»Die Computerbearbeitung beweist, daß Ihr ›Dorf‹ nur eine natürliche Gesteinsformation ist«, sagte Ravavishnu Patel.
Jamie schüttelte störrisch den Kopf. »Die Bearbeitung beweist nichts dergleichen.«
»Ich fürchte, ich muß Rava zustimmen«, sagte Abdul al-Naguib. »Sie ziehen einen voreiligen und falschen Schluß.«
Die drei Männer — zwei Geologen und der ägyptische Geophysiker — saßen angespannt auf zierlichen Hockern vor einem Computerbildschirm im Geologielabor. Der Bereich war vom Rest der Kuppel abgeteilt, die Regale quollen von offen herumliegenden Steinen, transparenten Plastikbehältern mit Kernproben und zugestöpselten Flaschen mit rotem Erdreich über. Auf einem langen Tisch an einer Trennwand standen Analysegeräte und Computermodule, deren orange und blau flimmernde Bildschirme Kurven und Diagramme der Daten des globalen Sensoren-Netzwerks zeigten, die sich alle paar Augenblicke änderten.
»Hören Sie«, sagte Jamie zu den anderen, »auf dem bearbeiteten Videomaterial sieht man die Formation in einer hübschen Vergrößerung. Ich behaupte nicht, daß sie künstlich ist; ich sage nur, die Bildverbesserung beweist keineswegs, daß sie natürlichen Ursprungs ist.«
»Aber sie kann nicht künstlich sein!« beharrte Patel. »Selbst Pater DiNardo in Rom ist der Meinung, daß es eine natürliche Formation sein muß!«
Jamie warf ihm einen strengen Blick zu. »Rava, Wissenschaft hat nichts mit Meinungen zu tun. Wir lernen, indem wir beobachten und messen. Herrgott noch mal, als Galileo als erster berichtet hat, er habe Sonnenflecken gesehen, gab es Priester in Rom, die behaupteten, die Flecken müßten in seinem Teleskop gewesen sein, weil jeder wisse, daß die Sonne vollkommen und makellos sei!«
Naguib lächelte väterlich. Da er älter war als die beiden Geologen, betrachtete er sich als die Stimme der Reife und Weisheit in dieser emotionalen Debatte.
»Wir haben beobachtet«, sagte der Ägypter geduldig. »Wir haben gemessen. Die stärksten Werkzeuge, die wir besitzen, sagen uns, daß diese Formation natürlichen Ursprungs ist, eine Gesteinsformation und sonst nichts.«
»Das ist eine Behauptung, die sich durch das Material in keiner Weise belegen läßt«, fauchte Jamie. »Sie sehen sich das Material schon mit der vorgefaßten Meinung an, daß die Formation nicht künstlich sein kann.«
»Und Sie sehen sich dasselbe Material mit der vorgefaßten Meinung an, daß es keine natürliche Formation ist«, konterte Patel.
»Was für mich zeigt, daß das Beweismaterial nicht schlüssig ist«, sagte Jamie.
»Aber wie könnte die Formation künstlich sein?« fragte Naguib. »Sie setzen voraus, daß einmal eine intelligente Spezies auf dem Mars gelebt und sich ein Dorf gebaut hat — auf die gleiche Weise, wie Ihre eigenen Vorfahren ihre Felsenbehausungen errichtet haben? Das ist so unwahrscheinlich, daß es jede Vorstellungskraft übersteigt.«
Patel fügte hinzu: »Wenn man eine unwahrscheinliche Behauptung aufstellt, muß man triftige Beweise dafür haben.«
»Richtig!« sagte Jamie. »Einverstanden! Wir müssen noch einmal zum Tithonium Chasma fahren und uns diese Formation aus der Nähe ansehen. Wir müssen hinfahren und unsere Hände darauf legen.«
Der Hindu-Geologe starrte Jamie an, als hätte er eine Blasphemie begangen. »Zum Tithonium Chasma fahren! Und was wird aus meiner Exkursion zum Pavonis Mons? Glauben Sie, Ihr imaginäres ›Dorf‹ ist wichtiger als die Tharsis-Vulkane?«
»Wenn dieses ›Dorf‹ wirklich künstlich ist, dann ist es mit Sicherheit wichtiger als alles andere«, schoß Jamie zurück.
»Als nächstes werden Sie noch ganz bis nach Acidalia fahren wollen, um das ›Marsgesicht‹ zu untersuchen!«
Auf Fotos früher Raumsonden, die den Mars umrundet hatten, war eine Felsformation zu sehen gewesen, die einem menschlichen Gesicht ähnelte, wenn die Sonne sie im richtigen Winkel traf.
»Vielleicht werden wir das tun müssen«, fauchte Jamie. »Aber zuerst will ich feststellen, ob dieses ›Dorf‹ natürlich oder künstlich ist.«
Naguib hob beschwichtigend die Hände. »Jeder, der das bearbeitete Video gesehen hat, ist der Meinung, daß es sich um eine natürliche Formation handeln muß. Genau wie beim ›Marsgesicht‹.«
»Wissenschaft hat auch nichts mit Stimmenauszählung zu tun«, sagte Jamie und spürte, wie der Zorn in ihm hochstieg. »Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Frage zu klären. Wir müssen hinfahren und selbst nachsehen.«
»Es würde unsere Planung völlig über den Haufen werfen«, sagte Patel. »Es ist vollkommen überflüssig.«
»Zum Teufel mit der Planung!« sagte Jamie.
»Zum Teufel mit Ihrem ›Dorf‹!« rief Patel. »Zum Teufel mit Ihren Phantastereien!«
Jamie holte tief Luft und versuchte, seine brodelnde Wut im Zaum zu halten. »Hört zu, ihr beiden. Es ist unser Job, hier die Wahrheit zu suchen — also sollten wir keine Angst davor haben, sie zu finden. Wir müssen noch einmal zu dem Canyon fahren.«
»Nein«, sagte Patel. Zorn leuchtete aus seinem dunklen Gesicht.
»Ich muß Rava leider zustimmen«, sagte Naguib widerstrebend. »Unsere Mission hier ist klar definiert. Wir sind die ersten Kundschafter, und unsere Aufgabe ist es, die vorbereitende Erkundung durchzuführen. Auf unserem Programm stehen noch Überland-Exkursionen in zwei weitere Regionen, bevor unsere neunundvierzig Tage um sind. Bei den nächsten Missionen werden andere kommen und den Planeten eingehender untersuchen. Wir sind nicht hier, um alles auf einmal zu machen.«
Jamie sah die beiden an. Patel, der Angst hatte, seine Exkursion zu dem gottverdammten Vulkan könnte gefährdet sein. Naguib, der bereit war, den Ruhm anderen zu überlassen. Jamie dachte, daß der Ägypter alt genug war, um sich nach ihrer Rückkehr zur Erde aus der praktischen Forschungsarbeit zurückzuziehen; seine Zeit als aktiver Wissenschaftler ist vorbei. Er wird als berühmter Mann nach Ägypten zurückkehren, einen prestigeträchtigen Lehrstuhl an einer Universität kriegen und für den Rest seines Lebens im gemachten Nest sitzen. Was, zum Teufel, kümmert es ihn?
»Weshalb sind Sie so sicher, daß es weitere Missionen geben wird?« fragte Jamie. »Wenn es nach den gottverdammten Politikern geht, ist dies hier nicht nur die erste, sondern auch die letzte Expedition zum Mars.«
Naguib und Patel sahen einander sprachlos an, als wäre ihnen dieser Gedanke noch nie gekommen.
Jamie verzog das Gesicht und drehte sich etwas auf seinem Hocker. Auf dem Bildschirm war immer noch das bearbeitete Bild der Gesteinsformation zu sehen: gerade Wände mit etwas Geröll am Fuß, ein Stück in die Felsspalte zurückgesetzt, geschützt durch den massiven Überhang aus dunkelrotem, eisenhaltigem Stein.
»Okay«, sagte er ruhig. »Wenn ihr mich in dieser Sache nicht unterstützen wollt, muß ich Doktor Li eben allein fragen.«
Die beiden anderen Männer stöhnten mißbilligend.
Trotz des Sirrens der Zentrifuge konnte Ilona Malater hören, wie der Streit zwischen den Geologen an Heftigkeit zunahm.
Ah, sagte sie sich, endlich zeigt Jamie mal ein bißchen Leidenschaft.
Joanna Brumado, die nicht weit von Ilona entfernt an ihrem Arbeitstisch im Biologielabor saß, hörte den Streit ebenfalls. Sie machte ein besorgtes, beinahe ängstliches Gesicht, als die Männer einander anblafften. Sie sorgt sich um Jamie, dachte Ilona. Sie macht sich mehr aus unserem Indianer, als sie zugeben will. Vielleicht mehr, als sie selbst weiß.
Ilona lächelte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der kreisenden Zentrifuge und der Arbeit zu, die sie zu beenden versuchte. Mit der ermüdenden, zeitraubenden Sorgfalt der konservativsten Chemiker hatte sie die letzten paar Tage damit verbracht, ein halbes Dutzend Bohrkerne aus dem Marsboden behutsam zu erhitzen, um ihnen das Wasser zu entziehen. Nur ein halbes Dutzend, für den Anfang. Von den anderen Kernproben hatte sie strikt die Finger gelassen. Sie lagen sicher in ihren schützenden Behältern, als Kontrolle für ihr Experiment.
Der Permafrost gab sein Wasser problemlos ab. Mit Monique Bonnets Hilfe hatte Ilona das Wasser getestet, es mit jedem verfügbaren Instrument im Labor analysiert. Es war Wasser, keine Frage: H2O, mit einem ordentlichen Schuß Kohlendioxid und Mineralien wie Eisen und Silizium.
Jamie verändert sich, dachte Ilona, während sie zusah, wie die Arme der Tischzentrifuge verschwommen herumwirbelten. Nicht nur Jamie; wir alle. Der Mars verändert uns. Selbst Tony ist jetzt anders; er bemüht sich, seine englische Unerschütterlichkeit beizubehalten, aber ich sehe, daß sich tief in ihm etwas verändert hat. Er ist nicht mehr derselbe Mensch wie an Bord des Raumschiffs. Etwas nagt an ihm.
Ist es Joanna? fragte sie sich. Ist es Tony wirklich so wichtig, unsere brasilianische Prinzessin zu besteigen?
Als würde sie Ilonas Gedanken spüren, schaute Joanna von der Arbeit auf, über die sie gebeugt war, und blickte Ilona direkt in die Augen. Einen Moment lang fühlte sich Ilona ertappt, und sie glaubte zu erröten. Aber in diesem Moment beendete die Zentrifuge ihren Arbeitsgang und bremste ab; das dünne, schrille Heulen wurde schwächer, und die Arme sanken langsam herab, als wäre sie erschöpft von der geleisteten Arbeit.
Joanna glitt von ihrem Hocker, kam am Labortisch entlang herüber und blieb neben Ilona stehen.
»Brauchst du Hilfe?« fragte sie.
Ilona sah zu, wie die Zentrifuge immer langsamer wurde. »Monique müßte eigentlich schon hier sein«, antwortete sie.
»Sie ist bei ihren Pflanzen. Einige davon fangen schon an zu keimen.«
»Ja, ich weiß.« Die Zentrifuge blieb stehen. »Wenn alles gutgeht, kann ich ihr Marswasser für ihre kostbaren Keime geben.«
Joanna sah zu, wie Ilona eine Phiole von der Zentrifuge abnahm und ins Licht der Deckenlampen hielt.
Die Phiole war in zwei Sektionen geteilt; die Flüssigkeit oben war klar, die am Boden wesentlich trüber.
»Siehst du? Das Wasser ist jetzt klar. Ich habe die aufgelösten Mineralien abgeschieden.«
»Es sieht aus, als würde es sprudeln«, sagte Joanna.
»Kohlendioxid, das von der Luft aufgenommen wird. Wenn man den gesamten Permafrost schmelzen könnte, würden wir nicht nur den halben Mars mit Wasser bedecken, sondern auch soviel CO2 freisetzen, daß die Atmosphäre fast so dicht werden würde wie die der Erde.«
Ilona goß langsam das klare Wasser in ein Becherglas aus Plastik.
»Willst du es nicht analysieren?« fragte Joanna.
»Das Massenspektrometer geht schon wieder nicht.«
»Ich dachte, Abell …«
»Paul sagt, er hätte es repariert, aber ich vertraue der Kalibrierung nicht, seit er es in den Händen gehabt hat. Ich muß es mir selbst ansehen, und ich hatte noch nicht die Zeit dazu.«
Joanna sagte: »Im Geologielabor gibt es ein Massenspektrometer.«
Mit einem plötzlichen Lächeln antwortete Ilona: »Guter Gedanke.«
Die Männer stritten immer noch, schrien sich beinahe an, als die beiden Frauen um die Trennwand herumkamen und das Geologielabor betraten. Der Streit brach ab, und Stille trat ein.
»Wir bräuchten mal eben euer Spektrometer«, sagte Ilona. »Habt ihr was dagegen?«
»Nein«, sagte Naguib. »Natürlich nicht. Ist das hiesiges Grundwasser, was Sie da haben?«
»Ja.«
»Ungesichert?« fragte Patel. »Ohne Deckel drauf?«
»Es ist nur Wasser, Rava. Es kann Ihnen nichts tun.«
»Wir haben es jedem Test unterzogen, den wir kennen«, fügte Joanna hinzu. »Es sind keine Organismen darin. Es ist völlig steril.«
»Jetzt nicht mehr«, sagte Patel. »Ihr habt es unserer Luft ausgesetzt, unseren Mikroben.«
Ilona zuckte mit großer Geste die Achseln, als würde sie die Bemerkung des Hindus überhaupt nicht ernst nehmen, und ging zu dem Massenspektrometer hinüber, das zwischen einem Sortiment kleiner Steine und einer dicken Bedienungsanleitung auf dem Arbeitstisch stand. Neben dem Handbuch stand ein Tischcomputer mit dunklem Bildschirm.
»Ich muß Doktor Li anrufen«, sagte Jamie und erhob sich.
»Hiergeblieben«, sagte Ilona. »Es dauert nur ein paar Minuten.«
Jamie zögerte. Er sah die anderen beiden Männer und dann Joanna an.
»Bitte bleib«, sagte Joanna.
Er blieb einen Moment lang unsicher stehen, dann lud er Joanna mit einer Handbewegung ein, auf dem Hocker Platz zu nehmen.
Ilonas Wassertest dauerte länger als nur ein paar Minuten. Monique Bonnet tauchte auf und entschuldigte sich dafür, daß sie soviel Zeit mit ihrem Garten verbrachte. »Beim Gemüse entfalten sich die ersten Blätter«, verkündete sie. Außer ihr schien es niemanden zu interessieren.
Tony Reed schlenderte am Labor vorbei, sah die Gruppe und fragte: »Was ist denn hier los? Eine Verschwörung?«
Ilona blickte von dem Computerbildschirm auf, der endlich das Resultat des Spektrometertests zeigte.
»Komm rein, Tony. Komm rein. Der Sanitätsoffizier sollte bei diesem Experiment dabeisein.«
»Experiment?« fragte Reed und betrat den Laborbereich. »Was für ein Experiment?«
»Wir wollen gerade den hiesigen Wein probieren«, sagte Monique.
Reed sah das Becherglas mit dem Wasser auf dem Tisch stehen und verstand sofort. »Nichts Schädliches drin, oder?«
»Dem Massenspektrometer zufolge ist es nur Wasser mit ein bißchen aufgelöstem Kohlendioxid und kaum wahrnehmbaren Spuren einiger weniger Mineralien«, erwiderte Ilona.
Reed ging hinüber und schaute auf den Bildschirm. »Da habe ich in der Wasserversorgung von London schlimmere Sachen gesehen. Viel schlimmere.«
»Dann kann ich ab jetzt also das einheimische Wasser für die Gartenpflanzen benutzen?« fragte Monique.
»Nach dem letzten Test«, sagte Ilona. Und hob den Becher an die Lippen.
Absolute Stille, während sie einen kleinen Schluck davon trank. Sie schaute einen Moment lang nachdenklich drein, fuhr sich dann mit der Zungenspitze über die Lippen und gab Tony das Becherglas.
»Mal sehen, was du sagst«, meinte sie.
Reed nahm das Becherglas, hielt es mit großer Geste ins Licht und schnupperte dann daran, als wäre es ein guter Wein.
»Überhaupt kein Bouquet«, sagte er.
Niemand lächelte auch nur.
Reed trank einen Schluck, gab Ilona das Becherglas zurück und sagte dann: »Schmeckt wirklich fast genauso wie Mineralwasser.«
Monique trank einen gierigen Schluck. »Mon dieu, es ist wie Perrier!«
Sie brachen in Gelächter aus. Alle bis auf Jamie, bemerkte Ilona, der so angespannt wirkte wie ein Panther im Käfig.
»Marsianisches Mineralwasser«, sagte Reed. »Wir können es auf Flaschen füllen und verkaufen! Was für eine Sensation auf der Erde!«
»Für eine Million Dollar pro Unze«, sagte Naguib und trank lachend seinen Schluck. Dann gab er den Becher weiter, als wäre es Meßwein.
»Vielleicht könnten wir die nächste Expedition auf diese Weise finanzieren«, sagte Patel, nachdem er gekostet hatte.
Der Becher kam zu Jamie. Er setzte ihn an die Lippen, gab ihn Ilona mit einem knappen Nicken zurück und sagte: »Ich muß zur Kommunikationskonsole. Entschuldigt mich.«
Auf den Raumschiffen in der Marsumlaufbahn war zumindest wieder ein Anschein von Ordnung eingekehrt, dachte Li Chengdu. Die Wissenschaftler waren wieder mit ihren normalen Routinetätigkeiten beschäftigt, und die Astronauten und Kosmonauten hatten die gründliche Überprüfung aller Schiffssysteme abgeschlossen, die das Kontrollzentrum in Kaliningrad verlangt hatte. Ein reinigendes Ritual, dachte Li. Die bösen Geister von Dr. Konoyes Tod waren gebannt worden, indem jede Komponente der beiden Raumschiffe überprüft worden war, all ihre Systeme, sämtliche Vorräte und die gesamte Ausrüstung. Konoye war nicht an einem technischen Versagen gestorben, aber die Flugkontrolleure in Kaliningrad und Houston hatten auf dem sinnlosen Checkout bestanden.
Jetzt sind wir zwölf statt dreizehn, sagte sich Li. Das sollte die Abergläubischen unter uns beruhigen — zu denen auch er selbst gehörte. Er merkte, daß er sich immer vage unwohl gefühlt hatte, wenn er daran gedacht hatte, daß der Mars 2 dreizehn Männer und Frauen zugeteilt worden waren.
Jetzt ist alles wieder normal. Die Russen und Amerikaner haben ihre Ausrüstung auf Deimos aufgebaut, um ihren Plan zu erproben, aus dem Gestein des Mondes durch Erhitzung Wasser zu gewinnen. Die Erforschung der Planetenoberfläche geht zügig voran. Die Forschungsteams hier an Bord der Raumschiffe haben sich von dem Schock erholt, den Konoyes Tod für sie bedeutet hat, und sich wieder an die Arbeit gemacht.
Er seufzte tief. Und James Waterman macht auch schon wieder Ärger.
Li lehnte sich in seinem Sessel zurück und richtete den Blick auf die friedvolle Seidenmalerei von nebelverhangenen Bergen und anmutigen, schlanken, blühenden Bäumen. Waterman will noch einmal zu den Valles Marineris zurück, um das Gebilde zu erforschen, das eine Felsenbehausung sein soll, wie er behauptet. Völlig absurd. Sie haben noch nicht einmal eine Spur von Leben gefunden, und Waterman denkt, daß es da unten einmal eine intelligente Zivilisation gegeben hat. Lächerlich.
Andererseits würde es den Politikern helfen, Konoyes Tod zu vergessen, wenn wir etwas Spektakuläres fänden. Die Überreste einer ausgelöschten Zivilisation! Das wäre phantastisch.
Li machte ein finsteres Gesicht. Andererseits, dachte er, angenommen, ich erlaube Waterman, noch einmal mit ein paar Wissenschaftlern dorthin zu fahren, und sie finden nichts. Die Politiker würden wütend sein. Angenommen, ich erlaube es ihnen, und einer von ihnen wird verletzt. Oder kommt gar ums Leben.
Er setzte sich in dem Ruhesessel kerzengerade auf. Nein. Das durfte nicht geschehen. Er durfte nicht zulassen, daß Waterman die Mission zum Scheitern brachte.
Die Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch summte; das gelbe Lämpchen blinkte. Li streckte einen langen, dünnen Arm aus und drückte auf die Taste, um den Anruf anzunehmen.
»Doktor Li«, sagte die Stimme des diensthabenden Astronauten im Kommandomodul, »wir bekommen gerade eine Sendung von Doktor Brumado an Sie herein.«
Li befahl dem Mann, sie ihm zu überspielen.
Alberto Brumados freundliches, leicht gestresstes Gesicht erschien auf dem Bildschirm des Monitors auf seinem Schreibtisch. Li ging hinüber und schaute auf das Bild hinunter. Dann registrierte er, daß Brumado über James Waterman und die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten sprach.
Li spürte, wie sich die Last der Verantwortung von seinen Schultern hob. Er zog sich seinen Sessel herüber und setzte sich lächelnd wie die Edamer Katze vor den Bildschirm.
Das Licht in der Kuppel war auf die gedämpfte Nachtbeleuchtung heruntergedreht worden. Keine Stimmen und keine Musik waren zu hören, nur das zuverlässige Summen der elektrischen Geräte und das schwache Heulen des Windes draußen vor der abgedunkelten Kuppel.
Jamie marschierte innen an der Hülle der Kuppel entlang. Seine schweren Pantoffelsocken machten kein Geräusch auf dem dicken Plastikfußboden, seine Augen hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt, sein Verstand drehte und wendete ein und dasselbe Argument immer wieder hin und her.
Du weißt, daß es eine natürliche Gesteinsformation ist; es können keine Gebäude sein. Warum bist du so verdammt stur?
Aber sie könnte künstlich sein. Es wäre möglich. Was, zum Teufel, wissen wir denn schon über diese Welt? Wieviel würde ein marsianischer Wissenschaftler über die Erde erfahren, wenn er in der Sahara landen und sich ein paar Wochen lang umschauen würde?
Die Chancen, daß diese Felsen tatsächlich Wohnbauten sind, stehen eins zu einer Milliarde. Warum verscherzt du es dir mit allen? Was willst du beweisen?
Wovor haben sie Angst? Herrgott noch mal, wir sind schließlich hier, um den Planeten zu erforschen, um herauszufinden, was es hier wirklich gibt. Das geht nicht, wenn man sich sklavisch an einen Plan hält, der zu Hause in Kaliningrad ausgearbeitet worden ist.
»Jamie? Bist du das?«
Er sah sich um und merkte, daß er bei der Messe angelangt war. Im Dunkeln konnte er die winzige Gestalt von Joanna Brumado erkennen. Das einzige Licht in dem Bereich kam von den schwach leuchtenden Führungsstreifen auf dem Fußboden und dem steten roten Auge der permanent einsatzbereiten Kaffeemaschine.
Er tappte zu dem Tisch, an dem sie saß. Ihre Hände lagen um einen großen, dampfenden Becher Kaffee.
»Weshalb bist du denn um diese Zeit noch auf?« fragte Jamie und setzte sich zu ihr.
»Ich konnte nicht schlafen.«
»Und da trinkst du eine Tasse Kaffee?«
»Das brasilianische Beruhigungsmittel«, sagte sie. Er konnte das Lächeln in ihrer leisen Stimme hören, obwohl ihr Gesicht tief im Schatten lag. »Ich brauche die Wärme. Mir ist hier drin immer kalt. Besonders nachts.«
Statt des Projektoveralls trug Jamie ein dunkelblaues Sweatshirt mit dem dezenten Raketensymbol der British Interplanetary Society und leicht ausgeblichene Jeans. In dem schwachen Licht sah er, daß Joanna einen unförmigen Rollkragenpullover und eine Cordhose anhatte.
»Warum kannst du nicht schlafen?« fragte er.
»Das könnte ich dich auch fragen.«
Er wollte lachen, aber es war kein Lachen in ihm.
»Ich hab zuerst gefragt. Außerdem weißt du, warum ich hier herumlaufe.«
»Du wartest auf eine Antwort von Doktor Li.«
Er nickte, merkte dann, daß sie die Kopfbewegung wahrscheinlich nicht sehen konnte, und murmelte: »Mhm.«
»Bist du so sicher, daß du wirklich ein Dorf gesehen hast?«
»Nein, verdammt! Darum geht es doch gerade: Ich bin absolut nicht sicher. Deshalb sollten wir noch mal hinfahren und es uns aus der Nähe ansehen. Es anfassen. Es beschnuppern. Es sogar schmecken. Die ganzen schicken Instrumente und Geräte, die wir benutzen, sind doch nur Werkzeuge, die uns sensorische Informationen vermitteln sollen. Bevor wir entscheiden können, worum es sich bei diesem Steinhaufen wirklich handelt, brauchen wir mehr Informationen.«
Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee.
»Aber du hast mir nicht gesagt, was dich wachhält«, sagte Jamie leise.
»Oh … vieles. Einsamkeit, zum Beispiel. Ich liege in meinem Bett und lausche dem Wind draußen und denke daran, daß wir fast zweihundert Millionen Kilometer von zu Hause entfernt sind.«
»Macht dir das angst?«
»Nein, ich fühle mich nur — allein. Es ist merkwürdig. Tagsüber haben wir viel zu tun, und da kommt es mir manchmal sogar so vor, als ob die Kuppel viel zu voll wäre. Aber nachts …«
»Ich weiß«, sagte Jamie. »Entweder schauen einem zu viele über die Schulter, oder man ist ganz allein. Es ist ein merkwürdiges Gefühl.«
»Geht es dir auch so?«
Er runzelte die Stirn. »Joanna, ich bin allein. Ich bin hier der Außenseiter.«
»Nein, das stimmt nicht.«
»So sieht es jedenfalls für mich aus. Es ist nicht nur wegen dieser Sache mit den Felsenbehausungen. Ich bin ein Ersatzmann, der erst im letzten Moment dazugekommen ist. Keiner der anderen akzeptiert mich wirklich als Teil des Teams.«
Es überraschte ihn, daß er ihr das erzählte. Joanna schwieg eine Weile. In dem dämmrigen Licht konnte er nicht einmal ihre Miene erkennen.
»Ich hatte gedacht«, hörte Jamie sich sehr leise, fast im Flüsterton sagen, »daß du mich wegen dem, was in McMurdo geschehen ist, auf der Mission dabeihaben wolltest. Jetzt weiß ich, daß es dir nicht so sehr darum ging, mich hierzuhaben, sondern vielmehr darum, Hoffmann loszuwerden.«
»Jamie …«
»Ist schon okay«, sagte er rasch. »Ich kann verstehen, wie du dich gefühlt hast. Ich weiß, daß Hoffmann dich belästigt hat.«
Sie packte die Manschette seines Sweatshirts und schüttelte sie leicht, wie eine Lehrerin, die versucht, die Aufmerksamkeit eines unachtsamen Schülers auf sich zu lenken.
»Jamie, es gab fünf weitere Geologen, die ich hätte vorschlagen können. Sie hatten alle hervorragende Qualifikationen. Ich habe meinen Vater gebeten, dich ins Team zu holen.«
»Weil ich dir in McMurdo geholfen habe.«
»Weil du ein talentierter, sturer, sensibler, einsamer Mann bist. Weil du nett zu mir warst, statt mich abzulehnen. Weil du mich in Ruhe gelassen hast und mir nicht weiter nachgelaufen bist, als ich vor dir weggerannt bin.«
Jamie war auf einmal durcheinander. »Weil ich dich in Ruhe …«
»Was in McMurdo zwischen uns geschehen ist, hätte gegen dich sprechen müssen, wenn ich auch nur ein Fünkchen Verstand gehabt hätte. Wir sollen keine Bindungen oder gar Beziehungen eingehen. Das weißt du! Aber ich habe dich dennoch vorgeschlagen, trotz der Gefahr.«
»Gefahr?«
Joanna sagte: »Du bist ein außerordentlich attraktiver Mann, James Waterman. Wenn diese Mission vorbei ist und wir wieder wohlbehalten auf der Erde sind, dann können wir uns einander gegenüber vielleicht so verhalten, wie es normale Männer und Frauen tun. Im Moment müssen wir solche Gefühle beiseiteschieben.«
Jamie begriff endlich, daß sich, was McMurdo betraf, vor allem eins in ihr Gedächtnis eingegraben hatte, nämlich sein tastender Versuch am Abend nach ihrer ersten Exkursion auf den Gletscher, sie zu küssen. Es hat viel für sie bedeutet, erkannte er. Und ich dachte, sie wäre deshalb wütend auf mich gewesen. Sie geht davon aus, daß ich in sie verliebt bin.
Und, bin ich es? Er dachte an Edith, die lächelnde, blonde Texas-Schönheit, Millionen von Kilometern entfernt. Herrje, ihr Band liegt jetzt seit zwei Tagen bei mir in der Kabine, und ich habe ihr noch nicht mal geantwortet. Joanna ist ganz anders. Auf eine tief ergehende Weise schön. Ernst. Sehr ernst.
Dann fragte er sich, ob sie über Ilona Bescheid wußte. Ob sie wußte, daß er mit ihr gevögelt hatte. Wahrscheinlich nicht, aber irgendwann würde sie es erfahren. Irgend jemand würde es ihr mit Genuß hinterbringen. Was würde sie dann von ihm denken?
Ihre Hand umklammerte immer noch die Manschette seines Sweatshirts. Jamie legte seine andere Hand auf ihre.
»Ich glaube, du hast recht, Joanna. Du hattest in McMurdo recht, und du hast auch jetzt recht. Wir sind weit weg von zu Hause. Vielleicht können wir uns eines Tages wie normale Menschen zueinander verhalten und selbst herausfinden, was wir einander wirklich bedeuten. Aber jetzt …« Ihm gingen die Worte aus, und er schloß mit einem halben Achselzucken, das sie in der Dunkelheit wahrscheinlich nicht sehen konnte.
»Jetzt«, beendete Joanna den Satz für ihn so leise, daß er sie kaum hörte, »können wir Freunde sein. Es ist gut, einen Freund zu haben, Jamie. Gut für uns beide.«
»Ja. Sicher.«
»Es ist die einzige Möglichkeit. Wir können jetzt keine Bindungen eingehen. Nicht hier, nicht in diesem … Goldfischglas.«
Er nickte. Es war ihm egal, ob sie es sehen konnte oder nicht.
»Hast du dir schon überlegt, was du tun wirst, wenn wir nach Hause kommen?« fragte Joanna.
Beinahe wäre ihm entfahren: Hier bin ich zu Hause. Hier auf dem Mars. Statt dessen erwiderte er sanft: »Nicht so richtig. Du?«
Sie seufzte. »Die National Geographie Society hat meinen Vater schon um einen Artikel über diese Expedition für ihre Zeitschrift gebeten. Den werde ich vermutlich größtenteils für ihn schreiben. Ich bin schon seit vielen Jahren sein Ghostwriter.«
»Das dürfte nicht allzu lange dauern.«
»Dann Vorträge, nehme ich an. Er und ich. In aller Welt. Und ein Buch, natürlich.«
»Ich glaube, ich werde mir eine Universität aussuchen und die nächsten paar Jahre damit verbringen, die Proben zu analysieren, die wir mitbringen. Und die Daten, die wir sammeln.«
»Das könnte eine Lebensaufgabe werden.«
»Schon möglich.«
Sie verstummte.
»Was ist mit der nächsten Expedition?« fragte Jamie.
»Wird sich dein Vater nicht für eine Nachfolgemission einsetzen?«
»Das tut er bereits. Soviel ich weiß, wollen die Politiker aber erst die Resultate dieser Mission sehen, bevor sie sich auf eine weitere festlegen.«
Jamie beugte sie zu ihr, von einem plötzlichen, heißblütigen Drang erfaßt. »Joanna, verstehst du nicht, wie wichtig es ist, daß wir zu dem Canyon zurückfahren und uns diese Formen genauer ansehen? Wenn wir mit Beweisen zurückkommen, daß es früher einmal eine Zivilisation auf dem Mars gegeben hat, eine intelligente Spezies, die Felsenbauten errichtet hat … heiliger Jesus Christus, dann könnte niemand eine zweite Expedition aufhalten. Und eine dritte, eine zehnte, eine hundertste!«
Er spürte, daß sie im Dunkeln lächelte. »Ja, aber angenommen, wir stellen fest, daß dein Dorf nicht mehr ist als eine natürliche Gesteinsformation? Was dann?«
Ihre Stimme war traurig. Und Jamie wußte keine Antwort.