»Das ist mir irgendwie unangenehm, Edith«, sagte Jamie in die Kamera.
Er saß auf der Liege seiner Privatkabine. Die Videokamera stand vor ihm auf dem kleinen Leichtbauschreibtisch und war auf sein Gesicht gerichtet. Am Morgen war er vor seinen planmäßigen Arbeitsstunden als erstes in den Raumanzug gestiegen und hinausgegangen, um ein paar Minuten lang Panorama-Aufnahmen von den Steinen, Dünen und fernen Bergen in dem Gebiet um die Kuppel zu machen. Jetzt saß er auf seiner Liege und überlegte, was er Edith erzählen sollte.
»Gestern haben wir einen kleinen Schrecken gekriegt. Noch ist nicht wieder alles normal. Ein verirrter Meteorit hat unsere Kuppel durchschlagen. Nur ein kleines Loch. Wir haben den Meteoriten nicht mal gefunden; er muß so klein gewesen sein, daß er durch die Energie des Aufschlags verdampft ist. Aber ein Teil unserer Luft ist durch das Leck entwichen, und ein paar Minuten lang war alles ziemlich dramatisch.«
Er schaute nach oben. Die Kuppel war in Sonnenlicht getaucht. Die Pumpen und Lüfter pochten wie üblich dumpf vor sich hin. Jamie hörte Stimmen und den Cowboy-Sound eines Country-and-Western-Songs aus irgendeinem Kassettenrecorder.
»Wir atmen hier drin immer noch reinen Sauerstoff. Wir müssen auf Zehenspitzen herumlaufen und extrem vorsichtig sein. In einer reinen Sauerstoff-Atmosphäre könnte der kleinste Funke die ganze Kuppel in Flammen aufgehen lassen. Die Abscheider sammeln Stickstoff aus der Luft draußen, aber wir werden erst in ein oder zwei Tagen wieder normale Luft haben.
Abgesehen von der Kuppelhülle ist nichts beschädigt worden, und Wosnesenski und Paul Abell haben nur ein paar Minuten gebraucht, um das Loch von innen abzudichten. Ich war draußen, als es passiert ist, und da hat mir ein anderer Mikrometeorit einen Kratzer in den Helm gemacht. O ja, und Tony Reed hat vor Schreck eine Flasche Vitaminpillen umgeworfen. Jetzt wird er ständig wegen seiner Ungeschicklichkeit aufgezogen.«
Jamie schaltete die Kamera mit der Fernbedienung in seiner Hand aus und gähnte. Die reine Sauerstoff-Atmosphäre schien ihm auf die Ohren zu gehen. Sie fühlten sich verstopft an, als ob sie knacken müßten. Das Gähnen half, aber nicht sehr.
Er schaltete die Kamera wieder ein und fuhr fort: »Die Meteoriten waren wahrscheinlich die letzten Überreste eines uralten Kometen. Nur ein paar verirrte Steinchen, die im Sonnensystem herumgeflogen sind und die es zufällig zum Mars verschlagen hat, genau dorthin, wo wir waren. Könnte in einer Million Jahre nicht noch einmal passieren.«
Jamie zögerte einen Augenblick. Es gab kaum irgendwelche weiteren Neuigkeiten, die er ihr mitteilen konnte.
»Natürlich habe ich mich über das Band gefreut, das du mir geschickt hast. Und ich bin froh, daß du vorankommst. Muß eine Menge Mut gekostet haben, nach New York zu gehen. Wenn ich irgendwas tun kann, zum Beispiel dir ein Interview oder irgendwelche Hintergrundinformationen über unsere Arbeit hier auf dem Mars zu geben, schick mir einfach eine Anfrage über die Missionsleiter, dann sage ich dir gern alles, was du wissen möchtest.«
Jamie hielt die Videokamera wieder an und dachte: Wieviel kann ich ihr wirklich erzählen? Wieviel würden die Missionsleiter durchgehen lassen? Er beschloß, vorläufig bei der Wissenschaft zu bleiben und nicht über Politik und persönliche Dinge zu sprechen.
»Wie sich herausstellt, gibt es erheblich mehr Wasser unter der Oberfläche, als wir aufgrund der Meßergebnisse der früheren unbemannten Raumsonden geglaubt haben. Es ist natürlich gefroren. Wir sitzen auf einem Meer aus Grundeis, das sich wahrscheinlich bis zu den Valles Marineris erstreckt — das ist der Grand Canyon des Mars. Vielleicht noch weiter, aber wir haben den Canyon noch nicht überquert und die andere Seite erforscht.«
Jamie schilderte die kurze Exkursion zum Canyon und brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, noch einmal hinfahren zu können, wobei er die Diskussionen und Debatten überging, die er ausgelöst hatte. Er vermied es sorgfältig, das ›Dorf‹ zu erwähnen; dafür ist noch Zeit genug, wenn wir eindeutige Beweise haben, so oder so, dachte er. Statt dessen erzählte er Edith von dem kupfergrünen Stein, den sie gefunden hatten. Dann gingen ihm die Themen aus.
Er fummelte nervös mit der Fernbedienung herum und schaltete die Kamera schließlich wieder ein. »Ich bin froh, daß sich die ganze unsinnige Aufregung wegen meines Navajo-Spruchs mittlerweile gelegt hat. Zumindest nehme ich das an. Wir haben hier nicht viele Nachrichten zu sehen gekriegt — meistens Material von der BBC.«
Er schaltete wieder aus und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, während er nachdachte, was er Edith sonst noch erzählen könnte.
»Tja, ich glaube, das war’s für den Augenblick. Wir haben noch keine Spuren von Leben gefunden, weder Lebewesen noch Fossilien, aber vielleicht herrschen im Grand Canyon lebensfreundlichere Bedingungen. Monique Bonnet hat einen hübschen kleinen Garten in Marserde angelegt, und sie gießt ihn mit Marswasser. Ich weiß aber nicht, was ein paar Tage reiner Sauerstoff für ihre Pflanzen bedeuten. Wir gehen alle ab und zu hin und beatmen sie, damit sie ein bißchen Kohlendioxid abkriegen. Es war nett von dir, daß du mich angerufen hast, Edith. Ich spreche später wieder mit dir.«
Er schaltete die Videokamera endgültig aus und dachte, ich kann eine bearbeitete Fassung dieses Bandes für Al und meine Eltern anfertigen und die Flugkontrolle bitten, es ihnen zu schicken. Das wird sie überraschen. Vielleicht schicken mir meine Eltern sogar eine Antwort.
Seiji Toshima hatte sich die ganzen heftigen Diskussionen zwischen Waterman und dem Rest des Teams angehört, ohne auch nur ein einziges Mal den Mund aufzumachen. Ihr Streit hatte nichts mit ihm zu tun, und er war von frühester Kindheit an darauf trainiert worden, mit seinen Meinungen hinterm Berg zu halten, sofern er nicht ausdrücklich darum gebeten wurde, sie zu äußern.
Doch jetzt bat ihn Waterman — nicht um seine Meinung, sondern um sein Wissen. Das war etwas anderes. Toshima war froh, mit dem amerikanischen Geologen Wissen austauschen zu können. Schließlich war dies der Zweck dieser Expedition zum Mars, oder nicht? Wissen zu erwerben. Und was nützt Wissen, wenn man es nicht mit anderen austauscht?
Jamie Waterman saß auf einem dünnbeinigen Plastikhocker mitten im Meteorologielabor des Japaners. Toshimas Bereich war vom Team auf den Namen ›Wetterzentrale‹ getauft worden. Es war das kleinste Labor von allen und derart aufgeräumt und picobello sauber, als ob ein Trupp Wartungsroboter es jede halbe Stunde schrubben und alles abstauben würde.
Der Raum sah wie das Schaufenster eines Elektronikladens aus. Während die Arbeitstische der anderen Wissenschaftler mit Gläsern und Meßinstrumenten übersät waren, hatte Toshima eine Reihe leise summender Computer, deren Bildschirme Diagramme und Kurven zeigten. Am Ende der Reihe, wo sie an der Ecke zur Trennwand L-förmig abknickte, stand ein Scanner, der Videoband einlesen und die Bilder zwecks Speicherung im Computer digitalisieren konnte.
Toshima saß in der anderen Ecke auf einem wacklig aussehenden Hocker. Er hatte Jamie seinen besten Hocker gegeben, den einzigen mit einer Lehne.
Seit dem Tod von Isoruku Konoye hatte Toshima das Gefühl, daß eine unerwartete Verantwortung auf seinen Schultern lastete; die Verantwortung für die Ehre Japans, dafür, den stolzen Namen seines Vaterlandes selbst hier hochzuhalten, auf dieser fremden Welt. Er wußte, daß die meisten seiner Kollegen alles Japanische heruntermachten; er sah es ihren Augen an, wenn sie mit ihm sprachen, er merkte es an der fast schon intoleranten Selbstgefälligkeit von Leuten wie Antony Reed und an der übermäßig beflissenen Höflichkeit der Amerikaner und Russen.
Auf der Erde war Japan eine Macht, mit der man rechnen mußte. Ohne Japans finanziellen und technischen Beitrag wäre das Marsprojekt im Gezänk und Hin- und Hergeschiebe der Kosten zwischen Europäern, Russen und Amerikanern zugrunde gegangen. Trotzdem hatte kein einziger Japaner zu der ersten Gruppe gehört, die auf dem Mars gelandet war. Und der einzige Mensch, der bei dieser Expedition bisher den Tod gefunden hatte, war der brillante japanische Geochemiker Konoye gewesen.
Seiji Toshima war der Sohn eines Fabrikarbeiters, aber in ihm schlug das Herz eines Samurai. Ich werde die Ehre des japanischen Volkes hochhalten. Ich werde dafür sorgen, daß diese Ausländer Japan respektieren. Ich werde dafür sorgen, daß die ganze Welt den Beitrag Japans zur Erforschung des Mars anerkennt.
Ganz plötzlich wurde ihm klar, wohin seine Gedanken führten. Das ist unwürdig, sagte er sich. Wir sind Wissenschaftler. Wissen kennt keine Nationalität. Ich bin Teil eines Teams, kein mittelalterlicher Egomane.
»Wir können den Zentralrechner benutzen«, sagte er zu Jamie Waterman und beugte sich dabei unbewußt ein bißchen vor, um den etwas über kniehohen Minicomputer zu tätscheln, der in seiner Ecke des Labors stand. Waterman war ein eigenartiger Mensch; fast so zurückhaltend und introvertiert wie ein Japaner. Ein Mann, der weiß, was korrektes Benehmen ist, dachte Toshima, der aber trotzdem bereit ist, für seine Überzeugungen zu kämpfen.
»Haben Sie von hier aus Zugriff auf die geologische Datei, oder muß ich zum Geologiecomputer gehen und sie auf eine Diskette kopieren?« fragte Jamie.
»Ich müßte eigentlich darauf zugreifen können«, antwortete Toshima. Sein rundes, flaches Gesicht war konzentriert und ernst. Dann lächelte er ein wenig. »Sofern Sie die Datei nicht mit einem speziellen Zugangsbeschränkungscode versehen haben, um sie geheimzuhalten.«
Jamie schüttelte den Kopf. »Nein. Keineswegs.«
Der Meteorologe zog sich eine Tastatur auf den Schoß und ließ seine kurzen Finger darüberfliegen. Jamie sah, daß der Bildschirm des Computers vor ihm einen Moment lang dunkel wurde, dann zeigte er eine farbige Karte des Mars, die aus einer Montage aus dem Orbit aufgenommener Fotos bestand.
Toshima murmelte etwas auf Japanisch, und auf dem Bildschirm legte sich plötzlich eine Wetterkarte über das Fotomosaik. Jamie erkannte die Symbole für eine Kaltfront und für Hoch- und Tiefdrucksysteme sowie die unregelmäßigen und schiefen Flächen von Isobaren.
»Das ist die aktuelle Wetterlage«, sagte Toshima. »Und hier ist die Computervorhersage für heute nacht« — die Symbole veränderten sich leicht; die Zahlen, die für die Temperaturen standen, fielen um hundert oder mehr ab — »und für morgen mittag, nach unserer Zeit.« Die Front kam erneut ein wenig näher. Die Temperaturen schossen in die Höhe. Auf ihrem Breitengrad stiegen sie sogar über den Gefrierpunkt.
Ein Anflug von Stolz klang in Toshimas Stimme mit, als er hinzufügte: »Ich kann Ihnen sogar die Windgeschwindigkeiten und Windrichtungen auf einem großen Teil des Planeten zeigen.«
»Woher kommen die Daten?« fragte Jamie, als Vektorpfeile die Karte sprenkelten. Sie zeigten die Windrichtungen an; die Anzahl der Fähnchen an ihrem hinteren Ende bezeichnete die Windgeschwindigkeit.
»Von dem Netz ferngesteuerter Beobachtungsstationen, das um den Planeten herumgelegt worden ist«, antwortete Toshima. »Und von den Ballons, natürlich.«
Die meteorologischen Ballons waren herrlich simpel, nicht viel mehr als lange, schmale, mit Wasserstoff gefüllte Schläuche aus außerordentlich dünnem, widerstandsfähigem Mylar. Sie wurden von den Raumschiffen im Orbit nach Bedarf in ihren winzigen Kapseln in die Marsatmosphäre abgeworfen und bliesen sich automatisch auf, wenn sie die richtige Höhe erreichten. Dann schwebten sie wie phantastische, riesige weiße Zigaretten über der Landschaft.
Unter jedem Ballon hing eine ›Schlange‹, ein langes, dünnes Metallrohr, das Meßinstrumente, ein Funkgerät, Batterien und auch noch eine Heizung zum Schutz vor der Kälte enthielt.
Tagsüber schwebten die Ballons hoch oben in der Marsatmosphäre und ermittelten die Temperatur (niedrig), den Druck (niedriger), den Feuchtigkeitsgehalt (noch niedriger) und die chemische Zusammensetzung der Luft. Die Höhe, in der jeder Ballon schwebte, wurde von der Wasserstoffmenge in seinem langen, schmalen, zigarettenförmigen Rumpf bestimmt. Die Tageswinde trugen sie wie Löwenzahnsporen über die rote Landschaft.
Bei Nacht, wenn die Temperaturen so eisig wurden, daß sogar der Wasserstoff in den Ballons zu kondensieren begann, sanken sie alle wie eine Truppe anmutig knicksender Ballerinen nach unten. Die ›Schlangen‹ mit den Instrumenten berührten den Boden und übermittelten die ganze Nacht hindurch treu und brav Daten über die Oberflächenbedingungen, während die Ballons, die kaum genug Auftrieb hatten, um in sicherer Höhe über dem steinübersäten Boden zu schweben, in den dunklen Winden tanzten.
Nicht jeder Ballon überlebte. Während die meisten tagelang ununterbrochen über das Antlitz des Mars schwebten, jede Nacht müde hinabsanken und wieder aufstiegen, sobald der morgendliche Sonnenschein sie erwärmte, wurden manche von Felsen zerrissen oder verfingen sich an Berghängen. Einer verschwand in dem riesigen, tiefliegenden Krater von Hellas Planitia und war selbst mit den besten Kameras an Bord der um den Mars kreisenden Überwachungssatelliten nicht wiederzufinden. Aber die meisten Ballons flogen lautlos und ohne jeden Kraftaufwand dahin, paßten sich dem marsianischen Tag-und-Nacht-Zyklus an und berichteten getreulich über die Umwelt zwischen den beiden Polen.
»Wie Sie sehen«, sagte Toshima mit einem Nicken zum Bildschirm, »ist die Wetterlage hier in der nördlichen Hemisphäre ziemlich stabil. Und ziemlich langweilig.«
»Das Sommermuster«, murmelte Jamie.
Toshima freute sich, daß der Geologe sich zumindest ein kleines bißchen mit dem Marsklima auskannte. Doch in der südlichen Hemisphäre, wo Winter herrschte, war das Wetter ebenso ruhig; auch dort gab es kaum Störungen. Keine großen Staubstürme, nicht einmal ein anständiger zyklonartiger Luftstrom, den man studieren und von dem man etwas lernen konnte.
»Können wir näher an Tithonium herangehen?« fragte Jamie, den Blick auf den meteorologischen Bildschirm gerichtet.
»Ja, natürlich«, sagte Toshima.
Die gewundene Spalte des ungeheuren Grabenbruches schien auf Jamie zuzurasen, bis Tithonium Chasma und sein südlicher Gefährte, Ius Chasma, den Bildschirm ausfüllten. Einen Moment lang ignorierte Jamie die meteorologischen Symbole, die das Bild überlagerten; er sah nur die kilometerhohen Felsen und die gewaltigen Rutschungen, die Bereiche des riesigen Canyons teilweise ausfüllten.
»Dort ist eine Anomalie«, sagte Toshima.
Der Meteorologe hatte seinen Hocker nah zu Jamies Stuhl gezogen. Ihre Köpfe berührten sich beinahe, als sie auf den Bildschirm schauten. Jamie blickte auf das gigantische Werk uralter Krustenbrüche, Toshima sah sich mit schmalen Augen die meteorologischen Daten an.
»Eine Anomalie?«
»Ich hätte sie schon vor Tagen bemerken müssen, aber jetzt kommen so viele Daten herein …« Er zuckte leicht die Achseln, was gewiß sowohl eine Rechtfertigung als auch eine Entschuldigung sein sollte. »Wir verfolgen sogar die abgeworfenen Fallschirme unserer Landefahrzeuge, die der Wind über den Boden weht.«
»Was für eine Anomalie?« fragte Jamie.
»Nur zwei der Ballons haben diesen Teil des Grand Canyon überflogen«, sagte Toshima und fuhr mit einer Fingerspitze über das Bild von Tithonium auf dem Monitor. »Sie haben beide viel höhere Lufttemperaturen gemeldet als unser MetSat.«
Jamie sah ihn an. »Der meteorologische Satellit behauptet, die Temperaturen in dem Canyon seien tiefer, als die Meßinstrumente der Ballons gemeldet haben?«
»Richtig«, sagte Toshima.
»Mit welchen Sensoren arbeiten sie?«
»Der MetSat natürlich mit Infrarot-Detektoren. Das ist die einzige Möglichkeit, aus so großer Entfernung Temperaturdaten zu bekommen. Die Ballons haben eine ganze Anzahl von Thermometern dabei. Sie messen die Temperatur direkt.«
»Und den Ballons zufolge ist die Luft unten in dem Canyon wärmer, als es die Satellitendaten angeben.«
Toshima nickte mit geschlossenen Augen. Es war fast eine kleine Verbeugung.
»Noch mehr Anomalien?«
Auf seinem Gesicht erschien ein dünnes Lächeln. »Ich hatte geglaubt, die Feuchtigkeitsdaten wären unbrauchbar. Die Sensoren schienen gesättigt zu sein.«
»Gesättigt?«
»Die Meßwerte erreichten das obere Ende der Skala und blieben dort, solange die Ballons im Canyon waren — ein paar Stunden, wie sich herausstellte. Wir haben keine Möglichkeit, ihre Richtung oder ihre Geschwindigkeit zu kontrollieren, müssen Sie wissen.«
»Ja, ich weiß.«
Toshima wandte den Blick von Jamie ab und schaute auf das Bild auf dem Monitor. »Da Sie jedoch berichtet haben, Sie hätten im Canyon Nebelschleier gesehen, kann ich — glaube ich — erklären, was geschehen ist.«
Jamie wartete darauf, daß er fortfuhr.
»Die Feuchtigkeitssensoren sind für die sehr geringe Feuchtigkeit kalibriert, die wir auf dem Mars erwartet haben. Wenn die Ballons durch die Nebelschleier geflogen sind, vom denen Sie berichtet haben, dann sind sie auf eine so hohe Feuchtigkeit gestoßen, daß die Sensoren nicht mehr damit fertiggeworden sind. Die Sensoren wurden gesättigt.«
»Okay, das klingt logisch.«
»Andererseits sind da die Temperaturunterschieden …« Toshima lächelte breit. »Bedenken Sie: Die Infrarot-Sensoren des MetSat können nicht tief in den Canyon hineinschauen, wenn dort Nebelschleier hängen. Die Sensoren registrieren den Nebel und melden seine Temperatur.«
Jamie verstand. »Und wenn der Nebel aus Eiskristallen besteht …«
»Oder auch aus Wassertröpfchen«, nahm Toshima den Faden auf, »würde er den Infrarot-Sensoren viel kälter erscheinen als die Luft unter dem Nebel.«
»Die Nebelschleier fungieren als eine Art Decke, die die warme Luft am Grund des Canyons isoliert!«
»Genau. Aber das Radar an Bord des MetSat durchdringt den Nebel, als ob er nicht da wäre, und schickt uns korrekte Angaben über die Tiefe des Canyons. Bevor Sie über die Nebelschleier berichtet haben, hatte ich keine Ahnung, daß sie existierten.«
»Die Ballons haben Ihnen also zutreffendere Temperaturangaben geliefert als die Satelliten.« Jamie verstand allmählich. Sein Körper begann vor Erregung zu kribbeln.
»So interpretiere ich die Daten«, erwiderte Toshima. Er bleckte grinsend die Zähne.
»Okay, dann wollen wir mal die geologischen Daten in dieses Bild einspeisen«, drängte Jamie. Er konnte kaum noch stillsitzen, so aufgeregt war er.
Toshima hackte auf der Tastatur herum, die auf seinem Schoß lag.
»Was suchen Sie?« fragte er.
»Wärme«, sagte Jamie. »Irgend etwas bewirkt, daß dieser Canyon wärmer ist als die Ebenen drum herum. Wärmer, als wir von Rechts wegen erwarten konnten. Vielleicht ist es Hitze, die aus dem Inneren des Planeten heraufkommt.«
»Ah! Heiße Quellen vielleicht. Oder ein Vulkan.«
»Nichts so Dramatisches wie ein Vulkan«, sagte Jamie, der gespannt auf den Bildschirm schaute und darauf wartete, daß die geologischen Daten dort auftauchten.
»Es gibt sehr große Vulkane auf dem Mars«, murmelte Toshima, während seine Finger die Tastatur bearbeiteten.
»Tausend Kilometer von Tithonium entfernt. Und sie sind seit Hunderten von Jahrmillionen erkaltet. Seit Jahrmilliarden vielleicht.«
Toshima flüsterte halb: »Jetzt«, und drückte mit seinem Wurstfinger ostentativ auf die ENTER-Taste.
Schlagartig erschien eine dünne Kolonne knallroter Symbole auf dem Bildschirm.
»Können wir von dieser Nahaufnahme zurückgehen und uns das Gebiet zwischen unserer Basis und dem Rand des Canyons ansehen?« fragte Jamie.
»Natürlich«, sagte Toshima.
Da waren sie, die Echtzeit-Meßwerte der Sensoren, die Jamie während seiner Exkursion mit Wosnesenski aufgestellt hatte. Die Symbole verliefen in gerader Spur von der Kuppel bis zu den Badlands von Noctis Labyrinthus, dann zum Rand von Tithonium und schließlich zurück zur Basis. Zu jeder Gruppe von Sensoren gehörten Wärmestrom-Meßinstrumente. Auf der Erde maßen solche Sensoren die Wärme, die von dem geschmolzenen Magna tief unter der Kruste zur Oberfläche heraufkam.
»Nicht gerade übermäßig viel, oder?« murmelte Jamie und blickte angestrengt auf die winzigen roten Ziffern, als könnte er sie zum Leben erwecken, wenn er sie nur intensiv genug anstarrte.
Toshima sagte nichts. Er saß da, die Hände höflich im Schoß gefaltet.
»Der Planet ist kälter als eine gefrorene Kartoffel«, knurrte Jamie. »Aus seinem Kern kommt nicht mal genug Wärme herauf, um auch nur eine Tasse Tee zu erhitzen.«
»Kein Wärmestrom im Canyon?«
Jamie knetete frustriert beide Oberschenkel, ohne es zu merken. »Das ist es ja eben: Wir haben keine Meßinstrumente am Boden des Canyons. Das ist vielleicht der einzige Ort, wo tatsächlich Wärme vom Kern heraufkommt, aber wir haben keine Sensoren da unten, die es feststellen könnten!«
Toshima neigte leicht den Kopf, diesmal, um zu zeigen, daß er begriff. »Wir müssen also Sensoren auf dem Grund des Canyons aufstellen, wenn wir verstehen wollen, wodurch die Nebelschleier entstehen.«
»Nicht nur Sensoren«, sagte Jamie in eindringlichem Ton. »Wir müssen selbst da hinunter. Irgendwie müssen wir ein Team auf den Boden des Canyons runterschaffen.«
Li Chengdu lächelte die drei Gesichter auf seinem Monitor dünn an. Es handelte sich um eine derart wichtige Entscheidung, daß alle drei Projektleiter sie mit ihm besprechen wollten.
Dafür kann ich mich bei Waterman bedanken, sagte sich Dr. Li im stillen. Wenn er nicht wäre, würde alles nach Plan laufen.
»… daher haben wir die Flugkontrolleure angewiesen«, sagte der russische Projektleiter mit dem ernsten Gesicht gerade, »einen Plan für eine Exkursion zur Tithonium-Chasma-Region vorzubereiten, einschließlich einer direkten Untersuchung des Bodens der Schlucht, sofern das möglich ist. Da es mindestens zwei Wochen dauern wird, einen solchen Plan in die Tat umzusetzen …«
Er hat es geschafft, dachte Dr. Li, während er der monotonen Stimme des Russen mit halbem Ohr lauschte. Waterman hat sie dazu gebracht, den Missionsplan vollständig umzuwerfen und einer Exkursion nach Tithonium zuzustimmen.
Der Expeditionskommandant beobachtete die anderen beiden Projektleiter, während der Russe mit seinen förmlichen Erklärungen fortfuhr. Der Japaner gab sich alle Mühe, gelassen dreinzuschauen, aber Li entdeckte ein Glitzern freudiger Erregung in seinen dunklen Augen. Und über das fleischige, gerötete Gesicht des Amerikaners, eines alten Haudegens, der Washingtons politische Messerstechereien bisher unbeschadet überstanden hatte, spielte ein mildes kleines Lächeln.
»… Pater DiNardo wird den Vorsitz in dem Ad-Hoc-Komitee übernehmen, das den Exkursionsplan ausarbeitet. Doktor Brumado wird als Mitglied kraft seines Amtes an den Sitzungen des Komitees teilnehmen …«
Der Russe redete in seinem monotonen Tonfall immer weiter, wie ein alter orthodoxer Priester, der irgendein unabänderliches Ritual rezitierte.
Was für eine Verschwörung das gewesen sein muß, dachte Li. Die amerikanische Vizepräsidentin hat sich mit dieser Änderung des Missionsplans offenbar einverstanden erklärt. Brumado muß sie irgendwie umgestimmt haben. Sie versucht nicht mehr, Waterman zu erledigen; irgendwie hat Brumado die beiden zu Verbündeten gemacht. Der Mann ist ein Wundertäter.
Eine Exkursion in den Tithonium Chasma. Wir werden den Plan für die letzten vier Wochen in den Papierkorb werfen und alles darauf umstellen müssen. Pateis Exkursion zum Pavonis Mons werde ich verkürzen müssen. Der arme Mann wird vor Wut platzen. Er hat sein halbes Leben damit verbracht, die Vermessung des Pavonis Mons vorzubereiten. Daraus wird nun wohl nichts mehr. Wir werden weder die Zeit noch die Mittel dafür haben.
Selbst die Arbeit hier im Orbit wird neu bestimmt werden müssen, um die Tithonium-Exkursion zu unterstützen. O’Hara wird besonders sauer sein — er hat kein Geheimnis daraus gemacht, daß er gehofft hat, die amerikanischen Politiker würden ihn im Austausch für Waterman auf die Oberfläche hinunterschicken.
Das hat sich jetzt erledigt. Irgendwie ist Waterman der eigentliche Führer des Bodenteams geworden. Er hat den Göttern den Blitz gestohlen. Jetzt stellt er sogar mich in den Schatten.
Dennoch lächelte Li die drei Projektleiter auf seinem Monitor weiterhin still an.
Eine Exkursion zum Boden des Grand Canyon! Der Wissenschaftler in ihm war fasziniert von den Möglichkeiten. Wärme und Feuchtigkeit. Vielleicht Leben. Leben! Was für ein Fund das wäre. Es würde eine neue Geschichtsepoche einläuten.
Trotzdem machte sich der Politiker in ihm Gedanken über die Schwierigkeiten, den Plan zu ändern, die Gefahren, die darin lagen, wenn man so kühn auf neues Gebiet vorrückte, und die Risiken, die jeden Schritt ins Unbekannte begleiteten.
Waterman, dachte er. Wenn er nicht wäre, würde alles glatt und ruhig laufen, genau nach Plan.
Lis Lächeln wurde ein wenig breiter. Wie langweilig das wäre! Außerdem — falls irgend etwas schiefgeht, wird man es in erster Linie ihm anlasten und nicht mir.