte, wie ihm flau im Magen wurde.

»Leider ist die Wahl auf Professor Hoffmann gefallen«, fuhr DiNardo leise fort.

»Und Sie sind einverstanden?« hörte Jamie sich fragen. Seine Stimme klang rauh, angespannt wie eine Bogensehne kurz vor dem Zerreißen.

»Ich werde mich der Entscheidung nicht widersetzen.« DiNardo schenkte ihm ein trauriges kleines Lächeln. »Mir persönlich wäre es lieber, wenn Sie mitfliegen würden. Ich denke, wir würden viel besser miteinander auskommen. Aber die Auswahlkommission muß politische Erwägungen und viele andere Faktoren einbeziehen. Falls es Ihnen hilft, es war die schwierigste Entscheidung, die sie zu treffen hatten.«

»Und sie ist endgültig.«

»Ich fürchte ja. Professor Hoffmann wird der zweite Geologe bei der Mission sein. Er bleibt in dem Raumschiff im Marsorbit, und ich gehe auf die Oberfläche hinunter.«

Ihr könnt mich alle beide mal, wollte Jamie sagen. Statt dessen nickte er nur. Seine Lippen waren so fest zusammengepreßt, daß er eine Stunde später immer noch spürte, wo sich seine Zähne hineingedrückt hatten.

Von Cape Canaveral war Jamie sofort nach Houston geflogen, und von dort waren er und Edith in deren neuem, schnittigem, dunkelgrünem Jaguar nach Galveston gefahren. In ihren enganliegenden Jeans, der Seidenbluse mit den engen Manschetten und der Rennfahrer-Sonnenbrille sah sie wie ein Filmstar aus, erst recht, wenn ihre blonden Haare im Wind flatterten.

»Es ist ein Ford Jaguar«, rief sie in dem Versuch, seine düstere Stimmung aufzuhellen, über den pfeifenden Wind und den Verkehrslärm hinweg. »Hat den Sechszylinder und das Getriebe eines Mercury unter der Haube. Sieht wie ein Jaguar aus, aber ich kann darauf verzichten, daß die ganze Zeit ein englischer Mechaniker auf dem Rücksitz mitfährt!«

Während sie die Interstate 45 entlangbrausten, sagte Jamie kaum ein Wort. Der Freitagnachmittagsverkehr war stark, aber Edith schlängelte sich zwischen den Lastwagen und den Wochenendausflüglern hindurch, als würde die Autobahnpolizei gar nicht erst versuchen, sie zu stoppen. Jamie wußte, daß dies das letzte Wochenende war, das er und Edith zusammen verbringen würden. Am Montag würde er anfangen, seine Sachen zu packen. Er wollte weg aus Houston, weg vom Raumfahrtzentrum, weg von allem, was mit der Marsmission zusammenhing. So weit weg wie möglich.

Wohin? Zurück an die Universität von Albuquerque? Um Studenten, die ihr Leben mit der Suche nach Öl verbringen würden, wieder Geologieunterricht zu erteilen? Um im Sommer wieder in alten Meteoritenkratern zu buddeln, während andere den Mars erforschten? Zurück nach Berkeley und zurück zu seinen Eltern?

Ihr Hotelzimmer in Galveston war hoch oben in einem der Türme mit herrlichem Ausblick auf den Golf von Mexiko.

»Ein schöner Blick, nicht wahr?« sagte Edith und legte Jamie einen Arm um die Taille, als sie zusammen an der gläsernen Schiebetür standen, die zu einer schmalen Terrasse hinausführte. Sie legte den Kopf an seine Schulter.

»Bis zum nächsten Hurrikan«, sagte Jamie.

»Ja. Wir berichten jedes Jahr über die Sturmschäden, und jedes Jahr bauen sie noch mehr von diesen Hochhäusern.«

Jamie drehte sich zum Bett um und machte sich daran, das Rasierzeug aus seiner dunkelblauen Nylon-Reisetasche zu kramen.

»Welche Seite im Schrank willst du?« fragte Edith.

»Ist mir egal.«

»Du bist wirklich down, was?«

»Am Boden und ausgezählt«, sagte Jamie, ging mit dem Etui ins Bad und legte es aufs Bord über dem Waschbecken, ohne sich die Mühe zu machen, es zu öffnen.

Sie stand an der Tür, ernster, als er sie je gesehen hatte.

»Wir haben eine Verlautbarung vom Büro des Marsprogramms gekriegt. Sie wollen den Abflugtermin Montag vormittag bei einer Pressekonferenz in Genf bekanntgeben.«

Jamie nickte. »Und die Besatzungsliste.«

»Du fliegst nicht mit.«

»Ich fliege nicht zum Mars«, sagte er.

Edith zwang sich zu einem zittrigen Lächeln. »Na ja … du hast die ganze Zeit gesagt, du würdest nicht glauben, daß sie dich nehmen.«

»Jetzt weiß ich’s genau.«

Das Lächeln verblaßte. »Jetzt wissen wir’s beide.«

Sie werden ohne mich zum Mars fliegen, und ich werde in der Versenkung verschwinden, sagte er sich, außerstande, die Worte laut auszusprechen. Ich werde ein Universitätsgeologe unter vielen werden, der nirgends hinkommt und nichts erreicht. Er sah sich sein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken an: Zorn glomm in seinen dunklen Augen. Dir fehlt nur noch ein bißchen Kriegsbemalung, sagte er zu dem finster dreinblickenden Spiegelbild.

Edith kannte ihn gut genug, um zu merken, daß er keine Worte mehr für sie hatte. Sie drehte sich um, ging zur Terrassentür zurück und zog eine der Schiebetüren auf. Sie blieb auf halbem Wege stecken.

»Verdammter Rost«, murmelte sie, während sie durch die schmale Öffnung auf die Terrasse hinausschlüpfte. »Die Luft hier draußen ist pures Salz.«

Jamie durchquerte das mit Teppichboden ausgelegte Zimmer, lehnte sich gegen die widerstrebende Tür und schob dann mit beiden Händen und aller Kraft. Auf einmal war er ungeheuer wütend. Die Tür quietschte und sprang aus der Schiene, während sie ganz zurückglitt. Jamie schnaubte und starrte die schief an den oberen Rollen hängende Tür zornig an. Dann trat er auf die Terrasse hinaus. Den klimatisierten Raum zu verlassen, war wie der Wechsel von Eiskrem zu heißer Suppe. Er spürte, wie seine Achselhöhlen sofort schweißfeucht wurden.

Edith ignorierte seinen Ausbruch brutaler Gewalt. »Sieht hübsch aus«, sagte sie, den Blick auf den stillen Golf gerichtet. »Wenn gerade mal kein Hurrikan tobt, heißt das.«

Jamie umfaßte das Geländer mit beiden Händen und bemühte sich, an etwas anderes zu denken als an Schmerz und Zorn. »Schon mal den Pazifik gesehen?«

»Nur im Fernsehen.«

»Die Brandung ist unglaublich. Im Vergleich dazu ist das da eine Milchpfütze.«

»Surfst du?«

»Eigentlich nicht«, sagte er. »Ich hatte nie die Zeit dazu.«

»Ich segle gern. Ein Freund von mir hat ein Hobie Cat. Macht Spaß mit den Dingern.«

Jamie atmete die salzige Luft tief ein. »Als ich zum ersten Mal den Ozean gesehen habe, muß ich vier, fünf Jahre alt gewesen sein. Meine Eltern waren gerade aus New Mexico nach Berkeley gezogen, und ich dachte, in der Bucht wäre das ganze Wasser der Welt. Dann sind sie mit mir an den Strand gegangen, und ich habe den Pazifik gesehen. Die verdammten Brecher haben mir eine Höllenangst eingejagt.«

»Was wollt ihr ’n alle nu machen?« fragte Edith in breitem Texanisch und vergaß ihren Sprachunterricht.

Jamie hielt den Blick auf das stille Wasser gerichtet, auf die Kräuselungen der Wellen, die über die pastellfarbene, grünblaue Fläche liefen und am Sandstrand kurz aufschäumten. Aus dieser Höhe konnte er das Rauschen der sanften Brandung kaum hören.

»Uns einen Job suchen, schätze ich.«

»An der Universität oder in der Industrie?«

»Was, zum Teufel, könnte ich in der Industrie schon tun, was ein zehn Jahre jüngerer Bursche nicht auch kann?« fauchte er und bereute es dann sofort. »An der Universität«, sagte er ruhiger. »Aber nicht hier. Ich will nicht so nah bei der Marsmission sein. Nicht jetzt.«

»Oben in Austin …?«

»Vielleicht. Oder noch besser in Kalifornien. Wahrscheinlich aber eher in Albuquerque.« Er drehte sich zu ihr um. »Ich weiß es nicht. Es ist noch zu früh.«

»Aber du gehst weg.«

»Ja. Ich glaube schon.«

Er merkte, daß sie den Schmerz zu verbergen versuchte, den sie empfand. Jamie zog sie an sich und hielt sie fest. Edith weinte nicht, aber er spürte die Anspannung, die ihren Körper zusammenschnürte. Er wünschte, sie würde weinen. Er wünschte, er selbst könnte es.

Um zwei Uhr morgens kam der Anruf.

Das Läuten des Telefons riß Jamie sofort aus dem Schlaf, aber etliche verschwommene Augenblicke lang wußte er nicht, wo er sich befand. Das Telefon klingelte erneut und mit Nachdruck. Er erkannte, daß Edith neben ihm lag. Sie bewegte sich und murmelte etwas in ihr Kissen.

Während Jamies Augen sich auf die Leuchtziffern der Digitaluhr auf der Kommode einstellten, langte er über ihren nackten Körper hinweg und hob den Hörer ab.

»Hallo.«

»James Waterman?«

»Wer will das wissen?«

»Na, hören Sie, Jamie, hier ist Antony Reed, in Star City. Haben Sie eine Ahnung, wie lange ich gebraucht habe, um Sie ausfindig zu machen?«

»Herrgott, hier ist es zwei Uhr morgens. Was wollen Sie, verdammt noch mal?«

»DiNardo ist im Krankenhaus. Eine Gallenblasenkolik. Er muß operiert werden.«

Jamie setzte sich im Bett kerzengerade auf.

»Was ist los?« fragte Edith. Sie war jetzt wach.

»Haben Sie mich verstanden?« fragte Reed. Zum ersten Mal hörte Jamie dem Engländer an, daß er aufgeregt war.

»Ja.«

»In den oberen Etagen ist die Hölle los. Brumado kommt aus den Staaten rübergeflogen, wie ich höre. Er will sich mit der Auswahlkommission und mit Doktor Li treffen.«

»Hoffmann ist also zur Nummer eins aufgerückt, und ich werde sein Ersatzmann?« fragte Jamie, überrascht von dem Zittern in seiner Stimme.

»Im Moment steht noch überhaupt nichts fest«, antwortete Reed. »Diese Fragen werden heute nachmittag oder am Sonntag erneut überprüft.«

»Was ist?« Edith war jetzt ebenfalls aufgeregt. »Haben sie ihre Meinung geändert?«

»Was immer Sie tun«, sagte Reed, »bleiben Sie in engem Kontakt mit Houston. Kann sein, daß Sie Montag hier rüberfliegen müssen. Oder vielleicht direkt zur Raumstation hinauf. Wir sollten ab morgen nach oben verfrachtet werden, aber jetzt ist alles fürs erste gestoppt.«

»Okay«, sagte Jamie mit schwankender Stimme. »Danke, daß Sie mir Bescheid gesagt haben.«

»Keine Ursache, alter Junge. Die meisten von uns hätten viel lieben Sie an Bord als diesen Musterknaben Hoffmann.«

»Danke.«

»Viel Glück!« Ein Klicken, und die Leitung war tot.

»Was ist?« fragte Edith. Sie saß neben ihm.

Jamie merkte, daß seine Hände zitterten. »Pater DiNardo ist krank geworden. Er muß operiert werden. Sieht so aus, als würde ich doch noch mitfliegen.«

»Heiliger Strohsack!« Edith sprang aus dem Bett und begann, in ihrer Schultertasche zu wühlen, die auf dem Stuhl neben den zugezogenen Vorhängen lag. Jamie betrachtete ihren schlanken, nackten Körper, als sie sich über die Tasche beugte und leise vor sich hinmurmelte.

»Ha! Ich hab ihn!«

Sie sprang mit einem handtellergroßen Kassettenrecorder in der Hand wieder ins Bett.

»Was, zum Teufel …?« fragte Jamie verblüfft.

»Das ist ein Interview am Ort des Geschehens mit dem Geologen James Fox Waterman, der, wie er soeben erfahren hat, in das Team berufen worden ist, das in zwei Monaten zum Planeten Mars fliegen wird.«

Er lachte, aber Edith meinte es anscheinend vollkommen ernst.

»Doktor Waterman, was empfinden Sie dabei, daß Sie zur ersten bemannten Expedition zum Planeten Mars gehören sollen?«

»Es macht mich geil«, platzte Jamie heraus. »Total geil.«

Er nahm ihr den Kassettenrecorder aus der Hand und legte ihn auf den Nachttisch neben ihr. Das Band war längst zu Ende, als sie wieder voneinander abließen.

2

Als er vor dem Haus seiner Eltern aus dem Taxi stieg, fiel Jamie zum ersten Mal auf, wie normal es aussah. Arm, aber vornehm — die Fassade der Universitätsprofessoren, selbst jener, die altes Geld geerbt hatten.

Ein NASA-Astronaut, der für ein schnelles Wochenende in die Bay Area heimflog, hatte ihn auf dem Rücksitz eines T-18-Düsenjägers mitgenommen. Als Jamie nun den Taxifahrer bezahlte und ausstieg, kam er sich beinahe so vor, als wäre er in eine Filmkulisse geraten. Das typische Amerika der Mittelschicht. Eine stille Vorortstraße. Schmucklose kleine Bungalows. Kinder auf Fahrrädern. Hin und her wedelnde Rasensprenger.

Als er mit seiner Nylon-Reisetasche den Weg zur Haustür hinauf ging, kam er sich ein bißchen unwirklich vor. Wie hätte Norman Rockwell diese Szene gemalt? Hallo, Mom, bin nur kurz für ein paar Stunden vorbeigekommen, um euch zu sagen, daß ich zum Mars fliege.

Bevor er zur Haustür gelangte, wartete seine Mutter dort bereits auf ihn, ein Lächeln auf den Lippen und Tränen in den Augen.

Lucille Monroe Waterman war eine kleine Frau, keck und hübsch. Sie entstammte einer alten, begüterten Familie aus New England, deren Ursprünge nach eigenen Angaben bis zur Mayflower zurückreichten. Als ihre Eltern ihr zum ersten Mal erlaubt hatten, sich westlich über den Hudson River hinauszuwagen, hatte sie den Sommer auf einer Ferienranch in den Bergen des nördlichen New Mexico verbracht. Dort hatte sie Jerome Waterman kennengelernt, einen jungen Navajo, der alles daransetzte, Lehrer für Geschichte zu werden. »Für die wahre Geschichte«, hatte Jerry Waterman ihr erklärt, »die wahren Tatsachen über die amerikanischen Ureinwohner und das, was die europäischen Eindringlinge ihnen angetan haben.«

Sie verliebten sich hoffnungslos und leidenschaftlich ineinander. So sehr, daß Lucille, die bisher kaum über einen Beruf nachgedacht hatte, ebenfalls ins akademische Leben eintrat. So sehr, daß die beiden trotz der offenkundigen Bedenken von Lucilles Eltern heirateten.

Jerry Waterman schrieb seine Geschichte der amerikanischen Ureinwohner, und sie wurde schließlich zum maßgeblichen Text auf den entsprechenden Literaturlisten von Universitäten im ganzen Land. Erfolg, Ehe, das Ruhepolster eines verläßlichen Einkommens, das isolierte Leben der akademischen Welt — all das bewirkte eine Art Reifeprozeß, und schließlich war er derart gesetzt, daß Lucilles Eltern ihn beinahe als Gatten ihrer Tochter akzeptieren konnten. Und Jerry Waterman stellte fest, daß er akzeptiert werden wollte. Es war wichtig für Lucille. Es wurde auch wichtig für ihn.

Lucille machte ihren Doktor in englischer Literatur, und dann bekamen sie ein Baby: James Fox Waterman. Das ›Fox‹ war ein alter Zuname aus Lucilles Clan mütterlicherseits. Obwohl er es nicht wissen konnte, war Jamie der Enkel, der die wahre Aussöhnung der New England-Sippe mit ihrem Navajo-Schwiegersohn zustandebrachte.

Lucille klammerte sich im Eingang ihres Hauses in Berkeley an Jamie, als ob sie ihn nie wieder loslassen wollte. Dann erschien sein Vater und lächelte gelassen hinter seiner Pfeife hervor.

Niemand hätte in Professor Jerome Waterman den hitzigen jungen Verfechter der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner wiedererkannt. Sein Haar war eisengrau und wurde so schütter, daß er es nach vorn kämmte, um seine hohe Stirn zu bedecken. Sein Gesicht zeigte, wie das von Jamie vielleicht in dreißig Jahren aussehen würde: fleischig und aufgedunsen von einem geruhsamen Leben. Brille mit dunklem Rahmen. Sporthemd mit offenem Kragen, das Herstellerlogo diskret auf die Brust gestickt. In Jerry Watermans dunklen Augen brannte kein Feuer mehr. Es war lange her, daß er in einen härteren Kampf verwickelt gewesen war als in einem Streit mit einem Dekan über die Größe der Seminare. Er hatte die Kämpfe seiner Jugend gewonnen und war seinen ehemaligen Feinden mit den Jahren ähnlicher geworden, als er sich selbst gegenüber zugeben konnte.

»Ich kann nur bis morgen bleiben«, waren Jamies erste Worte an seine Eltern.

»Am Telefon hast du gesagt, sie würden dich zum Mars schicken?« Seine Mutter wirkte eher ängstlich als stolz.

»Ich glaube ja. Es sieht so aus.«

»Wann weißt du es genau?« fragte sein Vater.

Sie gingen mit ihm in die von Büchern gesäumte Bibliothek. Ein hoher Azaleenbusch vor dem Fenster, der die Fundamente des Hauses eines Tages zu unterminieren drohte, sperrte die grelle Sonne aus.

»Am Montag, schätze ich. Sobald sie ihre endgültige Entscheidung getroffen haben, werde ich nicht mehr weg können.«

Das Haus sah noch weitgehend genauso aus, wie Jamie es in Erinnerung hatte: behaglich, unordentlich, überall Bücher und Zeitschriften, aufgepolsterte Sessel und mit Chintz bezogene Sofas mit den Abdrücken der Körper seiner Mutter und seines Vaters. Mama Bär hat ihren Sessel und Papa Bär seinen, erinnerte sich Jamie aus seiner Kindheit.

Angespannt und nervös setzte er sich auf den Rand des Sofas in der Bibliothek. Mama und Papa nahmen in ihren jeweiligen Sesseln ihm gegenüber Platz.

»Willst du wirklich fliegen?« fragte seine Mutter zum tausendsten Mal in den letzten vier Jahren.

Jamie nickte.

»Ich dachte, sie hätten sich für den Priester entschieden«, sagte sein Vater.

»Er hatte eine Gallenblasenkolik. Zuviel Wein vermutlich.«

Keiner von ihnen lächelte auch nur.

Der Nachmittag und der Abend zogen sich zäh dahin. Jamie sah, daß seine Mutter nicht wollte, daß er flog, daß sie verzweifelt nach einem Argument, einem Grund suchte, ihn in ihrer Nähe behalten zu können, wo er in Sicherheit war. Seinen Vater schien die ganze Sache zu verwirren; er freute sich, daß sein Sohn endlich einen gewissen Erfolg hatte, bezweifelte aber, ob das ganze Unternehmen wirklich sinnvoll war.

Beim Abendessen sagte sein Vater: »Ich habe mich nie zu der Überzeugung durchringen können, daß der Mars all das Geld wert ist, das wir für ihn ausgeben.«

Jamie spürte, wie ihn eine Woge der Erleichterung überlief. Es war leichter, über nationale Politik zu diskutieren, als seiner Mutter dabei zuzusehen, wie sie die Tränen zurückzuhalten versuchte.

Sie gingen das ganze Für und Wider durch, alle Argumente, die sie bei jedem seiner Besuche hin und her diskutiert hatten. Ohne Polemik. Ohne die Stimmen zu erheben oder in Wallung zu geraten. Wie bei einer Seminarübung. Während Jamie ruhig und logisch wie ein guter Debattierer die Marsfrage erörterte, erkannte er, daß sein Vater der vollendete Akademiker geworden war: Nichts berührte ihn mehr wirklich; er betrachtete alles nur noch abstrakt; nicht einmal der offensichtliche Schmerz seiner Frau, die auf der anderen Seite des Tisches saß, keinen Meter von ihm entfernt, konnte ihn aus dem bequemen Kokon herausreißen, den er um sich gewoben hatte.

Mein Gott, dachte Jamie, Dad ist alt geworden. Blutleer und alt. Ob es mir wohl auch einmal so gehen wird? Hoffentlich nicht.

Erst lange nach dem Essen, als er sich auf den Weg nach oben zu dem Zimmer machte, in dem er seit seiner Kindheit schlief, fragte seine Mutter: »Mußt du wirklich morgen schon abreisen? Kannst du nicht noch ein bißchen bleiben?«

Ich halte das keinen Tag länger aus, dachte Jamie. So sanft er konnte, erklärte er seiner Mutter: »Ich muß am Montag ganz früh im Raumfahrtzentrum sein.«

»Aber du mußt doch nicht schon so bald wieder abreisen, oder?«

Er zögerte. »Ich möchte auf jeden Fall noch Großvater Al besuchen.«

»Oh.« In der einen Silbe schwangen lebenslanger Kummer und Abscheu mit.

Sein Vater hatte ihnen zugehört und kam nun auf den Flur heraus. »Du möchtest lieber bei deinem Großvater sein als bei deiner Mutter?« fragte er scharf.

Das überraschte Jamie; es freute ihn beinahe.

»Er ist der einzige Großelternteil, den ich noch habe. Ich fände es nicht richtig zu fliegen, ohne ihm auf Wiedersehen zu sagen.«

Jerome Waterman schnaubte, sagte aber nichts mehr.

3

Jamie mußte sich mit einem Linienflug von Oakland International nach Albuquerque zufriedengeben. Al wartete am Flughafen auf ihn — mit einem gemieteten Hubschrauber samt Piloten.

»Was hast du denn vor?« fragte Jamie, als er in den kleinen Chopper mit der Glaskanzel stieg.

Al grinste breit. Sein ledriges Gesicht war eine geologische Karte des Glücks.

»Du hast nur ein paar Stunden Zeit, stimmt’s? Dachte, wir machen einen kleinen Flug rauf zur Mesa Verde, statt im Haus rumzusitzen.«

»Mesa Verde?« brüllte Jamie über das Heulen des anlaufenden Triebwerks hinweg. »Du wirst mir doch nicht mystisch, oder?«

Al lachte. »Vielleicht. Wir werden sehen.«

In den Bergen lag bereits der erste Schnee, und Jamie fror in seiner leichten Windjacke, als er und Al auf dem gut markierten Weg vom Hubschrauberlandeplatz zum Rand des Canyons marschierten.

»Ich hätte ein paar Mäntel mitnehmen sollen«, murmelte Al. Er trug eine abgenutzte alte Jeansjacke und die dazugehörige Hose.

»Ist schon okay. Die Sonne wärmt uns auf.«

Der Himmel war wolkenlos blau. Große Klumpen feuchten Schnees fielen aus den Goldkiefern und Pinien, tropften wie Eiskremkleckse herunter und platschten spritzend auf den Kiesweg. Jamies High-Tech-Reeboks wurden durchnäßt. Al trug seine üblichen strapazierfähigen und bequemen Stiefel. Und sein Hut mit der breiten, herunterhängenden Krempe schützte seinen Kopf vor dem herabfallenden Schnee. Der barhäuptige Jamie mußte die Bäume im Auge behalten und den Schneeklumpen ausweichen.

Die Luft war dünn so hoch oben. Jamie hörte seinen Großvater pfeifend atmen. Er hatte die Anasazi-Ruinen natürlich schon früher gesehen, aber aus irgendeinem Grund wollte Al, daß er sie noch einmal sah, bevor er zu einer anderen Welt aufbrach.

Sie erreichten den Kamm des hohen Berggrats, gingen ein paar Minuten lang stumm und schweratmend am Rand entlang und kamen dann aus einem Kieferwäldchen heraus.

Hinter einer Biegung des Kammes duckten sich die alten Ruinen dreißig Meter unter ihnen in eine Spalte des uralten, massiven Gesteins. Bis auf den heutigen Tag wurden die Adobeziegelbauten von dem überhängenden Felsen vor Wind und Schnee geschützt. Rotbrauner Sandstein, wie Jamie wußte. Fast dieselbe Farbe wie auf dem Mars.

»Deine Vorfahren haben dieses Dorf fünfhundert Jahre vor Columbus’ Geburt gebaut«, sagte Al leise.

»Ich weiß.«

»Wenn du zum Mars fliegst, mein Sohn, nimmst du sie mit dir. Die Alten. Sie sind in deinem Blut.«

Jamie lächelte seinen Großvater an. »Bei Gott, Al, jetzt wirst du doch noch mystisch.«

Das Gesicht seines Großvaters war vollkommen ernst. »Es ist wichtig für einen Mann, zu wissen, wer er ist. Sonst kann man nicht im Gleichgewicht sein. Man kann nicht wissen, wohin man geht, wenn man nicht weiß, woher man kommt.«

»Ich verstehe, Großvater.«

»Dein Vater …« Al zögerte. Der alte Mann hatte ihn nie als seinen Sohn bezeichnet, solange Jamie sich erinnern konnte. »Dein Vater hat all dem den Rücken gekehrt. Er wollte unbedingt von den Weißen akzeptiert werden! Er hat sich in einen Anglo verwandelt. Ich werfe es ihm nicht vor. Es ist wohl meine eigene Schuld. Ich habe ihm nicht halb soviel beigebracht wie dir, Jamie. Ich war damals zu beschäftigt mit dem Laden und allem. Ich habe mir nicht die Zeit genommen, ihn so zu erziehen, wie ich es hätte tun sollen.«

»Es ist nicht deine Schuld, Al.«

»Ich glaube schon. Ich war ihm kein so guter Vater, wie ich dir ein Großvater gewesen bin. Ich verstehe, wieso er das Gefühl hatte, den Weg einschlagen zu müssen, den er eingeschlagen hat. Aber ich möchte, daß du nicht vergißt, wer du bist, mein Sohn. Du gehst dorthin, wo noch nie einer hingegangen ist. Du wirst dich bisher unbekannten Gefahren gegenübersehen. Du wirst besser zurechtkommen, wenn du dich an all das erinnerst und es immer im Gedächtnis behältst.«

Jamie schaute zu dem alten Adobedorf hinüber, den gedrungenen Bauten mit ihren leeren Fensterhöhlen, den ummauerten Kreisen der Kivas, wo die Männer im berauschenden Rauch kostbaren Tabaks ihre religiösen Zeremonien abgehalten hatten, und nickte seinem Großvater zu.

»Ich wußte, daß du zum Mars fliegen würdest«, sagte Al. Seine Stimme brach beinahe. »Ich habe nie auch nur im geringsten daran gezweifelt.«

»Ich werde mich an das hier erinnern«, sagte Jamie. »Ich werde es in meinem Herzen bewahren.«

Al griff in die Tasche seiner Jeansjacke. »Hier«, sagte er. »Eine Gedächtnisstütze.«

Jamie sah, daß sein Großvater ihm ein behauenes, pechschwarzes Stück Obsidian in der Totemform eines zusammengekauerten Bären hinhielt. Eine winzige Pfeilspitze aus Türkis war mit einem Lederband auf seinen Rücken gebunden; unter dem Band steckte eine winzige weiße Feder.

Ein Fetisch, erkannte Jamie. Ein schützendes Stück Navajo-Zauber.

»Das ist eine Adlerfeder«, sagte Al, außerstande, seinen Ladenbesitzer stolz zu unterdrücken.

Jamie nahm den Fetisch. Er war klein in seiner Hand, aber schwer, massiv und stark.

»Ich werde ihn immer bei mir tragen, Großvater.«

Al grinste beinahe verlegen. »Geh in Schönheit, mein Sohn.«

4

Jamie kam noch Sonntag nacht nach Houston in seine Wohnung zurück und kroch emotional erschöpft ins Bett. Während er schlief, wurde in Star City, mehr als zehntausend Kilometer entfernt, über seine Zukunft entschieden.

Alberto Brumado döste in der Limousine, die ihn bei seiner Ankunft in Moskau vom Flugzeug abgeholt hatte. Er saß allein auf dem geräumigen Rücksitz, litt nach seinem Überschallflug aus Washington unter der Zeitumstellung und achtete nicht auf die Reihen hoher Wohnblocks und die tiefhängenden grauen Wolken, die sich ostwärts zur eigentlichen Steppenlandschaft Rußlands erstreckten. Über eine Stunde lang raste der Wagen auf der breiten, betonierten Landstraße dahin; der Verkehr wurde immer dünner, bis nur noch wenig mehr als hin und wieder ein schwerfälliger Sattelschlepper unterwegs war, dessen Dieselmotor rußige Auspuffwolken in die Luft hustete.

Sie passierten Kaliningrad, fuhren an Wäldern und Seen vorbei und über einen Bahnübergang, Richtung Star City.

Der wahre Name des Ortes lautet Swjostny Gorodok, wörtlich ›Sternenstadt‹. Aber bei dem ersten gemeinsamen sowjetisch-amerikanischen Raumfahrtunternehmen, der Apollo-Sojus-Mission von 1975, ist durch eine kleine Fehlinterpretation eines NASA-Übersetzers Star City daraus geworden, und so wird es von den westlichen Medien seither genannt.

Früher einmal war es eine kleine Stadt gewesen, nicht mehr als eine Handvoll Wohnblocks und ein Dutzend große Betonbauten, die das Trainingszentrum der Kosmonauten beherbergten; man hatte sie absichtlich in die kahle Einöde zwischen einem dichten Kiefernwald und einer Ansammlung kleiner Seen gestellt.

Als Alberto Brumados Wagen nun an dem Wachposten in der Umzäunung vorbeifuhr, stellte er fest, daß sie zu einer größeren Stadt herangewachsen war. Wissenschaftler und Astronauten aus aller Welt trainierten hier für den Mars. Die Medien der Welt konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf diesen Ort. Um die klaren blauen Seen herum war eine richtige Stadt mit Häusern für die im Trainingszentrum tätigen Arbeiter sowie mit Läden, Märkten und Unterhaltungskomplexen entstanden. Nah beim Haupttor des Trainingszentrums selbst stand das Raumfahrtmuseum, ein anmutig geschwungenes Betongebilde, das den Geist des Fluges einfing.

Brumado hatte das Geheimnis der Reisenden schon vor Jahren kennengelernt: Schlaf, wann immer du kannst. Als die Limousine nun vor dem großen Verwaltungsgebäude des Trainingszentrums hielt, erwachte er aus seinem Nickerchen, bereit, auszusteigen und sich seinen Aufgaben zu stellen, wach, wenn auch nicht richtig erfrischt.

Dr. Li Chengdu kam mit seinen langen Beinen beinahe die Vortreppe des Gebäudes herabgesprungen, um Brumado zu begrüßen und zu dem Büro zu führen, das die Russen ihm zur Verfügung gestellt hatten. Dr. Li trug einen teuer aussehenden kastanienbraunen und schiefergrauen Trainingsanzug. Der senkrechte weiße Streifen an den Beinen machte ihn noch größer und dünner, als er ohnehin schon war. Sein Gesicht wirkte gestresst, gräulich, ungesund. Vielleicht liegt es an diesem kastanienbraunen Oberteil, dachte Brumado. Es ist nicht gut für seine Hautfarbe. Er selbst trug noch den dunkelblauen Geschäftsanzug aus Washington. Die Krawatte hatte er schon vor Stunden abgenommen und in die Tasche seines Jacketts gestopft. Das Hemd war schlaff und zerknittert von der langen Reise.

Das Büro, in das Li ihn führte, war geräumig und mit einem großen, polierten Konferenztisch ausgestattet, sah Brumado. Gut. Und es hatte eine eigene Toilette. Noch besser. Die zweite Regel des Gewohnheitsreisenden: Geh nie an einer Toilette vorbei, ohne sie zu benutzen.

Drei Minuten später hatte Brumado seine Blase entleert, sich das Gesicht gewaschen und die Haare gekämmt. Er zog sich einen Stuhl am Konferenztisch heraus, ohne den massiven Schreibtisch und den hochlehnigen Drehsessel dahinter zu beachten. Brumado war der Ansicht, daß er hier war, um bei der Lösung eines plötzlich aufgetretenen Problems zu helfen, und nicht, um andere mit den Insignien der Macht zu beeindrucken.

Außerdem habe ich hier keine echte Macht, sagte er sich, keine Autorität über diese Männer und Frauen. Meine Stärke liegt in moralischer Überzeugungsarbeit, das ist alles.

Dr. Li marschierte in dem Büro auf und ab, von den mit Vorhängen versehenen Fenstern zum Kopfende des Konferenztisches und wieder zurück. Brumado hatte ihn noch nie so nervös erlebt.

»Bitte nehmen Sie hier neben mir Platz«, sagte Brumado milde. »Ich bekomme ein steifes Genick davon, wenn ich immer zu Ihnen aufschauen muß.«

Lis dünnes, asketisches Gesicht nahm für einen Moment einen Ausdruck der Verblüffung an, dann schaute er reumütig drein. Er setzte sich auf den Stuhl neben Brumado.

»Sie scheinen sehr aufgeregt zu sein«, sagte Brumado. »Was ist los?«

Li trommelte mit seinen langen Fingern auf den Tisch, bevor er antwortete. »Es sieht so aus, als hätten wir es mit einer waschechten Meuterei zu tun. Und Ihre Tochter, Sir, ist offenbar die Anführerin.«

»Joanna?«

»Als sich herausstellte, daß DiNardo nicht mitfliegen kann, forderten Ihre Tochter und andere, daß Professor Hoffmann ebenfalls ausgewechselt werden sollte.«

Brumado war verwirrt. So etwas würde Joanna niemals tun. Niemals!

»Ich verstehe nicht«, sagte er.

»Ihre Tochter und mehrere andere Wissenschaftler hier haben sich geweigert, an der Mission teilzunehmen, wenn Hoffmann zum Team gehört. Es ist schlicht und einfach Meuterei.«

»Meuterei«, sagte Brumado ungläubig. Er war wie betäubt und hatte das Gefühl, begriffsstutzig zu sein, als könnte sein Gehirn die Bedeutung von Lis Worten nicht erfassen.

»Wir können die endgültige Auswahl der Teilnehmer nicht bekanntgeben und auch nicht damit anfangen, den wissenschaftlichen Stab zur Montagestation im Orbit hinaufzubringen, wenn sie die Mission boykottieren.« Lis Stimme war hoch und angespannt; sie schnappte beinahe über.

Brumado hatte Li noch nie so erlebt; er schien der Panik nahe zu sein.

»Was können wir tun?« fragte Li und erhob die Hände in einer Geste der Hilflosigkeit. »Wir können Professor Hoffmann doch nicht erklären, daß er aus dem Team fliegt, weil eine Clique seiner Kollegen ihn nicht mag! Was können wir tun?«

Brumado holte tief Luft und versuchte unbewußt, Li zu beruhigen, indem er sich selbst beruhigte. »Ich glaube, ich sollte zunächst einmal mit meiner Tochter sprechen.«

»Ja«, sagte Li. »Natürlich.«

Er sprang mit seinen ganzen zwei Metern Länge von seinem Stuhl auf und sprintete beinahe zu dem Schreibtisch, wo das Telefon stand. Brumado schälte sich aus seinem Jackett und warf es auf einen anderen Stuhl. Er rollte sich gerade die Hemdsärmel hoch, als Joanna das Büro betrat. Sie trug ebenfalls einen weichen, bequemen Trainingsanzug, aber in Buttergelb und gedämpftem Orange. Brumado fragte sich müßig, was die Russen von diesem amerikanischen Modefimmel hielten.

»Ich lasse Sie beide allein«, sagte Li leise, beinahe im Flüsterton. Er verschwand aus dem Raum wie eine Rauchfahne, die von einer starken Brise verweht wird.

Joanna kam zu ihrem Vater herüber, küßte ihn auf beide Wangen und setzte sich auf den Stuhl, auf dem Li zuvor gesessen hatte.

Brumado musterte ihr Gesicht. Sie wirkte ernst, aber nicht aufgeregt. Eher entschlossen als ängstlich.

»Doktor Li sagt, du führst eine Meuterei unter den Wissenschaftlern an.« Brumado ertappte sich dabei, daß er sie bei diesen Worten anlächelte. Nicht nur, daß es ihm schwerfiel, eine solch ungeheuerliche Geschichte zu glauben — selbst wenn sie stimmte, konnte er seiner reizenden Tochter nicht böse sein.

»Wir haben gestern abend eine Abstimmung durchgeführt«, berichtete Joanna in ihrer beider Muttersprache, brasilianischem Portugiesisch. »Von den sechzehn Wissenschaftlern, die mitfliegen sollen, werden elf hierblieben, falls Hoffmann mit von der Partie ist.«

Brumado strich sich mit einer Fingerspitze über die Oberlippe, ein Rückfall in seine Jugend, als er einen üppigen Schnurrbart gehabt hatte.

»Zu den sechzehn gehört auch Hoffmann selbst. Hat er ebenfalls abgestimmt?«

Joanna lachte. »Nein. Natürlich nicht. Wir haben ihn nicht gefragt.«

»Warum?« fragte ihr Vater. »Was ist der Grund dafür?«

Sie stieß einen kleinen Seufzer aus. »Im Grunde kann keiner von uns Hoffmann leiden. Er ist ein sehr schwieriger Mensch. Wir glauben, daß es unmöglich sein wird, unter den äußerst beengten Verhältnissen der Mission mit ihm zusammenzuarbeiten.«

»Aber warum habt ihr bis jetzt gewartet? Warum habt ihr nicht schon früher etwas gesagt?«

»Wir waren der Ansicht, Pater DiNardo könnte Hoffmann unter Kontrolle halten. Hoffmann bewundert DiNardo, er blickt zu ihm auf, ihm ordnet er sich unter. Aber der Gedanke, Hoffmann ohne Pater DiNardo dabeizuhaben — und auch noch als Hauptgeologen der Mission — nun, uns ist klargeworden, daß wir das nicht aushalten könnten. Er würde unausstehlich sein. Unerträglich.«

Brumado sagte nichts. Ich fliege nicht mit ihnen ins All, dachte er. Ich werde nicht fast zwei Jahre lang mit jemandem in ein Raumschiff eingesperrt sein, den ich nicht leiden kann.

»Außerdem«, fuhr seine Tochter fort, »ist Hoffmann hauptsächlich aus politischen Gründen ins Team aufgenommen worden. Das weißt du.«

»Er ist ein ausgezeichneter Geologe«, erwiderte Brumado zerstreut. Er dachte gerade an die Schwierigkeiten, denen seine Tochter sich auf seinen Wunsch hin aussetzen würde. Zwei Jahre im All. Die Belastungen. Die Gefahren.

»Es gibt andere Geologen, die mit uns zusammen das Training absolviert haben«, sagte Joanna und beugte sich ein wenig näher zu ihrem Vater. »O’Hara kommt aus Australien. Er könnte nachrücken. Und da ist dieser Navajo-Mestize, Waterman.«

Brumados Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf einmal auf die Augen seiner Tochter. »Der Mann, der in McMurdo geblieben ist, um deiner Gruppe zu helfen, das Antarktis-Training durchzustehen.«

»Und den Gruppen nach uns. Ja, der.«

»Und O’Hara.«

»Waterman hat umfangreiche Forschungsarbeiten über Meteoriteneinschläge durchgeführt. Er hat einen marsianischen Meteoriten im Eis gefunden, obwohl Hoffmann das Verdienst dafür in Anspruch genommen hat.«

»Ist er der Mann, den ihr haben wollt?«

Sie zog sich wieder zurück. »Ich denke, er ist der Qualifizierteste, oder nicht? Und jeder schien sehr gut mit ihm auszukommen.«

»Aber er ist Amerikaner«, sagte Brumado leise. »Die Politiker wollen nicht, daß mehr Amerikaner als Russen mitfliegen. Oder umgekehrt.«

»Er ist Indianer, Papa. Das ist nicht dasselbe. Und O’Hara würde die Australier glücklich machen.«

»Die Politiker wollten Hoffmann als Vertreter Europas.«

»Wir haben schon einen Griechen, einen Polen und einen Deutschen, die Europa vertreten. Und einen Engländer auch noch. Wenn Hoffmann mitfliegt, wird es Ärger geben«, sagte Joanna fest. »Sein psychologisches Profil ist schrecklich! Wie haben versucht, mit ihm zusammenzuarbeiten, Papa. Er ist einfach unerträglich!«

»Also habt ihr abgestimmt.«

»Ja. Wir haben eine Entscheidung getroffen. Wenn Hoffmann ins Team berufen wird, werden mindestens elf von uns sofort aus dem Programm ausscheiden.«

Brumado verstummte erneut. Er wußte nicht, was er sagen, wie er mit dieser Situation fertigwerden sollte.

»Frag Antony Reed«, schlug Joanna vor. »Er hat die beste psychologische Ausbildung von allen, die für die Mission ausgewählt worden sind. Es war seine Idee, die Abstimmung durchzuführen.«

»So?«

»Ja! Ich habe das nicht alles allein gemacht, Papa. Die meisten anderen können Hoffmann ebenfalls nicht ausstehen.«

Brumado stand langsam auf und ging zum Schreibtisch. Er nahm das Telefon ab und bat den Mann, der sich meldete, Dr. Reed zu suchen. Der Engländer öffnete die Bürotür, bevor Brumado zum Konferenztisch zurückkehren konnte. Mein Gott, dachte er, sie müssen alle im Vorzimmer sitzen. Ob dieser Hoffmann wohl auch da ist?

Reed schien die ganze Sache ein wenig zu amüsieren.

»Keiner von uns kommt mit Hoffmann zurecht«, sagte er mit leisem Lächeln, als er entspannt auf einem Stuhl am Tisch Platz nahm, gegenüber von Brumado und seiner Tochter. »Offen gestanden, ich bin — und war schon immer — der Meinung, es wäre eine Katastrophe, wenn wir ihn zum Mars mitnehmen würden.«

»Aber er hat sämtliche psychologischen Tests bestanden.«

Reed zog eine Augenbraue hoch. »Das würde ein ausreichend motivierter Schimpanse auch schaffen. Aber sie würden doch nicht mit ihm im selben Käfig leben wollen, oder?«

»Ihr alle habt euch im Lauf der letzten zwei Jahre gegenseitig beurteilt!« Brumado hörte, wie sich seine Stimme mit mehr als nur einer Spur von Zorn darin hob. Er zwang sich, sie wieder zu senken. »Ich gebe zu, daß die Berichte über Professor Hoffmann nicht gerade überschwenglich waren, aber es gab keinen Hinweis darauf, daß er so unbeliebt ist.«

»Ich kann Ihnen sagen, was es mit diesen Beurteilungen auf sich hat«, erklärte Reed mit einem beinahe höhnischen Grinsen. »Niemand hat jemals seine wahren Gefühle in diesen Berichten zum Ausdruck gebracht. Nicht schriftlich. Der psychologische Druck, gute Miene zu allem und jedem zu machen, war enorm stark. Jeder von uns war sich von Anfang an darüber im klaren, daß diese Berichte ebensoviel über den Verfasser aussagen würden wie über die Person, um die es jeweils ging.«

Das hätte uns von vornherein klar sein müssen, dachte Brumado. Dies sind sehr intelligente Männer und Frauen — intelligent genug, alle Möglichkeiten zu erkennen.

»Um eine Redensart von Scotland Yard zu benutzen«, fuhr Reed fort, »wir haben begriffen, daß alles, was wir in diesen Beurteilungsformularen schrieben, als Beweismittel festgehalten und gegen uns verwendet werden konnte.«

Mit einem Kopfschütteln sagte Brumado: »Ich verstehe immer noch nicht, weshalb ihr bis zum letzten Augenblick damit gewartet habt, eure Opposition offen zum Ausdruck zu bringen.«

»Eigentlich aus zwei Gründen«, sagte Reed. »Erstens haben wir alle damit gerechnet, daß es DiNardo gelingen würde, Hoffmann unter Kontrolle zu halten. Unser guter Priester schien eine beruhigende Wirkung auf ihn zu haben — sagen wir mal, so wie der alte Hindenburg auf Hitler.«

Joanna gelang es nur mit Mühe, ein Kichern zu unterdrücken.

»Zweitens glaube ich, daß bis zu diesem Wochenende keiner von uns ernsthaft der schrecklichen Möglichkeit ins Auge geblickt hat, fast zwei Jahre auf engstem Raum mit Hoffmann zusammenleben zu müssen. Nachdem aber nun die endgültigen Entscheidungen getroffen worden waren und man DiNardo ins Krankenhaus eingeliefert hatte — nun ja, ich schätze, da hat es uns plötzlich gedämmert, daß es mit Hoffmann einfach nicht funktionieren würde.«

»Und wie erkläre ich das Professor Hoffmann?« fragte Brumado leise.

»Oh, ich wäre gern bereit, diese Aufgabe zu übernehmen«, sagte Reed sofort. »Es wäre mir fast eine Freude.«

Brumado schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Dafür sind Sie nicht zuständig.«

Er schickte Reed hinaus und bat Dr. Li wieder ins Büro.

Während Joanna noch neben ihm saß, sagte Brumado müde: »Ich glaube, wir kommen nicht drum herum. Wir müssen es Professor Hoffmann sagen.«

Li schien sich in der Zwischenzeit weitgehend beruhigt zu haben. Sein Gesicht war wieder eine Maske der Ausdruckslosigkeit.

»Es ist meine Pflicht, ihn davon zu unterrichten«, sagte Li.

»Wenn es Ihnen recht ist, werde ich es ihm erklären«, erwiderte Brumado.

Mit einem raschen Blick zu Joanna sagte Li leise: »Wie Sie wollen.«

Hoffmann sah so angespannt aus wie ein Leopard auf der Pirsch, als er das Büro betrat. Er blieb einen Moment lang an der Tür stehen und musterte Li, Brumado und Joanna mit unverhülltem Argwohn. Klein, runde Schultern, das runde Pfannkuchengesicht blaß vor Anspannung. Er trug eine ordentlich zugeknöpfte taubenblaue Strickjacke, darunter ein Hemd und eine gelb-rot gestreifte Krawatte. Seine Hose war dunkelblau, beinahe schwarz.

»Bitte«, sagte Brumado vom Konferenztisch aus, »kommen Sie herein und setzen Sie sich.«

Li stand am Ende des Tisches, so weit von der Tür entfernt wie möglich. Joanna saß immer noch neben ihrem Vater. Sie hatte sich Hoffmann zugewandt, so daß Brumado ihr Gesicht nicht sehen konnte.

Als schliche er auf Zehenspitzen durch ein Minenfeld, durchquerte Hoffmann den mit Teppichboden ausgelegten Raum, zog sich den Stuhl am Kopfende des Tisches heraus und setzte sich.

»Es ist eine Schwierigkeit aufgetaucht«, sagte Brumado. Er versuchte, entwaffnend zu lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz.

»Die sind alle gegen mich. Ich weiß.«

Brumado merkte, wie seine Augenbrauen in die Höhe gingen. »Wir müssen ans Wohl der Mission denken. Das ist unsere vornehmste Pflicht.«

Hoffmanns Gesicht verzerrte sich. »Ich bin von der Auswahlkommission ins Team berufen worden. Ich verlange, daß ihre Entscheidung aufrechterhalten wird!«

»Wenn wir diese Entscheidung aufrechterhalten, wird die Mission scheitern. Über die Hälfte Ihrer Kollegen hat sich geweigert, den Flug anzutreten. Tut mir leid, das sagen zu müssen.«

»Über die Hälfte!«

Brumado nickte.

»Das ist ein Affront gegen das gesamte österreichische Volk!«

»Nein«, sagte Dr. Li vom anderen Ende des Tisches her. »Es ist eine rein persönliche Angelegenheit. Das hat nichts mit Politik zu tun. Nur mit einzelnen Personen.«

»Ja, ich verstehe.« Hoffmann reckte einen Finger zu Joanna. »Sie will diesen Indianer bei sich haben, und deshalb soll ich rausfliegen.«

Brumado merkte, wie ihm der Mund offenstehen blieb.

»Was sagen Sie da?« fragte Joanna.

»Ich weiß sehr wohl, daß Sie und der Apache oder Navajo oder was immer er ist … daß Sie beide in McMurdo …«

»Zwischen uns ist nichts vorgefallen«, sagte Joanna scharf. Sie drehte sich zu ihrem Vater um. »Er lügt. Da war nichts …«

Brumado hob die Hand, und sie verstummte. Zu Hoffmann sagte er: »Ich sehe, daß es hier Konflikte und Spannungen gibt, die bei der Marsmission zu einer Katastrophe führen könnten.«

Hoffmann funkelte ihn an, sagte aber nichts.

»Ich weiß, es ist ein gewaltiges Opfer, aber ich muß Sie bitten, aus dem Marsteam zurückzutreten«, sagte Brumado.

»Niemals!« fauchte Hoffmann. »Und wenn Sie mich zu zwingen versuchen, werde ich den Medien in aller Welt erzählen, daß Sie mich zugunsten des Liebhabers Ihrer Tochter geschasst haben!«

Joannas Miene zeigte, daß sie fassungslos und zutiefst betroffen war. Sie brachte kein Wort heraus.

Alberto Brumado hatte die Eigenschaft, um so ruhiger zu wirken, je wütender er wurde. Zorn, der bei einem anderen in Wutanfälle oder Gewalttätigkeiten münden würde, machte ihn nur kälter, schärfer und bedächtiger.

»Professor Hoffmann«, sagte er und verschränkte die Hände auf dem Tisch wie zum Gebet, »wenn Sie von mir verlangen, daß ich zwischen Ihrer Behauptung und dem Dementi meiner Tochter wähle, erwarten Sie da auch nur einen Augenblick lang, daß ich Ihnen glaube?«

»Die beiden waren ein Liebespaar, da bin ich sicher.«

»Sie haben uns allein schon in diesen wenigen Minuten bewiesen, daß es ein katastrophaler Fehler wäre, Sie ins Marsteam aufzunehmen.«

»Ich werde bei der Auswahlkommission Beschwerde einlegen! Und mich an die Medien wenden!«

So geduldig wie ein Arzt, der die Risiken einer Operation erläutert, sagte Brumado: »Die Auswahlkommission kann und wird sich nicht über die Wünsche des Forscherteams hinwegsetzen. Und wenn Sie sich an die Medien wenden, wären wir gezwungen zu enthüllen, daß die meisten Wissenschaftler im Team Sie derart verabscheuen, daß sie sich geweigert haben, die Mission anzutreten, wenn Sie daran teilnehmen.«

Hoffmanns Nasenflügel blähten sich. Seine Augen funkelten vor Zorn.

»Ganz gleich, was geschieht, was glauben Sie, welche Auswirkungen es auf Ihren Ruf haben wird? Wie wird Ihre Universität auf einen derart üblen Leumund reagieren? Wissen Sie, wie es ist, wenn die Medien Ihnen Tag und Nacht auf den Fersen sind?«

Der Österreicher wandte den Blick von Brumado ab, schaute zu Li hinüber und hob die Augen dann zur Decke.

»Ich bitte Sie inständig«, sagte Brumado vernünftig, beschwichtigend und unbarmherzig, »Ihren Rücktritt einzureichen. Zum Wohl Ihrer Karriere. Ihrer Frau zuliebe. Der Mission zuliebe. Bitte, bitte lassen Sie nicht zu, daß Stolz oder Wut den ersten Versuch der Menschheit zunichte machen, den Planeten Mars zu erforschen. Ich flehe Sie an.«

»Wir können dafür sorgen«, sagte Li, »daß Ihre Universität die während der Mission gesammelten Bodenproben und Steine als erste analysieren darf.«

»Wir können Ihnen aber auch helfen, eine Stelle an einer Universität Ihrer Wahl zu bekommen, wenn Sie wollen«, fügte Brumado hinzu, »und Sie können die Proben dort analysieren.«

»Sie versuchen, mich zu bestechen«, knurrte Hoffmann.

»Ja«, sagte Brumado, »offen gestanden, würde ich alles tun, um diese Mission zu retten.«

»Es liegt in Ihrer Hand«, flüsterte Li beinahe.

Brumado sah, daß der Schock im Gesicht seiner Tochter einem tiefergehenden Gefühl gewichen war.

Haß, erkannte er. Er legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und spürte die Spannung, die sich in ihr zusammenballte.

»Meine Frau wollte sowieso nicht, daß ich zum Mars fliege«, murmelte Hoffmann.

»Sie können eine sehr prestigeträchtige Position bekommen«, half Dr. Li nach. »Leiter der wissenschaftlichen Analyse der Marsproben.«

»Bisher ist die endgültige Zusammensetzung des Teams nicht bekanntgegeben worden«, rief ihm Brumado in Erinnerung. »Sie werden also nicht in eine peinliche Lage geraten.«

Auf einmal liefen Hoffmann Tränen aus den Augen. »Was kann ich schon machen? Ihr seid alle gegen mich. Sogar meine Frau!«

Er barg das Gesicht in den Händen und schluchzte. Brumado wandte sich an Li. Er fühlte sich wie ein Folterknecht, wie ein Mörder.

»Ich kümmere mich um ihn«, sagte Li leise. »Bitte gehen Sie jetzt, alle beide. Und schicken Sie Doktor Reed herein, wenn er noch draußen ist. Sonst bitten Sie die Sekretärin, einen Arzt zu holen.«

Brumado schob seinen Stuhl zurück und stand langsam auf. Seine Tochter zeigte immer noch nichts als Verachtung für den schluchzenden Mann, der zusammengekrümmt am Kopfende des Tisches saß. Die Mission ist gerettet, dachte Brumado. Das ist das Wichtigste. Die Mission wird trotz dieses armen Teufels weitergehen.

5

Es war noch dunkel, als das Telefon Jamie weckte. Er kämpfte sich aus einem Traum empor, in dem Menschen aus uralter Zeit einen Turm auf dem windgepeitschten Hochplateau einer kahlen, graslosen Mesa bauten. Die Ziegel schmolzen immer wieder in der heißen Sonne, und der Turm wurde nie höher, als er selbst mit der Hand greifen konnte.

Das Telefon läutete beharrlich. Jamie schlug die Augen auf, entsann sich, daß er wieder in seiner eigenen Wohnung war — allein —, und tastete nach dem Telefon auf dem Nachttisch. Die Digitaluhr zeigte sechs Uhr sechsundzwanzig. Durch die heruntergezogenen Jalousien des Schlafzimmerfensters war keine Spur vom Sonnenaufgang zu sehen.

»Doktor Waterman?« fragte eine Männerstimme knapp.

»Richtig.«

»Dies ist eine offizielle Nachricht aus Kaliningrad. Ich bin Jegorow, Personalabteilung.«

»Ja?« Jamie war auf der Stelle hellwach.

»Sie sollen sich um acht Uhr Ortszeit im Johnson Space Center melden und Ihre Reisebefehle abholen. Sie werden unverzüglich zum Kennedy Space Center in Florida gebracht. Dort besteigen Sie die Raumfähre und fliegen zur orbitalen Montageeinrichtung hinauf.«

»Sie meinen, ich fliege zum Mars?« rief Jamie ins Telefon.

»O ja. Haben Sie das nicht gewußt? Sie sind zum Geologen des ersten Landeteams ernannt worden. Viel Glück.«

Jamies erster Impuls war, einen ohrenbetäubenden Kriegsschrei auszustoßen. Statt dessen sagte er nur: »Danke.«

Er legte auf. Mit einemmal fühlte er sich innerlich hohl und leer, als wäre er endlich durch eine Tür gebrochen, die ihm verschlossen gewesen war, und hätte festgestellt, daß dahinter nichts als leere Luft lag.

Er stieg aus dem Bett, duschte, rasierte sich, packte erneut seine vielbenutzte Reisetasche und fuhr zum Zentrum hinaus. Im Reisebüro wartete natürlich ein Team grinsender Männer und Frauen auf ihn.

»In einer halben Stunde steht eine Maschine für Sie auf dem Rollfeld bereit.«

»Was ist mit meinem Auto?« Jamie stellte plötzlich fest, daß er keine Vorsorge für den Wagen, die Wohnung, die Möbel getroffen hatte. Absurderweise fragte er sich, was er mit seinen Zeitschriften- und Zeitungsabonnements machen sollte.

»Wir kümmern uns um alle Einzelheiten. Unterschreiben Sie nur diese Formulare.«

Jamie kritzelte seinen Namen hin, ohne die Formulare zu lesen. Scheiß drauf, dachte er. Sie können den Wagen und alles andere haben. Werde ich auf dem Mars nicht brauchen!

Sie fuhren ihn zum Rollfeld. Sämtliche Mitarbeiter im Raum quetschten sich in einen grauen Station Wagon der Agentur und drückten sich an Jamie, weil sie dem Mann, der zum Mars fliegen würde, so nahe wie möglich sein wollten. Jamie hatte nichts gegen ihre Nähe, er war dankbar, daß er chauffiert wurde; er hätte sich nicht zugetraut, selber zu fahren. Allmählich packte ihn die Erregung. Der Mars. Geologe des ersten Landeteams. Der Mars.

Edith stand in Jeans und einem leichten Pullover am Eingang des Hangars. Offenkundig nicht ihre Arbeitskleidung. Er schämte sich auf einmal, daß er sie nicht angerufen hatte.

»Wie hast du’s erfahren?« fragte er, die Reisetasche in einer Hand.

Sie grinste zu ihm hinauf. »Ich habe meine Quellen. Ich bin bei den Nachrichten, weißt du.«

»Ich …« Jamie wußte nicht, was er sagen sollte. Die Mitarbeiter, die ihn hergefahren hatten, die Flughafenmechaniker — zu viele Menschen beobachteten ihn.

Ediths Grinsen wurde wehmütig. »Tja, wir haben gewußt, daß es nicht für immer sein würde. Es war aber schön mit dir.«

»Du bist der wichtigste Mensch auf der Welt für mich, Edith.«

»Aber nur auf dieser Welt. Jetzt mußt du an eine andere denken.«

»Ja.« Er lachte. Er fühlte sich unsicher und ganz schwach.

Sie schlang ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen dicken Kuß. »Viel Glück, Jamie. Ich wünsche dir alles Gute in beiden Welten.«

Ihm fiel nichts anderes ein als: »Ich komme zurück.«

»Aber sicher«, antwortete sie.

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