Die ausgewählten Teilnehmer der Marsexpedition wurden zur Montagestation hinaufgebracht, die sich in einer erdnahen Umlaufbahn knapp dreihundert Kilometer über der Erdoberfläche befand. Aus dieser Höhe war der Planet eine gewaltige, massige, unglaublich schöne Kugel, die den Himmel füllte und die Sinne mit riesigen Flächen blauer, von glänzenden weißen Wolken geschmückter Ozeane überwältigte, eine Welt voller pulsierendem Leben, die leuchtend vor der kalten schwarzen Leere des Raumes hing.
Der Mars war ein ferner, winziger Punkt in dieser Schwärze, ein lockendes, stetiges rötliches Leuchtfeuer jenseits des Welten trennenden Abgrunds.
Die Montagestation selbst — ein zusammengesetztes Habitat — bestand aus einer russischen Mir-Station und dem generalüberholten externen Treibstofftank einer amerikanischen Raumfähre, der größer war als ein Zwanzigzimmerhaus. Der Mir-Teil der Montagestation war ungefähr in der Mitte des Shuttle-Tanks an dessen langer, gekrümmter Flanke angebracht und sah aus wie eine winzige grüne Gondel an einem riesigen mattbraunen Zeppelin. Das russische Metallgebilde verfügte über drei Anlegedocks für Shuttles oder die kleineren Orbitalschlepper.
Hier würden die sechzehn ausgewählten Wissenschaftler vor ihrem Abflug zum Mars über einen Monat lang leben und arbeiten, um sich aneinander und an ihren Expeditionskommandanten, Dr. Li, zu gewöhnen. Und an die acht Astronauten und Kosmonauten, die das Marsschiff fliegen und das Kommando über die Bodenteams führen würden.
Ein paar hundert Meter von der Montagestation entfernt hingen die beiden langen, schlanken Marsschiffe inmitten von Orbitalschlepperschwärmen und dicken Shuttles in der schwarzen Leere. Sie glänzten weiß im grellen Sonnenlicht. Um sie herum schwebten winzige Gestalten in Raumanzügen, die klein wie Ameisen wirkten; sie flogen beständig hin und her und schafften Tag für Tag und Stunde um Stunde Vorräte und Ausrüstungsgegenstände zu ihnen hinüber. Verglichen mit den knolligen, mattbraunen und grünen Formen der Montagestation sahen die Marsschiffe wie schlanke Rennboote aus.
Im Orbit befand sich die ganze Ansammlung von Raumfahrzeugen und Menschen effektiv in der Schwerelosigkeit und war damit gewichtlos. Jamie spürte, wie seine Eingeweide in dem Moment wegsackten, als die Raketentriebwerke des Shuttles abgeschaltet wurden. Sein Innenohr sagte ihm, daß er fiel, unaufhörlich fiel. Doch er sah, daß er an seinem Sitz im voll belegten Mitteldeck der Fähre festgeschnallt war, in die man ihn zusammen mit fünf Technikern auf dem Weg zu einer weiteren Arbeitswoche hineingepfercht hatte. Ihre Overalls waren vom ständigen Gebrauch fleckig und ausgefranst; der von Jamie war so neu, daß er noch Bügelfalten an den Ärmeln hatte.
Alle Wissenschaftler-Kandidaten hatten während ihres jahrelangen Trainings zumindest ein paar Tage im Orbit verbracht. Jamie hatte zudem drei Flüge mit dem Vomit Comet gemacht, dem großen Düsentransporter, der Nullschwerkraft simulierte, indem er aus großer Höhe in den Sturzflug ging, dann in einem langen, parabelförmigen Bogen hochzog und dabei ungefähr eine halbe Minute Schwerelosigkeit erzeugte, bei der sich einem der Magen umdrehte. Er wußte, was ihn erwartete, und geriet nicht in Panik. Trotzdem fühlte er, wie es in seinem Magen brodelte, und sein Verstand umnebelte sich.
Jamie verspürte sämtliche klassischen Symptome der Raumkrankheit, als er den altgedienten Technikern durch die Luke des Shuttles und die engen Metallkammern der Mir in den geräumigeren Empfangsbereich des riesigen Shuttle-Tanks folgte. Sie unterschied sich ein wenig von der Seekrankheit. Er hatte ein dumpfes Gefühl im Kopf, während sich die Körperflüssigkeiten in seinem Innern frei vom Druck der Schwerkraft verlagerten. Ihm war ein wenig übel, fast schwindlig, und er fühlte sich desorientiert. Als hätte er sich eine schwere Grippe zugezogen.
Bordsanitäter nahmen ihn buchstäblich ins Schlepptau und erklärten ihn nach einer flüchtigen Untersuchung fröhlich für gesund. Sie gaben ihm ein Pflaster mit einem sich langsam freisetzenden Medikament, das er sich hinters Ohr kleben konnte, und teilten ihm mit, daß sich alle Marswissenschaftler im großen Besprechungsraum versammelten. Jamie wollte nicken, merkte, daß ihm von der Kopfbewegung speiübel wurde, und begnügte sich damit, nach dem Weg zum großen Besprechungsraum zu fragen.
Der Beschreibung folgend, bewegte er sich langsam durch den zentralen Gang, wobei er sich ohne jede Kraftanstrengung an den alle vier Wände säumenden Leitersprossen vorwärtshangelte wie ein Schwimmer, der sich am Rumpf eines gesunkenen Schiffes entlangarbeitet. Es war schwierig, an Decke und Boden zu denken, wenn Oben und Unten keine objektive Bedeutung hatten. Jamie betrachtete den Gang bewußt als einen tiefen Brunnen mit Metallwänden, den er emporstieg; in träumerischer Zeitlupe schwebte er schwerelos zum Rand hinauf.
»Ah, da sind Sie ja! Sie haben es geschafft.«
Jamie drehte sich um, als die Stimme hinter ihm erklang, und wünschte sofort, er hätte es nicht getan; sein Magen reagierte reichlich nervös.
Es war Tony Reed. Er lächelte, als wäre er in der Schwerelosigkeit geboren, und glitt so mühelos durch den Gang wie ein grinsender Delphin.
Jamie versuchte zu lächeln.
»Freut mich, Sie hier zu sehen«, sagte Reed und streckte die Hand aus, als er zu Jamie heraufkam, »obwohl Sie mir ein bißchen grün vorkommen.«
»Ich gewöhne mich schon daran«, sagte Jamie und hielt sich an einer Leitersprosse fest, während seine Füße frei im Raum schwebten.
»Aber natürlich. Wir sind alle sehr froh, daß Brumado die Chefetage dazu bewegen konnte, Sie als Geologen ins Team aufzunehmen.«
Reed setzte sich wieder in Bewegung, und Jamie stieß sich an einer Sprosse ab, um mit ihm Schritt zu halten. »Ich bin immer noch ein bißchen benommen … das ging alles so schnell.«
Mit seinem etwas schiefen Lächeln sagte Reed: »Dafür können Sie sich bei Joanna bedanken. Sie hat die Revolte gegen Hoffmann angeführt.«
»Joanna?«
»Ja. Hat sogar ihren Vater dazu gebracht, sie zu unterstützen. Sie kann eine richtige kleine Raubkatze sein, wenn sie will.«
Am Ende des langen Gangs versammelten sich weitere Personen, wie Jamie sah. Und hinter (unter?) ihnen kamen noch mehr.
Jamie senkte die Stimme und fragte: »Sie meinen, Joanna hat Hoffmanns Rücktritt erzwungen?«
»Sie war die Anführerin. Wir hatten aber alle gewissermaßen die Finger im Spiel. Als feststand, daß DiNardo nicht mitkommen würde, begriffen wir plötzlich, daß uns zwei Jahre in einer Zelle mit diesem österreichischen Zuchtmeister bevorstanden.«
»So schlimm ist er nun auch wieder nicht«, murmelte Jamie.
»Da waren die meisten von uns anderer Meinung. Und Joanna lag offenbar am meisten von uns allen daran, daß er zu Hause blieb.« Reeds Miene wurde pfiffig. »Vielleicht wollte sie auch nur, daß Sie mitfliegen. Ich bin richtig eifersüchtig, wissen Sie.«
Jamie verkniff sich eine Antwort. Sie waren den anderen jetzt zu nahe, um das Gespräch fortzusetzen. Er fragte sich, wieviel Wahrheit in Reeds Worten lag und wieviel von dem, was er gesagt hatte, eine scherzhafte Übertreibung war.
Von den Wissenschaftlern wurde nicht erwartet, daß sie in den ersten paar Tagen im Orbit irgendwelche Arbeiten verrichteten; die Missionsplaner waren davon ausgegangen, daß sie während dieser Zeit krank und nicht einsatzfähig sein würden. Aber sie konnten an Besprechungen teilnehmen. Die Psychologen behaupteten sogar, daß Aktivitäten, die eher geistige als körperliche Anstrengungen erforderten, sie von ihrem Unwohlsein ablenken würden.
Jamie folgte Reed durch eine Luke in dem Schott, an dem der lange Gang endete. Schwerelos glitt er in einen großen, freien Raum und stieg in der höhlenartigen Kammer in der Nase des ehemaligen Treibstofftanks wie eine Blase nach oben. Das kuppelartige Innere des Besprechungszentrums war mit schwarzweißen Streifen bemalt, die an der Spitze der Nase zusammenliefen. Jamie hing in der Luft, zwinkerte mehrmals und merkte, daß die ›Wand‹, durch die er gekommen war, zum ›Fußboden‹ des Besprechungszentrums geworden war.
Die überall auf der glatten Fläche angebrachten Fußschlaufen aus Plastik verstärkten diesen Eindruck.
Die schwarz-weißen Streifen boten eine starke vertikale Orientierung. Nachdem Oben und Unten nun klar festgelegt waren, ging es Jamie schon etwas besser. Er streckte eine Hand aus, als er sich einer gekrümmten Wand näherte, und stieß sich leicht zum Boden hin ab. In der Schwerelosigkeit kann jeder ein Akrobat sein, erkannte Jamie. Oder eine Balletteuse.
Allmählich versammelten sich sechzehn von Übelkeit befallene, ein wenig grün aussehende Wissenschaftler auf diesem Boden, steckten ihre Stiefel in die Fußschlaufen, neigten den Körper in der sogenannten ›Null-G-Kauerstellung‹ leicht nach vorn und ließen die Arme schwerelos auf Brusthöhe schweben. Wie am Meeresgrund sitzende Polypen, dachte Jamie, deren Arme in den Strömungen hin und her wedeln.
Dr. Li, der einen himmelblauen Overall mit Stehkragen trug, stand auf einer leicht erhöhten Plattform an einer Seite des kreisrunden Raums, obwohl er bei seiner Größe eigentlich keine Plattform benötigt hätte. Im Gegensatz zu ihm waren die meisten Astronauten und Kosmonauten, die sich um ihn versammelt hatten, ziemlich klein, sah Jamie; die meisten Flieger — sowohl Amerikaner als auch Russen — hatten die wie abgesägt wirkende Statur von Kampfpiloten.
Li war selber auch ziemlich grün im Gesicht, fand Jamie. Der Expeditionskommandant wartete ein paar Augenblicke, bis unter den versammelten Wissenschaftlern Stille eingekehrt war. Dann hob er mit seiner dünnen, hohen Stimme an: »Ob Sie es glauben oder nicht, wir durchlaufen jetzt gerade die schwierigste Phase unserer Mission.«
»Ich glaube es!« murmelte jemand laut genug, daß alle es hören und darüber lachen konnten.
»In ein paar Tagen haben wir uns an die geringe Schwerkraft gewöhnt. In ein paar Wochen steigen wir in die Marsschiffe um, die anschließend in Rotation versetzt werden, um die irdische Schwerkraft zu simulieren — und deren Rotation dann wieder verlangsamt wird, wenn wir uns dem Mars nähern, damit wir uns an die Marsschwerkraft akklimatisieren können.«
Li sah blaß und abgespannt aus. Sein Gesicht war jedoch aufgedunsener als auf der Erde, und seine Augen wirkten schmaler. Jamie kam der Gedanke, daß sie tonnenweise Nahrung sparen könnten, wenn sie bis zum Mars Schwerelosigkeit beibehielten; niemand würde dann sonderlich großen Appetit haben. Aber wir wären auch nicht in der Lage, auf dem Mars zu arbeiten, wenn wir dort sind.
»Ich werde Ihnen gleich unsere Astronauten und Kosmonauten vorstellen. Dann werden wir uns in Kleingruppen aufteilen, um uns besser kennenzulernen. Zuerst möchte ich Sie jedoch an einen sehr sensiblen und sehr wichtigen Punkt erinnern, ein Thema, das Sie alle schon einmal individuell mit den Ärzten und Psychologen erörtert haben. Es wird — wenn auch nur kurz — in den Missionsvorschriften erwähnt.«
Li holte einmal tief Luft. »Das Thema, von dem ich spreche, ist Sex.«
Alle holten Luft. Es war, als ob ein kollektiver Seufzer durch die Gruppe ginge. Jamie konnte die Gesichter der anderen Wissenschaftler nicht sehen, ohne den Kopf zu wenden, was ihm eine neue Welle der Übelkeit eintragen würde. Aber die Astronauten und Kosmonauten standen den Wissenschaftlern gegenüber, und Jamie sah ein paar grinsende Gesichter und sogar eine gerunzelte Stirn.
»Wir sind alle erwachsene Menschen«, sagte Dr. Li. »Wir haben alle einen gesunden Geschlechtstrieb. Wir werden nahezu zwei Jahre zusammenleben. Als Ihr Expeditionskommandant erwarte ich, daß Sie sich entsprechend benehmen. Wie erwachsene Menschen, nicht wie kindliche Affen.«
Niemand sagte ein Wort. Es gab kein Gelächter, kein Gekicher, nicht einmal ein Räuspern.
»Wir sind viermal so viele Männer wie Frauen. Ich erwarte von den Männern, daß sie sich vernünftig benehmen und die Ziele der Expedition über ihre privaten Gelüste stellen. Doktor Reed und Doktor Yang, unsere beiden Ärzte, haben Medikamente, die den Geschlechtstrieb unterdrücken. Sie können sich ganz privat und vertraulich an sie wenden, wenn es nötig ist.«
Jamie fragte sich, wie privat und vertraulich es unter fünfundzwanzig Männern und Frauen zugehen konnte, die fast zwei Jahre lang in zwei Raumschiffe eingesperrt sein würden.
Li ließ den Blick über die versammelten Mitglieder seiner Teams schweifen und fügte dann hinzu: »Eines möchte ich ausdrücklich klarstellen: Weder ich noch die Flugkontrolleure werden zulassen, daß sexuelle Probleme den Erfolg dieser Expedition gefährden. Wenn einer von Ihnen seinen Geschlechtstrieb nicht kontrollieren kann, muß er Medikamente einnehmen. Ist das klar?«
Und was ist mit den Frauen, hätte Jamie am liebsten gefragt. Aber er tat es nicht. Ediths Bild erschien vor seinem geistigen Auge, aber er ertappte sich dabei, wie er ganz leicht den Kopf wandte und zu Joanna hinüberschaute, die gleich links von ihm in der Reihe vor ihm stand.
»Also schön. Ich werde jetzt die Männer vorstellen, die unsere Schiffe fliegen und — sobald wir den Mars erreicht haben — unsere diversen Teams leiten werden.«
Während Li die Astronauten und Kosmonauten vorstellte, fragte sich Jamie, was passieren würde, wenn ein Mann Ärger machte und sich dann weigerte, die verordneten Medikamente zu nehmen. Was können sie tun, wenn wir Millionen von Kilometern weit draußen im All sind?
Nach den Vorstellungen teilte sich die Gruppe in kleinere Einheiten auf. Jamie gesellte sich zu seinen Wissenschaftlerkollegen und den beiden Männern, die zu ihren Piloten und Teamleitern ernannt worden waren. Sie versammelten sich an der gekrümmten Wand an einem Ende der Plattform, auf der Dr. Li stehenblieb.
Die Wissenschaftler bewegten sich vorsichtig über den mit Schlaufen versehenen Boden, wie Menschen in einem Traum oder wie Trinker, die ihre Würde und Selbstbeherrschung zu bewahren versuchten. Jamie sah, daß die Astronauten und Kosmonauten sich lässig von den Wänden oder dem Boden abstießen und ohne jede Anstrengung zu den Wissenschaftlergrüppchen hinüberglitten, die sich bildeten, um mit ihnen zu sprechen. Unverschämte Anmut, dachte Jamie. Das war eine Formulierung aus einer Geschichte, die er vor Jahren in seinem Erstsemesterkurs in Anglistik gelesen hatte. Einer der Russen schwebte über ihn hinweg und schaute mit wölfischem Grinsen auf die taumelnden, schwankenden Wissenschaftler hinunter. Unverschämte Anmut.
Jamie bemühte sich, zu Joanna zu kommen. Er gelangte neben sie und berührte sie an der Schulter ihres Overalls. Sie fuhr überrascht zusammen, erbleichte dann merklich und schlug eine Hand vor den Mund.
»Tut mir leid«, sagte Jamie mit leiser Stimme. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Joanna schluckte schwer. In ihren Augen glitzerten Tränen. »Einen Moment … es geht gleich wieder …«
»Ich wollte Ihnen nur danken, daß Sie mir geholfen haben, hierherzukommen«, sagte Jamie. »Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Immer noch blaß, erwiderte sie: »Professor Hoffmann mußte aus dem Team entfernt werden. Mit ihm wäre es auf gar keinen Fall gegangen.«
»Ich bin sehr froh, daß ich hier bin«, wiederholte Jamie. »Welche Rolle Sie auch immer dabei gespielt haben, muchas gracias.«
Sie lächelte schwach und erwiderte auf Portugiesisch: »Por que?«
Dann wandte sie sich von ihm ab und stellte sich zu der hochgewachsenen Ilona Malater, die selbst in dem schlichten beigen Overall wie eine Königin aussah. Die Wissenschaftler steckten ihre Füße mit der unbeholfenen Sorgfalt von Neuankömmlingen in die Schlaufen auf dem Boden. Der russische Kosmonaut und der amerikanische Astronaut, beide in brauner Hose und braunem Pullover, hingen mühelos vor ihnen in der Luft.
Nachdem es den vier Wissenschaftlern — einem Geologen, einer Mikrobiologin, einer Biochemikerin und einem Arzt — endlich gelungen war, in den Fußfesseln sicheren Halt zu finden, richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf den Astronauten und den Kosmonauten, die ihr Team leiten würden.
»Ich bin Mikhail Andrejewitsch Wosnesenski«, stellte sich der Kosmonaut vor. »Ich bin der befehlshabende Pilot des ersten Landeteams.« Er sprach perfekt Englisch, ohne die Spur eines Akzents, mit einer schweren Baßstimme.
Für Jamie sah er wie die Hollywood-Version eines Russen aus. Klein, massiger Rumpf und schwere Gliedmaßen, dunkles, rötlichbraunes Haar und ein fleischiges Gesicht mit heller, fast rosafarbener Haut. Er erinnerte Jamie eher an einen vierschrötigen Schauspieler, der immer den Verbrecher mimte, als an einen erstklassigen Raketenjockey. Ich muß mir seine Biographie in den Missionsakten ansehen, sagte sich Jamie. Obwohl Wosnesenskis Augen so klar, hell und blau wie ein Sommerhimmel waren, unschuldig und beinahe kindlich, lag ein mürrischer und brütender Ausdruck auf seinem fleischigen Gesicht.
»Und ich bin T. Peter Connors«, sagte der schwarze amerikanische Astronaut mit einem gutmütigen Grinsen. »Meine offizielle Position ist Pilot, Sicherheitsoffizier und stellvertretender Teamleiter.«
Connors’ Lächeln war charmant, aber seine rotgeränderten Augen schauten irgendwie wachsam und traurig drein. Er war höchstens einen Zentimeter größer als der Russe, aber viel dünner und schlanker. Im Vergleich zu Wosnesenski wirkte er nahezu schlaksig. Wie ein Vollblutrennpferd neben einem Ackergaul. Seine Stimme war nicht so tief wie die des Russen, aber volltönender, wie die eines Sängers.
»Eins möchte ich von vornherein klarstellen«, erklärte Wosnesenski den vier Wissenschaftlern beinahe knurrend. »Ich bin nicht als Ihr Freund hier. Ich habe das Kommando über Ihre Gruppe, und zwar von dem Moment an, in dem wir die Mars I hier im Erdorbit betreten, bis zu dem Moment, in dem wir in den Erdorbit zurückgekehrt sind und sie wieder verlassen. Insbesondere während der Zeit, die wir auf der Marsoberfläche verbringen, wird meine Aufgabe darin bestehen, dafür zu sorgen, daß alle Ziele der Mission erreicht werden und daß niemandem etwas zustößt. Ich erwarte, daß meine Befehle unverzüglich und ohne Widerrede ausgeführt werden. Der Mars ist kein Universitätscampus. Wir werden die ganze Zeit über militärische Disziplin aufrechterhalten. Ist das klar?«
»Vollkommen klar«, antwortete Tony Reed.
»Irgendwelche Fragen?«
Niemand sagte etwas. Niemand rührte sich auch nur. Sie standen da, mit den Fußfesseln am Boden verankert.
»Gut«, sagte Wosnesenski.
Connors setzte hinzu: »Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, können wir immer darüber reden. Wir werden über neun Monate im Transit sein. Da haben wir Zeit, den Missionsplan so genau wie möglich zu besprechen und alle Änderungen durchzukauen, die Sie vornehmen möchten.«
Die beiden spielen also guter Bulle und böser Bulle, dachte Jamie. Ich wüßte gern, ob sie das so geplant haben oder ob es einfach ihrer natürlichen Wesensart entspricht.
Die vier Wissenschaftler sahen sich unsicher an. Wosnesenski gab Connors ein Zeichen, und die beiden Piloten glitten in Richtung zur Luke davon.
»Tja«, sagte Reed, sobald sie außer Hörweite waren, »sieht so aus, als wären wir Hoffmann nur losgeworden, um uns dafür die russische Version eines waschechten Schinders einzuhandeln.«
Jamie war überrascht, wie schwer ihm die geistige Umstellung fiel. Sein Körper hatte sich innerhalb von ein paar Tagen an die Schwerelosigkeit gewöhnt. Aber es bereitete ihm immer noch Schwierigkeiten, sich klarzumachen, daß er wirklich zum Mars flog und sogar zum ersten Team gehörte.
Es half auch nicht gerade, daß alle Mitglieder der Marsmission zu niesen und zu husten begannen und ihm die Schuld daran gaben.
»Wir anderen sind über zwei Wochen lang alle miteinander in Star City eingesperrt gewesen«, erklärte ihm Tony Reed beinahe jovial. »Sie sind die Schlange in unserem Paradies; Sie haben irgendein neues Erkältungsvirus mitgebracht, an das wir noch nicht gewöhnt sind.«
Jamie fühlte sich miserabel, was eher an den anklagenden Blicken lag, die ihm seine Kameraden bei jedem Nieser mit ihren verquollenen Augen zuwarfen, als an seinem eigenen dicken Kopf und seiner rasselnden Brust.
Wie in der ersten Schulwoche, sagte er sich. Jeder kriegt alles. Aber er fühlte sich mehr denn jemals zuvor als Außenseiter. Selbst nachdem die Erkältungen ihren üblichen Verlauf genommen hatten und alle wieder gesund waren, blieb Jamie weitgehend für sich, allein und unglücklich — bis ihm einfiel, daß er ja zum Mars flog.
Raum und Zeit sind zwei Aspekte ein und derselben Sache, Dimensionen des Universums. In der Raumzeit gab es ein Schlüsselloch oder ein Fenster, wie die Ingenieure im Kontrollzentrum es nannten. Die beiden Marsfahrzeuge mußten zu einer bestimmten Zeit und in einer präzise festgelegten Richtung aus der Erdumlaufbahn starten und mit genau der richtigen Geschwindigkeit durch dieses Schlüsselloch — dieses Fenster — fliegen, wenn sie den sich bewegenden Lichtpunkt erreichen wollten, der schließlich ihr Ziel war.
Dreiundzwanzig Tage lang prüften die zwei Dutzend Männer und Frauen der Marsmission zusammen mit ihrem Expeditionskommandanten, Dr. Li, immer und immer wieder jeden Ausrüstungsgegenstand, der an Bord der langen, schlanken Marsschiffe verladen wurde. Währenddessen brachten Spezialistenteams aus Technikern und Robotern unförmige, ovoide Treibstofftanks am hinteren Ende jedes Schiffes an. Die Raumschiffe sahen damit wie dünne weiße Bleistifte mit Trauben mattgrauer Hustenpastillen am Radiergummiende aus.
Der Treibstoff war auf dem Mond hergestellt und von der luftlosen Mondoberfläche aus zu den im Erdorbit wartenden Raumschiffen katapultiert worden. Die Marsmission nahm nicht nur die Ressourcen der Erde in Anspruch, sondern auch die der Bergbau- und Verarbeitungszentren auf dem Mond.
Am vierundzwanzigsten Tag verließen alle, die zum Mars fliegen würden, endgültig die Montagestation und brachten ihre persönlichen Habseligkeiten zu den Raumschiffen hinüber. Zwölf Männer und Frauen an Bord des Habitatmoduls von Mars 1, zwölf plus Dr. Li in der Mars 2. Niemand erwähnte auch nur ein einziges Mal, daß sich dreizehn Personen an Bord der Mars 2 befinden würden. Keiner der Wissenschaftler oder Piloten würde zugeben, daß er abergläubisch war; trotzdem sprach niemand das Wort ›dreizehn‹ laut aus.
Techniker in Raumanzügen befestigten das lange Raumseil, das die beiden fertig montierten Raumschiffe miteinander verband. Es war in der Mikroschwerkraft-Umgebung einer Raumstation hergestellt worden, und ihre Reißfestigkeit war um ein Vielfaches größer als die irgendeines Materials, das auf der Erde produziert werden konnte.
Sobald sie auf dem Weg zum Mars waren, würden winzige Kaltgas-Schubdüsen in einer exakt programmierten Abfolge feuern und die Raumschiffe in eine gemessene, anmutige Kreisbahn um ein gemeinsames Zentrum versetzen. Das Seil würde sich bis auf seine volle Länge von fünf Kilometern spannen, und in den verbundenen Marsschiffen würde wieder das Gefühl normaler Schwerkraft einkehren, während das Universum draußen sich langsam an ihren Beobachtungsfenstern vorbeidrehen würde.
Ein Haufen astronomische Teleskope und Sensoren für hochenergetische Strahlung waren im Mittelpunkt der Verbindung plaziert worden, wo sie effektiv schwerelos sein und exakt auf die Ziele ausgerichtet bleiben würden, auf die sie von den Astronomen eingestellt wurden, die sie von der Erde aus per Fernbedienung steuern würden.
Andere Schubdüsen würden die Rotation der Schiffe später so weit abbremsen, daß sich die Schwerkraft in ihnen aufs Marsniveau reduzierte. Zu dem Zeitpunkt, wenn sie den Mars erreichten, würden die Forscher vollständig an die niedrige Marsschwerkraft gewöhnt sein. Auf dem neunmonatigen Rückflug nach Hause würde sich die Rotation der Schiffe dann wieder auf ein normales terrestrisches Ge beschleunigen.
Das Innere des Habitatmoduls sah genauso aus wie das Innere jedes Raumschiffes, in dem Jamie jemals gewesen war: ein zentraler Korridor, der entweder von den geschlossenen Türen der Privatkabinen oder den offenen Tischen und Geräteborden der Arbeitsplätze gesäumt wurde.
Ganz vorn lag die Kommandosektion, in der ein russischer Kosmonaut und ein amerikanischer Astronaut das Raumschiff gemeinsam steuerten. Gleich dahinter kam eine Art Passagierabteil mit Sitzplätzen für die gesamte Besatzung, das auch als informeller Salon oder Konferenzraum dienen konnte.
Beschleunigungsliegen waren nicht erforderlich. Die Raketentriebwerke, die sie zum Mars befördern würden, produzierten nur einen sehr geringen Schub; die Passagiere würden weniger von der Beschleunigung merken als beim Start einer Düsenmaschine. Der Start von der Erdoberfläche und der Aufstieg in die Erdumlaufbahn erforderten einen gewaltigen Schub, mehrere Minuten lang drei Ge und mehr. Das war alles von Raumfähren und unbemannten Frachtraketen erledigt worden. Aus dem Orbit konnte man das restliche Sonnensystem dann jedoch auf die sanfte Tour erreichen.
Ein Teil des Habitatmoduls war anders. Ein Stück der Rückwand wurde von einem rechteckigen Fenster aus dickem Quarzglas eingenommen. Sobald sie zum Mars gelangten, würde dieses Beobachtungsfenster mit Kameras und anderen Sensoren bestückt sein. Jetzt jedoch war es ein prima Aussichtsfenster.
Zur festgesetzten Stunde ihres Abflugs fand Jamie sich an diesem Beobachtungsfenster ein. Er schwebte mühelos bei null Ge in der Luft herum; seine pantoffelbewehrten Füße baumelten ein paar Zentimeter über den in den Metallboden eingelassenen Fußfesseln. Er sah die Erde vorbeigleiten, eine riesige, massive Rundung aus tiefem, leuchtendem Blau, dann das mattere Dunkelgrün des Landes und die harten grauen Runzeln einer Bergkette, bestäubt mit weißem Schnee, als hätten sich Skelettfinger in sie verkrallt. Ein weiterer Ozean schob sich ins Blickfeld. Der ungeheure Wirbel der brodelnden Wolken eines tropischen Sturms formte ein gigantisches grauweißes Komma über dem Wasser.
»Das sind die Anden.«
Joanna war geräuschlos herangeschwebt und hing nun neben ihm in der Luft. Er hatte sie nicht bemerkt, so angespannt hatte er auf die Welt hinausgeschaut.
»Na, willst du dich von Mutter Erde verabschieden?« fragte Jamie. Die meisten Wissenschaftler duzten sich mittlerweile.
»Nicht verabschieden«, flüsterte sie. »Wir kommen ja zurück.«
»Dann adios sagen.«
Sie nickte geistesabwesend, während sie die Füße in die Schlaufen am Fußboden steckte. Ihr Blick war auf die Welt gerichtet, die sie gleich verlassen würden.
»Ich kann immer noch kaum glauben, daß ich hier bin«, sagte Jamie. »Es ist irgendwie wie ein Traum.«
Joanna schaute zu ihm auf. »Wir haben eine lange und schwierige Reise vor uns. Nicht gerade ein Traum.«
»Für mich schon.«
Sie lächelte. »Du bist ein Romantiker.«
»Du nicht?«
»Nein«, sagte Joanna. »Frauen müssen praktisch denken. Männer können Romantiker sein. Frauen müssen immer die Konsequenzen im Auge behalten.«
»Start in drei Minuten«, kam eine Stimme mit russischem Akzent aus dem Lautsprecher in der Decke über ihnen. »Bitte nehmen Sie Ihre Plätze im vorderen Salon ein.«
Jamie faßte Joanna an den Schultern und gab ihr einen raschen, leichten Kuß auf die Lippen.
»Auf unser Glück«, sagte er.
Joanna befreite sich und schwebte von ihm weg. Ihr Gesicht war erstarrt; sie lächelte nicht, und ihre Augen waren groß und voller Furcht. Wortlos drehte sie sich um und hielt sich am Rand der Luke fest, dann stieß sie sich ab und schwebte durch den Gang zum vorderen Salon.
Jamie wartete einen Moment und kam ihr dann etwas langsamer nach. Er sah, daß Tony Reed im Eingang zu seiner Kabine hing, ein ironisches Lächeln auf dem hageren Gesicht.
»Ich glaube nicht, daß der direkte Weg bei der kleinen Joanna funktioniert«, sagte Reed.
Jamie schwieg. Er stieß sich an Reed vorbei und schwebte nach vorn.
Der Engländer folgte ihm. »Vielleicht habe ich Ihnen zuviel von unserem kleinen Komplott erzählt, mit dem wir Hoffmann loswerden wollten. Denken Sie daran, mein stürmischer Freund, es kann sein, daß Joanna Sie bei der Expedition dabeihaben wollte, aber sie wollte ganz sicher nicht, daß Hoffmann mitkommt.«
Jamie schaute sich um und sagte: »Weißer Mann spricht mit gespaltener Zunge.«
Reed lachte auf dem ganzen Weg bis zum vorderen Salon.
In diesem Abteil gab es keine Fenster. Falls nötig, konnten die Piloten oben im Cockpit den gesamten vorderen Teil des Raumschiffes abtrennen, auf eine Wiedereintrittsbahn bringen und damit im Meer landen. Das galt jedoch nur für einen Notfall; der Missionsplan sah vor, daß die Raumschiffe in die Erdumlaufbahn zurückkehrten und die Besatzung dort für den letzten Flug zur Erdoberfläche in Shuttles umstieg. Aber eine Wasserlandung war möglich, falls sie erforderlich werden sollte.
Jamie hatte den von den Missionsplanern verlangten Schwimmkurs nur mit Ach und Krach hinter sich gebracht. Er hätte gern gewußt, wie die sieben anderen Wissenschaftler, die sich jetzt auf ihren gepolsterten Sesseln anschnallten, bei einem solchen Notfall reagieren würden. Oder die vier Astronauten und Kosmonauten im Cockpit. Es wäre Ironie, bis zum Mars und zurück zu fliegen und dann bei der Landung zu ertrinken.
»Start in dreißig Sekunden«, kam Wosnesenskis Stimme aus dem Cockpit. »Ich lege eine Aufnahme der Außenkamera auf den Bildschirm.«
Ins vordere Schott des Abteils war ein kleiner Bildschirm eingebaut. Er flackerte kurz, dann zeigte er ein großes, gerundetes Stück der blau-weißen Erde, das sich an der Kamera vorbeidrehte. Jamie nahm den letzten verbliebenen Sitz und zurrte den Sicherheitsgurt über seinem Schoß fest, damit er nicht aus dem Sessel emporstieg. Reed hatte den Sessel neben Joanna genommen.
»Fünf Sekunden … vier, drei, zwei, eins — Zündung.«
Die Stimme des Russen war ausdruckslos und ruhig. Jamie spürte, wie ihn ein wachsender Druck gegen die Lehne des Sessels preßte. Nichts Aufregendes; er hatte Sportwagen mit stärkerer Beschleunigung gefahren. Das Bild der Erde auf dem Monitor veränderte sich nicht merklich.
Aber Wosnesenskis Stimme sagte: »Wir sind unterwegs, genau nach Plan. Die Schubaggregate von Mars 2 haben ebenfalls pünktlich gezündet.«
Eine eindeutig amerikanische Stimme fiel ihm ins Wort: »Wir sind auf dem Weg zum Mars!«
Keiner der Wissenschaftler brach in Jubel aus. Jamie hätte es gern getan, aber es war ihm zu peinlich. Ein Bild von Edith tauchte vor seinem geistigen Auge auf, das merkwürdig traurige Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht, als sie sich zum letzten Mal voneinander verabschiedet hatten. Nein, nicht zum letzten Mal, sagte sich Jamie. Ich komme zurück. Ich werde sie besuchen, wenn ich zurückkomme.
Er merkte nicht, daß Tony Reed ihn anstarrte und dabei dachte: Ich habe dafür gesorgt, daß wir diesen Musterknaben Hoffmann losgeworden sind, und weder unser Navajo-Geologe noch die hübsche Joanna haben sich dafür auch nur bei mir bedankt. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Sie interessiert sich für diesen Indianer. Solange er bei uns ist, wird Joanna mich nicht einmal eines Blickes würdigen.