SOL 24 MITTAG

Leise vor sich hinsummend, überprüfte Aleksander Mironow Jamies Tornistergerät. Die Luftschleuse des Rovers war voll, obwohl nur sie beide sich darin befanden: Mironow in seinem feuerwehrroten Anzug, Jamie in seinem himmelblauen, samt grauem Ersatzhelm für das Original mit der Meteoritenschramme.

Mironows Visier war hochgeklappt, und als der Russe in sein Blickfeld zurückgestapft kam, sah Jamie, daß er lächelte. Mironows Gesicht wirkte klobig, fast zusammengepreßt in seinem Helm, als steckte es in einem Behälter, der eine halbe Nummer zu klein war. Es war ein breitwangiges, leicht gerötetes Gesicht mit einer Stupsnase und einigen Sommersprossen, blaßblauen Augen und so blonden Brauen, daß sie kaum zu sehen waren.

»Handschuhe?« fragte Mironow.

»Hier an meinem Gürtel, Alex.« Jamie zog sie an. Die Handschuhe waren das fortschrittlichste Stück Technik der gesamten Missionsausrüstung: so dünn und biegsam, daß der Träger die Finger mühelos darin bewegen konnte und ein Gefühl für alles behielt, was er anfaßte, aber auch so zäh, daß sie die Hände vor dem Beinahe-Vakuum der Marsatmosphäre schützten.

»Visier runter«, befahl Mironow. Erst nachdem sie beide ihre Helme verriegelt hatten, drehte er sich zu den Pumpen um und startete sie.

»Sie sehen müde aus«, sagte der Kosmonaut über Anzugfunk.

Überrascht sagte Jamie zu dem goldgetönten Visier: »Mir geht es gut.«

»Sie waren gestern vier Stunden draußen, und vergangene Nacht sind Sie sehr lange aufgeblieben. Sie waren den ganzen Vormittag draußen, und jetzt gehen Sie schon wieder hinaus.«

Die Pumpen hörten auf zu arbeiten. Das Anzeigelämpchen wurde rot. Mironow stieß die Luke auf.

»Wir haben hier nur drei Tage«, erwiderte Jamie, als sie durch die Luke traten und die kurze Leiter zu dem unebenen, geschwärzten Boden hinunterstiegen.

»Sie fühlen sich schuldig wegen Patel.«

Jamie vergaß, wo er sich befand, und versuchte, im Anzug die Achseln zu zucken. Das brachte ihm nur eine frische Reizung in der Achselhöhle ein, wo der Anzug scheuerte.

»Sie dürfen sich nicht so schinden«, fuhr Mironow fort. »Wenn man müde ist, macht man Fehler. Fehler können tödlich sein.«

»Mir passiert schon nichts. Die anderen strengen sich genauso an«, sagte Jamie.

»Denen habe ich den gleichen Vortrag gehalten«, sagte der Russe. Seine Stimme klang eher enttäuscht als betrübt.

»Und?« fragte Jamie.

Mironow zeigte mit einem behandschuhten Finger zu den buttergelben und dunkelgrünen Gestalten von Patel und Naguib. »Sie haben ebensowenig auf mich gehört, wie Sie es jetzt tun.«

Patel und Naguib schlugen bereits Proben von dem dunklen Basaltstein ab, der sich vor ihnen ausdehnte, so weit das Auge reichte. Alte Lavaausflüsse, wie Jamie wußte. Pavonis Mons war immer wieder ausgebrochen, glühend heiße Magma war in alle Richtungen geströmt. Wie lange war das her? Die Proben, die sie nahmen, würden ihnen die Antwort darauf geben. Sie hatten beschlossen, diese drei kostbaren Tage am Fuß des Vulkanschildes zu verbringen und so viele Proben an so vielen verschiedenen Orten wie möglich zu nehmen, und waren übereingekommen, mit der Analyse auf der Rückfahrt zur Basis zu beginnen.

Dennoch konnte keiner der drei Wissenschaftler der Versuchung widerstehen, die gesammelten Proben zu untersuchen. Vergangene Nacht waren sie stundenlang aufgeblieben, während Mironow sie wie ein machtloser Betreuer im Ferienlager an den Missionsplan erinnert hatte, und hatten ein Dutzend Proben durch den transportablen GC/MS im Labormodul des Rovers laufen lassen.

Das Massenspektrometer verriet ihnen, daß ihre Proben aus eisenreichem Basalt bestanden und nicht mehr als fünfhundert Millionen Jahre alt waren, nach dem Mengenverhältnis von Kalium und Argon zu urteilen.

»Aber das Argon hätte ausgasen können«, warnte Jamie. »Ein gewisser Prozentsatz ist vielleicht in die Atmosphäre entwichen.«

»Gut möglich, daß ein großer Teil davon nicht mehr da ist«, stimmte Naguib ihm zu.

»Das heißt, die Proben könnten viel älter sein«, meinte Jamie.

Patel, der Jamie immer noch nicht in die Augen schaute, sagte zu dem Ägypter: »In der Basis, wo wir die Proben im Atomreaktor bestrahlen können, werden wir aussagekräftigere Tests durchführen.«

Naguib nickte. »Ja. Wenn die Ferngreiferanlage funktioniert. Sie war kaputt …«

»Pete sagt, er repariert sie, bis wir zurückkommen«, sagte Jamie.

»Astronaut Connors!« schnaubte Patel beinahe. »Er fliegt die ganze Zeit das RPV, statt sich um seine Wartungsaufgaben zu kümmern.«

»Pete wird die Steueranlage repariert haben, wenn wir zurückkommen«, beharrte Jamie.

Schließlich klappten sie ihre Liegen herunter, um sich schlafenzulegen: Patel und Naguib oben, Mironow und Jamie unten. Jamie schlief rasch ein, wurde dann allerdings von einem wimmernden, beinahe schluchzenden Laut von oben wieder geweckt. Einer von ihnen hat einen Alptraum, erkannte er. Er drehte sich mit dem Gesicht zur gekrümmten Wand des Rovers und schlief wieder ein. Sein letzter bewußter Gedanke war, daß sich die Metallhülle des Fahrzeugs kalt anfühlte; draußen wartete die eisige Marsnacht, nur ein paar Zentimeter entfernt.


* * *

Beim Frühstück kamen sie überein, daß es taktisch am klügsten wäre, wenn sie sich an der Linie aus Spalten und Schlundlöchern entlang vorarbeiteten, die an einer Flanke des massiven Vulkans aufwärts verlief. Sie würden den sanft ansteigenden Hang des Schildes so weit hinaufgehen, wie sie konnten, und Mironow würde mit dem Rover hinter ihnen herfahren, damit sie die in den Missionsvorschriften festgelegte sichere Rückkehrdistanz nicht überschritten.

Diese Vulkane sitzen alle drei genau auf dieser großen Verwerfungslinie, sagte sich Jamie, während er angestrengt auf den harten schwarzen Basalt einhackte. Er schaute zum Rover zurück und sah, daß Mironow eine weitere Bake in den Boden pflanzte. Es war keine leichte Arbeit; dies war echtes Felsgestein, nicht der verdichtete Sand, den sie in der Umgebung ihrer Kuppelbasis vorgefunden hatten. Die dünne, rötliche Staubschicht, die das Gestein bedeckte, ließ sich leicht wegwischen. Jamie fragte sich, weshalb der Wind sie nicht ganz abtrug.

Im Innern seines Raumanzugs spürte Jamie keinen Wind, und am lachsfarbenen Himmel waren keine Wolken, an denen man Luftbewegungen ablesen konnte. Doch die meteorologischen Meßinstrumente ihrer Baken zeigten an, daß eine ziemlich stetige Brise mit einer Windgeschwindigkeit von über sechzig Stundenkilometern den langen, allmählich ansteigenden Hang zum fernen Gipfel des Vulkans hinauf wehte. Bei Nacht kehrte sich die Windrichtung um, und die Windgeschwindigkeit sank auf etwas mehr als dreißig Stundenkilometer.

Sechzig Stundenkilometer wären auf der Erde eine steife Brise, wie Jamie wußte. Aber in der dünnen Marsluft hatte der Wind keine Kraft; sie reichte nicht einmal, um die letzte Sandschicht von den Felsen zu blasen.

Jamie stützte die Hände auf die Knie und ließ sich eine Weile vom Anzuggebläse abkühlen. Durch die harte Arbeit hatte sich sein Visier beschlagen. Er wartete ab und ließ den Blick über die kahle Steinwüste schweifen, die sich überall um sie herum erstreckte. Toter Fels, so zerklüftet und nackt wie die schlimmsten Badlands, die er in New Mexico je gesehen hatte. Öde und von Meteoritenkratern zernarbt, die manchmal so groß waren wie ein Football-Feld, meistens aber nicht mehr als Dellen, wie sie ein Hammer in die Motorhaube eines Autos schlagen würde. In der erstarrten Lava waren Risse — Schlote und Spalten, die sich von einem Kraterloch zum nächsten schlängelten. Der Boden stieg fast unmerklich zu der hohen Caldera des Vulkans an, die so weit entfernt war, daß sie sich ein gutes Stück hinter dem Horizont befand.

Seltsamerweise lagen nicht allzu viele Gesteinsbrocken herum. Der geschmolzene Basalt mußte sie hangabwärts geschoben haben. Jamie stellte sich die schwarze Steinfläche, auf der er stand, in einem früheren Stadium vor: ein breiter, wogender Strom glutheißer Lava, die aus diesen Schloten quoll, träge zur Ebene hinabfloß und dabei die Steine in ihrem Weg schmolz oder plattwalzte.

Längs dieser Verwerfungslinie muß Wärme aus dem Innern heraufkommen, folgerte Jamie. Geschmolzene Magma, die hin und wieder austritt, diese gewaltigen Kegel schafft, sich dann aus ihnen ergießt und die Schilde formt. Aber wie steht es dann mit Olympus Mons, rund fünfzehnhundert Kilometer nordwestlich? Er liegt allem Anschein nach nicht auf einer Verwerfung. Aber er ist wahrscheinlich jünger als diese drei Schönheiten. Könnte es in der Tiefe eine heiße Stelle geben, die Pavonis und seine beiden Gefährten geschaffen hat, dann nach Nordwesten gewandert ist und dort Olympus hervorgebracht hat?

Jamie merkte, daß ihm der Rücken wehtat, weil er sich in dem schwerfälligen Anzug so unbeholfen vornüber beugte. Er richtete sich auf und fragte sich, ob es auf dem Mars eine Plattentektonik gab, wie auf der Erde. Wahrscheinlich nicht; der Planet ist so klein, daß sein Kern unmöglich genug Wärmeenergie besitzen kann, um ganze Kontinente aus Mantelgestein zu verschieben. Aber für die Erschaffung dieser drei Vulkane hat die Wärmeenergie ausgereicht. Wo ist sie hergekommen? Fließt sie immer noch?

Er schaute hangaufwärts. Sein Blick folgte der zerklüfteten, dunklen Landschaft, die zum rosafarbenen Himmel emporstieg. Wann hast du zum letzten Mal gerülpst, Pavonis, mein Freund? Bist du vollständig erkaltet, oder wirst du eines Tages wieder Lava über diesen Boden speien?

Auf einmal schreckte ihn eine abrupte Bewegung im Augenwinkel auf. Als er das Gesicht dorthin gedreht hatte, war nichts mehr zu sehen. Ein Schatten, der über den Boden gehuscht war? Wie der eines Vogels, der über sie hinwegflog …?

Jamie schaute nach oben und sah den silbrigen Punkt des Schwebegleiters hoch oben in der Sonne glitzern. Sein Herz klopfte von dem plötzlichen Adrenalinstoß. Er kam sich töricht vor. Da oben kreisen keine marsianischen Falken; es ist bloß Pete Connors, der die Pavonis-Caldera fotografisch vermessen will. Hoffentlich macht es Patel glücklich.

»Stimm-Check.« Mironows jungenhafter Tenor in seinem Kopfhörer ließ Jamie zusammenfahren. Er blickte sich um und sah, daß sein Schatten lang über dem Boden lag. Die Sonne näherte sich dem Horizont.

»Patel hier.«

Der Rover parkte rund hundert Meter weiter unten am Hang zwischen einem Meteoritenkrater, der doppelt so groß war wie er, und einer zickzackförmigen Spalte, die einmal ein Lavaschlot gewesen sein mochte. Du hast recht gehabt, Rava, sagte Jamie im stillen. Diese Vulkane haben uns so viel zu erzählen, und wir werden nicht lange genug hier sein, um ihre Geschichte auch nur ansatzweise zu verstehen.

»Waterman, alles in Ordnung«, sagte Jamie. Die Stimm-Checks gehörten zur normalen Sicherheitsprozedur, wenn die Wissenschaftler außerhalb des Blickfelds des für das Team verantwortlichen Astronauten oder Kosmonauten waren. In diesem zerklüfteten Gelände konnte Mironow seine drei herumwandernden Teamkameraden unmöglich alle im Auge behalten.

Ein langes Schweigen.

»Naguib?« In Jamies Kopfhörer klang Mironows Stimme scharf. »Doktor al-Naguib, Stimm-Check bitte.«

Keine Antwort.

»Doktor al-Naguib?«

»Er war bei der Spalte da drüben.« Patel zeigte weiter hangaufwärts. »Vielleicht blockiert dieses Gelände die Funkwellen.«

Jamie hörte ein leises, gutturales Gemurmel, als Mironow auf Russisch fluchte. Er folgte dem ausgestreckten Arm von Pateis gelbem Anzug mit dem Blick und rief in sein Helmmikrofon: »Schauen wir mal nach, Rava. Vielleicht steckt er in Schwierigkeiten.«

»Nein, ich glaube nicht …«

»Bleiben Sie, wo Sie sind. Es ist meine Aufgabe, ihn zu suchen«, rief Mironow. »Ich will nicht, daß noch einer von Ihnen verschwindet.«

Aber Jamie marschierte bereits so schnell hangaufwärts, wie es in dem harten Anzug ging. Die Steigung war gering, und seine Stiefel gaben ihm guten Halt, aber der zerklüftete Boden war heimtückisch.

»Rava«, rief er, »wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

Der buttergelbe Anzug hatte sich nicht bewegt. »Rechts von Ihnen«, antwortete Pateis Stimme. »Vielleicht zwanzig oder dreißig Meter weiter oben.«

Jamie umrundete eine konische Vertiefung, einen Meteoriteneinschlag, der im Vergleich zu den verwitterteren Kratern, die den Boden sprenkelten, geradezu funkelnagelneu wirkte. Er sah einen Riß, der sich durch das schwarze Gestein schlängelte. Er war so breit, daß man durchaus hineinfallen konnte. Wie tief?

Sehr tief, sah er, als er sich unbeholfen vorbeugte und hineinschaute. So schwarz und tief wie die Hölle. Er schaltete seine Helmlampe ein, aber der Strahl fiel nur matt in den senkrechten Spalt.

»Doktor Naguib?« rief er.

Keine Antwort. Wenn er in dieser Spalte steckt, müßte er mein Funksignal hören können, sagte sich Jamie. Falls er bei Bewußtsein ist. Und am Leben.

»Bleiben Sie stehen!« rief Mironow. »Ich komme. Ich habe die Peilantenne dabei.«

Erst als Jamie sich ganz umdrehte, sah er den Russen in seinem Feuerwehranzug mit großen Sätzen auf sich zukommen. Er hatte einen schwarzen Kasten von der Größe eines tragbaren Fernsehers in einer behandschuhten Hand. Patel stand immer noch wie erstarrt an derselben Stelle; er hatte keine andere Bewegung gemacht, als den Arm sinken zu lassen.

Die Peilantenne wird uns nicht viel nützen, dachte Jamie. Wenn weder Naguib uns hören kann noch wir ihn, dann fängt auch die Peilantenne kein Funksignal auf.

»Er muß auf der anderen Seite dieser Spalte sein«, rief Jamie Mironow zu, wobei er unbewußt die Stimme hob, als müßte er schreien, um die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken.

Bevor Mironow etwas erwidern konnte, trat Jamie ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang über die Spalte. Bei der geringen Schwerkraft war das leicht, sogar mit dem unhandlichen Anzug, der ihn belastete.

»Warten Sie!« brüllte Mironow. »Ich befehle Ihnen zu warten!«

Jamie ging noch ein paar Schritte weiter und ließ seinen Blick so weit hin- und herschweifen, wie es der Helm erlaubte. Er ist irgendwo hier oben. Er muß hier sein. Irgendwo, wo wir ihn nicht sehen können. Wo wir keinen Funkkontakt mit ihm aufnehmen können. Das bedeutet …

Links von ihm schien der unebene Boden plötzlich aufzuhören, als würde er steil abfallen. Jamie ging dort hinüber. Er hörte Mironows keuchenden Atem in seinem Kopfhörer.

»Hier entlang, glaube ich«, rief Jamie und ging auf die Spalte zu. Es war eine Runse, sah er, eine ziemlich steile Talrinne.

Und dort lag Naguib, mit dem Gesicht nach unten, am Fuß einer zehn Meter hohen Felswand. Die Runse — ein zerklüfteter, unregelmäßiger Graben, der in den festen Basalt gekerbt worden war — hatte einen Durchmesser von ungefähr zwanzig Metern. Naguibs dunkelgrüner Raumanzug lag lang hingestreckt und mit gespreizten Beinen an ihrem Grund wie ein kaputtes, weggeworfenes Spielzeug. Er bewegte sich nicht.

»Er ist hier!« rief Jamie und drehte sich so weit um, daß er Mironow über die Spalte segeln sah. »Kommen Sie her. Wir brauchen ein Seil, eine Leine.«

Vorsichtig begann Jamie, die Steilwand hinunterzuklettern. Sie lag vollständig im Schatten, weil die Sonne zum Horizont sank, aber es war noch hell genug, daß er Vorsprünge und kleine Spalten sah, an denen er mit Händen und Füßen Halt finden konnte.

Er hörte, wie Mironow Patel zurief: »Laufen Sie zum Rover zurück und holen Sie die Kletterwinde.« Die Funkstimme wurde merklich leiser, sobald Jamies Helm unter den Rand der Talrinne tauchte.

Es schien eine Stunde zu dauern, bis er sich zu dem Ägypter hinuntergearbeitet hatte. Auf der Talsohle war es dunkel; er benötigte seine Helmlampe, um auf den letzten Metern etwas zu sehen.

In seinem Kopfhörer hörte er Naguib jedoch rauh atmen. Er lebt. Sein Anzug ist nicht kaputtgegangen.

Endlich kam er bei dem Geophysiker an. Sein Tornistergerät war arg zerbeult. Im Licht von Jamies Helmlampe war schwer zu erkennen, wie stark es beschädigt war.

»Lebt er?« Mironows Stimme war so laut, daß Jamie zusammenfuhr.

»Ja. Wir brauchen eine Leine, um ihn hochzuhieven.«

»Schon unterwegs.«

Langsam und vorsichtig drehte Jamie Naguib auf den Rücken. Der verdammte Helm war ebenfalls verbeult, wie er sah. Er spähte in die Sichtscheibe, wischte den roten Sand weg, mit dem sie beschmiert war. Naguibs Lider flatterten. Sein Gesicht schien blutbeschmiert zu sein. Er hustete.

Jamie warf einen Blick auf die Kontrollinstrumente an Naguibs Handgelenk. Lieber Himmel, er hat keine Luft mehr! Er muß da drinnen seine eigenen Ausdünstungen einatmen.

Mit den automatischen Reaktionen, die von langen Stunden des Trainings herrührten, griff Jamie rasch an die Seite seines eigenen Tornisters und riß den Notluftschlauch los. Er schaute auf die Anzeigeinstrumente an seinem Handgelenk. Nicht mehr viel übrig; wir sind alle so verdammt lange draußen gewesen, daß die Filter des Luftaufbereiters weitgehend aufgebraucht sind.

Er steckte das freie Ende des Schlauches in die Notbuchse an Naguibs metallenem Kragenring, drückte auf den Auslöser und ließ Luft aus seinem Tank in Naguibs zerbeulten Helm strömen.

Der Ägypter tat einen tiefen, seufzenden Atemzug. Sein ganzer Körper bog sich leicht durch. Dann hustete er.

»Immer sachte«, sagte Jamie. »Immer sachte. Nur die Ruhe, dann kommt alles wieder in Ordnung.«

Naguib hustete wie jemand, der zu lange unter Wasser gewesen war, und brachte dann matt heraus: »Waterman? Sie?«

»Ja. Alex und Rava bauen gerade die Winde auf. In ein paar Minuten haben wir Sie hier rausgeholt.«

»Ich … bin ausgerutscht. Als ich abgestiegen bin … hat der Fels nachgegeben, und ich bin hinuntergefallen.«

»Können Sie sich aufsetzen?«

»Ich glaube schon.«

Jamie half ihm behutsam, den Oberkörper aufzurichten. Wegen des harten Anzugs war das, als würde man ein steifes Stück Plastikrohr umbiegen.

»Wie geht es Ihnen?« Jamie hörte nichts von Mironow und Patel; er vermutete, daß die beiden auf eine andere Funkfrequenz gegangen waren.

»Ich glaube, meine Nase ist gebrochen. Ich kann nicht durch sie atmen.«

»Rippen? Arme, Beine?«

Naguib schwieg einen Moment lang, dann sagte er: »Alles andere scheint in Ordnung zu sein. Ich glaube, ich kann jetzt aufstehen.«

»Noch nicht. Entspannen Sie sich.« Jamie schaute nach oben und sah, daß das Stück Himmel über der Runse noch hell war. Da oben war es immer noch Tag, obwohl die Nacht innerhalb von Minuten über sie hereinbrechen konnte, wie er wußte.

Keine gute Idee, im Dunkeln mit einem Verletzten hier draußen zu sein, sagte er sich und tippte auf die Kontrolltasten seines Funkgeräts. Aus seinem Kopfhörer brach Mironows knurrendes, grollendes Russisch über ihn herein, als dieser sich abmühte, die Winde am richtigen Platz aufzustellen.

»Alex«, rief er. Die Stimme des Kosmonauten verstummte sofort, obwohl Jamie ihn im Kopfhörer keuchen hörte. »Doktor Naguib scheint nichts weiter zu fehlen, außer daß er sich bei seinem Sturz vielleicht die Nase gebrochen hat. Aber sein Luftaufbereiter ist kaputt. Ich teile meine Luft mit ihm.«

Stille. Dann Pateis Stimme, hoch und ängstlich. »In unseren Luftaufbereitern ist auch nicht mehr viel. Wir waren den ganzen Nachmittag draußen.«

»Wir schaffen es schon«, sagte Mironow. »Wir teilen alle unsere Luft, sobald wir euch beide wieder hier oben haben.«

Das Windenkabel schlängelte sich zu ihnen herab. Das Klettergeschirr hing wie eine leere Weste daran. Jamie legte es Naguib um die Schultern und schloß die Gurte.

Der Ägypter sagte: »Mein Szintillationsdetektor … er hat angefangen zu blinken … kann sein, daß diese Runse eine Uranader freigelegt hat.«

»Sind Sie deshalb heruntergeklettert?« fragte Jamie, während er die Gurte festzurrte.

»Ich bin losgeklettert … und dann bin ich abgestürzt. Ich muß ohnmächtig geworden sein.«

»Das wird schon wieder. Sparen Sie sich jetzt Ihren Atem. Sie brauchen nicht zu sprechen. Warten Sie, bis wir wieder im Rover sind.«

Langsam zogen die beiden Männer am oberen Rand der Runse den Geophysiker in dem grünen Anzug zu sich herauf. Jamie hörte, wie Mironow Patel befahl, Naguib etwas von seiner Luft abzugeben, während der Russe das Geschirr wieder herunterließ. Jamie legte es rasch um, rief, er sei fertig, und ließ sich vom Motor der Winde nach oben ziehen.

Dann machten sie sich auf den mühsamen Rückweg zum Rover. Jamie trug die Winde, Mironow und Patel stützten Naguib. Jetzt gab ihm der Russe etwas von seiner Luft ab, sah Jamie.

Die Sonne streifte den Horizont, als sie die Spalte erreichten, über die sie alle zuvor gesprungen waren. Im Osten war der Himmel bereits so dunkel, daß dort Sterne funkelten.

»Wir könnten drum herum gehen«, schlug Patel vor. Es klang, als wollte er, daß man ihm widersprach.

»Das würde zu lange dauern«, sagte Mironow. »Die Spalte ist viele Kilometer lang. Wir müssen hinüberspringen.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte Naguib.

»Wir halten Sie an den Armen«, antwortete Mironow, »und dann springen wir alle drei gemeinsam. Bei dieser Schwerkraft wird das nicht schwierig sein.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, wiederholte Naguib. »Meine Beine …«

Jamie sah, daß Patel Naguibs Arm losgelassen hatte und langsam, fast verstohlen an der Rand der Spalte getreten war. Mironow teilte seine Luft mit dem Verletzten. Jamie stellte die Winde ab und trat an die andere Seite des Ägypters. Er ergriff Naguibs freien Arm und legte ihn sich um die Schultern.

Leise sagte er: »Sie haben uns in diese Situation gebracht; jetzt müssen Sie uns helfen, auch wieder herauszukommen.«

Patel erhob Einwände, aber er hörte, wie Naguib tief in der Kehle gluckste. »Sie haben recht. Sie haben nur allzu recht, James. Ich werde mein Bestes tun.«

Jamie lächelte in seinem Helm. »Gut. Es dürfte gar nicht so schwer sein. Kommen Sie, Alex, gehen wir ein bißchen zurück und nehmen ordentlich Anlauf.«

Patel sprang als erster, ohne etwas zu sagen. Dann versuchten Jamie und Mironow, Naguib über die Spalte zu tragen. Ihr erster Versuch wäre fast in einer Katastrophe geendet. Naguib nahm anders Anlauf als sie, und bei dem Versuch abzubremsen, bevor sie den Rand erreichten, fielen sie alle drei beinahe hin. Jamie hörte, wie Mironow Verwünschungen in sich hineinmurmelte; Naguib keuchte ängstlich. Der Luftschlauch des Russen sprang aus Naguibs Kragen, und Jamie steckte seinen hinein.

Jamie erinnerte sich vage an einen Mythos über Vögel, die einem Navajo-Helden halfen, einen unpassierbaren Abgrund zu überqueren. Oder war er über einen Regenbogen gegangen? Wir könnten jetzt ein bißchen Hilfe brauchen, sagte er sich.

Es war nur noch wenig Tageslicht übrig. Die Kälte der Nacht sickerte Jamie bereits in die Knochen, und er wußte, daß Naguib noch steifer sein und noch mehr frieren mußte.

Sie traten wieder zurück, und Mironow erklärte ihnen, daß sie mit dem linken Fuß starten und im Gleichschritt weiterlaufen sollten. »Ich werde bis vier zählen«, sagte er.

»Odin … dwa … tri … cetyre«, zählte Mironow vor. »Odin … dwa …«

Sie segelten wie ein Trio gepanzerter Nilpferde über die Spalte hinweg und landeten rutschend und schlurfend in einer roten Staubwolke auf der anderen Seite. Es gelang ihnen mit Müh und Not, sich auf den Beinen zu halten.

»Besser als das Bolschoi-Ballett!« strahlte Mironow, als sie zum Rover gingen. Sie stützten Naguib immer noch von beiden Seiten.

»Schade, daß wir’s nicht gefilmt haben«, scherzte Jamie.

Naguib sagte nichts. Patel war ein Stück voraus. Seine eingeschaltete Helmlampe warf eine Lichtpfütze auf den dunklen Boden, während er eilig auf den Rover zusteuerte, um sich in Sicherheit zu bringen.

Sobald sie die Luftschleuse passiert hatten, setzten sie Naguib auf eine der Bänke und halfen ihm aus seinem Anzug. Dann säuberte Jamie das blutige Gesicht des Ägypters, während Patel die Anzüge absaugte und Mironow ins Cockpit ging, um der Basis Bericht zu erstatten.

»Ich glaube nicht, daß Ihre Nase gebrochen ist«, sagte Jamie. »Sie blutet nicht einmal mehr.«

»Ich habe sie mir am Visier angestoßen, als ich gestürzt bin«, sagte Naguib.

»Sie hätten ums Leben kommen können«, meinte Patel. Seine großen Augen waren ernst.

Naguib lächelte schwach. »Ich war nie sonderlich gut bei der Arbeit im Gelände.«

Mironow kam zurück. Er lächelte nicht; seine Miene war grimmig. »Reed will mit Ihnen sprechen«, sagte er zu dem Ägypter. »Er wird Ihnen Medikamente verschreiben.«

Jamie bot ihm an, ihm ins Cockpit zu helfen, aber Naguib stand aus eigener Kraft mit wackligen Beinen auf. »Ich schaffe es schon«, sagte er. »Ich glaube, Sie haben recht — es ist nichts gebrochen.«

Wortlos ging Patel in die Kombüse und holte sich eine Schale mit Abendessen heraus. Mironow sah ihm mit finsterer Miene nach.

»Kein Grund, sich zu ärgern, Alex«, sagte Jamie zu dem Kosmonauten. »Abdul geht es gut. Er hat nur eine blutige Nase, das ist alles.«

Mironow schnaubte und warf Patel einen zornigen Blick zu.

Reed bestätigte, daß Naguibs Nase wahrscheinlich nicht gebrochen war, und die vier Männer zogen den Klapptisch heraus und setzten sich zum Essen.

»Wir haben nur noch zwei Ersatztornister dabei«, knurrte Mironow, während sie aßen. »Bitte seien Sie morgen vorsichtiger.«

»Ich dachte, auf dem Boden dieser Spalte sei vielleicht eine freiliegende Uranader«, sagte Naguib als Erklärung und Entschuldigung zugleich. »Mein Szintillationsdetektor hat hohe Strahlungswerte registriert.«

»Uran?« Patel griff die Idee auf. »Wenn es uns gelänge, das Mengenverhältnis von Uran und Blei zu bestimmen, dann könnten wie das Alter des Lavafeldes mit großer Genauigkeit feststellen.«

Jamie sagte: »Wir haben nirgends irgendwelche brauchbaren Mengen radioaktiver Stoffe gefunden.«

»Irgend etwas ist dort unten, auf dem Boden der Runse«, sagte Naguib.

»Dann müssen wir morgen noch einmal hin und ein paar Proben nehmen«, sagte Jamie.

Mironow zog seine fast unsichtbaren Augenbrauen hoch. »Noch einmal hin?«

»Mit der Winde, Alex«, sagte Jamie. »Und wir können sogar die ausziehbare Leiter über die Spalte legen, über die wir springen mußten.«

Der Russe sagte nichts, sondern sah Patel über den Tisch hinweg an.

»Dann also abgemacht«, schloß Jamie. »Rava und ich gehen morgen noch einmal hin und holen Proben vom Boden der Runse.«

Mironow schob sich abrupt hinter dem Tisch hervor und machte sich auf den Weg nach vorn ins Cockpit. Sie starrten auf seinen Rücken, als er sich entfernte.

Patel zwinkerte mehrmals und führte das Gespräch dann weiter, als ob nichts passiert wäre. »Das Mengenverhältnis von Blei und Uran könnte uns eine absolute Zeitangabe für dieses spezielle Segment des Lavastroms liefern …«

»Entschuldigt mich.« Jamie schob sich aus der Bank und stand auf. Patel unterhielt sich weiter mit Naguib.

Mironow saß auf dem Fahrersitz. Seine Finger huschten über die Kontrolltafel. Er checkte alle Systeme des Rovers. Jamie glitt auf den Sitz neben ihm.

»Was ist los, Alex?«

Der Russe holte tief Luft. Hinter sich hörten sie Patel weiterpalavern.

»Ihr Kollege hätte Naguib dort draußen sterben lassen, wenn es nach ihm gegangen wäre.«

»Was? Rava?«

»Ich habe ihm befohlen, die Winde zu holen. Er hat sie bis zur Spalte gebracht, wollte aber nicht drüberspringen. Er hat das Gerät über die Spalte geworfen und sich dann auf den Rückweg zum Rover gemacht.«

Jamie verstummte und verdaute die Information. Rava muß in Panik geraten sein, sagte er sich. Und Alex ist höllisch sauer auf ihn.

»Aber hinterher ist er doch gesprungen«, sagte Jamie endlich. »Er ist herübergekommen und hat uns geholfen.«

»Nachdem ich ihm gedroht hatte, ich würde ihm jeden Knochen im Leib brechen«, knurrte Mironow.

»Ich mußte ihn zwingen, Naguib etwas von seiner Luft abzugeben.«

»Er muß verdammt viel Angst gehabt haben«, sagte Jamie.

»Auf ihn ist kein Verlaß. Nicht in einem Notfall. Ich werde nicht zulassen, daß Sie allein mit ihm hinausgehen.«

Jamie zuckte die Achseln. »Dann werden Sie mitkommen müssen, Alex. Wenn in dieser Talrinne wirklich eine Ader mit Uran ist — oder irgendeinem anderen radioaktiven Stoff —, dann ist das für uns von entscheidender Bedeutung.«

Der Russe nickte kurz. »Ich komme mit. Naguib kann im Rover bleiben und Funkkontakt halten.«

»Okay. Und jetzt beruhigen Sie sich. Kann sein, daß Patel in Panik geraten ist, aber es nützt uns nichts, sauer zu sein.«

»Ja. Ich weiß. Aber ich würde ihm trotzdem am liebsten den Hals umdrehen.«

Jamie versuchte zu lachen. Er klopfte Mironow auf die Schulter. »Einen Groll zu hegen, kann genausoviel Schaden anrichten, wie in Panik zu geraten. Versuchen Sie, nüchtern und sachlich zu bleiben, Alex.«

Der Russe grunzte.

Jamie stand auf und ging zum Tisch zurück, wo Naguib und Patel sich unterhielten.

»Okay«, sagte Jamie. »Morgen früh gehen wir noch mal zu der Runse — Rava, Alex und ich.«

»Und was ist mit mir?« fragte Naguib, als Jamie auf der anderen Seite des schmalen Tisches Platz nahm.

»Sie bleiben drinnen und erholen sich. Sie können die Proben analysieren, die wir heute gesammelt haben.«

»Und wer hat Ihnen die Leitung übertragen?« fauchte Patel. »Wer hat Sie zum Kapitän dieses Teams gewählt?«

Jamie blinzelte überrascht. »Es scheint mir einfach die logische Vorgehensweise zu sein. Abdul wird sich morgen bestimmt kaum rühren können und Schmerzen haben. Also bleiben nur noch Sie und ich übrig, Rava. Und Alex.«

Patels Nasenflügel blähten sich. »Ja. Natürlich. Sie und ich und unser Kosmonautenaufseher. Und am Tag darauf kehren wir zur Kuppel zurück«, sagte er zornig. »Und damit sind unsere drei Tage hier um.«

Jamie lehnte sich auf der Bank zurück und starrte Patel über den unordentlichen Eßtisch hinweg an. Er war erstaunt über sich selbst, weil er von seinem Kollegen Anerkennung erwartet hatte. Oder wenigstens Höflichkeit.

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